Brothers von Karma ================================================================================ Kapitel 23: Samstag IV - Alte und neue Probleme ----------------------------------------------- Seto, der die Begrüßung Ryuujis durch seinen kleinen Bruder aus der Küche mit angehört hatte, zögerte einen Moment, doch dann gab er sich einen Ruck und folgte seinem Stiefbruder nach oben. Je eher er diesem die Unterlagen, die Yami für ihn da gelassen hatte, brachte, desto eher hatte er es hinter sich. Diesem durch und durch pragmatischen Gedankengang zum Trotz schlug Seto das Herz bis zum Hals und er hatte das Gefühl, dass die Zettel ihm förmlich ein Loch in seine Hosentasche brannten. Er war sich nicht sicher, was er sagen sollte, und so stand er erst einmal mehr als eine Minute unschlüssig im Flur, ehe er seine Fassung weit genug wiedergewonnen hatte, dass er sich sicher war, an Ryuujis Zimmertür klopfen zu können, ohne dass dieser ihm würde ansehen können, was in ihm vorging. "Come in." Ryuuji, der mit Mokuba und nicht mit Seto gerechnet hatte, hielt im Zuknöpfen des roten Hemds, für das er sich entschieden hatte, inne, als der Brünette seine Zimmertür öffnete. Seto betrat den Raum jedoch nicht, sondern zog einfach nur ein paar gefaltete Blätter aus seiner Hosentasche und reichte sie dem Schwarzhaarigen. "Yami hat die Hausaufgaben von gestern für dich notiert", erklärte er betont kühl, obwohl es in seinem Inneren alles andere als ruhig oder kühl zuging. Ihm lag die Frage auf der Zunge, wo Ryuuji den ganzen Tag gesteckt hatte, aber er schluckte diese Frage ebenso hinunter wie die nach der unerklärlich guten Laune, die der Schwarzhaarige bei seiner Heimkehr versprüht hatte. War er etwa wirklich bei dem Köter gewesen? War er deshalb so gut gelaunt? Hatte Jounouchi sich vielleicht doch für ihn und gegen Kinoshita entschieden? Oder hatten die Drei vielleicht … Nein. Nein! Seto verbot sich selbst energisch, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Das waren Dinge, die er nun wirklich ganz und gar nicht wissen wollte – egal, wie vehement seine innere Stimme auch das Gegenteil behauptete. "Das ist nett von ihm. Ich mach mich nachher direkt dran, wenn Mum und euer Vater wieder da sind." Wie es ihm gelang, sich zu verhalten, als wäre alles in Ordnung und als hätte es den Streit vom Donnerstag nie gegeben, war Ryuuji ein Rätsel. Aber er war dankbar dafür, dass sein Pokerface saß und dass Seto offenbar nicht auffiel, wie aufgewühlt und verletzt er eigentlich immer noch war. Diese Dinge gingen ihn auch ganz und gar nichts an, also war es besser, dass er nichts bemerkte. "Ist noch was? Sonst würde ich mich gerne fertig anziehen, bevor ich runterkomme." Für einen Moment huschten Setos Augen zu dem noch immer nicht ganz geschlossenen Hemd seines Stiefbruders und sein Blick blieb vielleicht eine Sekunde zu lange an Ryuujis Tattoo hängen, dann riss er sich fast schon gewaltsam von dem Anblick los und war nach einem "Wir sind im Wohnzimmer" auch schon wieder verschwunden. Draußen vor der geschlossenen Tür schalt er sich selbst einen Narren. Er wusste doch seit gestern mehr als deutlich, dass das, was er sich wünschte, für ihn unerreichbar war. Warum also, fragte er sich, quälte er sich selbst damit, es länger anzusehen als nötig war? Kaum dass die Tür hinter seinem Stiefbruder ins Schloss gefallen war, sank Ryuuji auf sein Bett, ließ sich nach hinten kippen und starrte abgrundtief seufzend an seine Zimmerdecke. So viel dazu, dass er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Das war ja wohl doch nur Wunschdenken gewesen. Um ein Haar hätte er Seto am Kragen seines eigenen Hemdes gepackt und zu sich in sein Zimmer gezerrt, um ihn zu küssen – richtig dieses Mal, nicht nur keusch auf den Mund wie am Abend des Maskenballs. Nur mit allergrößter Willensanstrengung war es ihm gelungen, genau das eben nicht zu tun. So eine verdammte Scheiße! Warum konnte man ungewollte Gefühle eigentlich nicht abstellen oder irgendwo umtauschen? Das war einfach nicht fair! Seto, der inzwischen wieder im zur Zeit glücklicherweise leeren Wohnzimmer angekommen war, setzte sich an den Tisch, an dem er am Nachmittag mit seinem Bruder Schach gespielt hatte, und vergrub in einer für ihn vollkommen untypischen Geste das Gesicht in den Händen. Warum nur konnte er trotz allem, was er jetzt wusste, einfach nicht aufhören, an etwas zu denken und sich etwas zu wünschen, was sowieso nie passieren würde? Dabei ist es doch besser so. Ja, es war besser, wenn es zwischen Ryuuji und ihm keinerlei Annäherung mehr gab, denn das würde alles nur unnötig verkomplizieren. Wie sollte er seinem Vater wohl beibringen, dass er solche … Gefühle hatte – und das auch noch ausgerechnet für seinen Stiefbruder? Nein, es war besser, wenn er gar nicht mehr darüber nachdachte. Er musste sich diese Dinge einfach nur wieder aus dem Kopf schlagen, auch wenn es noch so wehtat. Aber wie sollte er das schaffen, wenn schon allein Ryuujis Anblick vollkommen ausreichte, um in ihm diese Sehnsucht zu wecken, von der er gar nicht gewusst hatte, dass er so etwas überhaupt empfinden konnte? Als Mokuba, der gerade noch einen kurzen Abstecher ins Bad gemacht hatte, zurück ins Wohnzimmer kam, hatte Seto sich zumindest äußerlich wieder gefasst. Nichts in seinem Gesicht deutete noch darauf hin, worüber er gerade nachgedacht hatte. Bedächtig hatte er begonnen, eine Partie Schach gegen sich selbst zu spielen. Mokuba, der genau wusste, dass sein Bruder das meistens dann tat, wenn er über ein Problem nachdachte, für das er sonst keine Lösung fand, nahm Seto gegenüber Platz und beobachtete ihn, sprach ihn aber nicht an, um seine Konzentration nicht zu stören. Seto wusste schon, was er tat. Knapp zehn Minuten nach Seto betrat auch Ryuuji das Wohnzimmer, nickte Mokuba kurz zu und ließ sich dann in einen der bequemen Sessel fallen. Mokuba zögerte einen Moment und sah noch einen Augenblick lang dabei zu, wie sein Bruder seinen nächsten Zug sorgfältig abwog, dann erhob er sich leise, ging zu Ryuuji hinüber und hockte sich auf die Couch neben dem Sessel, in dem dieser saß. "Wo warst du den ganzen Nachmittag, Ryuuji?", ließ er seiner Neugier freien Lauf und der Siebzehnjährige schmunzelte. Irgendwie hatte er schon damit gerechnet, dass Mokuba ihn ausfragen würde. Zum Glück wusste er auch genau, was er ihm sagen konnte. "Im Park. Ich brauchte ein bisschen frische Luft und hab da zufällig jemanden getroffen, den ich letztens auf dem Maskenball kennengelernt hab", erzählte er also mit einem Zwinkern. Dass er sich eigentlich mit Ryou getroffen hatte und dass er Honda am Abend des Maskenballs nicht mal wirklich kennengelernt, sondern nur am Rande überhaupt wahrgenommen hatte, ließ er galant unter den Tisch fallen. Das war ja auch nicht so wichtig. Wichtig war, dass ihm die Gedanken an den vergangenen Nachmittag recht gut dabei halfen, sich ganz normal zu benehmen und sich nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm es ihm war, sich mit Seto im gleichen Raum aufzuhalten. "Und warum hattest du dann überall Gras auf deinen Klamotten?", bohrte Mokuba weiter und Ryuuji lachte leise. "Weil Hondas Hündin mich für ein Hundespielzeug gehalten hat", antwortete er amüsiert. "Blankey hatte eine Menge Spaß daran, uns beide wie die Idioten über die Wiese rennen zu lassen wegen ihrem Ball. Und hin und wieder hat sie einen von uns einfach mal umgerannt, wenn wir ihr im Weg waren", erzählte er gut gelaunt weiter und Seto, der sich bei der Erwähnung des Maskenballs unwillkürlich versteift hatte – hoffentlich sagte Ryuuji Mokuba gegenüber nichts Falsches über diesen Abend und das, was passiert war! –, atmete unhörbar auf, als Ryuuji erklärte, wo und vor allem wie er den Nachmittag verbracht hatte. Also war er nicht bei dem Köter. Der Gedanke stellte sich ungebeten ein und ließ sich ebenso wenig abschütteln wie die vollkommen unpassende Erleichterung, die Seto im gleichen Augenblick überflutete. Er wusste nicht, was er getan hätte, wenn Ryuuji erzählt hätte, dass er die letzten Stunden mit Jounouchi und Kinoshita verbracht hatte. Seto war sich jedoch absolut sicher, dass seine Reaktion auf eine derartige Eröffnung alles andere als angebracht gewesen wäre. Es war also deutlich besser, dass ihm das erspart blieb. Das Gelächter der beiden Schwarzhaarigen riss Seto wieder aus seinen Grübeleien. Die Konzentration auf seine Schachpartie ließ schon seit Ryuujis Ankunft im Wohnzimmer stark zu wünschen übrig, aber jetzt war es damit komplett vorbei. Er starrte den Turm, den er in der Hand hielt, an, als hätte er noch nie in seinem Leben eine Schachfigur gesehen. Mit einem Mal machte keiner der Züge, die ihm eben vorgeschwebt hatten, überhaupt noch einen Sinn, so dass er schließlich einfach nur den Turm auf das Brett stellte und alle Figuren wieder in ihre Ausgangspositionen zurückschob. Jetzt noch spielen zu wollen hatte einfach keinen Zweck. Egal, wie sehr er es auch versuchte, er konnte weder seine Ohren vor dem Gespräch verschließen, das Mokuba und Ryuuji führten, noch konnte er sein Gedankenkarussell anhalten. "Stören wir, Seto? Wir können auch so lange in mein Zimmer gehen, wenn dir das lieber ist." Ryuujis Vorschlag brachte Seto dazu, vom Schachbrett aufzusehen. Ein blaues und ein grünes Augenpaar musterten ihn und der Brünette musste sich förmlich dazu zwingen, nicht einfach aufzustehen und seinerseits das Wohnzimmer zu verlassen. Aber das wäre einer Flucht gleichgekommen und Flucht war eines Kaibas einfach nicht würdig. Aus diesem Grund blieb er, wo er war, und schüttelte einfach nur den Kopf. "Ihr müsst nicht gehen", schob er noch hinterher, als er die Besorgnis in Mokubas Blick erkannte. Das fehlte ihm gerade noch, dass sein kleiner Bruder anfing zu hinterfragen, was mit ihm los war. "Wenn du meinst." Ryuuji war sich nicht sicher, ob auf seiner Seite die Erleichterung darüber überwog, dass er Seto offenbar zumindest im Moment nicht störte, oder ob er sich doch lieber wünschen sollte, dass der Brünette seinem Vorschlag zugestimmt hätte. Immerhin wäre er in seinem Zimmer außerhalb von Setos Reichweite und müsste ihn auch nicht ansehen. Aber, ermahnte er sich selbst, es war besser, wenn er sich daran gewöhnte. Ob er wollte oder nicht, die nächsten Monate würde er nun mal nicht nur mit Mokuba, sondern auch mit Seto unter einem Dach verbringen. Außerdem konnte er schließlich nicht ständig flüchten, denn das würde auf jeden Fall irgendwann auffallen. Und wie sollte er seiner Mutter das erklären? Ehe einer der Drei noch etwas sagen oder tun konnte, war von draußen die Ankunft der Limousine hörbar. Sofort sprang Mokuba von der Couch auf und sprintete freudestrahlend zur Tür, um seine Eltern als Erster in Empfang zu nehmen. Ryuuji sah ihm einen Moment lang schmunzelnd nach, ehe er sich selbst auch erhob, um dem Jüngeren zu folgen. Seto, der nur ein paar Sekunden zuvor der den gleichen Gedanken gehabt hatte und bereits auf dem Weg war, konnte gerade noch verhindern, dass er mit seinem Stiefbruder zusammenstieß. Grüne Katzenaugen blickten erschrocken zu ihm auf und für eine endlose Sekunde schien die Zeit förmlich einzufrieren. Alles, was Seto noch wahrnahm, war, wie unglaublich nah er Ryuuji gerade war. Das letzte Mal, als er ihm so nah gewesen war, hatte er nicht gewusst, wen er da vor sich gehabt hatte, und doch hatte er an ihn gedacht. Aber jetzt wusste er es ganz genau. Und er wollte nichts mehr als diesen Fehler, den er am Abend des Maskenballs gemacht hatte, noch einmal zu wiederholen – dieses Mal jedoch im vollen Bewusstsein, wen er küssen würde. "Vater!" Mokubas freudiger Aufschrei unterbrach den Moment und verhinderte alles, was hätte sein können. Seto fuhr zurück, als hätte er sich verbrannt. Und noch ehe er etwas sagen oder tun konnte, war Ryuuji auch schon an ihm vorbeigegangen und gesellte sich in den Flur zu Mokuba, um ihre heimgekehrten Eltern zu begrüßen. Hätte ich ihn wirklich um ein Haar …? Seto fand keine Antwort auf diese Frage. Aber wie auch immer diese Antwort wohl gelautet hätte, es war zu spät zum Spekulieren. Der Moment war vorbei. Und noch einmal, das schwor Seto sich bei allem, was ihm heilig war, würde er nicht so unvorsichtig sein. Ab jetzt würde er sich noch weiter von Ryuuji fernhalten, denn offenbar konnte er sich selbst in der Nähe des Schwarzhaarigen einfach nicht trauen. Ryuuji, der sich selbst nicht ganz sicher war, was da gerade um ein Haar geschehen wäre, hatte Mühe, sich vor seiner Mutter und seinem Stiefvater nichts von dem Aufruhr in seinem Inneren anmerken zu lassen. Er war hochgradig durcheinander, denn für den Bruchteil einer Sekunde hatte Seto ihn tatsächlich angesehen, als würde er ihn doch nicht hassen. Nein, in den faszinierenden blauen Augen des Brünetten hatte ein anderer Ausdruck gelegen – ein Ausdruck, den Ryuuji nicht so recht zu deuten wusste. Und genau das verwirrte ihn über alle Maßen. Hasste Seto ihn nun oder hasste er ihn vielleicht doch nicht? Verdammt, kann er sich nicht endlich mal entscheiden? Wenn er sich so seltsam aufführte, machte er alles nur noch schwerer. Als seine Mutter nach der Begrüßung Mokubas zu ihm herumschwenkte, schob Ryuuji sämtliche Gedanken an Seto und alles, was mit seinen eigenen Gefühlen für seinen älteren Stiefbruder zu tun hatte, ganz weit in den hintersten Winkel seines Bewusstseins. "Hi, Mum. Na, wie war die Reise?", erkundigte er sich stattdessen und stellte zu seiner grenzenlosen Erleichterung fest, dass offenbar niemand bemerkte, wie schwer es ihm fiel, einen leichten Plauderton anzuschlagen. "Sehr schön", beantwortete Yukiko die Frage ihres Sohnes und lächelte, als dieser sie wie üblich zur Begrüßung umarmte und ihr einen Kuss auf die Wange hauchte. "Das freut mich für dich. Für euch beide", murmelte Ryuuji und lächelte ebenfalls – ein Lächeln, das die nächsten Worte seiner Mutter um ein Haar von seinen Lippen gewischt hätten. "Und wie war eure Woche? Hast du dich gut mit Seto vertragen?", wollte Yukiko wissen und Ryuuji fluchte innerlich, ließ sich davon aber nichts anmerken. "Klar, Mum", log er stattdessen. Jetzt war weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt, um über den Streit vom Donnerstagabend auch nur nachzudenken. Blieb nur zu hoffen, dass Seto seinerseits auch die Klappe hielt. Der Brünette, der seinen beiden Brüdern inzwischen auch in den Flur gefolgt war, begrüßte die Heimkehrer ebenfalls. Dabei hielt er sich so weit von Ryuuji fern, wie es ihm möglich war, ohne dass irgendjemandem auffallen würde, dass er Abstand zu seinem Stiefbruder wahrte. Allerdings war der Flur nicht so groß, dass er Ryuujis Worte an seine Mutter nicht trotzdem gehört hätte. Für einen Moment war er tatsächlich überrascht, dass Ryuuji mit keiner Silbe den Streit erwähnte, den sie erst vor zwei Tagen gehabt hatten. Aber wenn Yukiko-san nichts von der Sache mit dem Kleid oder gar von Ryuuji und dem Köter wusste, dann erklärte das in seinen Augen alles. Unter diesen Umständen war es wohl nur zu verständlich, dass Ryuuji seiner Mutter gegenüber nicht die Wahrheit über die vergangene Woche sagte. Allerdings kam Seto nicht umhin, die Leichtigkeit zu bewundern, mit der die Lüge dem Schwarzhaarigen über die Lippen kam. Hätte er nicht gewusst, dass zwischen ihnen eben bei weitem nicht alles in Ordnung war, dann hätte er nach Ryuujis Worten um ein Haar selbst daran geglaubt, dass hinter ihnen eine vollkommen ereignislose Woche lag und nicht eine, die sein ganzes Leben und seine gesamte Gefühlswelt völlig auf den Kopf gestellt hatte. Unwillig über diese Gedanken den Kopf schüttelnd ging Seto gemeinsam mit dem Rest seiner Familie hinüber ins Esszimmer, um seit über einer Woche das erste Abendessen gemeinsam einzunehmen. Und hier setzte sich fort, was schon im Flur begonnen hatte. Ryuuji benahm sich, als wäre absolut nicht das Geringste zwischen ihnen vorgefallen. Er sprach Seto zwar nicht sehr oft direkt an, aber wenn er es tat, dann sah er ihn offen an und machte keinesfalls den Eindruck, als wären sie etwas anderes als Stiefbrüder, die in der letzten Woche genügend Zeit gehabt hatten, sich aneinander zu gewöhnen und eine Möglichkeit zu finden, miteinander auszukommen. Seto selbst hatte mehr Mühe damit, sich zu verstellen, aber da er ohnehin beim Essen meist recht wortkarg und einsilbig blieb, fiel das glücklicherweise niemandem auf. Nicht einmal Mokuba merkte etwas von der Schmierenkomödie, die hier gespielt wurde. Ryuuji seinerseits war verdammt froh, dass niemand ihm ansah, was in seinem Inneren vorging. Es war alles andere als einfach, Seto anzusehen und weder an den Streit vom Donnerstag zu denken noch an das seltsame Verhalten des Brünetten vorhin im Wohnzimmer. Zum Glück bestritt Mokuba einen Gutteil der Unterhaltung, indem er ihre Eltern über die Hochzeitsreise ausfragte, und so brauchte er selbst nur hin und wieder an der richtigen Stelle einen Kommentar abzugeben und niemand bemerkte, dass seine Gefühle und Gedanken Achterbahn fuhren. Nach dem Abendessen entschuldigte Yukiko sich mit der Begründung, dass sie die Koffer auspacken wollte, und Ryuuji schloss sich seiner Mutter an, um ihr zu helfen. So, dachte er pragmatisch, konnte er den Rückzug antreten, ohne dass es aussehen würde wie eine Flucht. Und wenn er danach direkt in sein Zimmer ging, musste er Seto auch zumindest an diesem Abend nicht noch mal unter die Augen treten. Win-win, sozusagen. Seto beobachtete, wie seine Stiefmutter gemeinsam mit Ryuuji nach oben ging, und unterdrückte ein Seufzen. Ihm war durchaus klar, dass sein Vater ihm jetzt, wo sie mehr oder weniger ungestört waren, sicher noch mal Fragen zur vergangenen Woche stellen würde. Gozaburo tat allerdings nichts dergleichen. Stattdessen ließ er sich erst mal von Mokuba ausführlich seine Klassenfahrt schildern, was der Fünfzehnjährige auch lebhaft tat. Dass er dabei den letzten Tag vor der Heimfahrt größtenteils aussparte, entging Seto ebenso wenig wie Mokubas Erleichterung darüber, dass ihr Vater offenbar nichts davon merkte. Aber nach allem, was er selbst inzwischen über den vergangenen Tag wusste, sinnierte Seto, war es Mokuba wohl nur recht so. Immerhin war der Junge noch immer reichlich durcheinander und wusste nicht, wie er sich am Montag in der Schule verhalten sollte. "Mehr von der Hochzeitsreise erzählen wir euch Dreien morgen in aller Ruhe, wenn es euch recht ist", wandte Gozaburo sich an seine beiden Söhne und während Mokuba eifrig nickte, atmete Seto auf – zu früh, wie die nächsten Worte seines Vaters zeigten. "Und bei dir und Ryuuji, Seto? Wie habt ihr die letzte Woche verbracht?", erkundigte Gozaburo sich interessiert und Seto unterdrückte einen Fluch. Das hatte ja so kommen müssen. "Wir haben nicht allzu viel unternommen, wenn es das ist, was du wissen willst, Vater", antwortete er dennoch und erlaubte sich nun doch ein Seufzen. "Ryou-kuns älterer Bruder war mehrere Tage lang verschwunden und Ryuuji hat bei der Suche nach ihm geholfen. Er war meistens erst sehr spät zu Hause, also hatten wir keine Zeit, um gemeinsam etwas zu unternehmen", fügte er dann erklärend hinzu. "Bakura war verschwunden?", mischte Mokuba sich in das Gespräch ein. Davon hatte er ja gar nichts gewusst! Und auch wenn er sich zugegebenermaßen etwas vor Ryous großem Bruder fürchtete – Bakura konnte aber auch wirklich ziemlich gruselig dreinschauen –, so regte sich trotzdem Sorge in ihm. Immerhin wusste er ganz genau, wie sehr sein weißhaariger Freund an seinem Bruder hing. "Weiß Ryou davon? Ist Bakura schon wieder zu Hause? Ist alles okay mit ihm?", bohrte er weiter und Seto wandte ihm seine Aufmerksamkeit zu. "Soweit ich weiß, ist er inzwischen wieder zu Hause. Wo er gewesen ist, kann ich dir allerdings nicht sagen. Und ob Ryou-kun davon weiß, weiß ich auch nicht. Das solltest du ihn vielleicht besser selbst fragen", schlug er vor und erhob sich. "Wenn du nichts dagegen hast, Vater, dann werde ich jetzt nach oben gehen. Ich habe noch ein paar Hausaufgaben zu erledigen." Das war zwar nicht die volle Wahrheit, aber dieses eine Mal nahm Seto darauf keine Rücksicht. Er wollte einfach nur alleine sein und nicht noch weiter über die vergangene Woche nachdenken. Das tat er ohnehin schon ohne Unterlass. Er brauchte eine Pause. Und zwar dringend. "Gut, Seto." Gozaburo nickte seinem Ältesten zu und blickte diesem einen Moment lang nach, bis er das Wohnzimmer verlassen hatte. Er war sich ziemlich sicher, dass Seto nicht ganz ehrlich zu ihm gewesen war, aber jetzt war wohl kaum der rechte Zeitpunkt zum Nachhaken. Das, beschloss Gozaburo bei sich, würde er lieber morgen unter vier Augen tun, denn offenbar war Seto nicht gewillt, im Beisein seines jüngeren Bruders über das reden, was ihn offenbar so beschäftigte. Ob es wohl um ein Mädchen geht?, fragte Gozaburo sich unwillkürlich. Nun, Seto war inzwischen eindeutig in dem Alter, in dem viele ihre ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht sammelten. Er selbst war zwar in den letzten Wochen und Monaten besonders stark eingespannt gewesen – sowohl in der Firma als auch wegen der bevorstehenden Hochzeit –, aber, sinnierte Gozaburo, jetzt hatte er wieder etwas mehr Zeit. Und diese Zeit würde er nutzen, um sich um seine Söhne zu kümmern. Die Jungen hatten in ihrem Leben schon lange und oft genug zurückstecken müssen. Es war eindeutig an der Zeit, dass sich das änderte. oOo Nachdem Ryuuji seiner Mutter beim Auspacken zur Hand gegangen war, entschuldigte er sich mit der gleichen Ausrede, die auch Seto bei seinem Vater benutzt hatte. Ihm stand ganz und gar nicht der Sinn danach, sich jetzt noch einem mütterlichen Verhör unterziehen zu lassen, daher erklärte er seiner Mutter, dass er den Tag mit einem Freund im Park verbracht und daher seine Hausaufgaben vom Freitag noch nicht erledigt hatte. "Dann solltest du das besser gleich noch tun, Ryuuji", fand Yukiko und Ryuuji nickte. "Mach ich, Mum. Und morgen erzählt ihr uns ausführlich, was ihr in der letzten Woche so erlebt habt, okay?", gab er zurück, drückte seine Mutter noch einmal und wollte dann eigentlich ohne Umschweife in sein Zimmer gehen. Stattdessen blieb er jedoch, noch ehe er den Raum erreicht hatte, wie angewurzelt mitten im Flur stehen. Das war ja so klar!, grollte er dabei innerlich, als er sich sehr zu seinem Leidwesen schon wieder mit Seto konfrontiert sah. Was hab ich eigentlich verbrochen, dass mir ständig so eine Scheiße passiert? Seto, den das plötzliche Auftauchen seines Stiefbruders mindestens ebenso sehr überrascht hatte, erstarrte ebenfalls. Was sollte er denn jetzt machen? Er war extra hochgegangen, um Ryuuji aus dem Weg zu gehen, und jetzt stand der Schwarzhaarige schon wieder vor ihm. Und dem ärgerlichen Blitzen seiner grünen Augen nach zu urteilen war das wohl das Letzte, was Ryuuji gewollt hatte. Es war offensichtlich, dass er gerade überall lieber wäre als hier alleine mit ihm im Flur. Seto wollte etwas sagen – irgendetwas, um die angespannte Stille zu brechen –, aber er brachte kein Wort heraus. Ryuuji wartete, aber auch nach fast einer Minute sagte Seto noch immer keinen Ton. So bringt das nichts. Nein, so konnte es eindeutig nicht weitergehen. Und auch wenn es ihm schwer fiel, sie mussten diese Sache ein für alle Mal klären, denn sonst würde das über kurz oder lang sicher in einer Katastrophe enden. "Wir müssen reden. Jetzt", machte Ryuuji daher den ersten Schritt und ging einfach an Seto vorbei in sein Zimmer. Die knappen Worte des Schwarzhaarigen, die schon beinahe einer Aufforderung gleichkamen, brachen Setos Starre. Einen Moment lang zögerte er noch, dann gab er sich einen Ruck und folgte seinem Stiefbruder in den Raum, das er eigentlich nicht mehr hatte betreten wollen. Allerdings hatte Ryuuji ihm nicht wirklich eine Wahl gelassen. Und er hatte ja nicht Unrecht. Der Flur war sicher nicht der passende Ort für das Gespräch, das sie dem Schwarzhaarigen zufolge führen mussten. Trotzdem hatte Seto Mühe, über das Dröhnen seines Herzschlags überhaupt etwas zu hören. Das Blut rauschte in seinen Ohren und seine Nervosität führte dazu, dass er eine noch eisigere Miene aufsetzte als üblich. Hatte er für einen Moment auch noch gehofft, dass er Setos Blick im Wohnzimmer nicht missdeutet hatte, so wurde Ryuuji eines Besseren belehrt, kaum dass er seine Zimmertür hinter seinem Besucher geschlossen hatte. Setos Augen wirkten wie aus Eis und seine ganze Haltung machte deutlich, dass er im Moment überall lieber wäre als hier. Na, das fängt ja gut an, gratulierte Ryuuji sich selbst voller Ironie, aber er verbot sich energisch, sich den Stich, den Setos Abwehrhaltung ihm verpasste, ansehen zu lassen. Er wusste doch ohnehin spätestens seit Donnerstagabend, was der Brünette wirklich über ihn dachte. "Mir ist durchaus klar, was du von mir hältst, Seto", begann er daher fast schon geschäftsmäßig kühl. Je eher er es hinter sich brachte, dachte er dabei, desto eher konnten sie beide wieder ihrer Wege gehen. "Und ganz ehrlich, es ist mir egal." Gut, das war eiskalt gelogen, aber, stellte Ryuuji zufrieden fest, seine Stimme schwankte nicht und so war ihm nicht anzumerken, dass er jetzt gerade schon wieder nicht die Wahrheit sagte. So langsam, sinnierte der Schwarzhaarige, entwickelte er sich zu einem wirklich professionellen Lügner. Ob das gut oder doch eher schlecht war, darüber wollte er jedoch im Augenblick lieber nicht nachdenken. "Du musst mich auch nicht mögen, aber wir sollten vor unserer Familie zumindest so tun. Oder willst du deinem Vater oder Mokuba erklären müssen, warum wir uns aus dem Weg gehen? Ich denke nicht." Setos kurzes Zusammenzucken als Zustimmung nehmend nickte Ryuuji und fuhr fort. "Ich habe auch nicht das geringste Interesse daran, das, was auf der Party vorgefallen ist, vor irgendwem breitzutreten. Wir sollten uns also zusammenreißen und einfach so tun, als wäre das nie passiert. Damit ist allen am besten gedient, würde ich sagen. Was meinst du?" So tun, als wäre das nie passiert? Um ein Haar hätte Seto laut aufgelacht, als er diesen Vorschlag hörte. Schon seit der Party versuchte er ganz genau das, aber es gelang ihm einfach nicht. Und seit seinem Gespräch mit Yami, der ihm klar gemacht hatte, was genau mit ihm los war, war es ihm noch viel weniger möglich, zu vergessen oder zu verdrängen, was vorgefallen war. Wann immer ihm bewusst wurde, dass seine Lippen für ein paar Sekunden tatsächlich Ryuujis Lippen berührt hatten, wurde ihm heiß und kalt zugleich – ein Gefühlschaos, das er einfach nicht unter Kontrolle bringen konnte. Und jetzt schlug Ryuuji ihm vor, es einfach zu vergessen? Ist das für ihn wirklich so leicht? Kann er wirklich einfach so zur Tagesordnung übergehen, als wäre absolut nichts passiert? Seto konnte es einfach nicht fassen. Macht ihm das denn wirklich gar nichts aus? Nicht mal ein bisschen? Während er selbst kaum wusste, wohin mit all den Gefühlen, die er so nie gewollt hatte und die er kaum kontrollieren oder gar verbergen konnte, machte Ryuuji einen vollkommen abgeklärten Eindruck. Dass diese Ruhe nur vorgetäuscht sein könnte, kam Seto im Augenblick gar nicht in den Sinn. Ryuuji fiel es mit jeder Sekunde schwerer, seine Fassade aufrechtzuerhalten. Einzig das Wissen, dass Seto ihn offenbar doch hasste und es deshalb scheinbar nicht einmal für nötig befand, auf seinen Vorschlag zu reagieren, verhinderte, dass er eine Dummheit beging. Es war Folter, Seto so nah zu sein und sich doch gleichzeitig zu fühlen, als lägen Welten zwischen ihnen. Aber, dachte Ryuuji bei sich, damit würde er sich wohl oder übel abfinden müssen. "Einverstanden." Seto hatte das Gefühl, an diesem einen Wort ersticken zu müssen. Seine Stimme klang gepresst, aber das schien sein Gegenüber nicht zu bemerken. Er nickte einfach nur und deutete dann auf seine Zimmertür. "Gut, damit wäre dann ja alles geklärt. Es wäre nett, wenn du jetzt gehen würdest. Ich habe noch Hausaufgaben zu erledigen", komplimentierte er Seto hinaus und dieser ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, denn länger ertrug er es einfach nicht, mit dem Schwarzhaarigen in einem Raum zu sein. Kaum dass der Brünette sein Zimmer verlassen hatte, schloss Ryuuji die Tür hinter ihm und ließ sich dann an dem Holz herunterrutschen. Ihm war zum Heulen zumute, aber er biss entschlossen seine Zähne zusammen und legte den Kopf in den Nacken, bis das Brennen in seinen Augenwinkeln nachließ. Dann rappelte er sich wieder auf, schnappte sich den Zettel mit den Hausaufgaben von seinem Bett und machte sich ans Werk. Ablenkung lautete jetzt die Devise. Seto, der inzwischen in sein eigenes Zimmer hinübergegangen war, konnte nur mit Mühe den Impuls unterdrücken, die Tür mit voller Wucht hinter sich zuzuschlagen. In seinem Inneren brodelten so viele Gefühle, dass er nicht wusste, welches überwog: Wut, Enttäuschung, Frust oder doch eher die Sehnsucht nach demjenigen, der ihn gerade noch so kühl abgefertigt hatte. Einen Moment lang war Seto versucht, seinen besten Freund anzurufen und mit diesem über das zu reden, was gerade geschehen war, aber ein Blick auf die Uhr machte ihm klar, dass es dafür bereits zu spät war. Morgen, nahm Seto sich daraufhin vor. Morgen würde er sich Rat bei Yami holen. Vielleicht konnte dieser ihm ja irgendwie dabei helfen, das Chaos in seinem Kopf und in seinem Herzen zum Schweigen zu bringen. oOo Eine gute Stunde, nachdem sie mit dem Auspacken der Koffer fertig geworden war, klopfte Yukiko leise an der Zimmertür ihres Sohnes. "Come in", erklang es von drinnen und als sie den Raum betrat, fand sie Ryuuji an seinem Schreibtisch vor, wo er offenbar noch immer über seinen Hausaufgaben brütete. "Du solltest es nicht übertreiben. Willst du den Rest nicht lieber morgen erledigen?", schlug sie sanft vor und auf Ryuujis Lippen erschien ein schmales Lächeln. "Ist zwar nicht mehr viel, aber vielleicht hast du Recht, Mum." Aktuell war es mit seiner Konzentration ohnehin nicht allzu weit her. Einen besonders guten Dienst als Ablenkung hatten die Hausaufgaben ihm bisher eh nicht erwiesen. Immer und immer wieder drehten sich seine Gedanken um denjenigen, der nur ein Zimmer weiter wohnte. Ob Seto wohl schon schlief? Und ob er sich wirklich daran halten würde, so zu tun, als hätte es diesen Unfall auf Midori-chans Party nie gegeben? Unwillig, schon wieder in diesen Grübeleien zu versinken, drehte Ryuuji sich schwungvoll mit seinem Schreibtischstuhl zu seiner Mutter um und sein Lächeln vertiefte sich noch etwas, als sie näher zu ihm trat und ihm sanft über die Haare strich. Auch wenn sie nicht wusste, was gerade in ihm vorging, es tat trotzdem gut, dass sie ihm so nonverbal ein bisschen Trost spendete. Yukiko konnte ihrem Jungen ansehen, dass es irgendetwas gab, das ihn beschäftigte, aber sie kannte ihn gut genug um zu wissen, dass er ihr nicht sagen würde, was ihn bedrückte, auch wenn sie ihn danach fragen würde. Ryuuji hatte solche Dinge schon immer lieber mit sich selbst ausgemacht. Und notfalls gab es ja auch noch Katsuya-kun, der ihrem Sohn schon fast sein ganzes Leben lang ein wirklich guter Freund war. Sicher würde Ryuuji mit ihm reden und sich von ihm helfen lassen. Ein wenig tat es zwar zugegebenermaßen schon weh, dass sie ihrem Jungen offenbar keine Hilfe sein konnte, aber was sollte sie machen? Sie konnte ihn schließlich nicht zwingen, mit ihr zu reden, wenn er das nicht wollte. "Und, wie war deine Woche?", erkundigte Yukiko sich dennoch sanft und Ryuuji seufzte abgrundtief. "Ziemlich anstrengend", gab er ehrlich zu, denn er hatte seiner Mutter durchaus angesehen, dass sie ihm etwas anderes jetzt nicht glauben würde. "Bakura, der Sohn von Chiakis neuer Freundin, ist nach einem Streit abgehauen und Kats und ich haben fast die ganze Woche damit verbracht, überall nach ihm zu suchen", fasste er grob zusammen, was passiert war, und hoffte, dass diese Erklärung ausreichen würde, um die Sorgen seiner Mutter zu zerstreuen und seine nicht unbedingt glänzende Stimmung verständlich zu machen. "Ich hatte beinahe vergessen, wie groß Tokio ist." Obwohl der Kommentar als Witz gemeint war, ging Yukiko nicht darauf ein. Stattdessen zog sie sich den zweiten Stuhl heran und setzte sich zu ihrem Sohn. "Habt ihr ihn denn gefunden?", erkundigte sie sich mitfühlend und Ryuuji zog eine Grimasse. "Nicht wirklich. Er ist am Donnerstag von selbst wieder nach Hause gekommen", beantwortete er die Frage und seufzte erneut. Er sah seiner Mutter deutlich an, dass sie auf mehr wartete. Aber das, was ihn wirklich bedrückte, konnte er ihr nicht sagen. Was würde sie wohl von ihm denken, wenn sie es wüsste? Ryuuji zögerte noch einen Moment, dann gab er sich einen Ruck. "Ich muss dir was gestehen, Mum", teilte er ihr mit und wappnete sich innerlich für das, was er seiner Mutter nun zu sagen hatte. "Seto und Mokuba wissen Bescheid." Worum es genau ging war offensichtlich, daher sprach Ryuuji es nicht noch mal extra aus. "Das Thema ist zur Sprache gekommen", wie, das ließ er lieber ungesagt, "und ich hab's ihnen erzählt." Dass sein Outing Seto gegenüber alles andere als freiwillig oder gar gut verlaufen war, behielt Ryuuji ebenfalls für sich. "Tut mir leid, dass ich mein Versprechen nicht gehalten hab, Mum." Und das war nicht einmal gelogen. Zumindest sein Outing Seto gegenüber bereute er wirklich. Bei Mokuba hingegen sah die Sache ganz anders aus. Der Kleine hatte etwas Zuspruch gebraucht von jemandem, der solche Gefühle, wie Ryou sie hatte, nachvollziehen konnte. Und in der gleichen Situation, dessen war Ryuuji sich sicher, würde er noch mal ganz genauso handeln. "Schon gut." Yukiko lächelte ihren Sohn aufmunternd an. Das war es also, was ihn so bedrückt hatte. "Ich weiß doch, wie wenig du es magst, dich zu verstecken." Auch wenn gerade das Ryuujis Leben nicht unbedingt einfacher machte. Trotzdem war sie stolz auf ihn. Sie hatte zwar eine Weile gebraucht, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er ihr wohl niemals ein nettes Mädchen vorstellen würde, aber die Hauptsache für sie war, dass er irgendwann jemanden finden würde, der ihn glücklich machte. "Lass uns nicht mehr darüber reden, okay, Mum?", bat Ryuuji leise. Er wollte jetzt ganz sicher nicht auch noch erklären, wie genau es dazu gekommen war, dass er mit Seto und Mokuba über seine sexuelle Orientierung gesprochen hatte. "Ich mache nur noch eben meine Hausaufgaben fertig und dann gehe ich schlafen. Die Woche war echt anstrengend", schob er noch hinterher und Yukiko stand auf, um ihn wieder alleine zu lassen. Ehe sie die Tür erreichte, hielt sie jedoch noch einmal inne und wandte wieder sich zu ihrem Sohn um. "Vielleicht sollten wir Gozaburo auch einweihen", sinnierte sie und Ryuuji nickte matt. "Wenn du meinst. Ich sag's ihm morgen, wenn das für dich okay ist." Eigentlich verspürte er zwar nicht wirklich den Drang dazu, dieses Thema auch noch mit seinem Stiefvater zu erörtern, aber es war wohl nur recht und billig. Immerhin würde Gozaburo-san spätestens dann davon erfahren, falls sich Seto oder Mokuba verplapperten. Da war es sicher besser, wenn er es ihm selbst sagte. Allerdings konnte Ryuuji nicht im Geringsten einschätzen, was sein Stiefvater wohl zu dieser Eröffnung sagen würde. Na, das werd ich ja morgen sehen. Yukiko zögerte einen winzigen Moment. Wäre es nicht vielleicht besser, wenn sie ihrem Ehemann davon erzählte? Aber wie, fragte sie sich bang, würde er wohl darauf reagieren? Bisher war dieses Thema zwischen ihnen beiden nie aufgekommen und daher hatte sie keine Ahnung, wie ihr Liebster sich verhalten würde, wenn er erfuhr, dass ihr Sohn … nun, dass er die Gesellschaft anderer Jungs der von Mädchen deutlich vorzog. "Vielleicht sollte ich …", begann Yukiko, doch Ryuuji schüttelte energisch den Kopf. "Nein, Mum. Das ist meine Sache. Ich mach das schon", widersprach er, stand auf und trat zu ihr an die Tür. "Mach dir keine Sorgen, okay? Ich hab's dir und Dad erzählt, da schaff ich das bei Gozaburo-san locker." Gut, ganz so zuversichtlich, wie er sich gab, fühlte Ryuuji sich bei weitem nicht, aber das musste seine Mutter nicht wissen. Ohne dass sie es verhindern konnte, atmete Yukiko erleichtert auf. Sie hätte wirklich nicht gewusst, wie sie dieses Thema hätte zur Sprache bringen sollen. Einerseits schämte sie sich dafür, dass sie ihrem Jungen diese Last aufbürdete, aber andererseits war sie auch stolz darauf, dass er sich nicht davor drücken oder verstecken wollte. Wieder einmal lagen ihr die Worte auf der Zunge, aber sie brachte sie auch jetzt einfach nicht über die Lippen. "Mach dir meinetwegen nicht immer so viele Sorgen, okay, Mum? Mir geht's gut." Glatt gelogen, aber die Worte hatten, wie Ryuuji deutlich sehen konnte, die erhoffte Wirkung. Seine Mutter sah aus, als hätte er ihr eine tonnenschwere Last von den Schultern genommen. "Bleib nicht mehr allzu lange auf, ja?", ermahnte sie ihn leise und er schüttelte mit einem Lächeln den Kopf. Auch wenn sie es nicht aussprach, es tat gut zu wissen, dass seine Mutter sich so um ihn sorgte, weil sie ihn nun mal liebte – allem Ärger zum Trotz, den sie seinetwegen schon gehabt hatte. "Werd ich nicht, versprochen. Gute Nacht, Mum. Schlaf gut", wünschte Ryuuji seiner Mutter, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und sah ihr noch kurz nach, als sie sein Zimmer verließ. Unwillkürlich huschte sein Blick dabei auch zum Nebenzimmer, doch die Tür war geschlossen und von Seto war nichts zu hören oder zu sehen. Seufzend schob Ryuuji seine eigene Tür ebenfalls wieder zu und kehrte an seinen Schreibtisch zurück, um auch noch den letzten Rest seiner Hausaufgaben zu erledigen. Danach, so hoffte er, wäre er sicher auch endlich müde genug, um einfach nur traumlos zu schlafen. Irgendwie konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass er für das, was am kommenden Sonntag auf ihn wartete, seine gesamte Energie brauchen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)