Force of Nature von Cocos ================================================================================ Kapitel 54: Dornröschen im 570GT -------------------------------- Dass L.A. schon in normalen Zeiten ein Schmelztiegel an Kulturen, Menschen, Autos und Häusern war, war nichts, aber auch gar nichts im Vergleich zu L.A. in Weihnachtsstimmung, also exakt dann, wenn sich der gesamte Schmelztiegel auf das Fest der Feste vorbereitete und seine eigene, sonnenbeschiene Form von Vorweihnachtsstimmung produzierte. Diese wiederum hatte mit der schneebewehrten Besinnlichkeit seines Heimatstädtchens überhaupt nichts zu tun und so gab sich L.A. auch die besten Mühen, Weihnachten und Savoir-vivre unter einen kitschigen Hut zu bringen, den Jeremy cool fand. In Maßen. Betonung auf Letzterem. Insbesondere, da er sich dieses Jahr nicht wirklich in Weihnachtsstimmung befand und erst seit seinem Gespräch mit Allan von vor ein paar Tagen wirklich dazu kam, die eiternde Wunde des Verlassen Werdens auch wirklich heilen zu lassen. So wie ein großflächig aufgeschabtes Knie heilte und bei jeder Bewegung zog und zerrte und derweilen auch wieder aufbrach, wenn man zu unvorsichtig war. Die einzigen beiden Lichtblicke für ihn waren momentan, dass er seine Familie wiedersehen würde – jeden von ihnen - und dass Jean ihn begleiten würde. Vor zwei Tagen hatte Jean ja gesagt und damit einen Geschenke-Shopping-Marathon sondergleichen ausgelöst. Hatte Jeremy gedacht, dass Jean mit großen Menschenmassen ein Problem hatte, so lag er damit vollkommen richtig. Deswegen waren sie auch so früh wie möglich in die Stadt gefahren. Hatte er gedacht, deswegen vorzeitig abbrechen zu müssen, so täuschte er sich nunmehr seit vier Stunden und wurde sich mehr und mehr bewusst, dass sich Jeans Entschlossenheit und Zielstrebigkeit nicht nur auf seine Art zu spielen auswirkten. Jean hatte ein Ziel und eine Aufgabe, die er so gewissenhaft wie nur möglich ausführen wollte. Mit Mord in den grauen Augen, seine Haare unter der grauen Beanie verborgen und mit kritisch gerunzelter Stirn bahnte er sich seinen Weg durch die Läden, alles gemäß seines vorherig gemachten Schlachtplans und ließ sich von diesem Weg nur durch Jeremy abbringen, der ebenfalls die Gelegenheit nutzte und die restlichen Geschenke einkaufte. Ansonsten schob der sanfte Diktator an seiner Seite ihn aber gnadenlos von Laden zu Laden, von denen er manche noch nicht einmal betreten durfte. Jeremy wartete brav mit dem Rücken zum Schaufenster draußen, auf den Lippen ein amüsiertes Lächeln. So entschlossen Jean war, so gnadenlos war er mit der Auswahl seiner Geschenke und der Ablehnung, wenn sie nicht dem entsprachen, was er sich gedacht hatte und eigentlich war Jeremy davon hochgradig verzaubert. Uneigentlich wünschte er sich in dieser Sekunde jedoch eher zu einem Marathon an den Strand als noch weiter in den nächsten Laden mit Weihnachtsmusik, angeblich weihnachtlichen Düften und vermeintlicher Besinnlichkeit. Er sehnte sich nach dem Nachmittagstermin, den sie hatten, an dem sich Jean ein potenzielles Auto ansehen würde. Jeremy fuhr ihn gerne dahin und war auch dementsprechend gespannt darauf, allerdings befürchtete er mittlerweile, dass er einfach einschlafen würde, bevor Jean auch nur den Kaufvertrag unterschrieben hatte. Sein Blick kehrte zu eben jenem, der mit sturmgeweiht verzogenen Lippen an einem Tresen stand und einen Katalog mit Fotografien durchging, von denen er eine Fahima schenken wollte. Jeremy hatte große Lust, seine Stirn an Jeans Schulter zu betten und seine Augen zu schließen, doch er befürchtete, dass es sich dämpfend auf Jeans Entschlossenheit auswirken würde, wenn er dem anderen Jungen zeigte, wie erschöpft er war. Schließlich zeigten sich hier Fortschritte, die Jeremy mit jeder Faser seines Herzens liebte. Ganz zu schweigen, dass er immer noch davon zehrte, wie schön ihr Ausflug in die Enchanted Gardens gewesen war. Jean hatte zwar kein weiteres Wort darüber verloren, warum er nach seiner Hand gegriffen hatte, doch das Verhältnis zwischen ihnen beiden schien sich seitdem gewandelt zu haben. Jeremy konnte es nicht genau beziffern, aber etwas war anders. Auch Jeremy hatte das Thema noch nicht wieder aufgebracht, aber er nutzte Jeans Initiative und berührte ihn öfter als sonst an der Schulter oder der Hand. Es schien auch Jean zu erleichtern und ihm etwas seiner Anspannung zu nehmen, die ihn noch vor ein paar Tagen fest im Griff gehalten hatte. „Das nehme ich“, deutete der Backliner auf ein Bild und Jeremy kehrte aus seiner Gedankenwelt zurück. Es war ein hübsches Foto, voller Leben und Farben. Es passte zu Fahima und er kam nicht umhin Jeans Sinn für Kunst zu bewundern. Er ließ sich das Bild einpacken und bezahlte mit schlafwandlerischer Sicherheit mit seiner Karte, was auch etwas war, das Jeremy sehr glücklich stimmte, wenn er an den Anfang von Jeans Hiersein dachte. Eben jener kam zu ihm und Jeremy sah lächelnd zu Jean hoch. „Das ist ein sehr schönes Geschenk“, lobte er und plötzlich unsicher verzog Jean seine Lippen. „Denkst du das?“ „Ich weiß es.“ Jean sah auf seine Tüten, dann auf Jeremys. „Es ist das erste Mal, dass ich so etwas kaufe.“ So etwas. Geschenke, wurde sich Jeremy bewusst und abrupt überkam ihn die Erkenntnis, dass Jean natürlich noch nie Geschenke gekauft hatte, seitdem er nach Amerika gekommen war. Und vorher aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht. Jeremy streckte seine Hand aus und legte sie auf Jeans Oberarm. Die Muskeln unter seinen Fingern zuckten und Jean maß ihn neutral. Um Längen zu neutral. Jeremys Umarmung war ein spontanes Ding und ebenso unbeholfen. Sie war holprig und stürmisch und doch spürte Jeremy, wie Jean bewusst und nachsichtig ausatmete und zuließ, dass er seine Arme um ihn schlang und ihre Taschen zwischen sie einkesselte. „Knox…?“, fragte der andere Junge zögernd und Jeremy lächelte schräg zu ihm hoch. „Ich freue mich, dass du jetzt hier bist und Teil des Weihnachtszirkus sein kannst.“ Jean hob die Augenbrauen. „Auf die überfüllten Geschäfte kann ich verzichten“, erwiderte er trocken und Jeremy lachte. „Dafür werden dich die drei Tage bei meinen Eltern entschädigen, ich schwöre es.“ Jean zögerte und auch Jeremy hielt inne. Da war etwas in den grauen Augen, das er nicht entziffern konnte. Jean kämpfte damit und besiegte schließlich seinen unsichtbaren Gegner. „Könnten wir über Running Springs zu ihnen fahren?“, fragte er zögerlich und Jeremys Augen weiteten sich, als er begriff, was Jean damit andeutete. „Du möchtest deinen Bruder sehen, oder?“ Jean zögerte und kurz huschte Schmerz über sein Gesicht, der so tief war, dass Jeremy unmöglich den Boden am Grund dieses dunklen Sees sehen konnte. „Ich möchte ihm ein Geschenk übergeben, wenn er mich sehen will.“ „Jederzeit, Jean. Wir können gerne erst zu deinem Bruder fahren. Das ist nur ein Umweg von einer Stunde und außerdem kommen wir so auch irgendwie am Yosemite Nationalpark vorbei und durch Carson City und Reno und…“ Jean legte ihm sacht zwei Finger auf den Mund, um sein begeistertes Brabbeln zu unterbinden und Jeremy war durchaus froh darüber, gestoppt zu werden, bevor er noch mehr Unsinn von sich gab. Nichtsdestotrotz übernahm der Schelm in ihm und geübt öffnete er die Lippen, umschloss Jeans Finger und speichelte sie voll, während er an den Gliedern nuckelte. Die Geste war spontan und erst, nachdem er Jeans große, graue Augen und rapide rot werdenden Wangen sah, wurde ihm bewusst, dass der spontane, spielerische Akt vermutlich etwas war, das Jean überforderte. Nicht, dass Jean überfordert aussah. Überrascht starrte der andere Junge auf Jeremys Lippen, dann in seine Augen, wieder zurück auf seine Lippen. Aus der Überraschung wurde indignierte Empörung, getüncht mit roten Wangen und ebenso roten Ohrläppchen. Mit einem unschuldigen Lächeln löste sich Jeremy von Jean und dessen Finger hingen für ein paar Sekunden feucht glänzend zwischen ihnen. Das kleine Stückchen sichtbare Haut offenbarte eine Gänsehaut. „Knox!“, grollte Jean verspätet und ruckartig zog er seine Finger zurück, barg sie in seiner freien Hand. „Ja?“, grinste Jeremy und sah zu ihm hoch. Er legte den Kopf schief und sah keine Angst oder Ablehnung in Jeans Augen. Ganz im Gegenteil. Eine gute Portion Verwirrung wechselte sich ab mit Empörung und Erstaunen. Hilflos öffneten sich die schmalen Lippen und schlossen sich wieder. „Knox!“, wiederholte Jean eindrücklich und Jeremy lachte. ~~**~~ „Hier?“ Der Junge neben ihm brummte zustimmend und Jeremy fuhr seinen Wagen im Schritttempo auf das Gelände des Autohändlers. Die Glasfront des Verkaufsraumes sah luxuriös aus, zumindest sah Jeremy das aus dem Augenwinkel heraus, während er bemüht war, bloß keinem der sicherlich teuren Autos zu nahe zu kommen. Hier hatte Jean ein Auto gefunden, das er sich kaufen wollte? Sicherlich war es irgendwo im Hinterhof, oder? Was es auch war, er war gespannt darauf und freute sich schon, seitdem Jean ihn gefragt hatte, ob er ihn zu dem Autohaus fahren würde. Klar hatte er ein bisschen Angst um Jean und die anderen Straßenteilnehmer, aber es war wieder ein Schritt in das Leben, das Jean schon immer führen wollte. Außerdem wäre es verlogen gewesen zu behaupten, dass er nicht sehen würde, wieviel Freude Jean am Fahren hatte. Jeremy machte den Wagen aus und zog seinen Schlüssel. Er warf einen Blick auf Jean, dessen Augen groß und interessiert auf dem Autohaus lagen und der schon unruhig gewesen war, seitdem sie die richtige Ausfahrt vom Highway genommen hatten. „Wollen wir?“, grinste Jeremy und Jean nickte. Normalerweise wartete er, bis Jeremy den Wagen verlassen hatte, bevor er selbst ausstieg, nicht jedoch heute. Aufgeregt tat er ein paar Schritte, bevor er sich anscheinend besann, dass er nicht alleine war und noch viel nervöser drehte er sich zu Jeremy um, der sich das Grinsen nicht aus dem Gesicht wischen konnte. Er schloss zu Jean auf, damit dieser nicht noch weiter auf ihn warten musste und ging gemeinsam mit ihm in den Hauptverkaufsraum, der Jeremy sich beinahe augenblicklich sehr schlecht angezogen und sehr arm fühlen ließ. Hier gab es kein Auto wie seines. Die Sportwagen, die hier standen, waren allesamt von einer Marke, die er nicht kannte. Er meinte sich zu erinnern, dass er ein paar Autos davon schon einmal auf den Straßen von L.A. gesehen hatte, aber unter den vielen Sportwagen der Reichen dieser Stadt war der Wiedererkennungswert eher gering. „Ähm…sind wir hier richtig?“, fragte Jeremy unsicher und Jean wandte sich ihm zu. Kritisch runzelte er die Stirn, als er nochmal auf sein Smartphone sah, das sie hierhin navigiert hatte. „Ja, das ist die Adresse“, sagte er und Jeremy hob zweifelnd die Augenbrauen. Vielleicht hatte der Verkäufer ihn über das Ohr gehauen? Hatte Jean etwa eine Anzahlung leisten sollen? „Mr. Moreau, schön, dass Sie hier sind“, riss ihn eine weibliche Stimme aus seinen panischen Überlegungen und Jeremy fuhr herum. Jean folgte der Bewegung weitaus gesetzter und nickte schweigend. Ernst nahm er die entgegengestreckte Hand der Frau entgegen und schüttelte sie, während Jeremy mit offenem Mund neben ihm stand. Was...? „Mr. Knox, schön auch Sie in unseren heiligen Hallen begrüßen zu dürfen“, war nun auch er an der Reihe und zögernd ließ er seine Hand in ihre gleiten, aus der irrationalen Angst heraus, etwas kaputt zu machen. „Mrs. Inola“, sagte er zögernd und ihr Händedruck war überraschend fest. „Nennen Sie mich ruhig Dyani. Haben Sie gerade Spielpause?“, fragte sie mit einem Augenzwinkern und er nickte unisono mit Jean. „Sehr gut, dann hoffe ich, dass sie viel Zeit mitgebracht haben, ich habe schon einiges Interessantes für Sie vorbereitet“, wandte sie sich lächelnd zurück an Jean und deutete auf ihren hochgestylten Schreibtisch inmitten der Sportwagen. Alles war aufgeräumt und lediglich ein großer Bildschirm samt Tastatur deutete daraufhin, dass hier überhaupt gearbeitet wurde. Neuester Stand der Technik, fiel Jeremy auf. Jean folgte ihr und Jeremy folgte Jean, während er sich staunend umsah. Langsam ließ er sich auf einen der bequemen Stühle des Rundschreibtisches nieder. „Haben Sie gut hierhergefunden? Der Verkehr in L.A. kann ja wirklich schlimm sein“, fragte sie. Jean nickte und deutete auf Jeremy. „Er kennt sich hier aus und die Navigationsapp hat uns hierher gebracht.“ „Das freut mich. Ich habe auch gesehen, dass Sie ihr Spiel gegen die Bearcats damals gut hinter sich gebracht haben. Tolle Leistung!“ Erstaunt blinzelte Jeremy. Wieso sprach sie dieses Spiel an, das schon Wochen her war? Er runzelte die Stirn und umso deutlicher machte es Klick, als er sich an Jeans Frage am Flughafen erinnerte, was ein Normalpreis für ein Auto wäre. Oh. OH. Jeremy lachte mit einem Hauch an Verzweiflung laut auf und hatte beinahe augenblicklich ihrer beider voller Aufmerksamkeit. Dyanis professionell freundlich, Jeans hingegen eher kritisch. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er und Jeremy nickte, während er sich peinlich berührt den Mund zuhielt. Natürlich war alles in Ordnung. Selbstverständlich. Vermutlich war keines dieser Autos günstiger als diese 240.000 Dollar. Vermutlich war dieser Schreibtisch mehr wert als sein Auto. „Alles bestens!“, presste er schließlich hervor und legte die Hände auf dem Schoß. Jean hatte doch gesagt, er wolle sich ein Auto kaufen. Ein Auto…kein…oh Gott. Oh Gott. ~~**~~ Trotz seiner absoluten Aufregung und Vorfreude, hier zu sein, entging Jean nicht, dass sein Kapitän sich seltsam verhielt, seitdem sie hier waren und das, obwohl es die Tage nach seinem Gespräch mit dem Reporter besser geworden war. Knox sang wieder, leise zwar nur und unregelmäßig, aber er sang. Mittlerweile vertraute Jean ihm auch wieder seine Frühstückseier an, ohne die Befürchtung haben zu müssen, dass diese verbrannt waren. Sein Kapitän lächelte und scherzte, auch wenn er in unbeobachteten Momenten in sich gekehrt und nachdenklich war. Damit konnte Jean aber besser umgehen, als mit dem traurigen Jungen, der gar nichts sagte. Oder mit dem Jungen, der gerade neben ihm saß und den Eindruck erweckte, als würde er gleich vom Stuhl fallen. Jean fragte sich nicht zum ersten Mal, ob die Überraschung, die er für Knox geplant gehabt hatte, auch wirklich gut war. Es sah nicht so aus, denn sein Kapitän war blass und der seltsame Laut, der die Lippen des Jungen verlassen hatte, war auch nicht das, was Knox sonst von sich gab. Kritisch beäugte er den blonden Jungen, doch als dieser versichernd lächelte, widmete sich Jean wieder der Beraterin – vorerst, aber immer mit einem kritischen Seitenblick aus den Augenwinkeln zu Knox. „Haben Sie Interesse an einem bestimmten Modell oder sollen wir zusammen das passende Modell für Sie finden?“ Jean hatte, seit er ihre Karte erhalten hatte, immer mal wieder geschaut und recherchiert, welches der Modelle ihm am Meisten gefiel. Dabei hatte er viel über PS-Zahlen und Autotechnik gelernt und hatte sich so theoretisches Wissen angeeignet, das er in der Praxis sehen wollte. Er persönlich glaubte nicht, dass er den Unterschied zwischen 540 und 570 PS wirklich spüren würde, so hatte er sich für eine Karosserieform entschieden, die ihm gefiel, und sich in dem Konfigurator die Farben ausgesucht. „Ich bin mir bei der Innenausstattung nicht sicher“, gab er schließlich zu und Dyani, nickte verständnisvoll. Mit ruhiger Stimme erklärte sie ihm und Knox in der darauffolgenden Stunde, welche Möglichkeiten er hatte und was die einzelnen Punkte bedeuteten, die sie ihm aufzählte. Da Jean mit vielem einfach noch nichts anfangen konnte, nutzte er seinen Kapitän und vielmehr dessen gar nicht so versteckte Reaktionen als Kompass, was er nehmen könnte und was nicht. „Möchten Sie eine Probefahrt machen?“, fragte sie schließlich, als sie fertig waren und Jean nickte, während Knox ein erstickter Laut entwich. „Ganz alleine?“, fragte der blonde Junge mit großen Augen und Dyani schüttelte den Kopf. „Für Fahrzeuge dieser Preisklasse haben wir Berater, die Sie bei Ihrer Probefahrt begleiten. Sie werden Sie auf das Fahrzeug einweisen, Sie mit den Funktionen vertraut machen und Sie schließlich bei der Fahrt begleiten.“ Das Wissen darum schien Knox zu erleichtern und Jean hob zweifelnd die Augenbraue. Er hatte doch unlängst einen Führerschein gemacht und wusste, wie man ein Auto fuhr. Was sollte denn so schwierig daran sein, einen Sportwagen zu fahren? Er würde sich ja nicht wirklich anders fahren als Knox‘ Auto, oder? Zwanzig Minuten später wurde sich Jean der Unendlichkeit seiner Naivität bewusst und stand zusammen mit seinem Kapitän, Dyani und Robert, dem Berater, der mit ihm die Probefahrt machen würde, vor dem Modell, das er sich ausgesucht hat und ließ sich Dinge erklären, die er mitnichten in Knox‘ Auto fand. Die Grundzüge waren gleich, ja. Der Rest… Jean schluckte gegen seine gewaltige Nervosität an. Sie kribbelte in seinem ganzen Körper und es war ein gutes Kribbeln. Er war aufgeregt und ungeduldig, er konnte es nicht erwarten, in dem Wagen zu sitzen und über die Straßen von Los Angeles gefahren zu werden, bevor er auf einer eigens dafür eingerichteten Teststrecke selbst das Auto bewegen durfte. „Sollen wir?“, fragte der kleinere Mann mit den grauen Haaren, der ihn amüsiert musterte, und Jean nickte. „Ja“, versuchte er sich an einer ausdruckslosen Antwort, doch die mochte ihm nicht recht gelingen. Man hörte die Aufregung und Knox grinste. „Viel Spaß, Rennfahrer“, sagte er um Längen zu laut und zu fröhlich. Jean brummte und ließ sich vorsichtig in den Wagen nieder, der so tief auf der Straße lag, dass er sich unweigerlich fragte, wie er da jemals wieder herauskommen sollte. „Bereit, Mr. Moreau?“, fragte Robert und er nickte mit trockenem Hals und großen Augen. „Alles klar, dann schnallen Sie sich bitte an und los geht’s.“ Jean tat wie ihm geheißen und zuckte überrascht zusammen, als Robert den Wagen startete und dieser mit einem tiefen Grollen zum Leben erwachte. Er vibrierte unter der Kraft des Motors und Gänsehaut breitete sich in Windeseile auf seinem ganzen Körper aus. Fasziniert folgte Jean den Erklärungen des Fahrers und wurde in den Sitz gepresst, als dieser das Gelände verließ um mit ihm durch die Stadt zu fahren, von dort aus ein kurzes Stück auf den Highway um schließlich zum Testgelände zu kommen. Als sie zum Stehen kamen, hatte Robert ihm die Funktionen des Wagens erläutert, die Bedienung und die Besonderheiten. Jean juckte es in den Fingern, dieses Monstrum selbst zu lenken und ihm die Richtung vorzugeben. Robert öffnete die Flügeltüren und stieg aus. Jean versuchte, es ihm nachzutun, stellte jedoch zu seinem eigenen Frust fest, dass das gar nicht so einfach war, wie er es angenommen hatte. Im Gegenteil. „Erstes Mal Sportwagen?“, fragte Robert, als er sich endlich aus dem Auto geschält hatte und Jean nickte stumm. „Alles klar. Der Trick ist, erst das eine Bein, darauf das Gewicht verlagern und dann aus dem Wagen hieven. Das erfordert viel Muskulatur in den Oberschenkeln und im Becken. Beides konnte er vorweisen. Jean tauschte mit dem älteren Mann die Plätze, schnallte sich an und griff mit zitternden Händen nach dem Lenkrad. Er startete den Wagen und ließ seinen Blick über die weite Teststrecke – eine stillgelegte Rennstrecke - schweifen und gab Gas. Langsam erst, dann mit Nachdruck. Seine Aufregung wich der Konzentration und Jean widmete seine komplette Aufmerksamkeit dem Zusammenspiel aus Mensch, Sportwagen und Asphalt. In diesem Moment war alles, was ihn begleitete, seine Vergangenheit, die vor ihm liegende Zeit, das Spiel gegen die Ravens, weg. Hier gab es nur ihn und den Wagen. Hier gab es Roberts ruhige Stimme, die ihm Tipps gab, wie er manches besser zu machen hatte. Jean folgte diesen Anweisungen nach einiger Zeit beinahe blind und fuhr Runde um Runde. Wie aus einer Trance tauchte er auf, als sie schließlich zum Stehen kamen und er sich mit vollkommener Ruhe und Gelassenheit an Robert wandte, der ihn mit einem Lächeln musterte. „Kann es sein, dass Sie Ihre Sportart verfehlt haben, Mr. Moreau? Sie könnten auch Rennfahrer sein.“ In Anbetracht der Tatsache, dass er sich nie von sich aus für Exy entschieden hatte, sondern dazu gezwungen worden war, diesen Sport auszuüben, konnte es durchaus sein, dass hier ein zweites Talent lag. Oder dass hierfür sein Herz auch wirklich schlug. „Warum nicht?“, verließ es Jeans Lippen ohne dass er die Worte wirklich geplant hatte. Robert grinste und zuckte mit den Schultern. „Was nicht ist, kann noch werden.“ Nein, das konnte es nicht, dafür war sein Leben viel zu abhängig von Exy. Jean seufzte innerlich und schüttelte den Kopf. „Es bleibt beim Privatgebrauch“, sagte er mit einer Sehnsucht in seiner Stimme, die er nicht wirklich verbergen konnte. „Wenn nicht, sagen Sie Bescheid. Ich habe einen kleinen Rennstall in einer der unwichtigeren Ligen. Ich könnte Sie den anderen Fahrern mal vorstellen. Oder Sie könnten mal mitfahren.“ Überrascht blinzelte Jean. Er nickte, bevor er diese Gelegenheit ausschlagen konnte und Robert hob die Augenbrauen. „Dachte ich es mir. Noch eine Runde?“ Wer war Jean, dass er diese Frage verneinte? ~~**~~ Wenn Jean gedacht hatte, dass die Party in dem Studentenwohnheim vor ein paar Monaten schon schlimm gewesen war, dann hatte er nicht damit gerechnet, dass ein Club die doppelte und dreifache Menschenmenge auf engem, stickigen Raum pressen konnte und das dann noch einen entspannten Abend zu nennen wagte. Überall, wo er hinsah, waren Menschen, während im Hintergrund die Musik dumpf aus den Bässen dröhnte. Es war die gleiche Musik wie die, zu der Knox auch in ihrem Apartment tanzte, und entsprechend aufgeregt war sein Kapitän auch, als er an seiner Seite von einem Fuß auf den anderen trat und darauf wartete, dass sie zu ihrer Loge eingelassen wurden. Wobei Loge ein großes Wort war, wenn er sich ihren abgeschiedenen Bereich ansah, von dem aus man die Tanzfläche und die Bar sehen konnte. Alles war bunt ausgeleuchtet und an den Decken hing Weihnachtsdekoration, die genauso kitschig war wie die in der gesamten Stadt. Jean erinnerte sich zwar nicht mehr richtig an die Weihnachtsdekoration in Marseille, aber er glaubte nicht, dass sie sich mit diesem bunten Augenkrebs hier messen konnte. Am Skurrilsten war der Rundbogen aus stacheligen, grünen Blättern, der am anderen Ende des Clubs stand und rot und grün erleuchtet war. Wie ein seltsames Objekt stach er heraus und Jean nahm sich vor, Knox nach dem Sinn dieser Hässlichkeit zu fragen. Sein Kapitän sah anders als sonst, mit einer engeren Jeanshose und einem weinroten T-Shirt, das mal keinen Trojansschriftzug hatte. Es saß auch etwas enger und Jean fragte sich, ob es das war, was man in einem LGBTQI+-Club anzog. Er selbst trug ein dünnes, weißes Langarmshirt und eine Jeans, beides weniger eng als das, was sein Kapitän trug. Es stand ihm gut und Jean bemerkte, dass Knox‘ Hose seinen Hintern betonte. In Anbetracht der Tatsache, dass ihr Besuch laut dieser Liste nur zum Sinn hatte, Knox von dem Reporter abzulenken, ihm neue, hübsche Männer zu zeigen und dafür zu sorgen, dass er von welchen angesprochen wurde, schien es Knox‘ Antwort darauf zu sein. Zumal dieser Hintern, den Jean bereits ohne Hose gesehen hatte, ja auch ansehnlich war. Tief in sich wusste Jean allerdings auch, dass er nicht wollte, dass Knox einen anderen Jungen kennenlernte. Der Gedanke war gleichermaßen erschreckend wie egoistisch und Jean hatte nur eine Ahnung, warum er so dachte. Eine sehr konkrete Ahnung. Er ist mein Kapitän, blockte er diese ab. Andererseits wäre es vielleicht ganz gut, wenn Knox heute Abend abgelenkt sein würde, denn kaum dass sie das Autohaus verlassen hatten, war Jean mit Fragen bombardiert worden, die alle nur eins zum Ziel hatten: ihn zu fragen, ob er sich sicher war, soviel Geld für so einen Wagen auszugeben, ohne direkt zu fragen, ob er soviel Geld für so einen Wagen ausgeben würde. Am Anfang war Jean noch verwirrt über die um das eigentliche Thema herumschiffenden Fragen gewesen, doch am Ende hatte es ihn nur noch mehr amüsiert, dass Knox es partout nicht geschafft hatte, die eigentliche Frage zu stellen. Nicht, dass Jean ihm die Antwort verweigert hätte, nein. Wenn er sich bei einem sicher war, dann, dass er ihn haben wollte. Einen McLaren 570 GT, einen Sportwagen, der mit einem eigenen Team an Mechanikern kam, wenn er technische Probleme haben sollte. Ein Wagen, der Geldanlage und Lebensentscheidung zugleich war. Jean hatte sich lange überlegt, was er mit dem Geld der Moriyamas anstellen wollte, dieser menschenverachtenden Entschädigung. Nachdem er den Sportwagen am Flughafen gesehen hatte, hatte er immer wieder darüber nachgedacht, das Geld für etwas auszugeben, das ihm wirklich gefiel und ihm ein gutes Gefühl bereitete. Nach der Probefahrt war sich Jean sicher gewesen, dass es ihm gelingen würde, die schlimmen Gedanken bezüglich des Geldes in etwas Schönes umzuwandeln. Ja, Jean liebte den Wagen, das wusste er mit Sicherheit. Er liebte den kupferroten Lack, das helle Innendesign, das Geräusch des Motors, er liebte die Schnelligkeit. Er wollte es, wie er selten etwas gewollt hatte in den letzten Jahren. Und so hatte er den Kaufvertrag unterschrieben und musste nun drei Monate auf die Fertigstellung warten. Dass er seinen Kapitän damit außer Gefecht setzen würde, damit hatte er nicht gerechnet, der hin- und hergerissen zwar zwischen Unglauben, Ohnmacht und Besorgnis. Wenn Jean sich allerdings nicht recht täuschte, dann war da auch ein wenig wohlversteckte Begeisterung. „Ey, Moreau!“ Jean beschloss, Alvarez alleine deswegen schon zu ignorieren, weil aus so einer Einleitung nie etwas Gutes bei ihr herauskam. Außerdem war er damit beschäftigt, den Menschen aus dem Weg zu gehen, die sich hier auf engstem Raum zusammendrückten. Eine unlösbare Aufgabe, aber wer war er, dass er nicht zumindest versuchte, erfolgreich zu sein? Im Nachhinein hätte er wirklich in ihrem Apartment bleiben sollen. Vielleicht wäre er sogar eingeschlafen. Müde genug dafür war er nach ihrem Besuch bei dem McLaren-Händler und Knox‘ inquisitorischen Blicken und Fragen im Anschluss daran sicherlich. Doch er hatte sich entgegen Knox‘ Rat dazu entschieden, mitzukommen – und zu leiden – und nun war er hier, das erste Mal in seinem Leben in einem Club. Wenn es nach ihm ginge, wäre es auch das letzte Mal, aber er befürchtete, dass die Tanzbegeisterten an seiner Seite ihn damit nicht durchkommen ließen. „Französische Gewitterwolke!“, rief sein Vizekapitän über den Lärm des Liedes hinweg und nun drehte sich Jean tatsächlich um. „Was willst du trinken?“ Das war weniger schlimm, als Jean befürchtet hatte. „Wasser in der Flasche, geschlossen.“ Alvarez nickte. „Das Gleiche wie immer. Laila?“ „Bier“!“ „Val? Logan?“ „Zwei Bier!“ „Alles klar, für mich dann eine Coke.“ Sie wandte sich an ihren Kapitän. „Jer, gehst du holen?“ Zuerst überrascht, dann etwas säuerlich starrte ihr der blonde Junge in die Augen und Jean schnaubte amüsiert. „Klar!“, grimmte Knox schließlich und setzte sich in Bewegung. Kaum war der Junge in der Menge verschwunden und kaum hatten Logan und Val sich auf die Couchecke zurückgezogen, wandte Alvarez sich ihm zu und starrte abwartend zu ihm hoch. „Moreau.“ „Alvarez“, echote Jean. „Moreau.“ Er rollte mit den Augen. „Hast du gestern beim Training was auf den Kopf bekommen?“ „Wieso starrt dich unser Sonnenschein so an, als würde er etwas sagen wollen, sich aber nicht traut, das zu tun?“ Jean zuckte mit den Schultern. „Frag ihn selbst?“, erwiderte er und sie schnaufte. „Er starrt dich an.“ „Das tut er öfter.“ „Aber nicht so.“ „Also starrst du ihn an, während er mich anstarrt?“, hakte Jean ironisch nach und Alvarez grinste. „Bleibt somit in der Familie, schließlich starrst du Captain Sunshine auch an.“ Jean drehte sich kommentarlos weg und setzte sich zu den beiden küssenden Menschen auf die Eckcouch, die glücklicherweise groß genug für sie alle war. Er beobachtete, wie Knox mit dem Barkeeper flirtete und ihre Getränke zusammenraffte. Geschickt und im Takt der Musik bahnte er sich seinen Weg durch die tanzenden Leiber zurück zu ihnen und stellte die Getränkeflaschen auf den kleinen, runden Tisch. Die Tanzwütigen hielten es noch nicht einmal eine halbe Getränkelänge auf der Couch aus, bevor sie auf die Tanzfläche stürmten und Logan mit Jean alleine ließen. Anscheinend war auch er lediglich mitgekommen, um Val zu begleiten, die mit Knox, Laila und Alvarez momentan aus seinem Pulk an Leibern bestand. Alvarez‘ Worte kamen ihm in den Sinn. Beobachtete er Knox auch? Momentan sicherlich schon, aber momentan versuchte er auch zu ergründen, was der Spaß daran sein mochte, sich zu dieser Musik zu bewegen. Die Worte des Reporters kamen ihm in den Sinn und er legte nachdenklich den Kopf schief. Er strich mit dem Daumen über den Hals der Wasserflasche, während er sich vorstellte, wie es wäre. Könnte er Knox so nahe sein wie es die Männer in dem Video waren? Könnte er über seinen Körper streichen und auch zulassen, dass Knox das Gleiche tat? Konnte er seinem Kapitän so nahe sein, in dem Wissen, dass Knox ihn zwingen konnte? Jean erinnerte sich noch gut daran, wie Knox gestöhnt hatte, als er ihn und den Reporter überrascht hatte. Würde er auch für ihn stöhnen? Jeans Gedanken schweiften erneut zu den beiden Männern aus dem Video und er fühlte den wohlvertrauten Stich an Hitze in seinem Unterleib. Überrascht sah Jean ach unten und merkte, dass seine Hose auf einmal enger wurde. Wenn das so weiterging, würde man sehen, dass er erregt war. Das war… „Sie haben dich auch gezwungen, hierher zu kommen, oder?“, riss Logan ihn aus seinen Gedanken und Jean zuckte so gewaltig zusammen, dass er beinahe seine Wasserflasche fallen ließ. „Nein! Ich habe niemanden gezwungen!“, erwiderte er hastig und Logan hob die Augenbrauen. Er musterte ihn, als hätte er den Verstand verloren. Minimal lehnte er sich zu ihm. „Ich habe gefragt, ob sie dich auch gezwungen haben“, deutete er irritiert mit der Hand zur Tanzfläche. Jean schluckte schwer und folgte Logans Fingerzeig, auf der sich die Körper seines Teams aneinanderrieben. Er hatte das doch schonmal gesehen, warum war er nun anders? Er nahm Knox anders wahr als vor Monaten. Was war es denn dort gewesen? Eine Ansammlung an Herumgezappel, unnötig in Jeans Augen. Und nun fühlte er sich von eben jenem angesprochen, er empfand es als ästhetisch und anregend. Unerfreut bemerkte Jean, dass sein Körper ihm da durchaus zustimmte. Er besann sich, dass Logan ihm eine Frage gestellt hatte. „Nein. Ich habe ihn freiwillig begleitet“, erwiderte er und erhob sich abrupt. „Ich gehe zum Klo.“ Das wäre momentan der sicherste Ort, um dem Anblick seines Kapitäns und seiner aufkommenden Lust zu entkommen, die sich zum ungünstigsten Zeitpunkt meldete. „Alles in Ordnung mit dir?“ Er sah vorsichtige Sorge auf Logans verwirrtem Gesicht und nickte. „Zuviel Wasser“, log Jean murmelnd und bahnte sich seinen Weg durch die Menschen zu den Toiletten, die ebenso bunt erleuchtet waren wie der restliche Club auch. Der Bass des Liedes wummerte durch die geschlossenen Türen und es war mehr los als Jean erwartet hatte. Schneller, als jemand Blickkontakt zu ihm herstellen konnte, hatte er sich in eine der Kabinen zurückgezogen und die Tür hinter sich geschlossen. Jean hoffte, dass die sterile und fremde Umgebung ihn schneller wieder zu sich brachte, als es die Eckcouch tun würde, doch weit gefehlt. Aus der Nebenkabine drangen – so erkannte er nach ein paar Sekunden mit Schrecken – eindeutige Laute der einvernehmlichen Lust. Unterdrücktes Stöhnen, feuchte, frivole Laute, die Jean ungläubig die Augen schließen ließen. Das durfte doch nicht wahr sein. Das. Durfte. Nicht. Wahr. Sein. Es war so, als würde das Universum ihm gerade aufzeigen wollen, dass seine Lust das Richtige war und dass er ihr nicht so leicht entkommen konnte. Sollte. Was auch immer. Die zwei Männer neben ihm sagten es ihm auf eine sehr deutliche Weise und Jean verließ die Kabine, als das dumpfe, rhythmische Pochen gegen die dünne Toilettenwand an Geschwindigkeit aufnahm. Augenrollend wusch er sich die Hände und verließ die Toilette. Wieder hinein in die lärmende, fröhliche, tanzende Menschenmenge. Jean grollte und stellte sich unter den komischen Bogen, der momentan der am Wenigsten besuchte Ort in diesem Club zu sein schien. Er seufzte und atmete tief durch. Es kribbelte und prickelte immer noch in ihm, doch die Menschenmenge war ihm wie ein Schutz zwischen ihm und Knox, dessen Körper, dessen Bewegungen und seinen eigenen, unverständlichen Gedanken, die ihn in das reinste Gefühlschaos stürzten. „Hi.“ Beinahe hätte Jean die sanfte Stimme neben ihm nicht gehört. Beinahe hätte er geglaubt, dass es jemand anderem galt. Doch die physische Anwesenheit der Person neben ihm sagte ihm etwas Anderes. Jean sah nach rechts und musterte den schwarzhaarigen, zierlichen Jungen, der beinahe einen ganzen Kopf kleiner war als er. „Hallo“, erwiderte er mit einem neutralen Lächeln, wie er es bei Theodora gelernt hatte. Vermutlich war der Junge Exy-Fan und wollte ein Selfie oder Ähnliches. „Ich bin Marc. Freut mich, dich kennen zu lernen.“ „Jean“, entgegnete er zögernd. „Was für ein schöner Name.“ Jean wollte schon mit den Schultern zucken, doch der verträumte Ausdruck in den dunklen Augen hielt ihn davon ab. Wann war das letzte Mal gewesen, dass ihm jemand gesagt hatte, dass sein Name schön war? Sein Vater hatte das getan, damals in Marseilles. In einem anderen Leben. „Danke“, erwiderte er. Anscheinend war Marc doch kein Exy-Fan, wenn er ihn nicht kannte. Die Frage war, warum er ihn dann ansprach. „Ich habe dich hier noch nie gesehen“, zwinkerte Marc und Jean nickte. „Ich bin zum ersten Mal hier“, erwiderte er vorsichtig, ungelenk gar. Er war nicht gut darin, sich mit Fremden zu unterhalten und schon gar nicht mit Fremden, die ihn so ansahen, wie Marc ihn ansah. Knox hatte ihn auch schonmal so angesehen und da war viel zu viel Begeisterung in den Augen gewesen, dass Jean wusste, wie er damit umgehen sollte. „Mit meinem Team“, schob er hinterher und deutete auf die Tanzfläche, auf der er keinen von ihnen sah. „Uuuh, ein ganzes Team?“ Marc legte den Kopf schief und wenn Jean sich nicht täuschte, dann war er auch einen Schritt näher getreten. „Sie sind sicherlich nicht so groß und muskulös wie du.“ „Naja, manche sind größer, einige kleiner, ich bin schon ziemlich groß…“ „Überall?“ Jean blinzelte. Er verstand nicht, was der andere Junge meinte. „Was meinst du?“ Marc grinste und krümmte den Zeigefinger um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Jean beugte sich vorsichtig zu ihm hinunter, nur dass Marc nicht im Geringsten daran interessiert war, ihm etwas zu sagen. Die Lippen, die sanft auf seinen lagen und ihn küssten, irritierten und schockierten Jean so sehr, dass er im ersten Moment einfach verharrte und dem Gefühl nachspürte, das von der unerwarteten und intimen Berührung ausgingen. Ein fremder Junge küsste ihn und das Schlimmste daran war, dass Jean weder den Gedanken noch das Gefühl abstoßend fand. Die Lippen waren weich und warm und fühlten sich so an, wie Knox‘ Lippen auf seiner Hand. Der Geruch des Jungen war angenehm und seine Nähe trotz allem unaufdringlich. Es war angenehm und dennoch irgendwie… Jean löste sich von Marc und räusperte sich mit großen Augen. „Warum hast du das getan?“, fragte er mit klopfendem Herzen und Marc runzelte verwirrt die Stirn. „Naja…du stehst unter dem Mistelzweigbogen. Das ist der Ort für Küsse hier. Mistelzweig und und so, Tradition des Clubs dies das.“ Er sagte das so, als müsse Jean wissen, was damit gemeint wäre und stumm verfluchte er seine Unwissenheit und auch die mangelnde Einführung durch sein Team in solche Gebräuche. „Unter so etwas wird geküsst?“, fragte er nach und Marc nickte verwirrt. „Aber ja. Unter Mistelzweigen.“ Er deutete nach oben und Jean folgte seinem Fingerzeig. Oh. Jean schluckte und spürte verdächtige Röte seine Wangen emporkriechen. „Also, ich…“, begann er, wusste aber nicht wirklich, wie er den Satz beenden sollte. „Du wusstest das nicht?“, hakte Marc sacht nach und er schüttelte den Kopf. Der andere Junge lachte liebevoll. „Alles klar, schöner, unwissender Mann. Wenn du nicht geküsst werden möchtest, solltest du dich von diesem Bogen fernhalten.“ Jean nickte schweigend und deutete auf die Tanzfläche. „Okay…und außerdem bin ich mit meinem Kapitän hier“, sagte er, als würde das alles erklären und vielleicht tat es das auch. Er war in Gedanken bei Knox, nicht bei diesem Jungen. Er hatte nichts gegen einen männlichen Kuss, aber eben nicht von Marc. Eben jener brauchte etwas, bis er verstand. Verschmitzt lächelte er und zog einen Stift aus seiner Tasche. „Also, Mann mit dem wohlklingenden, romantischen Namen, wenn du mal nicht mit deinem… Kapitän hier bist, dann hast du hier meine Nummer.“ Er zwinkerte und griff sanft nach Jeans linker Hand. Die Spitze des Stiftes kitzelte auf seiner Handinnenfläche und Jean starrte fasziniert auf die Nummer, die sich dort manifestierte. „Ruf mich an. Und sei dir gewiss, dass ich jederzeit für dich auf die Knie gehen werde, egal, wie groß du bist.“ Jean rätselte noch über den Sinn der Worte, als Marc ihm schon Kuss auf die Wange hauchte und in der Menge verschwand. Jean sah ihm verwirrt hinterher und als er die nächste Bewegung in seinem Augenwinkel sah, sah auch er zu, dass er weitestmöglichen Abstand zu diesem Bogen bekam. Mit starrem Blick kämpfte er sich zu ihrer Ecke, in der mittlerweile alle saßen, auch die nimmermüden Tänzer. Vorsichtig ließ er sich nieder und Knox beugte sich vor. Auf seiner Stirn glänzte etwas Schweiß und Jeans Aufmerksamkeit fing sich an den strahlenden Augen und geöffneten Lippen. „Alles in Ordnung, Jean?“, fragte er über den Lärm ihres Teams hinweg, die sich gerade angeregt über die semi-professionellen Tänzer auf dem Dancefloor stritten. „Ich bin mir nicht sicher“, begann Jean und starrte auf seine Handfläche, auf der Marcs Nummer herausstach. Er hielt sie dem blonden Jungen hin und schürzte unwirsch die Lippen. „Ich stand unter dem Bogen da hinten. Diesem Mistelzweigbogen, unter dem man sich küssen soll. Ich wusste das nicht und dann war da Marc. Er hat mich geküsst“, sagte er nicht ohne Vorwurf in Richtung seines Kapitäns. Knox‘ Augen weiteten sich und besorgt berührte er Jeans Hand. „Was? Einfach so? Geht es dir gut? Wenn er dich gegen deinen Willen angefasst hat, dann können wir die Security…“ „Es war okay“, schnitt Jean den Strom an immer lauter werdenden Worten ab. Er senkte die Augen auf ihre beiden Hände. „Unerwartet, aber okay. Als ich mich von ihm gelöst habe, war das okay für ihn, er hat mich zu nichts gezwungen.“ „Das…oh.“ Jean nickte. „Aber er hat etwas gesagt, mit dem ich nichts anfangen kann. Er meinte, dass er jederzeit für mich auf die Knie gehen würde, egal, wie groß ich wäre. Was meint er damit?“ Jean wurde sich nur am Rande bewusst, dass der Rest der anwesenden Trojans ihre Diskussion beendet hatten. Er sah das nicht als schlimm an, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als Knox‘ Augen groß und rund wurden und der Rest der Anwesenden in lautstarkes Gegröle ausbrach, das eindeutig ihm galt. Ohne jeden Zweifel. Verwirrt sah er zu ihnen und starrte in durchweg grinsende Gesichter. Grollend wandte er sich wieder an seinen Kapitän, doch Knox war da nicht besser und in den nächsten Minuten lernte Jean alles über Synonyme für Oralsex, was er in seinem Leben nicht hatte wissen wollen. So sehr es ihn auch in alle Richtungen grollen und sein Team verfluchen ließ… die Erinnerungen an Evermore blieben in diesem Moment stumm und ruhten zugunsten des normalen Lebens und der Freiwilligkeit sexueller Handlungen. ~~~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)