Force of Nature von Cocos ================================================================================ Kapitel 14: Jean, der Schwerverbrecher -------------------------------------- Anderthalb Stunden. Neunzig Minuten. Fünftausendvierhundert Sekunden. Jean sah seinem Kapitän in das Gesicht, das ihm mit soviel Wärme entgegenstrahlte. Er sah in die Augen, die soviel Hoffnung bargen, wie sie Jean noch niemals in seinem Leben gefühlt hatte. Hoffnung, die dieser für ihn fühlte. Aufregung um diese Entdeckung, die eine solche Energie in dem blonden Jungen freisetzte, dass die Luft zwischen ihnen schier aufgeladen war. Nachdem er nach Evermore gebracht worden war, hatte er darum gebeten, seine Familie sehen und mit ihnen sprechen zu dürfen. Er war solange für seine Bitten und sein Flehen geschlagen worden, bis sein Kiefer zu geschwollen war, um auch nur ein einziges Wort mehr darüber zu verlieren. Jean wusste nicht mehr, wie oft sie das wiederholt hatten, bis er aufgehört hatte, nach ihnen zu fragen. Seinem Vater mit den strengen, aber gerechten Augen. Seiner Mutter, die mit eiserner Hand ihre Familie und die Geschäfte führte. Er hatte aufgehört zu fragen, aber für eine lange Zeit nicht aufgehört zu hoffen, dass seine Mutter ihn holen würde, so wie sie immer alles in Ordnung brachte. Rikos Worte, dass seine Eltern ihn nur deswegen weggegeben hatten, weil er wertlos und nur zum Exy spielen nützlich war, hatten lange Zeit kein Gehör gefunden. Doch mit jedem Monat, der verstrichen war, hatte Jean dem ein Stückchen mehr geglaubt, bis er sie schließlich regelrecht gehasst hatte. Wie er alles gehasst hatte. Und nun? Fünf Millionen als Ausgleich und Schweigegeld. Die Adresse seines Vaters, seiner Familie. War es Folter? War es ein Geschenk? Jean wusste es nicht und die Unsicherheit dessen tobte wie ein chaotischer Sturm in seinem Inneren, dessen einziger Anker Knox‘ Hand auf seinen Fingern war, die Jean in all ihrer erschreckenden Wärme und den harten Schwielen am Boden der Tatsachen hielt. Trotz seiner rauen Hände war Knox sanft, seine Anwesenheit nur unmerklich spürbar. „Anderthalb Stunden“, wiederholte er rau und senkte den Blick. Die Frage, die am Augenscheinlichsten war, steckte in ihm fest, weil er sich nicht traute, sie zu stellen. Aus Angst vor einer Antwort. Aus Angst vor dem, was er sich selbst wünschte. Wollte er sie denn überhaupt wiedersehen, auch wenn es ihm erlaubt war? Jean konnte nichts dazu sagen, er wollte nichts dazu sagen. Nicht jetzt, wo die Wunde frisch aufgerissen worden war und ihn nun ausblutete. „Du könntest hinfahren“, sprach Knox das aus, was Jean noch nicht einmal zu denken wagte. „Ich habe kein Auto“, erwiderte er entsprechend zurückhaltend und ein leises Lachen ließ ihn seinen Blick heben. „Also ich weiß ja nicht, wie es in Frankreich so ist, aber in Amerika bekommt man für fünf Millionen schon ein sehr nettes Auto.“ Es war ein Scherz und beinahe hätte Jean darüber geschmunzelt, trotz all des Chaos in ihm. Oder gerade deswegen. „Ich bin nicht Minyard“, gab er zurück, ganz zur Freude des Jungen neben ihm. „Darum bin ich wirklich froh. Er ist gruselig und angsteinflößend.“ Jean schnaubte. „Ich nicht?“, hielt er dagegen, bevor er sich beherrschen konnte, und Knox legte den Kopf schief. „Nur manchmal.“ Jean hob erstaunt die Augenbraue, rechtzeitig genug um das Zwinkern zu sehen. „Bei unserem ersten Spiel gegeneinander hatte ich schon Angst vor dir und deiner Art, jeden Striker abzuschrecken, der dir zu nahe kommt. Aber dann warst du mir ein Ansporn, besser und schneller zu werden um mit dir mithalten zu können und dir ein ebenbürtiger Gegner zu sein. Also habe ich trainiert und trainiert und schlussendlich habe ich es an dir vorbeigeschafft.“ Knox erklärte ihm voller Stolz, was Jean nur Schmerzen eingebracht hatte. Vielleicht traf die Wahrheit auch deswegen tief genug, dass Jean tatsächlich die Kraft dazu fand, darauf zu antworten. Das Verlangen in ihm, einer Wahrheit mit einer anderen zu begegnen, war in der Vergangenheit immer wieder aufgetaucht, allerdings hatte er das in Evermore zugunsten seines eigenen Überlebens zurückgestellt. Hier sprudelten Worte an die Oberfläche seiner Selbstbeherrschung, die Jean nicht aufhalten wollte. „Riko hat für mich für jedes Mal, wenn ich dich durchgelassen und gegen dich verloren habe, bestraft“, sagte er so ausdruckslos, wie es ihm möglich war, doch auch das löste einen auch körperlich spürbaren Schock in seinem Kapitän aus. Er zuckte und die Hand auf seiner fasste enger zu. Enger, aber nicht schmerzhaft. Die andere, noch freie Hand legte sich auf seinen Oberarm, als würde Knox ihn festhalten wollen. Jean fuhr zusammen und sah in die blauen, großen Augen, die ihn nunmehr furchtsam und entsetzt maßen. „Oh mein Gott, Jean, das…“ Weiter kam Knox nicht, als er an ihm heruntersah, auf die Finger, seinen Blick dann wieder nach oben schweifen ließ, zur Beanie. „Warum?“ „Er war eifersüchtig, weil Day so offensichtlich begeistert von dir war und dich gelobt hat. Ehrlicher, als er es bei Riko getan hat.“ Jean schluckte gegen den Kloß in seinem Hals an, der die kommenden Worte unten hielt. Riko hatte auch andere Dinge aus dieser Eifersucht heraus getan und für eine Sekunde lang wollte Jean ihm auch das mitteilen. Die ganze, ungeschönte Wahrheit. Doch das würde den Jungen vor ihm brechen. Alleine das Wenige, was er bisher gesagt hatte, bestürzte seinen Kapitän mehr, als es Jean jemals angenommen hätte. Jean sah deutlich den feinen Tränenfilm, der in den blauen Augen schwamm. Er würde mit seinen Worten die strahlende Reinheit beschmutzen, also schluckte er sie tief hinunter. Er vergrub sie in den letzten Winkel seiner Gedanken. „Es tut mir leid. Es tut mir so unendlich leid, Jean. Bitte entschuldige.“ Irritiert runzelte Jean die Stirn. Knox entschuldigte sich für etwas, das er nicht getan hatte. Wie gut konnte ein Mensch sein? Wie gut konnte ein Kapitän sein? Jean ahnte die Antwort, auch wenn er sie nicht vollständig anzunehmen bereit war. Langsam nickte er. Wenn er log, wäre der Moment, der ihn mit jeder fortschreitenden Sekunde unsicherer machte, eventuell schneller vorbei. „Es ist Vergangenheit. Es ist passiert“, wiegelte er ab und hörte, wie die in seinem Unterbewusstsein lauernden Alpträume ihn schon jetzt verhöhnten. „Es wird nie wieder passieren, das schwöre ich dir.“ Jean wollte es seinem Kapitän glauben. Er wollte den Schwur glauben, auch wenn jahrelange Erfahrung ihn davon abhielt. Trotzdem beruhigten ihn sowohl Ton als auch Worte des anderen Jungen. „Danke“, sagte er leise und meinte es auch so. Mehr wusste er nicht dazu zu sagen, so verharrte er in dem Griff des blonden Jungen, der dazu übergegangen war, über seinen Arm zu streichen, als würde er ein kleines Kind beruhigen. Auf und ab, zu sanft, um wirklich zu schmerzen. Trotzdem setzte die Berührung seine Haut unter dem Shirt in Brand und verursachte Jean eine Gänsehaut. Er fragte sich, ob er es wagen konnte, so kurz, nachdem er seinem Kapitän eine eindeutige Schwäche preisgegeben hatte. Jean wusste es nicht, also gestattete er sich zu hoffen. „Würdest du“, begann er und schluckte schwer. Die Vergangenheit sagte ihm, dass seine nachfolgende Bitte keine Aussicht auf Erfolg haben würde. Die Gegenwart machte ihm ein gegenteiliges Versprechen. Jean setzte erneut an. „Würdest du mich loslassen?“ Es verging noch nicht einmal eine Sekunde, da folgte Knox seiner Bitte und löste beide Hände von ihm. Langsam trat er einen Schritt zurück und lächelte schief, während Jean seine Arme um sich schlang, mit besonderem Augenmerk auf die Stellen, die vor menschlichem Kontakt nur so prickelten. „Danke“, presste er erneut hervor und besann sich auf das Thema, was sie vorher hatten. Nur weg von diesem Eingeständnis der Schwäche. „Selbst wenn ich ein Auto hätte“, lenkte er sie weg von seinem Geständnis, weg von den dunklen Erinnerungen an Evermore. „Ich habe keinen Führerschein. Ich kann nicht Auto fahren.“ Knox brauchte einen Moment, um auf die dankbare Ablenkung einzusteigen. Er zögerte zunächst, dann kam er anscheinend mit sich ins Reine und lächelte wieder, auch wenn eben dieses vorsichtig war. „Das wäre kein Problem. Alvarez und ich könnten dir das Fahren beibringen und dann machst du deinen Führerschein nach.“ „Dürfte ich dann zu ihm fahren, wenn ich einen Führerschein habe?“ Die Frage aller Fragen und Jean wusste, dass er einen ungünstigen Zeitpunkt gewählt hatte, um sie zu stellen, wo er Knox‘ Geduld doch schon mit seinen vorherigen Worten mehrfach auf die Probe gestellt hatte. Doch das sah dieser ganz und gar anders. „Selbst wenn du ihn vorher nicht hast, kannst du jederzeit zu ihm. Ich kann dich fahren. Oder Alvarez. Laila ist dir vielleicht lieber, sie wird dich weniger mit ihrem Fahrstil umbringen als wir beide. Oder du kannst jemand ganz anderen fragen. Wir alle würden dir sehr gerne helfen.“ Jean nickte, weil er keine Ahnung hatte, wie er sonst darauf reagieren sollte. Ob er es überhaupt wollte und wie er mit den Möglichkeiten, die sich ihm gerade aufgetan hatte, umgehen sollte. ~~**~~ Jean starrte auf das Bild, das er noch bei Tageslicht gemacht und Renee gerade geschickt hatte. Sein Finger, wie er als Lesezeichen für die Stelle in dem Buch diente, das sie ihm geschenkt hatte. Er war weit gekommen, zumindest bis zu dem Moment am heutigen Abend, an dem er den Umschlag geöffnet und Zeilen gelesen hatte, die seine Welt auf den Kopf stellten und ihn mit seinen Gedanken an die Vergangenheit zurückließen. ~Gefällt es dir?~, pingte ihre Nachricht stumm auf. Knox schlief bereits und er wollte den Jungen nicht wecken. ~Ja.~ ~Das freut mich. Wie geht es dir?~ Jean schürzte unwirsch die Lippen. ~Ich habe etwas von den Moriyamas bekommen~, begann er das, was er Renee bisher verschwiegen hatte, weil er nicht die Kraft gehabt hatte, es anzusprechen. ~??~ Wie Jean gelernt hatte, waren die einzelnen Fragezeichen eine Bitte nach mehr Informationen und gleichzusetzen mit einem entsprechenden Smiley. ~Vor ein paar Tagen war die Chefanwältin hier. Im Auftrag von Lord Moriyama hat sie ihr Bedauern ausgedrückt für das, was passiert ist. Es hat bei der Untersuchung wohl ein Video gegeben, das zeigt, wie sie…~ Jean hielt inne. Er konnte das Wort noch nicht einmal schreiben. ~…Dinge mit mir tun. Sie hat mir deswegen zwei Umschläge gegeben. In dem einen waren die Daten für ein Konto mit fünf Millionen Dollar. In dem anderen die Adresse meines Vaters.~ Renees Antwort benötigte keine zwei Sekunden. ~Möchtest du telefonieren?~ ~Nein. Knox schläft schon.~ ~Okay. Wie geht es dir damit, Großer?~ Wie immer, wenn sie ihn so nannte, kribbelte es in seiner Magengegend und Jean konnte sich des warmen, wohligen Gefühls in seinem Inneren nicht erwehren. Er hatte ihre sanfte Stimme in seinem Ohr, wie sie den Spitznamen aussprach. ~Ich weiß es nicht. Sie hat es Entschädigung genannt und mich ein wertvolles Investment.~ ~Du bist ein Mensch, Jean, kein Investment.~ Wie oft hatte Renee ihm das gesagt? Entweder per verbotener Nachricht in Evermore oder persönlich auf den Banketten oder im Haus der Krankenschwester. Jean hatte vorher nicht begriffen, was das bedeuten sollte, doch die nicht enden wollenden Bemühungen seines momentanen Teams schienen Wirkung zu tragen und er ahnte, was es hier bedeutete, ein Mensch zu sein. Der Geschmack des Eis kam ihm wieder in den Sinn. ~Soll ich hinfahren?~, fragte er aus dem Kontext gerissen, doch sie verstand, was er meinte. ~Möchtest du es denn?~ ~Ich weiß es nicht.~ ~Was sagt dein Bauchgefühl?~ Wie einfach es ihm doch im Gegensatz zu ihrem ersten Zusammentreffen fiel, auf die Frage zu antworten. Damals, vor einer gefühlten Ewigkeit, hatte Renee ihm diese Frage gestellt und er hatte nicht gewusst, wie er darauf antworten sollte, weil er nicht wusste, was es war. Jean hatte den Fehler gemacht, genau das Renee abwertend mitzuteilen und so war ihr erstes, längeres Gespräch genau darum gegangen. Es hatte noch Wochen gedauert, bis er sein Bauchgefühl das erste Mal hatte benennen können. ~Sie haben jahrelang nicht nach mir gefragt, sich nicht um mich gekümmert. Sie haben zugelassen, dass mir wehgetan wird. Ich weiß nicht, ob ich sie hassen oder sie ignorieren soll. Der Herr und Riko haben immer gesagt, dass sie mich nicht mehr wollen und deswegen weggegeben haben.~ ~Glaubst du ihnen das?~ ~Mittlerweile nicht mehr.~ Es entsprach tatsächlich der Wahrheit. Er hatte – mithilfe von Renee – verstanden, in welchem Ausmaß er auch psychisch missbraucht worden war. ~Möchtest du, dass ich mitkomme?~ ~Wenn ich fahre, dann ja.~ Wer, wenn nicht sie? Für einen Moment lang versuchte Jean sich vorzustellen, wie es wäre, wenn Renee und Knox mitkämen. Im nächsten Augenblick schauderte er bei dem Gedanken daran, erinnerte er sich doch noch gut an das Videotelefonat zwischen ihnen Dreien. Nein, es wäre das Beste, wenn die Beiden sich nicht weiter sahen und trafen. ~Ich bin jederzeit bereit, vorbeizuschauen. Das weißt du, Großer.~ Das Herz hinter ihrer Nachricht hatte die gleichen Pastelltöne wie ihre Haare. ~Du hast eine Saison zu spielen~, hielt er dagegen und der kommende, augenrollende Smiley wurde gepaart mit einem Exyschlägersmiley in den Farben der Foxes. ~Um dir den Hintern zu versohlen, wird es ausreichen, Backliner!~ Jean hob seine Augenbraue. ~Wen willst du mir dafür schicken? Den kleinen Rothaarigen oder den Sohn eures Trainers?~ Beinahe hätte Jean einen lachenden Smiley dahinter gesetzt. Sowohl mit Josten als auch mit Day würde er ohne Probleme fertig werden. ~Für dich würde ich sogar mein Tor verlassen.~ Ein ganzer Haufen an Lachsmileys begleitete ihre Worte und Jean seufzte. Der Spielplan stand noch nicht fest, aber es konnte gut sein, dass er es überhaupt nicht mehr bis zum Spiel gegen die Palmetto State Foxes schaffte. Wohl aber zu dem Kick-Off-Bankett, an dem alle Teams teilnehmen würden. Zum Start der Saison und für ein faires, sportliches Miteinander. Dass er nicht lachte. Jean runzelte und beschloss, das Thema nicht weiter zu verfolgen. Der Handel stand und kein einziges, positives Gefühl änderte etwas daran, denn auch das war Teil des Handels. Lieber stellte er da die anderen Fragen, die ihm auf der Zunge brannten und die er besser Renee als Knox stellte. ~Renee?~ ~Ja?~ ~Was ist ein Hetero-Crush?~ Der Smiley mit weit aufgerissenen Augen ließ ihn mit seinen eigenen rollen. ~In welchen Kontext hast du das gehört?~ ~Die Backlinerin, Alvarez, hat mich so genannt.~ ~Hat sie?!~ ~Ja.~ ~Hmmm. Alsooo… man könnte sagen, sie ist auf eine platonische Art verknallt in dich.~ Was…? ~Eigentlich heißt es gay crush und bedeutet, dass man in jemanden seines eigenen Geschlechtes verliebt ist – man muss aber nicht zwangsweise auf das eigene Geschlecht stehen dabei. Da Alvarez nicht auf Männer steht und mit Laila Dermott verbandelt ist, hat sie dich anscheinend als das hetero-Gegenstück auserkoren. Das heißt, sie ist in dich verknallt, ohne in dich verknallt zu sein.~ Jean starrte sein Handy an. Nun schickte er Fragezeichen anstelle einer Antwort. Er verstand mitnichten, was Renee ihm damit zu sagen versuchte. ~Kurz zusammengefasst: sie bewundert dich, ohne mit dir schlafen zu wollen oder dich sexuell attraktiv zu finden.~ Jean zögerte, bevor er die Frage stellte, dessen Antwort er so dringend benötigte. ~Also muss ich sie nicht befriedigen?~, tippte er widerwillig und Renee brauchte keine zehn Sekunden, um ihm zu antworten. ~Nein, Großer. Nein. Niemand wird dich mehr dazu zwingen, jemanden gegen deinen Willen zu befriedigen. Niemand, hörst du. Das ist Vergangenheit. Sie sind nicht wie Riko oder die Spieler aus Evermore.~ Jean zögerte, ihre Worte als solche anzunehmen. Zu schlecht waren seine Erfahrungen in der Vergangenheit gewesen. Doch bisher hatte sie mit allem Recht behalten, also klammerte er sich letzten Endes wie ein Ertrinkender an ihre Worte. ~Okay.~ ~Ich schwöre es dir, Jean.~ Jean seufzte und zuckte zusammen, als Knox es zum Anlass nahm, sich umzudrehen und unverständliches Zeug im Schlaf zu brabbeln. Seine Hand klopfte dabei ziellos auf die Matratze vor sich, bevor sich die Finger wieder zusammenkrümmten. ~Wie haben sie dich aufgenommen?~ Jean musste nicht fragen, wen Renee meinte. ~Sie waren nicht ablehnend. Ich denke, sie rechnen sich nun mehr Chancen auf zukünftige Siege aus.~ ~Was denkst du über sie?~ Er überlegte einen Moment und begann dann, all seinen Frust über die bisherigen Trainings über Renee auszuschütten. Zum Schluss seiner vier Nachrichten langen Beschwerde über all die Liderlichkeiten und Unfähigkeiten der Trojans, die verbesserungswürdig waren, atmete er schwer aus und starrte mit vor Unbill verzogen Lippen auf sein Handy. ~Du findest ihr Training zu lasch?~ fragte Renee zusammenfassend. ~Ja.~ ~Im Vergleich zu den Ravens.~ ~Natürlich.~ ~Im Vergleich zu den Ravens ist jedes Training einer anderen Mannschaft lasch, Großer.~ Er runzelte unwirsch die Stirn. Was er zuerst hatte verneinen wollen, gewann mit jeder Sekunde die er darüber nachdachte, an Wahrheit. Die Trojans hatten weder den destruktiven, eigenen Tages- und Nachtrhythmus noch die absolute Fixierung auf Exy noch die sklavische Ergebenheit zu ihrem Trainer und ihrem Kapitän. Das war jedoch auch gleichbedeutend mit Übungen, die nicht sinnvoll waren, weil sie nicht genug forderten. Mit Drills, die den Namen nicht verdienten. Mit Taktiken, die ihnen keine Siege, sondern eine vorhersehbare Spielweise einbringen würden. ~Du könntest Rhemann und Knox Vorschläge für andere Drills machen, die deiner Meinung nach besser sind?~ ~Das kann ich nicht~, schrieb er schlicht zurück, die Hände alleine schon der Annahme, was für ein Frevel das wäre, zitternd. Der Herr und Riko hätten niemals im Leben ein solches Verhalten toleriert und ihn hart dafür bestraft. Auch wenn es hier anders gehandhabt wurde, so war er ein neuer Spieler, der kein Recht hatte, die Meinung seines Trainers und seines Kapitäns anzuzweifeln. Als hätte er seine Gedanken gehört, wurde eben jener im Schlaf unruhig und ein verschwommener Laut des verzweifelten Missfallens verließ die Lippen. Jean hob die Augenbraue. „Jeeaan…“, murmelte Knox und runzelte die Stirn. Wieder streckte er die Hand aus und klopfte auf die Matratze. Abrupt schaltete Jean das Handy aus. Knox träumte von ihm? Was? Warum? „Nicht das Eis…Jean…“ Er hob die Augenbraue. Eis? Stirnrunzelnd starrte er auf den unruhiger werdenden Jungen unweit von sich und wartete, ob dieser aufwachte. Doch Knox schien noch tief und fest zu schlafen, ganz in seinem absurden Traum gefangen zu sein. Kopfschüttelnd erweckte Jean sein Handy wieder zum Leben. ~Knox träumt von mir.~ ~Oho? Wie kommt es?~ ~Ich weiß es nicht. Anscheinend geht es um Eis.~ ~?~ „Nicht alles Eis essen! Jeeaan… nicht!“ Besagter Alles-Eisesser hob zweifelnd die Augenbraue. ~Ich habe keine Ahnung.~ ~Das ist schon süß.~ Ungläubig starrte Jean auf sein Handy. Süß war nur der Nachgeschmack des Eises auf seiner Zunge gewesen. ~Was soll ich machen?~ ~Ihn weiterreden lassen.~ Die Frage war, ob Knox dafür nicht zu aufgeregt war. Mittlerweile war nicht nur seine Mimik entsprechend aufgebracht, sondern auch seine Gestik. Der ganze Körper zuckte und wälzte sich hin und her. Jean kam nicht umhin zu fragen, ob sich dieser abstruse Traum von ihm und dem Eis zu einem handfesten Alptraum entwickelte, auch wenn er nicht wirklich begreifen konnte, was daran ein Alptraum war. Zumal er seinem Kapitän mehr als die Hälfte übrig gelassen hatte. „Du…gemeiner…Eisdieb!“ Wie bitte? Fassungslos starrte Jean den schlafenden Jungen an. Gemeiner Eisdieb? Gemeiner Eisdieb? Wie kam Knox dazu, so etwas zu träumen? Was fiel seinem Unterbewusstsein ein? Jean grollte und fluchte leise in seiner Muttersprache. ~Er hat mich einen gemeinen Eisdieb genannt und wimmert jetzt.~ Es sollte Jean nicht überraschen, dass Renee ihn mit lachenden Smileys überschüttete und gar nicht mehr aufhörte damit. ~Vielleicht solltest du ihm beruhigend zureden~, schlug sie schließlich vor und Jean schluckte schwer. Beruhigend zureden… er. Ausgerechnet er. Er seufzte und beugte sich vor. „Knox“, sagte er leise, aber anscheinend war das zu leise, also probierte er es ein weiteres Mal lauter. „Knox… ich bin kein Eisdieb. Du hast noch über die Hälfte des Eises“, sagte er und beendete damit zumindest das unselige Hin- und Herwälzen. Der andere Junge schien seinen Worten zu lauschen und wurde ruhiger. „Nein“, entschloss er sich dann doch zum Widerspruch und Jean rollte mit den Augen. „Doch, Knox. Die Sorten sind alle noch da.“ Ungewollt streng erhob Jean seine Stimme und grollte. „Du hast sie vor dir, du musst nur danach greifen“, erläuterte er und bereute seine Worte beinahe augenblicklich. Nachdem Knox in seinem schlafwandelnden Zustand einen kurzen Moment überlegte, führte er nun seine Hand zum Mund und nuckelte unter zufriedenen Geräuschen an seinen Fingerspitzen. Jean hielt inne und hob die Augenbrauen. Er beschloss, das hier nicht gesehen zu haben. Er beschloss, diesen Dialog nicht geführt zu haben. Zumal es auch höchste Zeit war, dass er selbst in den Keller kam, da ihm bereits jetzt schon jede Minute der alptraumdurchzogenen Nacht auf dem unbequemen Kellerboden durch die Finger rann. ~Er ist ruhig und ich gehe jetzt schlafen.~ Renee lachte. ~Habe eine gute Nacht, Großer.~ ~Schlaf gut...Regenbogenmädchen~, kopierte er schamlos Knox‘ Spitznamen für sie. Sie schickte ihm einen mittelfingerzeigenden Oktopus, der Jean tatsächlich lachen ließ. Er presste sich die Hand vor den Mund, doch Knox hatte sich davon von seinem Fingerkuppenlutschen nicht abbringen lassen. Jean schüttelte den Kopf und griff sich Renees Hoodie. Auf leisen Sohlen verließ er das Apartment und ging hinunter in den Keller, der sich jede Nacht fremder und ungemütlicher anfühlte. Es war, als würde die sonnendurchdrungene Freundlichkeit von Kalifornien mit aller Macht und in allen Bereichen seines momentanen Lebens nach ihm greifen und die Spuren von Evermore ausradieren wollen. So auch das Gefühl eines vertrauten Ortes. Mehr als einmal hatte sich Jean in den letzten Tagen dabei ertappt, dass er sich eine Nacht in dem Bett oben wünschte. Eine Nacht, in der er auf der weichen, bequemen Matratze unter der angenehmen Bettdecke aus seinen Alpträumen hochschreckte. Jean seufzte, als er sich auf dem feuchten Kellerboden zusammenrollte und die Augen schloss. Was gäbe er darum, auch nur von Eis zu träumen. Oder von Knox, wie dieser ihm Eis stahl. ~~**~~ „Captain, mein Captain!“ Überrascht sah Jeremy von seinem Schattenplatz auf dem Rasen auf und winkte Alvarez, die mit zwei Bechern Eisschokolade direkt auf ihn zusteuerte. Ihre dicken, braunen Haare hatte sie zu ihrem klassischen Pferdeschwanz gebunden, der munter hinter ihr herschwang. Ihre dunkelbraunen Augen leuchteten vor Freude, als sie sich neben ihn fallen ließ und die Beine von sich streckte. „Freu mich, dich zu sehen! Was machst du hier?“, fragte er und legte sein Buch über die Balance ausgewogener Landwirtschaft zur Seite, auf die Studien über nachhaltige Forstwirtschaft in nährstoffarmen Böden um die ihm entgegengestreckte Eisschokolade anzunehmen. Irgendwann einmal, wenn seine Exykarriere beendet war, würde er die Farm seiner Eltern übernehmen und weiterhin für ihre Pension sorgen, damit sie einen sorgenfreien Lebensabend verbringen konnten. Dafür musste er aber erst einmal seinen Abschluss in Agrar- und Forstwissenschaften schaffen und das stand je nach Tageslaune wirklich auf der Kippe, auch wenn seine Prüfungen bislang alle zumindest zufriedenstellend verlaufen waren. „Ich leiste dir Gesellschaft beim Rumgammeln. Und was machst du?“ „Ich gammle rum und warte darauf, dass Jean aus seiner Makroökonomievorlesung kommt.“ Alvarez stülpte ihre Lippen über den großen Strohhalm und summte etwas, das verdächtig nach Whitney Houstons Lied aus „Bodyguard“ klang. Es brauchte etwas, bis Jeremy die Bedeutung dahinter erkannte und beherzt schlug er seiner Vizekapitänin auf den nackten Oberschenkel, was sie kommentarlos mit einem geübten Schlag auf seinen Hinterkopf konterte. „Du kümmerst dich rührend um unseren Neuzugang.“ „Ich erfülle meine Pflicht als Kapitän.“ Alvarez hob bedeutungsschwanger die Augenbraue. „Das sowieso. Aber du bist schon sehr aufmerksam, was ihn angeht.“ Jeremy rollte mit den Augen. „Kevin hat mich darum gebeten, ihn nicht alleine zu lassen. Die Ravens sind wohl gezwungen, immer nur in Paaren aufzutreten und er ist deswegen unsicher alleine.“ Nachdenklich schlürfte Alvarez. „Ist er in der Vorlesung nicht alleine?“ „Ajeet sitzt bei ihm.“ „Dios mio, der Arme!“ „Jean oder Ajeet?“ Sie grinsten beide. Jeremy nahm ebenfalls einen großen Schluck des angenehm kühlen Getränkes und zog seine Beine unter. „Er ist noch gruseliger als auf dem Spielfeld, findest du nicht auch?“ Jeremy nickte. „Wenn er einen direkt anstarrt, ausdruckslos und stumm von oben.“ „Oder einen analysiert.“ „Glaubst du, dass er sich gut in unser Team einfügen wird?“, fragte er Alvarez und sie spielte bedächtig mit den Kondenstropfen, die an dem Becher herabrannen. „Ich glaube, dass er mit dem Spaß, den wir beim Training haben, nichts anfangen kann.“ „Er wirkt nicht so, nein.“ „Das ist ziemlich milde ausgedrückt, Cap, dafür, dass blanker Hass in seinem Gesicht steht, wenn er meint, dass niemand zusieht.“ Jeremy schluckte. Ja, auch er hatte diesen Ausdruck in den vergangenen Tagen gesehen. Öfter, wenn er aus dem Augenwinkel heraus einen Blick zu Jean geworfen hatte, der neben ihrem Trainer stand und wie eine Statue ihrem bunten Treiben zusah. „Vielleicht wird es besser, wenn er ab morgen mittrainiert?“ Jeremy hoffte es inständig. Er nickte. „Dieser verdammte Kult“, spie Alvarez hervor und starrte in das Blätterdach über sie. Er grollte bestätigend. „Sie haben ihm sehr wehgetan“, erwiderte Jeremy ohne es weiter zu erläutern. Auch wenn Alvarez seine beste Freundin war, so war er Jean sein Schweigen schuldig, denn es oblag nur Jean, seine eigene Geschichte zu erzählen. Auch wenn es ihn dazu drängte, mit Alvarez darüber zu sprechen, dass Jean wegen ihm wehgetan worden war. Weil er gut genug geworden war, um gegen Jean zu bestehen. Alvarez grinste, doch das Grinsen war zu sanft um wie sonst kämpferisch zu sein. „Das werden wir wieder gut machen…mit der geballten Liebe und Freundschaft der Trojans.“ Jeremy schlürfte zustimmend seine Eisschokolade. Jean hatte das Komplettpaket verdient, dafür, dass Riko ihn gefoltert hatte, nur weil Jeremy es geschafft hatte, ihn zu umlaufen. Dafür, dass ihm Haare ausgerissen worden waren. Dafür, dass er gefesselt worden war. Dafür, dass er andere, verdeckte Verletzungen trug, deren Ausmaß Jeremy nicht erahnen konnte. Dafür, dass der Junge sich vor ihm erniedrigte und vor ihm zurückwich. Oder einfach dafür, dass er ein Mensch war, der gerade das Leben lernte. ~~**~~ Jean lauschte zweifelnd seinen Schritten, die ihn die metallene Treppe hinauf auf das Dach des Hauses führen würden, auf dem er vor ein paar Tagen den Sonnenaufgang beobachtet hatte. Morgen würde er zum ersten Mal mit den Trojans trainieren und eigentlich hatte er sich und seine unterschwellige Angst genau davor in Ruhe beruhigen wollen, doch sein Kapitän hatte andere Pläne gehabt und ihn gefragt, ob er mit aufs Dach zu den Anderen kommen wollte. Die Anderen…das war das Team und Jean hatte ausschließlich ungute Erinnerungen, was Zusammenkünfte von Teams anbetraf. Wobei das nicht ganz stimmte. Die Foxes hatten sich während seiner Zeit in Palmetto getroffen und er war mit dabei gewesen, auf Initiative von Renee. Auch dort war nichts passiert. Auch dort hatte er sich unwohl gefühlt unter den prüfenden und mitleidigen Blicken, den leisen Worten, die an ihn gerichtet waren. Entsprechend nervös war Jean jetzt und blinzelte, als er das Dach betrat und in das Licht der untergehenden Sonne starrte. Einige andere Trojans waren bereits schon da und begrüßten ihren Kapitän mit Winken und Rufen, weit weniger wagten den Blick zu ihm. Dafür hatte Jean selbst gesorgt, als er sie beim Training wieder und wieder ignoriert hatte, sie und ihre Versuche, Gespräche mit ihrem zu führen. Smalltalk. Oh in Gedanken hatte Jean alle Fragen beantwortet, auch wenn kein einziges Wort seine Lippen verlassen hatte. Wie geht’s dir? Prächtig, ich bin schon seit zwei Monaten nicht mehr geschlagen worden, auch wenn die Stichwunden noch ziehen, wenn ich mich falsch bewege. Wie findest du es hier? Zu warm, die Sonne sticht in meinen Augen und die Leute sind zu freundlich. Wie findest du unsere Farben? Grässlich auffällig und aufdringlich, aber passend zu diesem sonnigen Bundesstaat. Wie gefällt dir L.A.? In Anbetracht der Tatsache, dass ich das letzte Jahrzehnt eingesperrt gewesen bin, erscheint es mir groß und laut. Aber selbst das Haus von Abby war groß und laut mit den falschen Personen darin, daher fehlt mir der Vergleich. Der Kunstdistrict ist aber okay. Wie gefällt dir denn das Essen? Das, was Knox kocht, kann man nicht Essen nennen, das ist der Tod auf Raten. Die Eier sind aber passabel, der Toast ist auf den Punkt. Du kannst es sicherlich nicht erwarten, wieder auf dem Spielfeld zu stehen, mit uns dieses Mal, oder? Ja, es juckt mir in den Fingern, mit euch den Boden des Stadions zu wischen und euch zu zeigen, dass euer Training viel, aber nicht gut genug ist. Jean seufzte. „Hey ihr Beiden!“, rief ihnen der wandelnde Meter mit pinken Haaren zu, die Jean unweigerlich an Renee erinnerten. Valentine, so war ihr Name und sie war im diesjährigen Abschlussjahrgang. Wortlos starrte er auf sie herab, doch sie ließ sich von ihm nicht aus dem Konzept bringen. Schmunzelnd hob sie die Augenbraue und besah ihn sich von oben bis unten. „Cap, der Grill läuft schon, die Getränke stehen dahinten und die Spiele sind auch schon aufgebaut. Was ist mit Prinzessin Schweigsam hier? Hat er sich schon für etwas entschieden?“ Ach ja. Und sie hatte ein Maul wie ein Droschkenkutscher. „Für Jean…“, betonte Knox unnötigerweise seinen Namen. „…ist das hier eine Überraschung. Er weiß gar nicht, worum es hier geht, also nein, er hat sich noch für gar nichts eingetragen. Ich denke aber, ich werde ihn erstmal mitnehmen, ich habe zwei Personen eingetragen.“ Eingetragen? Mitnehmen? Zweifelnd sah Jean auf beide herab und musterte seinen Kapitän schließlich fragend. Knox lächelte sein strahlendes Lächeln und drehte sich auf dem Dach, über das sich der Geruch nach gegrilltem Fleisch schlängelte. „Das hier ist unser regelmäßiger Spieleabend mit Grill und Getränken, verbotenerweise auf dem Dach des Hauses. Wenn das Wetter gut ist, also meistens, dann machen wir das hier oben, wenn es regnet, bei uns im untersten Flur. Wer vom Team Lust hat, ist mit dabei und trägt sich idealerweise vorher in eine Spieleliste ein. Ich habe dir nichts gesagt, weil ich dich für dein erstes Mal überraschen wollte.“ Jean schluckte. Wenn er sich nicht täuschte, dann meinte Knox es nur gut. Trotzdem hasste er Überraschungen, bedeuteten sie für ihn doch nur etwas Schlechtes. Fast nur, denn Renees Auftauchen in seinem Leben war auch überraschend gewesen. Überraschend schön. „Okay“, erwiderte Jean entsprechend vorsichtig. Beinahe schon erleichtert war er, als Valentine sie in Richtung Alvarez und Laila lotste, die bereits um ein buntes Spielfeld einer Vulkaninsel herumsaßen, das Grillfleisch auf Papptellern neben sich. „Hey Jer, hey Jean“, grüßte Laila sie beide, während ihre Freundin mit vollem Mund winkte. Jean nickte. „Ich hole uns etwas zu essen und zu trinken. Jean, setz dich doch schonmal. Was möchtest du?“ Dass ihm sein Essen vorgesetzt wurde, kannte Jean bereits, aber dass er selber entscheiden konnte, was er wollte und dass es ihm von seinem Kapitän gebracht werden würde, das war neu. Unbegreiflich neu. „Ich…kann auch selbst gehen“, versuchte er sich in einer Abwiegelung, die an Knox abperlte wie nichts. „Ich weiß, dass du das kannst“, zwinkerte dieser, doch dahinter lauerte ein eiserner Wille, nicht von seinem Vorhaben abzuweichen. Jean wusste es besser, als noch einmal dagegen an zu argumentieren. „Also?“ „Ein Wasser bitte“, murmelte er und senkte den Kopf. „Und was zu essen?“ Was darf ich denn?, lag ihm auf der Zunge zu fragen. In Evermore wäre eben diese valide gewesen, hier aber wäre sie vermutlich unerwünscht. Jean schluckte. „Das ist mir egal“, wählte er die Antwort, die er für am Diplomatischsten hielt und begriff erst, nachdem sich Knox mit einem breitgrinsigen Nicken umgedreht hatte, dass er wieder einmal einen dummen Fehler gemacht hatte. Einen dummen Eisdielenfehler. Von allem ein Bisschen, tönte es in seiner Erinnerung und fassungslos starrte er Knox hinterher. „Ich…“, versuchte er unnötigerweise zu retten, was nicht zu retten war und zuckte zurück, als es gegen seine Hand schnippte. „Setz dich, Moreau, ich will mir nicht meinen Nacken verrenken, um dich anzustarren“, sagte Alvarez, die nun anscheinend den Mund frei hatte. Die ihn mitnichten in ihr Bett ziehen wollte, wenn er Renee glaubte. Wortlos ließ er sich auf das anscheinend freie Kissen neben Laila nieder, das die Balustrade im Rücken hatte und von dem er aus das ganze Dach überschauen konnte. Er warf einen Blick auf das Spielfeld vor sich und fragte sich, was der Sinn eine solches Treffens war, das sie alle vom Lernen abhielt. Wie schon beim Training auch, fragte Jean sich unweigerlich, wie die Trojans es schafften, ihre Prüfungen zu bestehen, wenn ihr Leben nur aus Spaß bestand. „Teambuilding“, erläuterte Alvarez, als hätte sie seine Gedanken gelesen und Jean wurde sich bewusst, dass eben jene vielleicht vollkommen offen auf seinem Gesicht gestanden hatten. „Wir lernen die Neuen kennen, die Neuen lernen uns kennen und so wird aus uns eine Mannschaft.“ Jean runzelte die Stirn. „Durch umfängliches Training und Disziplin wird aus Spielern eine Mannschaft“, widersprach er, eben weil es einen wunden Nerv traf, der schon seit Tagen offenlag. „Auch. Aber die Leute müssen sich kennenlernen, sie müssen wissen, wie jeder Einzelne des Teams tickt. Im Idealfall sollten sie Freunde sein.“ Jean dachte an Evermore. Freunde…dass er nicht lachte. Er öffnete den Mund um zu antworten, doch da kam Knox auch schon wieder auf sie zu und balancierte zwei Teller, die anscheinend tatsächlich mit allem beladen waren, was der Tisch mit dem Essen hergegeben hatte. Er reichte Jean beide und eilte noch einmal zurück, anscheinend um die Getränke zu holen. Mit einem Schnaufen ließ er sich schließlich neben ihn fallen und sah Jean erwartungsvoll an. Mit bedeutungsschwangerem Blick auf die Masse an Käsepampe – wer aß so etwas in diesen Ausmaßen? – reichte Jean Knox seinen Teller und musste unweigerlich an heute Nacht denken. Der gemeine Eisdieb. Ob Knox sich noch daran erinnerte? Im Gegenzug erhielt er sein Wasser und wartete, dass sein Kapitän zu essen begann. Erst danach griff er zu seiner Gabel und tat es ihm gleich. Stück um Stück probierte er das Essen und kostete den ungewohnten Geschmack der Dinge aus, die ihm manchmal vage bekannt vorkamen, die er aber zum Großteil nicht kannte. Er spürte, dass Augen auf ihm ruhten, die ganze Zeit. Ob nun Alvarez, Laila oder Knox oder von weiter weg. Es ließ Jeans Instinkt in seinem Nacken prickeln und er sah von einem Hackfleischröllchen hoch, das äußerst scharf gewürzt war und ihm beinahe die Tränen in die Augen trieb. „Was gibt es?“, fragte er direkt in die erwartungsvollen Augen der Torhüterin. Es kam nicht so unfreundlich heraus, wie er es eigentlich gewollt hatte. „Wie findest du sie?“ „Scharf.“ Das entsprach der Wahrheit, ohne zuviel zu verraten. Sie schmeckten ihm wirklich, jetzt, wo seine Geschmacksnerven auf dem besten Weg dazu waren, taub zu werden, doch alles in ihm sträubte sich, das zu sagen. „Scharf. So wie du, Babe“, warf Alvarez von der Seite in Richtung Laila ein und Knox prustete. „Wi-der-lich“, betonte er jede einzelne Silbe und Laila grinste. Jean widmete sich wieder seinem Teller, als das unmissverständliche Ping der täglichen Nachricht zu ihm drang. Er musste sie nicht öffnen um zu sehen, was sie ihm anzeigte. Weniger als fünfzig, mehr als vierzig. Die Hand, die sich in sein eingeschränktes Blickfeld schob, ließ ihn hochsehen. Alvarez gehörte sie, die ihn aufmerksam ansah. „Gib es mir“, forderte sie und Jean blinzelte. Er wusste sofort, was sie wollte. Das war er, der Moment, den er so sehr gefürchtet hatte. Dass sie diejenige sein würde, die ihm Renees Geschenk wegnahm, hatte er nicht vermutet, keine Sekunde lang. Doch war es nicht logisch gewesen? Sie war der Vizekapitän, sie hatte mit Knox und Rhemann die Macht. Trotzdem oder gerade deswegen irrte sein Blick beinahe hilfesuchend zu Knox, der diesen mit einem schrägen, leidenden Grinsen erwiderte. Jean empfand es als unangebracht, doch letzten Endes war es nichts im Vergleich zum gehässigen Lachen und Kichern von Riko. „Gib mir das!“, forderte Alvarez erneut, dieses Mal eindringlicher und Jean bat Knox stumm, dass er es ihr nicht erlaubte, dass er ihm sein Handy ließ. „Ich an deiner Stelle würde ihrem Wunsch folgen“, flüsterte Knox leidend mit hochgezogenen Schultern und Jean begriff, dass er keine Wahl hatte, dieser Hand zu entkommen. Ob Renee ihm wieder eines zustecken würde, wenn sie bemerkte, dass er nicht mehr antwortete oder dass es Alvarez war, die für ihn antwortete? Er schluckte schwer und konnte nicht verhindern, dass seine zitternden Hände sein rasendes Herz wiederspiegelten. Unsicher holte er das schmale, flache Gerät aus seiner Tasche und reichte es ihr mit gesenktem Blick auf das Telefon. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen, nicht in diesem Moment, und vergessen waren das warme Sonnenlicht, die lachenden Menschen im Hintergrund, das gute Essen. Das vorsichtige Vertrauen. Nur schale Bitterkeit blieb übrig, die Jean nicht überraschen sollte. Wirklich nicht. Dennoch hatte er anscheinend von seinem neuen Team tatsächlich etwas Anderes erwartet. Die Vizekapitänin grollte und murrte, während sie sein Handy mit einem Wischen entsperrte und sich durch sein Telefon suchte. „Wirklich, Moreau.“ Sie schnaufte und er ballte seine Hände zu Fäusten und verharrte angespannt. Alvarez holte nun ihr eigenes Handy hervor und begann anscheinend, Dinge abzutippen. Ob aus seinem heraus, das wusste er nicht, dafür kannte er sich auch nicht gut genug aus. Und hinsehen wollte er nicht. Würde sie ihn auch strafen für die Nachrichten, die er gestern Nacht Renee geschickt hatte? Würde sie es Knox sagen und Rhemann? Wie viele Minuten er hier saß, wusste er nicht. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Eine quälende, unendliche Ewigkeit. Wieso war er auch so unvorsichtig gewesen? Wieso hatte er sich einlullen lassen? Wieso hatte er vergessen, was er in Evermore auf sich genommen hatte? Wie dumm war er schon wieder gewesen, als hätte er aus der Folter nichts gelernt? Weder Knox noch Laila sagten einen Ton und schlussendlich schnaubte Alvarez. „Meine Güte, Moreau, das war ja nicht zum Aushalten“, sagte sie und Jean knirschte mit den Zähnen. „Komm, sieh mich mal an.“ Zögernd folgte er ihrem Befehl und hoffte, dass er die hilflose Wut auf sich selbst verbergen konnte. Schweigend starrte er auf sein Handy in ihrer Hand, auf den Bildschirm, den sie ihm entgegenstreckte. Es war das Nachrichtenprogramm, das er auch mit Renee und den Foxes nutzte. Zumindest waren ihre Namen dort eingespeichert. Bis auf Renee schrieb er die Spieler nicht von sich aus an, aber manchmal bekam er von ihnen Nachrichten, Hemmick an allererster Stelle. Über Renees Namen sah er eine andere Gruppe. Ab nach Troja hieß sie und Alvarez klickte darauf. „So, das hier ist der heilige Trojans-Gruppenchat. Das sind wir alle drin. Eine Schande, dass dir unser trotteliger Kapitän den noch nicht eingerichtet hat.“ Wütend knurrte sie in Knox‘ Richtung und Jean vertrödelte wertvolle Sekunden, in denen er sie schlicht anstarrte. Wieso sollte sie ihm etwas einrichten, wenn sie ihm sein Handy wegnahm? „Darüber hinaus habe ich dir alle unsere Kontakte auf dein Handy geladen. Kann ja wohl nicht sein, dass du die Foxes in deiner Liste hast, aber uns nicht.“ Sie hob vielsagend die Augenbrauen, als er sie immer noch schweigend anstarrte. „Ach ja, und ich lade dir gerade die essentiellen Apps herunter, die man heutzutage braucht. Du hast ja gar nichts auf deinem Gerät gehabt. Urghs. Man sollte meinen, dass Knox dir in den letzten Tagen mehr gezeigt hätte als sein doofes Kevin Day-Puzzle.“ Wieder schoss sie einen Vorwurf in Richtung Knox und Jeans linke Hand hob sich um zu widersprechen. „Na!“, unterband sie das mit dem Zeigefinger. „Also, Captain Sunshine. Wieso fehlen unserem neuen Backliner und deinem Zimmernachbarn die wichtigsten Kommunikationsinstrumente? Warum war er bis gerade eben nicht im Gruppenchat? Warum haben wir jetzt erst seine Nummer um ihn zu belästigen?“ Neben ihm gab Knox einen verlegenen, unsicheren Laut von sich. „Weil…also…“ Wie es schien, war sein Kapitän genauso sprachlos wie er auch und Jean griff nun endlich nach seinem Handy. Wie einen Schatz barg er es in seinem Schoß und lauschte dem beständigen Ping der Nachrichten, die in einer Schlagzahl bei ihm eintrudelten, die er so noch nie gehört hatte und die ihn mit jedem Ton mehr erschreckte. Etwas hilflos sah er auf. „Macht es jetzt die ganze Zeit diese Töne?“, fragte er in die Runde und dieses Mal war es Laila, die nachsichtig lächelnd ihre Hand nach seinem Telefon ausstreckte. Jean reichte es ihr zögernd und mit dem Bildschirm zu ihm gedreht, zeigte sie ihm, wie er die Gruppentöne auf lautlos stellte. „Wenn du Fragen hast, stelle sie ruhig“, ermutigte sie ihn und Jean fand in diesem Moment nicht die Kraft, nein zu sagen. Er sollte aufhören, Dinge anzunehmen, die sich im Nachhinein als falsch herausstellten, befand Jean und versuchte, sein schnell schlagendes Herz zu beruhigen. Es wollte ihm nicht gelingen, nicht, nachdem die Hoffnung, die nun auf die Verzweiflung gefolgt war, sein gesamtes Denken in Aufruhr versetzte mit ihrem warmen Gefühl tief in seiner Magengegend. ~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)