Force of Nature von Cocos ================================================================================ Kapitel 12: Kintsugi -------------------- Jeremy starrte auf den Bildschirm, als könne ihm dieser die Antwort auf all seine Fragen geben, die sich mit der schier erschlagenden Summe aufgetan hatten. Er starrte solange, bis er sich bewusst wurde, dass er viel zu nah bei Jean stand. Viel zu nahe und viel zu bedrohlich stand er über Jean und verursachte dem anderen Jungen sicherlich damit Unwohlsein. Nur zu deutlich hatte Jeremy noch vor Augen, wie Jean panisch und ängstlich vor ihm zurückgewichen war. Klar sichtbar hatte Panik in den grauen Augen gestanden, Furcht vor ihm, während Jean sich klein gemacht und die Teile seines Körpers geschützt hatte, die es in solchen Fällen zu schützen galt. Jeremy hatte sich unwillkürlich an ihren zweiten Tag zurückerinnert, an den grausamen Moment, in dem Jean vor ihm gekniet hatte, die Stirn auf dem Boden. Was haben sie bloß mit dir gemacht?, hatte sich Jeremy erneut mit blutendem Herzen gefragt, während er selbst mit Schuldgefühlen zu kämpfen gehabt hatte. Er war dumm gewesen, so spontan zu reagieren und Jean auf die Pelle zu rücken. Er hatte nicht nachgedacht, als er sich auf das Bett hatte fallen lassen zu einem Jungen, dessen Haare an großen Stellen ausgerissen worden waren. Jean hatte für seine Dummheit bezahlt und das hatte Jeremy mehr als alles andere wehgetan. Eingedenk dessen trat er nun langsam um Jean herum und ließ sich vorsichtig an dessen Kopfende nieder, sodass dieser ihn gut im Blick hatte und sehen konnte, was er tat. „Das ist echt `ne Menge Geld“, lächelte er schließlich zuversichtlicher, als er sich fühlte. Doch mit irgendetwas wollte er die Anspannung, die wieder aufgetreten war, auflösen und wenn es nur ein dummer Spruch war, der etwas Anderes außer dieser offensichtlichen Verstörtheit hervorrief, die Jean zu einer fadenlosen Marionette machte. Wie es schien, hatte er zunächst keinen Erfolg damit, doch dann richteten sich die durchdringenden Augen auf ihn und Jeremy wünschte sich beinahe, er hätte Jeans Aufmerksamkeit nicht auf sich gezogen. Viel schlimmer war es jedoch, dass Jean keinen Ton sagte und Jeremy nur durch einen Einblick in seine Mimik erlaubte, an seinen Emotionen teilzuhaben. Der Hass, den er fand, verschreckte ihn, auch wenn er sich beinahe sicher war, dass sich dieser nicht auf ihn bezog. „Eigentlich gehört eine Million davon dir, wenn es man es genau nimmt“, war das Erste, was Jeans Lippen verließ. Es irritierte Jeremy zutiefst. „Warum? Es ist dein Geld, du hast es dir verdient. Oder nicht…?“, setzte er zögerlich hinterher, als er sah, wie der Backliner zusammenzuckte. „Verdient…“, echote dieser tonlos. „Ich habe es mir verdient.“ Jetzt war es purer, reiner Hass, der sich einzig und alleine auf Jeremy richtete. Verachtung bis über die Grenzen des Erträglichen hinaus. Das Schweigen, was nun zwischen sie trat, war eisig, Jeans Bewegungen roboterhaft und wenig menschlich. Ungelenk loggte er sich aus, noch viel ungelenker schob er den Laptop von sich, bevor er aufstand und ohne einen Ton zu sagen das Schlafzimmer verließ. Keine Minute später hörte Jeremy, wie die Tür zu ihrem Apartment aufgerissen und mit einer derartigen Wucht zugeknallt wurde, dass die Gläser in ihrem Schrank klirrten. Wie vom Donner gerührt saß Jeremy auf dem Bett seines Zimmernachbarn und starrte fassungslos auf die Tür. Was zum Teufel hatte er falsch gemacht? Er schluckte mühevoll und verharrte auf dem Bett, in der Hoffnung, dass Jean zurückkam, wenn er sich beruhigt hatte. Wenn er ihm sagen würde, was er falsch gemacht hatte. Doch nichts tat sich und es dauerte exakt 28 Minuten, bis Jeremy die Courage aufbrachte, zu seinem Handy zu greifen und Kevins Kontakt aufzurufen. Noch einmal sechs Minuten, bis er den Jungen auch wirklich anrief. „Hi Jeremy!“, wurde er mit einem Lächeln begrüßt, das ihn schon seit Beginn ihrer Freundschaft immer in seinen Bann gezogen hatte. Die darin enthaltene Herausforderung hatte er von Anfang an gerne angenommen. Nun aber scheute er sich vor eben dieser und winkte verschämt. „Wie geht es dir?“, läutete er das Gespräch ein, erst einmal vom Thema ablenkend. Kevin hob die Augenbraue und gab Jeremy nonverbal zu verstehen, dass er die Verzögerungstaktik durchaus durchschaut hatte und nur aus Höflichkeit nicht schnaubte. Lakonisch legte er den Kopf schief. „Besser als dir, wie es aussieht, habe mich gerade von einer Zimmerparty mit den Monstern und dem Junkie davongestohlen, als kein großer Verlust.“ „Du bist kein großer Verlust!“, hörte Jeremy einen weiter entfernten Zwischenruf aus dem Hintergrund und er musste wider Willen schmunzeln. Wenn er sich nicht täuschte, war das Neil Josten, verdammt schneller Striker mit verdammt großer Klappe. Nicht umsonst hatte Alvarez eine Playlist mit all seinen besten Antworten auf Reporterfragen auf ihrem Rechner, mit der sie ihn in regelmäßigen Abständen quälte. Nicht, dass Jeremy sich je dazu hatte breitschlagen lassen, ihr den gleichen Umgang mit der Presse zu erlauben. Beim Gedanken daran hielt Jeremy nicht nur gedanklich inne. Bisher hatte er die Notwendigkeit, Jeans Ankunft bei den Trojans der Presse vorzustellen, noch weit von sich geschoben. Aber es wäre notwendig, ebenso wie es notwendig wäre, dass der Junge selbst ein paar Worte sagte, was, wie ihm bewusst wurde, in der Vergangenheit noch nie der Fall gewesen war. Jedes Pressestatement war von Riko oder Kevin gemacht worden, niemals aber von Jean. Oh Shit. „Und wie geht’s Neil?“, fragte er alleine schon deswegen, um sich selbst von dem Problem abzulenken und noch ein bisschen mehr Zeit zu schinden…wenn er gerade schon einmal dabei war. „Weiß nicht, wann es für ihn gut ist, den Mund zu halten und stopft ungesundes Zeug in sich hinein. Mach dir keine Gedanken. Wenn er so weiter macht, wird er in der kommenden Saison kein ernstzunehmender Gegner für euch sein.“ „Und selbst wenn, wir haben Jean“, grinste Jeremy zurück, auch wenn das nicht lange hielt. Im Gegenteil. Es brauchte nur ein paar Sekunden, da erlosch es wieder und er dachte an das, was heute Abend geschehen war. „Kevin… ich glaube, ich habe etwas Dummes gemacht“, leitete Jeremy den wahren Grund ihres Videochats ein. Besorgt musterte sein Gegenüber ihn. „Das glaube ich nicht, Jeremy. Aber erzähl mal.“ Er überlegte, ob er Dinge aussparen sollte, entschied sich letzten Endes aber dagegen. Er erzählte alles, angefangen vom Besuch der Männer der Moriyamas über Jeans Zurückzucken über die Geldsumme und seine Worte, die Jean so wütend gemacht hatten, dass er ohne ein weiteres Wort ihre Wohnung verlassen hatte. Kevin hörte geduldig zu ohne ihn zu unterbrechen und brauchte seinerseits eine Weile, um die Informationen im Anschluss zu verdauen. „Kevin, ich habe Angst, dass ich etwas wirklich Schlimmes gesagt habe, aber das Geld hat er sich doch verdient, oder nicht? Das ist doch für seine Spiele für Evermore, sein Sportstipendium, die Edgar Allan ist doch reich…“, begann Jeremy an zu brabbeln, wie er es immer tat, wenn er nicht weiter wusste. Kevin schüttelte den Kopf. „Nein, für die Spiele ist das Geld nicht. Dieses wurde von Evermore einbehalten, zumindest, was ihn anging.“ Jeremy schluckte schwer. „Und was meinte er damit, dass mir eine Million davon zustehen würden? Ich habe doch gar nichts damit zu tun. Wir haben uns doch bis vor zwei Wochen noch nicht einmal wirklich kennengelernt.“ Kevin runzelte die Stirn. „Wieviel waren auf dem Konto, sagtest du?“ „Fünf.“ Kevin Day brauchte weniger als zwei Minuten, damit ihm die Bedeutung dieser Zahlen klar wurde, das sah Jeremy schon an der Gesichtsfarbe, die von einem gesunden Ton zu einem aschfahlen Grau wurde. Das, was Jeremy in seinen Augen erkannte, war in allererster Linie Trauer, dann Bedauern und schlussendlich überwältigender Schmerz. Hatte er gedacht, dass Kevin sein Wissen mit ihm teilen würde, lag Jeremy aber falsch. Ungeduldig bedeutete er Kevin, fortzufahren, doch das stieß auf schweigende Ablehnung. „Was ist es? Was habe ich falsch gemacht?“, hakte er deswegen nach und Kevin schnaubte. „Nichts, Jer. Du hast nichts falsch gemacht.“ Schuld und Verzweiflung in Kevins Stimme ließen all seine Alarmglocken schrillen. „Aber warum hat er sowas dann gesagt?“ „Jean hat…“, begann Kevin und verstummte dann. Er schluckte mehrfach, bevor er erneut ansetzte. „Riko hat Jean viele schlimme Dinge angetan. Darunter auch viele unverzeihliche Dinge.“ Jeremy nickte. Für ihren waren alleine schon die fehlenden Haare unverzeihlich. Oder die Narben um die Handgelenke. „Manche Dinge hat er auch aus Hass oder Eifersucht getan. Damals habe ich dich das erste Mal kennengelernt und habe einmal zu oft davon erzählt, dass ich deine Art zu spielen beeindruckend finde. Riko hat das bestraft.“ Entsetzt schlug sich Jeremy die Hand vor den Mund. Was das zu bedeuten hatte, mochte er sich gar nicht ausmalen. Was Jean dadurch hatte erleiden müssen, auch nicht. Er war sich sicher, dass es grausam gewesen sein musste. „Die Zahl dieser Summe in Verbindung mit Jeans Worten ist ein Hinweis darauf, dass es in irgendeiner Art und Weise entweder Schweigegeld ist. Das hat sich Jean nicht verdient, das musste er erleiden.“ Jeremy rieb sich frustriert über sein Gesicht. „Ich bin so ein dummer Trottel“, murmelte er. „Nein, Jeremy, du bist ein wundervoller Mensch, der sich sorgt und kümmert. Du hast nichts falsch gemacht. Wenn jemand etwas falsch gemacht, dann bin ich es. Ich hätte dir mehr erzählen und dich besser auf Jean vorbereiten müssen.“ Jeremy seufzte. „Du hättest mir sagen sollen, dass er Angst vor mir hat, Kev.“ Das überraschte Kevin, doch schließlich schüttelte er den Kopf. „Ich glaube nicht, dass er Angst vor dir hat. Er hat Angst vor seinem Trainer und seinem Teamkapitän, damit auch vor der Macht, die von diesen Personen ausgeht. Er hat Angst vor Fremden, die er nicht kennt und vor Situationen, die ihm unbekannt sind.“ „Ich beneide Renee darum, dass er so vertraut mit ihr ist“, überraschte Jeremy nicht nur Kevin mit seinen Worten. Es war tatsächlich Bitterkeit, die er bei dem Gedanken an ihr Telefonat und die relative Offenheit des Backliners dort empfand. „Vor ihr hat er keine Angst.“ Die Sanftheit, die Jeremy über Kevins Gesicht huschen sah, sprach für sich. „Weil sie ihn gerettet hat und nicht müde wurde, jede einzelne seiner Mauern zu überwinden oder zu durchdringen.“ „Willst du mir sagen, dass ich genauso stur sein soll wie sie?“ Kevin überlegte einen Moment lang. „Er ist es wert.“ Jeremy hob die Augenbraue. „Stur zu sein?“ „Nicht aufzugeben. Jean ist ein wunderbarer Mensch, der es mehr als jeder andere verdient hat, endlich glücklich zu werden in seinem Leben. Wenn ich es könnte, ich würde…“ Weiter kam Kevin nicht, als ihm abrupt das Handy aus der Hand gerissen wurde. Minyard, schon wieder, dessen eiskalte, desinteressierte Ruhe Jeremy nach wie vor einen Schauer über den Rücken jagte. „Captain Sunshine hier, Captain Sunshine da, Captain Sunshine schon wieder am Telefon. Man könnte meinen, Captain Sunshine wäre bei uns eingezogen, so oft, wie sein Geist in den heruntergekommenen Hallen des Foxtowers herumgeistert“, schnarrte der blonde Junge desinteressiert. „Stell dir lieber die Frage, ob der Rabe überhaupt die Mühe wert ist, die du veranstaltest.“ Damit hatte er aufgelegt und Jeremy starrte perplex auf seinen Bildschirm, lange genug, dass sich nach ein paar Minuten Kevin noch einmal meldete, auf den Lippen ein wütendes Grollen. „Und ich sage dir, er ist es wert. Jede einzelne Zelle in seinem Körper ist es!“ Stumm nickte Jeremy und Kevin verabschiedete sich mit dem Versprechen auf ein morgiges Telefonat, sobald er mit Jean gesprochen hatte. Dessen Handy nun im Hintergrund pingte, während der Startbildschirm grell aufleuchtete. Jeremy sah in die Richtung und runzelte die Stirn, als der Nachrichtentext lediglich eine Zahl war. 51. Was auch immer das zu bedeuten hatte. Den Absender konnte Jeremy nicht erkennen. Jeremy seufzte und ließ sich auf sein eigenes Bett zurückfallen. Er würde wach bleiben, bis Jean wieder da war, und mit ihm sprechen. Er musste mit ihm sprechen, bevor er ihn morgen ihrer Mannschaft vorstellte, er musste sich entschuldigen und versprechen, dass er das nicht wieder tun würde. Mit jeder halben Stunde, die verstrich, wurde Jeremy müder, bis er schließlich einschlief. Mitten in der Nacht schreckte er hoch und stellte fest, dass Jeans Bett immer noch unangetastet war. Er verschob seinen Plan auf den nächsten Morgen, doch als er aufwachte, war Jean immer noch nicht da. ~~**~~ Der erste Sonnenaufgang, den Jean hier in Kalifornien im Freien sah, beendete eine Nacht voller Zweifel, dunkler Gedanken und Fragen, die er sich selbst gestellt hatte, die ihm aber nur eine Person aktuell beantworten konnte. Diese Person schlief unter ihm in dem Haus, das die Trojans bewohnten und würde in einer Stunde aufwachen, so schätzte es zumindest Jean. In seiner überhasteten Flucht hatte er vergessen, sein Handy mitzunehmen, so war er die dunklen Stunden in der Nacht gänzlich auf sich alleine gestellt gewesen. Er hatte seinen Countdown nicht, der ihm versichern würde, dass es eine endliche Zahl an Tagen gab. Viel schlimmer war jedoch gewesen, dass er Renee nicht hatte, die er kontaktieren konnte. So hatte er mit sich alleine ausmachen müssen, was diese Worte in ihm angerichtet hatten. Knox hatte gesagt, dass er sich das Geld verdient hatte. Grausam und ehrlich war er gewesen und Jean hatte einen Moment lang die Kontrolle über sich verloren. Gerne hätte er seinen Kapitän in dem Moment geschlagen. Wieder und wieder, bis dieser sich für seine Worte und für das, was er alleine durch sein Dasein angerichtet hatte, entschuldigt hätte. Gleichzeitig hätte er ihn gerne angeschrien, wie er denn glaubte, dass es sein würde, vergewaltigt zu werden. Wieder und wieder, trotz und gerade wegen aller Gegenwehr. Er hatte ihm ins Gesicht schreien wollen, wie er sich gefühlt hatte, als sie ihn gegen seinen Willen ausgezogen, gegen seinen Willen angefasst und gegen seinen Willen zum Geschlechtsverkehr gezwungen hatten. Nichts von beidem hatte er getan, sondern war geflohen, auf das Dach des Hauses, dessen Abgrund hoch genug war, um herunterspringen zu können und dem allem ein Ende zu setzen. Jean hatte auch wirklich lange dagesessen und in eben jenen Schlund gestarrt, der ihm verlockend sein Ende zugerufen hatte. Stundenlang hatte er seine Beine baumeln lassen, seinen Oberkörper nach vorne gebeugt und sich dennoch jedes Mal davon abgehalten, zu springen. Was genau es war, konnte er erst bei Anbruch der Dämmerung sagen und Jean war jetzt noch verwundert über den Gedankengang, der den Teufelskreis aus Rikos und Knox‘ Worten durchbrochen hatte. Was, wenn Knox gar nicht gemeint hatte, dass es seine Schuld war und dass er verdient hatte, wie eine Prostituierte bezahlt zu werden? Was, wenn Knox gar nichts davon wusste, weil Day nichts gesagt hatte, eben weil es dem dunkelhaarigen Jungen egal war, was Jean angetan worden war? Was, wenn es sich auf den Betrag bezog und nicht auf das, was dahinter stand? Jean tat das, was er bei Riko niemals getan hätte. Er nahm sich vor, seinen Kapitän nach seinen Motiven zu fragen, um sich Klarheit zu verschaffen. Vielleicht würde er darauf auch eine Antwort erhalten. Mit erschreckender Klarheit war ihm damit aber auch etwas Anderes bewusst geworden. Dieses Geld, dessen Menge Jean mit seinen Gedanken noch nicht einmal erfassen konnte, war der goldene Lack, der die Scherben seines Seins zusammenhalten und veredeln sollte. Deswegen hatte ihm die Anwältin die Vase gegeben, die in der Kunst des Kintsugi repariert worden war. Riko hatte sich über diese alte Tradition immer lustig gemacht und mit Verachtung angemerkt, dass man kaputte Dinge wegschmeißen und durch Dinge ersetzen könnte. Er war das kaputte Ding, die schwarzen Scherben und die fünf Millionen waren der Klarlack. Zusammen sollten sie ein wunderschönes neues Stück ergeben, das in Ehrung an die Kultur und Werte zu neuem Glanz erblühte. Verächtlich hatten Jeans Gedanken seine Selbstmordabsichten stumm in Richtung West Virginia geschickt. Ihre ach so wertvolle Schale würde in Millionen kleine Teile zerspringen, unwiederbringlich zerstört und doch voller Frieden. Doch noch nicht. 51 Tage noch. Oder waren es mittlerweile nur noch 50? Sein Handy würde es ihm sagen können, denn er hatte sicherlich bereits eine Nachricht erhalten. Neben ihm landete eine Möwe auf der Balustrade und beäugte ihn anscheinend auf ihrer Suche nach Futter. Sie war kleiner als die in Marseille, hatte er den Eindruck, auch wenn Jean sich dessen nicht sicher war. Vielleicht waren sie ihm damals auch größer vorgekommen, weil er selbst noch so klein gewesen war. „Husch“, versuchte Jean sie zu verscheuchen, doch sie ließ sich weder von seiner Stimme noch von seinen Worten davon abbringen, wieder wegzufliegen. Das Einzige, was er erreichte, war, dass sie ihm ein paar Meter auswich und dann, als er nicht hinsah, wieder zurückkam. Jean grollte. „Ich habe nichts zu essen“, fühlte er sich genötigt zu sagen und hoffte, dass niemand mitbekam, dass er mit einem aufdringlichen Vogel sprach, so als würde dieser ihn verstehen. Dass ihn niemand verstehen würde, selbst wenn er Zuhörer hätte, dafür sorgte er, als er automatisch auf seine Muttersprache wechselte. Wie immer, wenn er alleine war. Ein jahrelanger Akt der Rebellion, sozusagen. Er erhielt ein sattes Krächzen als Antwort und schnaubte. „Geh zurück ans Meer, wo du hingehörst, Mistkröte.“ Sobald die Worte seinen Mund verlassen hatten, wurde Jean sich bewusst, wie gut sie taten. Offen und ehrlich konnte er sein, er konnte diesen Vogel in seiner Muttersprache beleidigen, ohne dass er fürchten musste, dass er dafür geschlagen wurde. Sie kam wieder näher und ein leiser Schrei sagte ihm, dass er nicht furchteinflößend genug war für sie. Fassungslos hob Jean die Hände. „Nein. Wenn du etwas zu essen haben willst, flieg woanders hin! Hör auf, mich zu belästigen.“ Sie hüpfte ein paar Schritte rückwärts, als er sie mit seinen Händen wegscheuchte und beäugte ihn weiter. Eine Weile verbrachten sie schweigend und in gebührendem Abstand zueinander, dann kam sie wieder näher. Jean stöhnte auf rollte mit den Augen. „Du bist wie er. Vielleicht sollte ich dich so nennen, hm?“ Ja, warum eigentlich nicht. Hier und jetzt hörte ihn doch niemand und all der Frust der letzten Tage mit seinem neuen Kapitän, der für ihn ein Rätsel war, brach sich die Bahn. „Du bist ein Jeremy“, beschloss er und verschränkte die Arme, während er den Namen das erste Mal laut äußerte. Er probierte, wie sich der Vorname seines Kapitäns auf seiner Zunge anfühlte. Weich, melodisch gar, wenn er die Betonung auf die letzte Silbe legte. Und wie das passte. Eine gefräßige Möwe, die ihm zu nahe kam und immer dann, wenn er nachlässig wurde, den nächsten Versuch startete und sich dabei nicht abwimmeln ließ. „Tut mir leid, aber das ist eine sie und sie heißt Laila“, ertönte es hinter ihm und Jean fuhr entsetzt herum, gerade rechtzeitig genug, dass ihm ein großer Brotkrumen gegen die Stirn fliegen und von Jeremy-Laila aufgeschnappt und heruntergeschlungen werden konnte. Der begeisterte Schrei der Möwe begleitete sein wild schlagendes Herz und sein sinnloses, weil unbewegtes Starren. Alvarez, so hieß sie, kam mit einer Tüte Brot in der Hand auf ihn zu und musterte ihn mit einem herausfordernden Lächeln. „Sie belästigt dich, weil du auf meinem Platz sitzt, Moreau, und weil ich sie immer füttere. Betonung auf immer. Und auf ich. Also schön langsam mit den jungen Ex-Raven-Pferden.“ Reichlich perplex starrte Jean das Mädchen an, wie sie die Möwe von ihm weglockte und ihr Stück um Stück zu fressen gab. Er schluckte trocken und wog in seinen Gedanken ab, ob es Sinn machte, das Thema noch einmal aufkommen zu lassen und sie darum zu bitten, ihrem Kapitän nichts zu sagen, damit er nicht bestraft werden würde. Alles, was dabei herauskam, war ein gepresstes „Du sprichst Französisch?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Genug um dich zu verstehen, du französisches Wunderkind.“ Jean verschränkte die Arme. „Bitte…sag es nicht Knox.“ Er würde ihn bestrafen, wenn er herausfand, dass er eine Sprache nutzte, die dieser vermutlich nicht verstand. Ungute Erinnerungen kamen in ihm hoch, als er daran dachte, dass er drei Tage nicht hatte essen können, als Riko ihn zum ersten Mal dafür zusammengeschlagen hatte, dass er Französisch gesprochen hatte. „Was?“, fragte Alvarez in seine Gedanken hinein. „Dass du in deiner Muttersprache nicht halb so böse klingst, als wenn du Englisch sprichst?“ Irritiert blinzelte Jean und schwieg für einen Augenblick lang verwirrt. Das tat er nicht. Außerdem war das hier nicht der Punkt. „Wird es ihn nicht wütend machen?“, hakte er vorsichtig nach und Alvarez hob die Augenbraue. „Wütend?“ Jean grollte innerlich. „Weil er es nicht versteht.“ Lauthals lachte das Mädchen an seiner Seite. Sie kräuselte ihre Nase und legte den Kopf in den Nacken, bevor sie sich zu ihm nach vorne beugte. „Aber Jer doch nicht. Im Gegenteil. Er wird an deinen Lippen hängen und dich auffordern, nur noch Französisch mit ihm zu sprechen, natürlich ohne dass er dich versteht. Glaube mir, diese Büchse der Pandora willst du nicht öffnen.“ Jean hörte ihre Worte rein technisch gesehen, hatte aber wirklich Mühe, sie zu verstehen. Knox würde sich freuen und ihn dazu auffordern, in einer ihm fremden Sprache zu sprechen? Das war eine derartige Antithese zu Riko und Evermore, dass Jean sich für einen Moment fragte, wie das überhaupt sein konnte. „Wieso nennst du das Tier Laila?“, fragte er, alleine schon, um von dem Thema abzulenken, auf das er keine Antwort hatte. „Wenn ich sage, dass sie genauso verfressen ist, dann wäre das nicht nett. Also sage ich, dass sie mir genauso aus der Hand frisst.“ „Das ist auch nicht nett.“ „Ansichtssache. Geht mir ja genauso.“ Jean versuchte, sich einen Reim aus den Worten zu machen, doch auch dieser Zusammenhang erschloss sich ihm nicht. Alvarez schien seinen Gesichtsausdruck richtig zu deuten und lächelte süffisant. „Das nennt man Beziehung, Moreau. Solltest du auch mal probieren. Oder hast du schon?“ Er blinzelte. Eine Beziehung? Darauf hatte er doch gar kein Recht. Schnaubend wandte er seinen Blick ab und sie ließ sich neben ihm nieder, als die Tüte leer war und der Vogel sich davon dreimal selbst überzeugt hatte. Das undankbare Vieh blieb noch nicht einmal eine Minute länger, bevor es wegflog. „Was treibt dich in die luftigen Höhen unseres Hauses?“, fragte die dunkelhaarige, junge Frau an seiner Seite, die auch auf dem Spielfeld neben ihm stehen würde. Sie war nicht ganz unfähig, auch wenn Jean da durchaus noch erhebliches Verbesserungspotenzial sah. „Stille“, gab er zurück und sie lachte. „Hält er nicht den Mund, unser werter Kapitän?“ Jean zuckte nichtssagend mit den Schultern. Kritik am Kapitän war gefährlich und würde nur zu Schmerzen führen. „So ist er, wenn er nervös ist und es jemandem recht machen möchte.“ Das überraschte Jean dann doch und er wagte einen Blick in ihre dunkelbraunen Augen. „Ich meine, hey, so ein plötzlicher Transfer des besten Backliners der Liga von dem besten Team der Liga zum drittbesten Team, der aussieht, als hätte ihn ein Auto überfahren… da kann man schon mal nervös sein, was das wohl zu bedeuten hat.“ Ihr Lächeln war alles andere als freundlich und Jean schluckte schwer. Er wusste, was sie damit andeuten wollte. „Ich bin kein Spion“, erwiderte er leise. „Habe ich mit keiner Silbe gesagt. Glaube ich auch nicht.“ „Was glaubst du dann?“ „Dass das tote Riko-Arschloch dir ebenso zugesetzt hat wie er Kevin Day zugesetzt hat, nur dass er dir nicht die Hand gebrochen hat, sondern, dass er dir büschelweise Haare ausgerissen und dich mit einem Messer verstümmelt hat.“ Bedeutungsschwanger glitt ihr Blick in Richtung seiner Haare und Jean wurde sich mit plötzlichem, bodenlosem Schrecken bewusst, dass er nur sein Shirt trug, nicht jedoch seine Beanie oder seinen Hoodie. In aller Klarheit sah Alvarez die Katastrophe auf seinem Kopf. In aller Klarheit sah sie seine mit Narben übersäten Arme und Hände, die noch frischen Verbände. Nichts hatte sie sich anmerken lassen, als sie auf das Dach gekommen war. Rein gar nichts. Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn verbrannt. „Hör zu, Mr. Gewitterwolke.“ Jean starrte ihr fassungslos in die Augen. Gewitter…was? „Die Trojans stehen für Freundschaft und Loyalität. Wir schützen einander. Wir lassen nicht zu, dass unseren Freunden und unserem Team etwas passiert. Mehr noch. Wir tolerieren keine Gewalt und stehen dagegen ein.“ Sie machte eine Pause und wartete anscheinend darauf, dass er etwas dazu sagte. Jean wüsste nicht, was, also schwieg er. Es dauerte eine Weile, dann nickte sie. „Ich habe die Gerüchte über Evermore nie wirklich für voll genommen. Das Einzige, was ich aber sofort geglaubt habe, waren die fragwürdigen Trainingsmethoden und kultähnlichen Anwandlungen, die ihr auf den Banketten und auf dem Spielfeld gezeigt habt.“ Jean schnaubte. „Das hat Josten auch gesagt.“ Die dunklen Augen leuchteten auf. „Ich fand es sehr spannend, dass er nach der Winterpause die Ziffer vier auf seiner Wange tätowiert hatte. Wie kam es dazu?“ „Riko hat es ihm aufgezwungen.“ „So wie dir die Nummer drei und Kevin die Nummer zwei?“ Bevor er sich davon abhalten konnte, nickte Jean. „Abartig“, urteilte sie nach einer Weile und er zuckte mit den Schultern. Ja, das war es gewesen, als sie ihn niedergehalten hatten um ihm die Drei einzutätowieren. Abartig war es gewesen, dass er Neil Josten hatte unten halten müssen, während Riko ihm die Vier auf die Wange geschrieben hatte. Die perfekte Mannschaft mit den perfekten Spielern. „Niemand hier wird dir etwas tun, Moreau. Nicht Jer, nicht ich, nicht Laila, niemand. Und niemand wird dich brandmarken, auch wenn ich es nicht erwarten kann, dich wie einen Weihnachtsbaum mit Trojan-Merchandise auszustatten.“ Jean hätte über die ausdruckslosen Worte lachen sollen, doch ihm war nicht danach zumute. Jetzt, in diesem Moment, wollte er lieber so tun, als würde er ihnen glauben, als wäre das die Faustformel für die kommenden Tage und Wochen. Und wenn er ehrlich war… so war die Vorstellung an ein solches Team eine Utopie, aus deren Ideen er gedanklich Kraft zog. „Ganz ehrlich, Moreau… ich gebe dir zwei Wochen und du wirst vor der Freundlichkeit deines neuen Teams die Wände hochgehen.“ Jean hob die Augenbrauen. „Ist das eine Drohung?“, fragte er kühl und Alvarez lachte. „Das ist eine realistische Einschätzung von einem Jean Moreau-Fangirl, das etwas zu lange damit verbracht hat, jeden Artikel über diesen großen, schweigsamen, talentierten Backliner zu verschlingen.“ Wie so vieles machte auch das keinen Sinn und er richtete den Blick in Richtung Sonne. „Ich gehe“, sagte er und sie zuckte mit den Schultern. „Ich halte dich nicht auf.“ Alvarez runzelte die Stirn. „Wobei…“ Jean hob die Augenbraue. „Laila weiß nichts von ihrer Namensvetterin und das soll auch so bleiben. Wenn du deinen Mund hältst, halte ich meinen, Deal?“ Überrascht musterte Jean sein Gegenüber. Schon wieder ein Deal? Doch nicht nur das wunderte ihn. Bei den Ravens war jedes Eingeständnis einer Schwäche eine unverzeihliche Schwachstelle gewesen. Alvarez ging so freizügig mit ihrer eigenen Schwäche um, dass Jean sich zunächst fragte, ob es eine Falle war. Er kam zu dem Schluss, dass es das aller Wahrscheinlichkeit nach nicht war und er neigte schlussendlich den Kopf. „Deal“, stimmte er zu und peinliche Stille entstand zwischen ihnen beiden, die Jean schließlich beendete, indem er tatsächlich aufstand und sich abwandte um zu gehen. Er hatte beinahe den Eingang zum Dachgeschoss erreicht, als sie ihn noch einmal zurückhielt. „Hey, Moreau.“ Jean brummte, ohne sich umzudrehen. „Wäre der Wichser von einem Kapitän nicht schon tot, ich würde ihm für das, was er gemacht hat, seinen Schläger zu fressen geben.“ Es war gut, dass sie sein Gesicht gerade nicht sah, befand Jean. Sein Lächeln gehörte ihm und nur ihm. Hatte es schon immer. ~~**~~ Als er das Apartment betrat, hörte Jean, wie es aus dem Schlafzimmer heraus rumpelte und etwas zu Boden fiel. Keine Sekunde später schob sich der blonde Schopf in sein Sichtfeld, die Augen groß und voller Sorge. Jean hatte gerade noch Zeit, sich seine Schuhe auszuziehen und in die Küche zu kommen, als er auch schon im vollen Fokus seines in der Nähe lauernden Kapitäns war, aus dessen Mund so viele hastige Worte sprudelten, dass Jean im ersten Moment wirklich Probleme hatte, ihnen zu folgen. „…und deswegen möchte ich dich um Verzeihung bitten, weil ich wirklich dumm war und ignorant und nicht nachgedacht habe und dich das sicherlich verletzt hat und…“ Sein Kapitän verstummte und verwirrt starrte er auf Knox herab, der ihm während seiner Ansprache so nahe gekommen war, dass Jean bequem auf ihn hinuntersehen konnte und er selbst seinen Kopf in den Nacken legen musste. Die Haltung des Kapitäns war offen, die Arme an den Seiten und entspannt. Knox hatte frisch geduscht, das konnte Jean riechen und sehen. Ebenso wie er sah, dass die Bräune des Jungen sich nicht nur auf sein Gesicht bezog, sondern auch auf seinen freien Oberkörper. Knox trug kein T-Shirt, so konnte Jean nun auch den körperlichen Beweis dafür sehen, wie sportlich der Kapitän der Trojans war. Da war kein Gramm Fett, nur Muskeln auf der narbenfreien Haut. „Es ist okay“, sagte Jean schlicht, in der Hoffnung, dass er damit keinen weiteren Wortschwall provozierte. Hoffnungsvoll hob Knox sein Kinn. „Ist es das wirklich?“ „Ja.“ „Und du bist mir nicht böse?“ Jetzt, in diesem Moment fiel es Jean schwer, seine Gedanken der Nacht nachzuvollziehen. Knox zu unterstellen, dass er es absichtlich gesagt hätte, war anscheinend so weit von der Realität entfernt, dass Jean sich fragte, wie er sich so hatte verschätzen können. Und wie oft er solche Fehleinschätzungen noch treffen wollte. Jean dachte über die letzte Frage seines Kapitäns nach, der von einem Bein auf das andere trat. Seine anscheinend unerschöpfliche Energie suchte sich zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Ventil, doch anders als Riko äußerte sich diese nicht in Sadismus oder Gewalt. Wo Riko Zerstörung war, war Knox pures Leben. Wie sollte er dem Leben böse sein? „Nein, bin ich nicht“, erwiderte Jean, als er merkte, dass sein Schweigen Knox unsicher machte und seufzte, als dieser einfache Satz überschwängliche Freude in Knox hervorrief. Soviel Freude, dass die Gestik und Mimik seines Kapitäns Jean deutlich mitteilte, dass dieser ihn in diesem Moment am Liebsten umarmt hätte. Er bereitete sich auf das Schlimmste vor, doch nichts kam. Knox entspannte abrupt seine gesamte Haltung und verschränkte seine Hände hinter seinem Rücken. Verlegen räusperte er sich und Jean wartete schweigend, ob er anstelle einer Umarmung etwas Anderes plante. Dem war anscheinend nicht der Fall, auch wenn Knox keine Anstalten machte, ihm aus dem Weg zu gehen. „Ist noch etwas?“, fragte er, als ihm das Schweigen zu bunt wurde. Ausgerechnet ihm, der es perfektioniert hatte, andere sich durch sein Schweigen unwohl fühlen zu lassen. „Nein“, erwiderte Knox und Jean begriff, dass die Unschuld, mit der sein Kapitän das sagte, auch wirklich genau das war: Unschuld. Es war kein Spiel, das er hier spielte. Jean seufzte. „Lässt du mich durch?“, fragte er schließlich und Knox‘ Lippen formten sich zu einem überraschten „Oh!“ Ja, oh. Genau das. Während er an seinem Kapitän vorbeitrat, hatte er klar und deutlich das Bild der Möwe vor Augen. ~~**~~ In den letzten zwei Monaten hatte Jean so viele Dinge zum ersten Mal erlebt, dass er mittlerweile dabei war, den Überblick über all das zu verlieren, was er noch nie gemacht hatte. Er wünschte, dass er ein Buch hätte, um sie niederzuschreiben, doch er wollte Knox nicht danach fragen. Er wusste nicht, wie er zu dem Supermarkt kommen konnte, in dem sie am Anfang gewesen waren, geschweige denn, wie er ohne eine Begleitung den Campus verlassen sollte. Jean berichtigte sich. Er konnte Knox gerade nicht danach fragen, weil sie sich beide im Exystadion befanden. Sie, Coach Rhemann und der Rest der Trojans. Das an sich war schon ein erstes Mal, doch das viel Verstörendere war, dass bis auf Jean alle Trainingssachen trugen weil das erste Training der Saison anstand. Zum ersten Mal war Jean bei einem Training anwesend ohne mitzumachen. Zum ersten Mal saß er auf der Bank, dorthin verbannt durch die Ärztin, die seinen Verletzungen zuviel Bedeutung zumaß, als dass er mittrainieren dürfte. Das war lächerlich angesichts der Tatsache, dass er mit gebrochenen Rippen und Fingern gespielt hatte, mit Stichwunden, die ihn bunte Sterne hatten sehen lassen. Nun aber stand er stumm neben seinem Kapitän und sah dabei zu, wie sich die USC Trojans langsam einfanden und wunderte sich über der Ruhe, mit der Coach Rhemann die Nachzügler begrüßte. Der Herr hätte niemals eine solche Disziplinlosigkeit geduldet. Die Ravens waren nie unpünktlich gewesen, der strenge Zeitplan war allen bekannt gewesen. Natürlich hatte es Ausnahmen gegeben, doch diese waren hart bestraft worden. „So, alle da?“, fragte im Gegensatz dazu Coach Rhemann mit einem Lächeln, als die Letzte, ein kleines, zierliches Mädchen, zu ihnen gejoggt kam und verschämt grinste. Jean wusste nicht, was er in diesem Moment mehr verachtete: ihre Dummheit oder die fehlende Kontrolle durch den Trainer. Was es auch war, es lenkte ihn nicht von den Blicken ab, die ihm zugeworfen wurden. Jean sah sie aus seinem Augenwinkel heraus oder wenn er seine Augen unerwartet in eine Richtung lenkte. Anscheinend hatten die bereits Eingeweihten dicht gehalten, was seinen Aufenthalt hier anging. Das Getuschel, das Jean zwischen zwei Jungen sah, die kurz zuvor auf ihn gedeutet hatten, war dennoch oder gerade deswegen so beunruhigend, dass es ihm die Nackenhaare stehen ließ. Wütend starrte er die Beiden so lange an, bis sie ihre Augen senkten und schwiegen. Jean wandte den Blick ab und blieb an einem Spieler hängen, der neben dem Hünen stand, den er in dem Einkaufszentrum getroffen hatte. Beinahe schon hasserfüllt wurde er gemustert und Jean versuchte sich an das Gesicht zu erinnern. Kannte er ihn? Waren sie schon einmal aufeinander getroffen? Was es auch war, eigentlich war es unerheblich. Aufmerksam und angespannt hörte Jean der Ansprache des Trainers zu, die dieser freundlich und mit mehr Humor, als er jemals in seinem Leben gehört hatte, hielt. Es gab anscheinend einige neue, aber auch viele alte Hasen, die ein eingespieltes Team waren und die die Neuen anleiten und ihnen mit gutem Beispiel voran gehen würde, wie Knox versicherte. In Jeans Augen war das komplette Verschwendung. Jeder wusste, wozu er hier war und welche Aufgabe sie gemeinsam zu erfüllen hatten. Dazu brauchte es keine großen, langatmigen Ansprachen. Und auch keine verdammte Vorstellungsrunde, wo jeder seinen Namen, sein Jahr und seine Exy-Erfahrungen erläutern sollte. Jeder einzelne wurde beklatscht und erhielt ein Willkommen von allen. Wenn das jemand bei den Ravens gewagt hätte… Der Gedanke war müßig, denn jetzt war das hier seine Hölle. Seine Vorstellungshölle, korrigierte Jean sich, als sich alle Augen auf ihn richteten. Hatte Riko ihn nicht genau deswegen mit der Nummer drei gebrandmarkt? Damit jeder wusste, was er war? Wem er gehörte? Nummer drei, Backliner der Ravens. Nicht mehr. Hier Nummer sieben, Backliner der Trojans. Jean knirschte mit den Zähnen. „Jean Moreau. Backliner. Von der Edgar Allan zur USC gewechselt“, sagte er knapp und sah selbst aus dem Augenwinkel heraus das stolze Grinsen seines Kapitäns. Seinen Worten folgte ein Schweigen, in dem man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Ein ungutes Gefühl kroch in Jean hoch wie ein schleichendes Raubtier. Sie schätzten ihn ab, sie versuchten seine Schwachstellen auszuloten und zu ergründen, wie weit sie gehen konnten, bis er brach. Sie würden sich an ihren Kapitän wenden mit ihren Vorlieben und fragen, ob er zur Verfügung stand. Jean war sich dessen sicher. Der plötzliche, laute Applaus und das begeisterte Rufen der Jungen und Mädchen um ihn herum erschreckte ihn daher mehr als dass er zuzugeben bereit war. Perplex sah er sich um und wagte einen Blick in die ihn anstrahlenden, teilweisen ehrfürchtigen Gesichter, in die Freude. Über ihn und sein Hiersein, als würde er zu ihnen gehören und einer von ihnen sein. „Wie cool! Der beste Backliner der Liga ist bei uns!“ „Ohne Scheiß, wir werden nie wieder ein Spiel verlieren!“ „Unsere Torhüter werden arbeitslos, hast du gehört, Dermott?“ „Woho, du bist noch furchteinflößender als auf dem Spielfeld! Krass, Mann! Und so riesig.“ „Die Saison gehört uns, Captain!“ „Rot-gold sind die besten Farben!“ Jean blinzelte verständnislos und wider Willen irrte sein Blick zu Knox, der ihm mit einem amüsierten Schulterzucken und einem Zwinkern antwortete. Das Mädchen neben ihm – Alvarez, rief sich Jean ins Gedächtnis – war da keinen Deut besser. „Ich hab’s dir gesagt, Mr. Gewitterwolke“, sagte sie leise genug, dass niemand außer ihr, Knox und ihm das hörte und Jean wandte konsequent den Blick ab, als Knox seinen Mund öffnete. Jean behielt das auch für den Rest des Trainings so bei, das er an der Seite des Trainers verbrachte, der ihm eine Einführung in das Team, seine Arbeitsweise und die Art zu spielen und zu trainieren gab. Ruhig und besonnen erläuterte Coach Rhemann Jean all das, was für ihn schwer zu begreifen war. Warum sie eine so kurze Aufwärmphase hatten. Warum das Ausdauertraining einen Bruchteil an Zeit beanspruchte, die es in Evermore beansprucht hatte. Warum die Nachlässigkeit bei den Übungen und Drills nicht bestraft wurde und er Coach sich diese Unfähigkeit nur ansah und Notizen machte. Er erklärte ihm die Teamdynamik und Jean war nach den drei Stunden, die er neben Rhemann gestanden und gelitten hatte, bereit, die Stadionwände hochzugehen. Das hier war kein Training. Das hier war noch nicht einmal Exy. Das war eine Ansammlung an Freizeitsportlern, die miteinander lachten, scherzten und Ausweichübungen in Fangenspiele umfunktionierten, ohne dass sie dafür gemaßregelt wurden. Jean war entsetzt und er fragte sich allen Ernstes, wie schlecht er selbst gewesen sein musste, dass Knox sich gegen ihn hatte durchsetzen können. Verschwitzt und rotwangig kam eben jener schließlich auf ihn zugerannt. Wovon?, gellte es in Jean. Knox hätte keine zwei Tage in Evermore überlebt. Nicht so. Riko hätte ihn auseinandergerissen. „Und, wie hat es dir gefallen?“, fragte der Ahnungslose und Jean gab sich Mühe, sein Missfallen zu unterdrücken. Es stand ihm nicht zu, seinen Kapitän zu kritisieren. Er durfte das nicht. Und dennoch vermochte er es nicht, sein Stirnrunzeln zu glätten. „Ist das Training…immer so?“, fragte er so neutral, wie es ihm möglich war, anscheinend jedoch immer noch kritisch genug, dass Knox unter seiner Musterung verschämt lächelte. „Na ein bisschen chaotisch sind wir schon. Aber das wird im Laufe der Saison besser werden.“ So würde gar nichts besser werden. Sie würden ihr lächerliches Gutmenschenspiel spielen und sowohl gegen die Ravens als auch gegen die Foxes verlieren. Wut schäumte in Jean hoch anhand einer derartigen Unbekümmertheit. Wie konnte Knox so lasch mit seinem Team umgehen und sie nicht dafür strafen, dass sie seinen Kommandos nicht folgten oder sie nachlässig ausführten? „Ja“, log Jean, weil alles andere dazu geführt hätte, dass er seine eigenen Worte Lügen strafte und seinem Kapitän nicht die Achtung entgegenbrachte, die dieser verdiente. „Alvarez, Laila und ich gehen nach dem Training noch ins Diner. Du hast doch auch noch nichts gegessen…kommst du mit?“ Jean hatte keine Wahl, weil er nicht alleine sein konnte. Das bedeutete aber nicht, dass er seinen Kapitän in diesem Moment nicht an seinem Jersey hochheben und schütteln wollte, damit dieser von seinem fürchterlichen Essensplan abließ. Seine Hände zuckten an seinen Seiten und seufzend nickte Jean. ~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)