Cursed von Lycc ================================================================================ Kapitel 57: Sollbruchstelle --------------------------- „Verrätst du mir jetzt endlich, was los ist?“ Widerwillig ließ Mara sich von ihrer großen Schwester mitziehen, die zielstrebig mit ihr durch die Seitengassen der Innenstadt eilte. „Du wirst es verstehen, wenn es soweit ist. Aber erst mal musst du in meiner Nähe bleiben. Ich will nicht, dass du zwischen die Fronten gerätst und dabei verletzt wirst.“ „Verdammt, Sierra. Was hast du angestellt?“ „Gar nichts. Meine Prüfung ist eben anders verlaufen als geplant, aber ich habe es geschafft das zu meinem – zu unserem – Vorteil zu nutzen. Der Ärger mit Mom, meine Prüfung, der Zerfall des Zirkels – alles vorbei. Vertrau mir, Schwesterchen.“ Mara konnte das Gesicht ihrer Schwester nicht sehen, doch sie hörte an ihrer Stimmlage, dass Sierra wieder in Fanatismus hinabglitt. Das war eine Eigenschaft, die Mara schon immer an ihr und auch an ihrer Mutter zum Fürchten gefunden hatte. Ihr Vater hatte es immer auf den starken Einfluss der Magie oder die Ideologie des Zirkels geschoben und ignoriert, also tat Mara das Gleiche. Die Magie war eben ein großer Teil von Sierras Leben und ihre innigste Leidenschaft. Inzwischen hatten sie die Tür eines unauffälligen Wohngebäudes erreicht, das sich völlig normal und unverdächtig ins Stadtbild einfügte. Sierra zog einen Schlüssel hervor, öffnete die Eingangstür und zog ihre Schwester mit sich. „Was denn? Dachtest du etwa, der Zirkel würde sich in einem gruseligen Keller oder Katakomben unter einem alten Mausoleum treffen?“, scherzte Sierra als sie den ungläubigen Blick ihrer nicht-magischen Schwester bemerkte. „Irgendwie schon. Sierra, ich sollte nicht hier sein. Wenn man mich hier sieht, kriegen wir beide und Mom gewaltigen Ärger.“ „Keine Sorge. Ich mach das schon.“ „Das will ich sehen“, mischte sich eine strenge Frauenstimme in das Gespräch ein und Sierra schloss gewissenhaft die Haustür. Während Mara das Herz bis zum Hals schlug, verstaute Sierra betont entspannt und selbstsicher den Hausschlüssel in ihrer Tasche und zog stattdessen einen kleinen hellbraunen Lederbeutel hervor, der mit dunklen Runen versehen war. Die Symbole waren nicht aufgemalt, sondern dem Schwein tätowiert wurden, bevor man es gehäutet und die Haut zu Leder gegerbt hatte. Das Ergebnis dieser mühsamen Prozedur war ein kleiner Beutel, der seinen Inhalt vor Aufspür-Zaubern schützte und gleichzeitig dessen Energiesignatur verbarg. Sierra ging zwar nicht davon aus, dass Aiden oder sein dämonischer Wachhund dazu in der Lage wären, den Schlüssel aufzuspüren, aber die kleine Möchtegern Sophie hatte sich als weitaus nerviger herausgestellt, als sie je für möglich gehalten hatte. Also wollte sie kein Risiko eingehen. „Der Innere Kreis muss zusammengerufen werden. Sofort“, verlange Sierra und hielt der Hexe mittleren Alters vielsagend den kleinen Beutel hin. Auf diesem Moment hatte sie gewartet. Jetzt würde sie die Anerkennung bekommen, die sie verdiente, den Respekt, der ihr zustand. Mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen ergänzte sie erklärend: „Das letzte Stück der Seele des Großmeisters ist heimgekehrt.“ Ratlos saß Mara auf einer kleinen Bank am Rand es großen Raumes im Untergeschoss des Hauses und beobachtete das wirre Treiben. 'Also doch ein gruseliger Keller' dachte sie ganz unwillkürlich, während Hexen und Magier geschäftig an ihr vorbeihuschten und sich aufgeregt unterhielten. Sie hatte keine Ahnung, was genau hier eigentlich vor sich ging. Man hatte ihr nie etwas über den Zirkel, dessen Strukturen oder Ziele erzählt, weil sie zu unbegabt war, um jemals ein Teil davon zu werden, und als Außenstehende durfte sie nur so wenig wie möglich wissen. Allein schon dass sie hier war, war ein Tabubruch, doch was auch immer Sierra hierher gebracht hatte, es war wohl wichtiger als die kleine nicht-Hexe in ihrer Mitte. Selbstverständlich. Alles war wichtiger als Mara. Andererseits war das hier wohl eine wirklich große Sache und wenn Sierra Recht hatte, dann würde hiernach – was auch immer hier gerade passierte – alles besser werden. Zumindest für Sierra. Für Mara würde sich wohl nicht viel ändern, aber das war schon okay. Es war wie ihre Schwester sagte, wenn Sierra erfolgreich wäre, dann hatte ihre Mom eine Vorzeige-Tochter und würde Mara endlich in Frieden lassen. Zumindest hoffte sie das. Die schwere Eisentür des Kellers wurde geöffnet und fünf hochrangige Zirkel-Mitglieder betraten den Raum, jeder mit einem schwarzen Lederkoffer in den Händen, die sie nahezu ehrfürchtig vor sich hertrugen und sie auf den Rand des gezeichneten Siegels auf dem Boden ablegten, wobei sie eine Lücke für einen weiteren Koffer ließen. Irgendwie hatte Mara eisenbeschlagene Holztruhen oder etwas in der Art erwartet. Die ordinären Aktenkoffer nahmen der Szene viel von ihrer Mystik, aber darauf legte hier wohl niemand besonders großen Wert. Zwei junge Magier brachten einen schmuckvollen Stuhl herein und stellten ihn präzise in die Mitte des Siegels. Es folge ihnen das Oberhaupt des örtlichen Zirkels – ebenfalls mit einem dieser Koffer in den Händen – und stellte sich neben das Sitzmöbelstück. Auch Sierra betrat nun als Letzte den Raum durch die gleiche Tür wie die hochrangigen Mitglieder, legte ihren geöffneten Beutel in die Lücke zu den Koffern und genoss ganz offensichtlich die Aufmerksamkeit, die diese Geste ihr bei den Umstehenden einbrachte. Sie badete nahezu in den Blicken und sog das anerkennende Nicken und beeindruckte Getuschel tief in ihre Seele. Das hier war Sierras Triumph. Sie hatte vollbracht, woran Hexen und Magier ihres Zirkels seit Generationen scheiterten, und das wusste sie ganz genau. Niemand würde sich an ihr Versagen mit dem fehlerhaften Dämon erinnern, dafür würde sie schon sorgen. Sie war keine Versagerin. Sie war ein Ausnahmetalent. Die geborene Hexe. Das Genie ihrer Zeit. Und spätestens jetzt musste das auch der Letzte anerkennen. Ehrfürchtig und mit gesengter Stimme versammelten sich alle um den hergerichteten Zirkel. Nur Mara blieb unbeachtet auf der Bank am Rand sitzen und beobachtete mit wachsendem Unwohlsein, wie sich der Fanatismus auf immer mehr Gesichtern breitmachte. Ein Frösteln ging durch ihren Körper und sie konnte nicht sagen, ob er von dem feuchtkalten Klima in dem Kellerraum oder der unangenehmen Stimmung der Umstehenden rührte. Ein letztes Mal wurde die schwere Flügeltür geöffnet und ein junger Mann Anfang 20 in einem edlen Anzug zum Ritualkreis geführt. Er wirkte abwesend, musste gestützt werden und schien kaum die Augen offen halten zu können, doch er ließ sich widerstandslos in die Mitte der Koffer bringen und dort auf den Stuhl setzen. Das Zirkeloberhaupt watete bis die beiden Helfer den Ritualkreis wieder verlassen hatten und sich alle Aufmerksamkeit wieder auf ihm konzentrierte. Feierlich setzte er zu einer kurzen Rede an, in deren Folge er immer wieder den geöffneten Koffer in seinen Händen zeigte, einmal anerkennend auf Sierra hinwies und irgendetwas über den Mann im Stuhl erzählte. Viel mehr konnte Mara nicht aus diesem wirren Auftritt schließen, da sich das Zirkeloberhaupt aus welchen Gründen auch immer dazu entschlossen hatte, seine Ansprache auf Latein zu halten. 'Überdramatisiertes Theater', dachte Mara still bei sich und rutschte ungeduldig auf der Bank herum. Sie wollte endlich hier weg. Das hier war nicht ihre Welt und sie sollte eigentlich gar nicht hier sein. Aber auf der anderen Seite wäre Sierra nicht so aus dem Häuschen gewesen, wenn es sich hier um irgendeine Banalität handelte. Sierra hatte sie aus der Schule geholt und hierher gebracht, also musste dieser ganze Zirkus ja irgendetwas mit Mara zu tun haben. Und da niemand es für nötig hielt, ihr irgendetwas zu sagen, musste sie beobachten und schlussfolgern, wenn sie etwas wissen wollte. Also schluckte sie das unbehagliche Gefühl runter und setzte sich etwas gerader hin um besser sehen zu können. Das Zirkeloberhaupt beendete seine theatralische Rede, nahm einen prunkvollen und sehr alt anmutenden Ring aus dem Koffer und steckte ihn dem jungen Mann an den Finger, der inzwischen vollkommen von seinem Delirium übermannt worden war und nun bewusstlos auf der Sitzfläche hing. Alle Spannung und Kraft hatte seinen Körper verlassen und die Rücken- und Armlehnen waren das Einzige, was seinen Körper nun noch an Ort und Stelle hielten. Das Zirkeloberhaupt verließ den Ritualkreis und positionierte sich so an dessen Rand, dass er den Mann in dessen Mitte frontal ansehen konnten. Dann begann er den Text aus seinem Grimoire zu rezitieren. In diesem Moment war es, als hätte jemand die Welt angehalten und begonnen, sie rückwärts zu drehen. Alles war gleich und trotzdem völlig anders. Die Stimme des Zirkeloberhaupts klang durchdringend und mächtig wie Donner, der übers Land rollte. Die Stimmen aller teilnehmenden Hexen und Magier verschmolzen zu einer einzigen und selbst die Steine der toten Kellerwände schienen im Gleichtakt mit ihnen zu schwingen. Als würde man alle Tasten eines Klaviers gleichzeitig spielen, nahm ein überladenes Dröhnen den Raum ein und ließ die Luft vibrieren. Mara war wie gelähmt. Ihr Körper rührte sich nicht, ihre Stimme versagte und sie war sich nicht einmal sicher, ob sie noch atmete. Ihr Kopf – nein, ihr gesamter Körper und Geist schienen wie tief unter Wasser und wurde von übermächtigem Druck zerquetscht. Mara sah ihre Schwester, wie sie inmitten der Anderen um das Siegel stand und unisono lateinische Sprüche rezitierte, während ihre Augen fest auf den Mann im Stuhl gerichtet waren. Dann verschwamm der Anblick. Maras Augen wollten sich nicht mehr fokussieren und ihre Lippen weigerten sich, Worte zu formen. Irgendetwas zerdrückte Mara innerlich und nicht einmal Sierra schien es zu bemerken. Die Stimmen und der begleitende Druck schwoll in einem durchdringenden Finale an. Und in Mara zerbrach etwas. „Hat es nicht funktioniert?“ „Warum rührt er sich nicht?“ „Haben wir etwas falsch gemacht?“ Unruhiges Gemurmel füllte den Raum, während alle wie gebannt auf Malio, den jungen Mann in ihrer Mitte starrten. Er war ein vielversprechender Magier – begabt, ambitioniert, attraktiv, von guter Abstammung und kerngesund. Daher wurde ihm die Ehre zu teil, seinen Körper dem Großmeister zu geben. Die Seele Griefs' hatten sie zwar zusammen, aber er brauchte eben auch einen Körper, um erneut in dieser Welt unter den Lebenden zu wandeln. Um sicherzustellen, dass Meister Griefs ungehindert in den richtigen Körper gelangen konnte, hatte man Malios Geist mithilfe einiger pflanzlicher Mittel und Bewusstseins-Zauber in einen wehrlosen Zustand versetzt. Malio wollte zwar freiwillig Meister Griefs' Gefäß sein, aber gegen das Eindringen eines fremden Geistes oder gar einer fremden Seele wehrt man sich ganz instinktiv. Dank der Vorbereitungen sollte Malio nun allerdings zur Sollbruchstelle in diesem Raum geworden sein und Griefs' Seele sollte daher dem Weg des geringsten Widerstands folgend in Malios Körper erwachen. Ungeduldig zupfte Sierra an der Haut ihrer Fingerkuppen. Hatte sie sich vielleicht getäuscht und der Schlüssel enthielt doch nicht das fehlende Seelen-Fragment? Nein, das konnte nicht sein. Sie war sich absolut sicher, dass sie dieses mal keinen Fehler gemacht hatte. Sie hatte alles richtig gemacht und nichts vergessen. Eine schwache Regung ging plötzlich durch Malios Körper und ließ das aufkommende Gemurmel wieder verstummen. Der junge Mann regte sich, hob angestrengt den Kopf und schlug unter größter Anstrengung und begleitet von leidvollem Stöhnen die Augen auf. „Großmeister Griefs?“, fragte das Zirkeloberhaupt zögerlich und mit der Stimme eines unzulänglichen Kindes. „Nein. Malio“, kam die gequälte Antwort genuschelt und ließ Entsetzen und Enttäuschung auf allen Gesichtern entstehen. „Aber wieso? Wie konnte das passieren? Wir haben alles richtig gemacht.“ „Wenn ihr das hier als 'alles richtig machen' bezeichnet, dann ist mein Zirkel in meiner Abwesenheit wohl tief gefallen und es ist höchste Zeit, dass ich erneut die Führung übernehme.“ Erschrocken drehten sich alle zur Quelle dieser Worte um, nur Sierra wagte es nicht, sich zu rühren. Beim Klang dieser Stimme gefror ihr das Blut in den Adern. Sie war so dumm – so unendlich dumm. Körperlose Seelen suchten sich immer den Weg des geringsten Widerstands und den bildete in diesem Raum nicht der sedierte aber immer noch mächtige Malio, sondern ein Mädchen mit mangelnder magischer Begabung. Mara stand vor der Bank, auf der man sie unbeachtet hatte warten lassen. Ihre Augen waren berechnend, ihre Körperhaltung selbstbewusst und maskulin und das süffisante Lächeln auf ihren Lippen gehörte nicht zu dem Mädchen, das Sierra ihre kleine Schwester nannte. Kein Zweifel – das hier war nicht Mara, sondern Großmeister Griefs. „Seit wann ist sowas“, Griefs deutete abfällig auf den zarten Mädchenkörper, in dem er nun steckte, „überhaupt in den Hallen des Zirkels erlaubt? Dieses Mädchen hat keinerlei Talent und übermäßig ansehnlich ist ihr Körper auch nicht.“ Die oberen Zirkelmitglieder brachen in unterwürfige Entschuldigungen aus, der Raum füllte sich mit aufgeregtem Raunen und alle versammelten sich um den Großmeister im Mädchenkörper. Sierra wurde beiseite gestoßen und angerempelt, doch nichts davon nahm sie bewusst wahr. Sie hatte versagt. Sie hatte nicht nur das Ritual ruiniert, ihren Zirkel in Schwierigkeiten gebracht und ihren Großmeister in einen Mädchenkörper gesteckt, sondern hatte auch noch ganz nebenbei den Menschen verloren, den sie zu beschützen geschworen hatte. Meister Griefs' Seele war stärker als Maras. Sie würde nicht wieder an die Oberfläche zurückkehren, solange er ihren Körper besaß. Und niemand würde Sierra dabei helfen, ihre Schwester zurück zu holen. Mara war nicht einmal ein Zirkelmitglied, also kümmerte ihr Schicksal niemanden. Sierra war auf sich allein gestellt und zum ersten Mal in ihrem Leben, machte ihr dieser Umstand unsagbare Angst. „-erra? Sierra? Liebes, hörst du mich?“ Verwirrt sah sie zu der Frau auf, die sie sanft an der Schulter rüttelte und ihren Blickkontakt suchte. „Ich weiß, du machst dir Vorwürfe, weil du deine Schwester mit hierher gebracht hast, aber du musst dich jetzt zusammenreißen. Du bist offiziell noch gar kein vollwertiges Mitglied, da du ja deine Prüfung noch nicht abgeschlossen hast, also kannst du für den Zwischenfall nicht verantwortlich gemacht werden. Mach dir also keine Sorgen.“ Noch immer perplex sah Sierra die Sekretärin ihrer alten Schule an. Zwischenfall. Sie nannte es 'Zwischenfall', dass Sierra soeben ihre Schwester um deren Körper gebracht hatte. „Großmeister Griefs will dich sehen. Also mach nicht so ein Gesicht, sondern sei stolz und selbstbewusst. Du bist eine Hexe, also verhalte dich auch wie eine.“ Energisch schon die Sekretärin ihren Schützling zur Tür und führte sie nach oben. Man hatte eilig einen Raum für den wiedererweckten Großmeister hergerichtet und genau dort hinein wurde Sierra nun geschickt. Als sie die Tür öffnete verschluckte sie sich kurz an ihrer Spucke. Der schutzlose Körper ihrer kleinen Schwester saß nackt auf der Bettkante und spielte mit Maras Smartphone herum. Als Griefs Sierra in der Tür bemerkte, ließ er es achtlos zu Boden fallen und wandte sich seiner Besucherin zu. „Du bist also für diesen Schlamassel verantwortlich. Wie lautet dein Name?“ „Meister Griefs, verzeiht mir die Frage, aber warum habt ihr euch ausgezogen?“ Griefs seufzte schwer und verdrehte genervt die Augen. „Gehorsam bringen sie euch hier wohl auch nicht mehr bei, wie mir scheint.“ Unsicher biss Sierra sich auf die Unterlippe. „Sierra Dionea“, stellte sie sich knapp vor und wusste noch nicht so recht mit der Situation umzugehen. „Dionea, also.“ Er drehte nachdenklich den Ring, den er inzwischen von Malio zurückbekommen hatte und der an Maras Hand nur auf ihrem Daumen richtig Halt fand. „Deine Blutlinie ist fast so alt wie meine eigene. Eine wahre Schande, dass deine Frau Mutter sich einen nicht-Magier zum Gatten erwählt hat. Du hättest so viel mächtiger sein können. Und deine Schwester auch.“ Sierras Zähne mahlten aufeinander und knirschten hörbar. Sie war hin und her gerissen zwischen Wut, Trauer und Bewunderung. „Ich warte darauf, dass mir angemessene Kleidung gebracht wird“, beantwortete Griefs nun Sierras Frage verspätet und deutete auf die Anzughosen und Hemden, die überall im Zimmer verteilt lagen. „Ich weigere mich ein Kleid zu tragen und dieser Körper passt einfach in kein vernünftiges Kleidungsstück.“ Bei den Worten 'dieser Körper' griff er völlig selbstverständlich an Maras rechte Brust und drückte sie wie zur Bestätigung einmal in seiner Hand. „Wirklich unpraktisch der weibliche Körper. Unnötiges Fettgewebe, schwächliche Gliedmaßen und ein unförmiger Rumpf.“ Er guckte angewidert an sich herab. „Vom Fehlen eines Gliedes mal ganz zu schweigen.“ Sierra wollte sich übergeben. Für sie war Großmeister Griefs immer ein unfehlbarer Magier und möglicher Mentor gewesen, doch nun stellte sich heraus, dass er in Wirklichkeit ein misogynes, arrogantes Arschloch war, dass nun im Körper ihrer 18-jährigen kleinen Schwester steckte. Ekel und Wut mischten sich in ihr und töteten jedes bisschen Respekt, das sie vor ihrem Idol gehabt hatte. „Kann ich mit meiner Schwester sprechen?“ Griefs sah sie überrascht aus Maras Augen an. Ein kurzes, kaum merklichen Zucken ging durch den fremdgesteuerten Mädchenkörper und Griefs überlegte verdächtig lang, bevor er ihr antwortete. „Bedaure, halbe Dionea. Solange ich diesen Körper bewohne, bin ich auch an der Macht. Und für einen Wechsel auf einen anderen Körper, ist meine frisch zusammengesetzte Seele noch nicht stabil genug.“ „Den Körper wechseln?“ In Sierra keime Hoffnung. „Aber natürlich. Glaubst du etwas, ich will in dieser schwächlichen, mangelhaften Hülle bleiben? Sobald ich weder im Vollbesitz meiner Kräfte bin, werde ich den Körper des jungen Malio übernehmen uns dieses unpassende Gefäß ablegen. Aber bis es soweit ist,“, ein vielsagendes Lächeln stahl sich auf das vertraute und doch so fremde Gesicht, „werde ich die weltlichen Gelüste wohl in diesem Körper erkunden müssen. Eure moderne Welt hält ja so viele interessante Sünden und Verlockungen bereit.“ Genüsslich beobachtete Griefs, wie alle Farbe aus Sierras Gesicht wich. Er würde ihn ruinieren – er würde den unschuldigen Körper ihrer kleinen Schwester vollkommen ruinieren. „Na na na, kleine Halb-Hexe. Du dachtest doch nicht etwa, dass du ungestraft davon kämst? Du hast es zu verantworten, dass ich vorläufig in diesem absolut unzureichenden Gefäß feststecke. Ich lass mich doch nicht von einem kleinen Mädchen wie dir vor meinem eigenen Zirkel lächerlich machen. Dir wird schon noch bewusst werden, was du eigentlich angerichtet hast.“ Ein bösartiges Grinsen entstellte Maras kindliches Gesicht und ließ in Sierra Tränen aufsteigen. Das würde Mara ihr niemals verzeihen. Griefs hatte die Macht über ihren Körper und er würde sie schonungslos ausnutzen. Für ihn war Maras Körper nur eine Mitfahrgelegenheit, die er missbrauchen und, wenn es so weit war, gegen ein besseres Gefäß eintauschen konnte. Mara war nicht magisch und nur eine Frau, also hatte sie keinerlei Wert für den Großmeister. „Wie bist du eigentlich an meinen Schlüssel gelangt?“, wechselte er urplötzlich das Thema, doch in Sierra war das Fass inzwischen übergelaufen. „Tut mir leid, aber ich habe leider nur das kurze, unzureichende Gedächtnis einer Frau und Halb-Hexe und hab es schon wieder vergessen.“ Griefs brach in schallendes Gelächter aus. „Zumindest Reden kannst du gut. Schade, dass du nicht als Vollblutmagier geboren wurdest. Aus dir hätte noch werden können. Du kannst dann gehen.“ Mit einem kurzen Fingerzeig ließ Griefs die Tür aufschwingen und fegte Sierra mit einer weiteren knappen Handbewegung mühelos aus dem Raum. Eigentlich war er nicht der Typ, der seine Macht für solche Kinkerlitzchen einsetzte, doch dieses Dionea-Mädchen gab einen all zu amüsanten Spielball ab. Aber da war noch etwas anderes, das Griefs eigentlich nicht wahrhaben wollte, doch er musste sich eingestehen, dass die Augen des Mädchens eine gewisse Angst in ihm auslösten. Das Feuer, das in ihren brannte, ähnelte dem, das er kurz vor seinem Tod in den hellgrauen Augen seines Mörders gesehen hatte. Diese verfluchten, brennenden Augen – sie waren das Letzte gewesen, das er in seinem Leben gesehen hatte, und ihr Bild war das Erste gewesen, dass ihm durch den Kopf geschossen war, als er hier in diesem Mädchenkörper erwachte. Allein die Erinnerung ließ ihn erschaudern und plötzlich fühlte er sich unsicher und verletzlich in dem nackten, zierlichen Mädchenkörper. „WO BLEIBT MEINE KLEIDUNG?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)