Krieger des Lichts von Cedar ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel Eins. MorgenGrauen. -------------------------------------- Gähnend streckte Hagane Kotetsu die Glieder: die Nacht schien heute gar kein Ende nehmen zu wollen. Er konnte seine Augen jetzt kaum noch offenhalten und bis zur Wachablösung dauerte es immer noch gut zwei Stunden. Schon seit Sonnenuntergang maskierte ein dicker Mantel aus Wolken jeden Zentimeter des Himmels. Trüb und grau wölbte er sich in dieser Nacht über die Wälder vor Konoha, ohne etwas von seiner üblichen Weite, seiner Unendlichkeit zu zeigen. Kotetsu glaubte beinahe, nur die Hand ausstrecken und zugreifen zu müssen, um mit einem kurzen Ruck Mond und Sterne zu befreien, deren silbriger Schimmer sich heute Nacht hartnäckig hinter den düsteren Wolken verborgen hielt. Ohne ihr mattes Funkeln am Himmel gab es außer der Öllampe, die munter zwischen ihm und Izumo flackerte, nichts, was der Dunkelheit Einheit gebieten konnte. Mit unstillbarer Gier fiel sie über die Welt her, vertilgte Konturen und Farben restlos von der Erdoberfläche und ließ dabei nichts weiter als formlose, zuckende Schatten zurück. Zwischen Himmel und Erde gab es keine Grenze mehr. Alles versank in Dunkelheit und alles verwandelte sich in Dunkelheit. Kotetsu fröstelte leicht, als ein frischer Windstoß die Bäume zum Rauschen brachte. Izumo neben ihm hingegen schien weder den kühlen Wind noch die rauschenden Blätter wahrzunehmen: er schlief und saß dabei kaum noch auf seinem Stuhl, sondern hing zwischen den Armlehnen. Dabei lag sein Kopf überstreckt im Genick, sodass ihm der Kiefer weit offenstand. Speichel rann aus seinem Mundwinkel und tropfte an seinem Kinn hinab. Mit jedem Atemzug wichen kleine Nebelwolken aus ihren Mündern und stiegen träge zum Himmel auf. Blinzelnd blickte Kotetsu ihnen hinterher und beobachtete, wie sie in die graue Dunkelheit über seinem Kopf empor schwebten, bis der Wind sie fort wischte. Im Osten erwachte unterdessen allmählich der Tag: weit, weit entfernt am Horizont brach ein einsamer Lichtstrahl über die Wipfel der Bäume hinweg und tauchte einen schmalen Streifen Land in bleiche Helligkeit. Die Bäume erhielten langsam wieder ihre gewohnte Gestalt zurück. In zahlreichen Grauschattierungen hoben sie sich von der einheitlichen Schwärze der Nacht ab. Zwischen den Stämmen erhoben sich Nebelschwaden vom Boden; ähnlich den kleinen Wolken, die aus Kotetsus und Izumos Mündern aufstiegen, mit dem Unterschied, dass die Schleier im Unterholz viel massiver wirkten. Nicht wie aus Dunst, sondern fast schon gegenständlich. Geisterhaft wanden sie sich um die Stämme, setzten sich in die Furchen der Baumrinden, krochen unter Wurzeln hindurch und kletterten hinauf in das Geäst der Blätterkronen. Es war, als versuchten die trüben Schwaden längst vergessene Erinnerungen wieder zum Leben zu erwecken, um sie Kotetsu zu zeigen. Die Art, wie sie sich mit jedem Augenblick neu formierten, erschufen für den Hagane die Illusion eines Willens, der dem Nebel innezuwohnen schien. Ein Wille, mächtig genug, den Verstand des Ninja zu überwältigen und ihn mit sich fortzunehmen, um ihn in ein gespensterhaftes Nebelwesen zu verwanden, dessen Seele auf ewig dazu verdammt war, ruhelos umher zu wandern. Er glaubte beinahe, jenen Willen rufen zu hören... Kotetsu stutzte. Wie der Nebel wohl klingen würde, wenn er eine Stimme hätte? Männlich, vermutlich. Und alt. Schrecklich alt; immerhin gab es den Nebel schon seit Anbeginn der Zeit und wenn er eine Stimme hätte, so gäbe es diese wohl auch schon seit Anbeginn der Zeit. Sie wäre also ausgedünnt und schwach von all den vielen Worten, die sie in all der langen Zeit schon gesagt hatte. Sie würde düster klingen, und rau; rau wie das Reiben von Schmirgelpapier auf Holz und düster wie patschende Schritte auf regennasser Straße in der Nacht. Kotetsu! Kotetsu war nicht wirklich überrascht zu hören, dass tatsächlich jemand (oder etwas) seinen Namen rief. Er hatte schließlich darüber nachgedacht, wie der Nebel klingen könnte. Da erschien es ihm nur logisch, sich diesen Klang nun auch vorzustellen. Kotetsu! Dass seine Überlegung und seine Vorstellung jedoch so weit auseinander klafften, überraschte ihn sehr wohl. Kotetsu! Denn da rief die Stimme einer Frau nach ihm, die klang wie eine Melodie – weich und zärtlich, klar und... Kotetsu! ...silbern. Kotetsu hatte nie darüber nachgedacht, wie Silber wohl klingen mochte. Oder ob es das überhaupt tat. Aber als die Stimme aus dem Nebel nach ihm rief, schien ihm plötzlich einzuleuchten, wie das Metall klingen musste. Obwohl er sich das nie gefragt hatte. Kotetsu! Der Ruf wurde lauter. Und als er lauter wurde, merkte Kotetsu, dass er ihn gar nicht mit den Ohren hörte, sondern mit jeder Faser seines Körpers spürte – in seinem Herzen, hinter seiner Stirn, auf seinen Lippen. Kotetsu! Kotetsu stand auf und entfernte sich stolpernd ein paar Meter von Izumo und ihrem Wachposten. Hilfe, Kotetsu! Der Nebel wurde noch gegenständlicher. Wie ein kontrahierendes Herz verdichtete er sich in einem kleinen, weißen Wirbel, um drei Atemzüge später in einer Welle aus blauem Licht zu explodieren. Die hellen Strahlen nahmen Kotetsu die Sicht. Der Boden entglitt seinen Füßen. Er stürzte, ohne den Aufprall zu spüren. Es dauerte, bis sich seine Augen wieder von der unerwarteten Helligkeit erholten. Deshalb wollte er ihnen zunächst auch nicht glauben, als sie plötzlich vor ihm stand, diese Gestalt. Er blinzelte, in der Hoffnung, den unwirklichen Anblick so vertreiben zu können. Vergeblich. Sie wollte nicht weichen. Ihr Gesicht war ohne Konturen, wie eine Maske. Zwei leere, schwarze Höhlen klafften dort, wo normalerweise die Augen saßen. Nase und Mund fehlten. Sie hatte pechschwarzes Haar. In beinahe bodenlangen, seidenfeinen Strähnen wand es sich um das Gesicht und den Körper der Gestalt, als ob es lebendig wäre. Blaue Flammen, vier an der Zahl, umschwebten die Erscheinung. Sie hob einen Arm und streckte ihn in Kotetsus Richtung aus. Der weite Ärmel ihres weißen Gewandes verbarg dabei ihre Hand. Komm' zu mir. Bitte - hilf mir. Kotetsu rappelte sich wieder auf und ging auf die Gestalt zu. Sein Körper fühlte sich fremd an. Wie ferngesteuert. Ganz automatisch streckte er seine Hand nach ihr aus und berührte sie, diese Geisterfrau. Ihr Ärmel löste sich sofort auf, zerfiel einfach in Nebel. Auf Kotetsus Haut anfühlte sich die Berührung an wie ein Kuss von kalten Lippen. Die Härchen auf seinem Körper stellten sich auf. „Wobei soll ich dir helfen?“, flüsterte er; aus Angst, er könnte das Nebelwesen erschrecken. Folge mir. Es dämmerte ihm. „Du bist der Wille des Nebels, oder? Du kommst, um mich zu holen.“ Folge mir. Und tatsächlich, Kotetsu folgte ohne weitere Fragen zu stellen. Die Gestalt schwebte voran. Ja, schwebte: unter dem Saum ihrer Robe schritten keine Füße über den Boden hinweg. Genaugenommen gab es diesen Saum gar nicht. Die Gestalt verblasste zum Boden hin und war von den Knien abwärts nur noch ein Wolkenfetzen. Doch nichts von alledem beunruhigte Kotetsu. Die blauen Flammen lenkten ihn zu sehr ab. Für ihn waren sie so faszinierend wie schimmernde Seifenblasen für ein kleines Kind. Die Geisterfrau schlug den Weg Richtung Osten ein, weg von Konoha und in die Morgendämmerung. Kotetsu folgte. Die Gestalt verließ die Straße, schwebte durchs Unterholz. Kotetsu folgte. Äste brachen unter seinen Füßen. Dornen zerkratzten ihm die Hände und das Gesicht. Er strauchelte immer wieder, weil er nicht darauf achtete, wohin er ging und deshalb in kleine Erdlöcher trat oder über Wurzeln stolperte. Nichts davon nahm er wahr. Da war nur noch die Geisterfrau mit dem wehenden, schwarzem Haar und ihren vier blauen Flammen Kotetsu folgte ihr wer weiß wie weit und blieb erst stehen, als sich das Dickicht aus Bäumen, Sträuchern und Wurzeln zu einer Lichtung teilte. Der Nebel war hier dichter denn je, sodass Kotetsu die Geisterfrau nur noch wegen ihrer blauen Flammen ausmachen konnte. Sie verweilte. Hilf, mir!, rief sie immer wieder. „Wobei?“, fragte Kotetsu in ihre Rufe hinein, aber konnte sich selbst nicht hören. Vorsichtig, weil er im Nebel seine eigenen Füße nicht sah, tastete er sich Schritt für Schritt vorwärts, zu den blauen Lichtern hin. Erst als er keine Armlänge mehr von ihr entfernt war, entdeckte er sie. Nicht die Gestalt. Sondern die junge Frau am Boden, über der sie schwebte. Hilf mir! Kotetsu schnappte erschreckt nach Luft und presste sich instinktiv die Hände auf die Ohren. Dieser letzte Ruf war kein Ruf mehr, sondern ein Schrei. Nicht länger weich oder zärtlich, klar oder silbern, sondern einfach nur entsetzlich. Schlimmer als Fingernägel, die über eine Tafel kratzen. Noch lange hallte dem Schrei ein mehrstimmiges Echo nach, das Kotetsu wieder nicht mit den Ohren hörte, sondern mit jeder Faser seines Körpers spürte. Es tat schrecklich weh. So sehr, dass er schreien wollte, aber zu sehr, um dafür Luft holen zu können. Er sank in die Knie. Die Gestalt und ihre blauen Flammen wirbelten um ihn herum. Ihr konturloses Gesicht war zur grausigen Fratze verzogen. Sie umkreiste ihn so schnell, dass er sie überall sah: ein verzerrter, schwarz-weißer Schweif, in dem immer wieder die konturlose Maske ihres Gesichtes aufblitzte. Kotetsu schloss die Augen, aber das half nicht. Er sah sie immer noch in der Dunkelheit hinter seinen geschlossenen Lidern. Erst als ein plötzlicher Windstoß sie davontrug, kehrte Ruhe ein. Nur mit viel Überwindung wagte Kotetsu es, die Augen aufzuschlagen und seine Hände sinken zu lassen. Er hörte sein eigenes Blut rauschen, so heftig klopfte sein Herz. Tränen stiegen ihm in die Augen und er zitterte. Atemlos richtete er seinen verschleierten Blick auf die junge Frau am Boden, zu der die geisterhafte Gestalt ihn geführt hatte. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, denn das Mädchen lag auf dem Bauch mit dem Hinterkopf zu ihm. Wie ein Schleier verdeckten die Strähnen ihres langen, kupferroten Haars ihren Körper. Das regelmäßige Heben und Senken ihres Rückens war das einzige Zeichen von Leben in ihr. Kotetsu! Kotetsu zuckte zusammen. Zögerlich hob er eine Hand und strich mit den Fingern vorsichtig ein paar der roten Strähnen zur Seite: sie fühlten sich ganz weich an. „Ich bin doch da“, murmelte er, fasziniert von dem Anblick, den das zur Seite gestrichene Haar enthüllte. Mit der freien Hand wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht „Du brauchst nicht mehr nach mir zu rufen.“ „Kotetsu!“ Die Stimme veränderte sich. Sie wurde tiefer, rauer – kurz männlich. Und, vertraut. Besorgt. Aufgeregt. „Izumo...?“ Kotetsu stöhnte auf und griff sich an die Stirn. Seine Sicht neigte sich – nach rechts, nach links. Seine Sinne erwachten wieder zum Leben. Er roch die Sporen junger Waldpilze, die nahe der Baumwurzeln am Rande der Lichtung trieben. Er roch das würzige Aroma wilder Kräuter, die zwischen den Grashalmen sprossen. Er roch Moos und süßliches Harz. Er hörte das gurgelnde Plätschern eines Baches, der unweit dieser Lichtung fließen musste. Er hörte den Wind, der verheißungsvoll durch die Baumwipfel strich. Und er spürte Nässe. Nässe von Tau und von Schweiß, die auf seiner Haut und in seiner Kleidung steckte. Seine Zähne klapperten. Ihn fror. „Was ist denn los mit dir? Wer ist das?“ Izumos Stimme klang seltsam verzerrt. Für Kotetsu hörte sie einen Halbton höher als sonst und ein metallisches Echo folgte ihr. Verwirrt sah Kotetsu von Izumos Gesicht zum bewusstlosen Mädchen, dann wieder zurück zu Izumo. Er war wie gelähmt. „Ich weiß es nicht…“, murmelte er und würgte leise. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. „Kotetsu!“, rief Izumo aus, als dieser kippte. Über ihnen färbte der Morgen den Himmel allmählich blutrot... Kapitel 2: Kapitel Zwei. Trugschluss. ------------------------------------- I Mit zitternden Gliedern beugte Kotetsu sich über die Edelstahlschale auf seinem Schoß. Die verwaschenen Umrisse seines Gesichtes spiegelten sich auf der matt-glänzenden Oberfläche des Metalls wider, so konturlos wie das des Geistes heute Morgen. Noch immer hörte Kotetsu sie in seinen Gedanken, doch anstatt zu rufen oder zu schreien, schnaufte und ächzte sie. (Kotetsu! Kotetsu!) Kotetsu stöhnte auf, als sein Magen zusammen schrumpelte und seine Bauchdecke sich mit einem Ruck zu seiner Wirbelsäule zog. Der Ruck erfasste seinen Körper mit solch einer Wucht, dass Kotetsu für einen kurzen Moment fürchtete, die Augen könnten aus seinem Schädel ploppen und sah sogar, wie sie an Nervensträngen und Blutgefäßen vor seinem Gesicht baumelten als wären die Stränge und Gefäße ein Gummiband (boing-boing-boing). In seinem Kopf kicherte die Geisterfrau. Laut und hämisch, sodass er sein eigenes Würgen kaum hörte. Seine Zunge zuckte zwischen seinen Zähnen hervor, aber abgesehen von einem Faden klebrigen Speichel gab sein Körper nichts mehr her. Als die Übelkeit endlich nachließ, sank Kotetsu in das Kissen zurück. Seine Finger glitten dabei von der Edelstahlschale. Sie wäre zu Boden gefallen, hätte Izumo sie nicht aufgefangen. Der saß an der Kante von Kotetsus Bett und legte ihm nun die Hand auf die Schulter. "Hast du Schmerzen?" Ja. In seinem Gesicht, unter seiner Haut. Aber Kotetsu fehlte selbst die Kraft, um zu nicken. Es ist ihr Atem, Izumo. Heiß wie Feuer. Ich glaube, er verbrennt mich innerlich. Kotetsus Lippen bewegten sich und in seinen Ohren klangen die Worte klar. Tatsächlich gab er jedoch nur silbenloses Gestammel von sich, das zusammen mit noch mehr Spucke aus seinem Mund suppte. Mit einem dunkelblauen Tuch wischte eine Schwester den Speichel ab. Izumo schüttelte den Kopf. Seine Hand glitt von Kotetsus Schulter und umgriff stattdessen seine Finger. "Spar' dir deine Kraft, mein Freund. Ich versteh' kein Wort." Aus Kotetsus Handrücken ragte ein rosaner Plastikkopf, in dem ein dünner Schlauch steckte. Aus einem Beutel, aufgehängt in einem Metallgestell auf Rollen, tropfte eine durchsichtige Flüssigkeit durch den Schlauch in Kotetsus Körper: Kochsalzlösung, wie eine Schwester ihm erklärt hatte, Um den Flüssigkeitshaushalt auszugleichen. Auf seiner Brust klebten Elektroden, die seinen Herzschlag aufzeichneten. Auf einem schwarzen Monitor neben dem Bett machten grüne Zacken die Kontraktionen des Muskels sichtbar, begleitet von einem regelmäßigen “Bib. Bib. Bib.” Um die seine Sauerstoffwerte zu überwachen, steckte sein linker Zeigefinger in einer Klammer und die schwarze Manschette um seinen Oberarm blähte sich in regelmäßigen Abständen auf, staute den Fluss seines Blutes und erschlaffte dann wieder, während der Monitor den Blutdruck nahm. Am Fußende des Bettes stand Haruno Sakura. Die Ärmel ihres weißen Kittels waren bis über die Ellenbogen hochgekrempelt. Um ihren Nacken hing ein Stethoskop und in ihren Händen hielt sie ein Klemmbrett. “Hm”, machte sie. Das Papier raschelte, als sie die oberste Seite umblätterte. Eine steile Falte trat zwischen ihre Brauen. “Laut den Aufzeichnungen ist deine Körpertemperatur in den letzten zwei Stunden noch mal um zwei Grad gesunken und liegt jetzt nur noch bei 31,1 Grad.” Ihre grünen Augen studierten den schwarzen Bildschirm mit den blinkenden Zahlen und der EKG-Linie. “Das erklärt deine Übelkeit und den schwachen Kreislauf, aber... “ Sie blätterte die oberste Seite wieder zurück. “Die Frage ist, warum deine Körpertemperatur so kontinuierlich sinkt. Das ergibt keinen Sinn...” Sie ist der Grund! Sie! Sie brennt die Wärme aus mir heraus! Doch wieder tropften nur bedeutungslose Laute zusammen mit klebrigem Speichel aus Kotetsus Mund. “31 Grad”, wiederholte Izumo. “Das ist doch fast eine Unterkühlung, oder?” “Nicht nur fast.” Sakura verschränkte die Arme vor der Brust. “Das ist schon eine mittelschwere Unterkühlung und wenn die Temperatur weiter so rapide fällt, bald eine schwere… Madoka, pack’ ein paar Wärmepads unter die Zudecke, vielleicht bringt das etwas.” Madoka war die Schwester, die auch nun wieder Kotetsus frischen Sabber abwischte. “Ich will, dass die Temperatur jede Viertelstunde gemessen wird”, fuhr Sakura unterdessen fort. “Wenn sie weiter fällt, müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen. Möglicherweise eine Magenspülung mit warmer Flüssigkeit. Was die Sprachstörungen und Schluckbeschwerden betrifft-” Der Satz blieb unvollendet, weil Kotetsu plötzlich einen lauten Schrei ausstieß - keinen grellen wie aus Schreck oder Schmerz, sondern düster und tief: "Nêl tes-Caihm a’ram rash!" Der Schrei brach so unerwartet aus seiner Brust, dass er selbst zusammenzuckte und Izumo die Edelstahlschale aus der Hand glitt, als er von der aufsprang. Sie schepperte auf dem Boden. "Nêl tes-Caihm a’ram rash!" "Kotetsu…?", raunte Izumo atemlos. "Was-?" Kotetsu drehte den Kopf zur Seite - ohne es zu wollen. Nicht er steuerte die Bewegung, sondern sie. So wie sie seine Mundwinkel nach oben und seine Lippen auseinander zog. "Nêl tes-Caihm a’ram rash...", bediente sie sich ein drittes Mal seiner Stimme. Kein lauter Schrei dieses Mal, sondern ein Raunen. Izumo schüttelte den Kopf und blickte fragend zu Sakura. "Ist das ein Schlaganfall?" Sakura trat an Kotetsu heran. Aus der Brusttasche ihres Kittels zog sie ein kleines, silbernes Lämpchen, mit dem sie ihm nacheinander erst in das linke, dann in das rechte Auge leuchtete. Es blendete. "Sieht nicht so aus. Die Pupillen sind reaktiv und die Gesichtsbewegungen symmetrisch." Sakura steckte das Lämpchen wieder weg und stemmte beide Hände in die Seiten. "Scheint eine weitere Sprachstörung zu sein", meinte sie. "Sein Gehirn weiß, was er sagen will, aber sein Mund kann es nicht artikulieren. Oder ist das eine Art Code zwischen euch? Bedeutet das etwas?" Izumo schüttelte den Kopf. "Nicht, dass ich wüsste." Aber Kotetsu wusste es! Kotetsu wusste es, weil sie es wusste. In diesem Moment wurde es ihm klar: Daher die Hitze! Wir verschmelzen. Die Geisterfrau schnaufte und ächzte unter ihrem hämischen Kichern. (Nein, das tun wir nicht. Ich verschlinge dich, höhle dich aus und erfülle deinen leeren Geist.) Da spürte er zum ersten Mal ihren Blick. Nicht auf sich ruhen; aus seinen Augen heraus beobachtete sie Izumo und Sakura, während Kotetsus Sicht eintrübte. Ein schwarzer Schatten legte sich über seine Augen, obwohl seine Lider noch offen standen. Erlisch!, zischte die Geisterfrau in seinem Ohr. Verdirb! Vergeh! II Wenn Hatake Kakashi ehrlich war, fühlte er sich auch heute, drei Monate nach seinem Amtsantritt, noch immer nicht wohl auf dieser Seite des Schreibtisches. An manchen Tagen legte er morgends sein Gewand an und fand, dass es nicht richtig saß. Als wäre er ein kleiner Junge, der in das Hemd seines Vaters schlüpfte und dann bei jedem Schritt stolperte, weil er ständig auf die Ärmel trat, die über den Boden schleiften. Doch an diesem Tag spürte er den Titel Hokage der Sechsten Generation schwerer denn je auf seinen Schultern lasten. Er saß an dem Schreibtisch, an dem schon Sarutobi Hiruzen, Namikaze Minato und Senju Tsunade über die Geschicke Konohas entschieden hatten. Ihm gegenüber standen Sakura und Ibiki, um ihn über den Ermittlungsstand zu dem Vorfall zu informieren, der sich heute Morgen am Haupttor ereignet hatte: die Angelegenheit schien ernster zu sein als sie auf den ersten Blick anmutete. “Seit der Aufnahme im Krankenhaus heute morgen hat Kotetsus Zustand sich zusehends verschlechtert”, fasste Sakura gerade zusammen. “Mit Übelkeit und Verwirrung hat es angefangen, dann kamen Muskelschwäche und Sprachstörungen dazu. Mit jeder Stunde hat er mehr die Kontrolle über seinen Körper verloren und sogar vegetative Funktionen wie die Regulierung der Temperatur sind total gestört.” Sie seufzte. “Vor etwa einer Dreiviertelstunde ist er ins Koma gefallen.” “Und wie lautet die Diagnose?”, fragte Kakashi. “Habt ihr eine Erklärung dafür?” “Alle Symptome deuten auf eine neuronalen Schaden hin und da auch das vegetative Nervensystem betroffen ist, liegt die Ursache vermutlich irgendwo im Gehirn selbst. Izumo meinte, Kotetsu hätte fantasiert, als er ihn gefunden hat. Er stand also vermutlich unter dem Einfluss eines Gen-Jutsu und ich denke, das hat Spuren hinterlassen.” Ibiki sog scharf die Luft ein. “Ein Gen-Jutsu-Syndrom? Das ist übel.” “Aber das können doch nur Kinder bekommen, oder nicht?” In Kakashis Erinnerung erwachte ein Lazarett während des Dritten Ninja-Weltkrieges wieder zum Leben. Er sah drei Kinder vor sich, zwei Jungen und ein Mädchen, keines von ihnen älter als zehn Jahre. Die zwei Jungen glichen einander so sehr, dass es Zwillinge sein mussten - beide mit strohblondem Haar und strahlend blauen Augen. Einer von den beiden kreischte immer wieder auf, der andere schlug immer wieder mit den Gliedmaßen aus und zuckte auch dann noch, als eine Krankenschwester ihn mit Lederriemen am Bett fixierte. Das Mädchen saß stumm und regungslos auf ihrer Matratze zwischen den beiden Jungen, die Augen wie ein Schlafwandler nur halb geöffnet, während die Spucke aus ihrem Mund tropfte. “Bisher ist es nur bei Kindern beobachtet worden, ja”, erklärte Sakura unterdessen. “Und auch bei Kindern ist es ein seltenes Phänomen. Die einzig bekannten Fälle stammen ohnehin aus dem Dritten Ninja-Weltkrieg, als nun mal sehr viele Kinder in die Schlachten geschickt wurden. Am Anfang dachte man, die Kleinen wären einfach nur schwer traumatisiert, psychisch angeschlagen - oder viel mehr zerstört. Aber die Symptome hatten rein körperliche Ursachen.” Kakashi nickt: ja, er erinnerte sich. Rin hatte es ihm damals erklärt. Jede Sinneswahrnehmung ist nur elektrischer Impuls, den das Gehirn interpretiert - egal, ob visuell, sensorisch oder auditiv. Bei einem Gen-Jutsu löst der Anwender Halluzinationen aus, indem er durch die Kontrolle über den Chakrafluss falsche elektrische Impulse auslöst. Das Gehirn interpretiert die Reize und nimmt so Dinge wahr, die es nicht gibt. Aber jedes Gen-Jutsu greift in das Nervensystem eines Menschen ein. Kinder sind extrem empfindlich, weil sie sich mitten in der Entwicklung befinden: Nervenbündel können ausfransen, Synapsen erlöschen oder vollkommen unkontrolliert zünden. Wenn die Nerven beschädigt sind, ist die Reizübertragung gestört und das hat katastrophale Auswirkungen auf die Körperfunktionen! Glaub’ mir Kakashi, diese Kinder werden sich nie wieder erholen. Nicht ihre Psyche ist kaputt, sondern ihre Körper! Aber… “...Kotetsu ist kein Kind”, sagte Kakashi. Er stützte sich mit beiden Ellenbogen auf seinem Schreibtisch ab und verschränkte die Hände ineinander. “Und das gibt uns wohl eine ungefähre Vorstellung davon, wie mächtig, das Gen-Jutsu war, unter dem er stand.” Sakura nickte. “Könnt ihr etwas für ihn tun?” “Kaputte Nerven können nicht wiederhergestellt werden. Es gibt keine Therapie.” Kakashi schloss die Augen und seufzte tief. “Verdammt…” Doch so sehr es ihn auch als Mensch schmerzte, dass ein Freund und Kamerad dieses Schicksal erlitt, musste er sich als Hokage das wahre Problem konzentrieren. “Wenn die Folgen für Kotetsu so grässlich sind, müssen wir davon ausgehen, dass jemand sehr motiviert war, die Wache auszuschalten und ins Dorf einzudringen. Ibiki, was hast du über diese Fremde herausgefunden?” “Bedauerlicherweise hatte ich noch keine Gelegenheit, sie zu verhören, weil sie bisher noch nicht wieder zu Bewusstsein gekommen ist. Bis wir wissen, wer sie ist, haben wir ihr den Codenamen Anonyma gegeben. Ich gehe aber davon aus, dass sie nicht alleine arbeitet: als Izumo Kotetsu fand, stand er noch unter dem Einfluss der Halluzination. Da lag Anonyma aber schon überwältigt am Boden. Jemand anderes hat also die Illusion gesteuert.” Kakashi nickte. “Ja, das habe ich mir auch schon gedacht. Ich habe Erkudnungstrupps losgeschickt, die Wälder um das Dorf zu durchforsten: bisher keine Spur von Anonymas Komplizen. Aber wir müssen unbedingt erfahren, woher sie kommt. Auch wenn du sie noch nicht verhören konntest, gibt es irgendwelche Hinweise auf ihre Herkunft?” Der Gedanke, sie könnte zu einem Spähtrupp oder gar einer Attentat-Gruppe aus einem anderen Dorf stammen, machte ihm Angst. Seit dem Vierten Ninja-Weltkrieg schienen die Bande zwischen den Nationen so stark wie noch nie. Ging das Kräftemessen zwischen den Dörfern etwa wieder von vorne los; jetzt, da es keinen gemeinsamen Feind mehr gab? Stand ihm als Hokage ebenfalls eine Ära des Misstrauen und der Feindseligkeit bevor? Ibiki verschränkte die Arme vor der Brust. “Ich selbst habe alle aktuellen Ausgaben der Bingo-Bücher aller Großen Reiche überprüft, aber sie in keinem gefunden - weder mit Bild, noch mit Fingerabdruck. Die Untersuchungen ihrer Habseligkeiten, vor allem Kleidung und Waffen läuft noch und aktuell liegen mir noch keine Berichte vor, was ich offen gestanden beunruhigend finde: meine Leute arbeiten für gewöhnlich schnell.” Der große Mann mit dem vernarbten Gesicht trat auf Kakashis Schreibtisch zu. Sein bodenlanger Mantel schwang im Rhythmus seiner Schritte. “Das hier solltest du dir vermutlich selbst ansehen.” Ibiki legte ein Buch zwischen ihnen auf den Schreibtisch. Es war in grau-blaues Leder gebunden. Rissig zwar, fühlte sich unter Kakashis Fingern aber immer noch weich an, als Kakashi es an sich nahm. Auf dem Einband prangte ein Symbol, das Kakashi zum ersten Mal in seinem Leben sah: einen Knoten, der sich aus vier Halbkreisen zusammensetzte. Zwei davon öffneten sich nach links und rechts, voneinander weg. Ihre Bögen berührten einander, während die übrigen beiden Halbkreise sich nach oben und unten öffneten, sodass ihre Bögen sich mit denen der zwei anderen kreuzten. Heißes Eisen hatte das Symbol in das Leder gebrannt, sofern Kakashi das beurteilen konnte. Ein kreis aus feiner Stickerei mit silbernem Faden umschloss es “Ein Clan-Wappen?”, mutmaßte Kakashi. Ibiki zuckte mit den Schultern. “Schon möglich. Ich habe Botenfalken mit einer Skizze von dem Zeichen an unsere Verbündeten im Ausland geschickt. Vielleicht kennt es da jemand. Ich habe es jedenfalls noch nie gesehen.” “Ich auch nicht.” Kakashi hob das Buch an, um auch Sakura den Einband zu zeigen. “Du vielleicht?” Sie schüttelte den Kopf. Ich sollte auch einen Botenfalken an Sasuke schicken. Möglicherweise ist ihm das Zeichen auf seiner Reise schon begegnet. Kakashi schlug das Buch auf. Die Seiten waren aus festem, elfenbeinfarbenem Papier, in dem sich noch die Struktur der Pflanzen abzeichneten, aus denen es gepresst war. “Der Text ist chiffriert”, stellte der junge Hokage schon auf der ersten Seite fest. “In der Tat, ja. Und das sogar ganz hervorragend. Ich habe drei der besten Agenten der Entschlüsslungseinheit auf den Text angesetzt und keiner von ihnen hat bisher auch nur ein Wort decodieren können.” Mit den Fingerspitzen fuhr Kakashi die Tintenschwünge auf dem Papier nach: viele Schlaufen, stellte er fest. “Das sieht nach einem ganz eigenen Schriftsystem aus”, murmelte er. “Da hat sich jemand große Mühe gegeben, den Inhalt vor fremden Augen zu schützen.” “Es kommt noch besser”, kündigte Ibiki an. “Schlag’ die letzte Seite auf.” Kakashi tat wie ihm geheißen: an der Innenseite des Einbandes gab es eine Lasche, in der ein Pergament steckte, das der Hatake entfaltete. “Eine Karte." Ibiki verschränkte die Arme vor der Brust. “Richtig. Aber von einem Reich, das ich nicht kenne.” Kapitel 3: Kapitel Drei. Mutprobe. ---------------------------------- I Kakashi blieb in dieser Nacht wach. Bei Tagesanbruch saß er noch immer in seinem Büro in der Hokage-Residenz und kritzelte Schriftzeichen um Schriftzeichen auf die karierten Blätter eines Notizblocks. Er war fest entschlossen, den Code in dem geheimnisvollen Buch mit dem blauen Ledereinband zu entschlüsseln. Das war er Kotetsu schuldig - als Hokage, aber vor allem als Freund und Kamerad. Inzwischen hatte er nämlich die Nachricht erhalten, dass Hagane Kotetsu tot war, und Kakashi konnte einfach nicht anders als sich dafür verantwortlich zu fühlen. Das darf kein zweites Mal geschehen… Die Wachen um das Dorf hatte er zwar bereits aufstocken lassen, aber so lange er und Ibiki nicht herausfanden, wer (oder was) in den Wäldern um Konoha lauerte, konnte es dem nächsten Shinobi schon heute Nacht ergehen wie Kotetsu. Doch es schien aussichtslos: Kakashi riss nun schon die zwölfte Seite von dem Notizblock, um sie zerknüllt auf den Boden zu werfen. Als ehemaliger Agent der ANBU kannte er jede Chiffrierungstechnik (oder hatte bisher zumindest geglaubt, sie alle zu kennen), aber aus diesem Text wurde er einfach nicht schlau. Seufzend ließ Kakashi sich gegen die Lehne seines Stuhls sinken und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Seine Augen brannten und weil er sich seit dem letzten Frühstück die Zähne nicht mehr geputzt hatte, wuchs auf ihnen  inzwischen irgendein pelziger Schleim. Mit geschlossenen Lidern massierte er sich ein paar Sekunden die pochenden Schläfen, bevor er das Buch mit dem blauen Ledereinband wieder in die Hand nahm. Das Papier raschelte zwischen seinen Fingern, als er die aufgeschlagene Seite umblätterte. Zumindest wusste er, in welche Richtung der Text zu lesen war: nicht wie üblich von rechts nach links, sondern von links nach rechts. Das konnte Kakashi anhand der leeren Seiten nachvollziehen, die außerdem den Schluss nahelegten, dass das Buch noch im Entstehen war - also womöglich ein Log- oder Tagebuch. Kakashi blätterte weiter. Nicht alle Seiten waren mit Text beschrieben. Auf dieser hier prangte zum Beispiel die Skizze einer Kreatur, wie sie Kakashi noch nie zuvor unter die Augen gekommen war, aber aussah, als wäre sie einem Alptraum entsprungen. Aus leeren, schwarzen Augenhöhlen starrte ein blanker Hirschschädel zum jungen Hokage empor. Auf gespaltenen Hufen trugen zwei krumme O-Beine den muskulösen Leib des Wesens, dessen Schultern doppelt so breit wie seine Hüften und die Waden kürzer als die Oberschenkel waren. Mit den Fingerspitzen fuhr Kakashi die Linien und Schattierungen nach, die einen der vier Arme der Kreatur gebaren. Links und rechts entsprossen sie dem schuppigen Rumpf mit langen, scharfen Klauen am Ende von sechsfingrigen Händen. Wie Sonnenstrahlen krönte ein mächtiges Geweih das Haupt der Kreatur, mit dem es einen rücklings aufgespießten Mann trug. Die Hornspitzen ragten aus dem blutenden Leib heraus. Was bist du nur?, dachte Kakashi, wohlwissend, dass sich die Antwort auf diese Frage irgendwo in den Worten verbarg, die er nicht zu entziffern vermochte. Eine Beschwörung womöglich? Die Mutation eines Vertrauten Geistes? Denn weitere Kohlezeichnungen in diesem Buch legten die Vermutung nahe, dass die Hirschkreatur Freunde hatte, die teils noch gemeiner und abscheulicher aussahen. Ist das unsere Zukunft? Kakashi fürchtete die Vorstellung und aus dieser Furcht heraus schlug er plötzlich mit der Faust auf den Tisch. Verdammt! Ich muss die Lösung einfach finden! Gerade als er die erste Seite des Buches abermals aufschlug, um einen neuen Entschlüsslungsversuch zu unternehmen, erlöste ihn ein Klopfen an der Tür. "Hokage-sama?", drang eine Männerstimme durch das Holz in sein Büro. "Entschuldigt bitte die Störung, aber Ibiki schickt nach Euch!"  IIAls Kakashi die Zentrale der Informationsbeschaffungseinheit erreichte, wurde er dort bereits in einem der Sitzungsräume erwartet. Zu seiner Überraschung jedoch nicht nur von Ibiki. Mitokado Homura und Utatane Koharu saßen mit ihm an der ovalen Holztafel in der Mitte des Raumes. Hinter seiner schwarzen Gesichtsmaske biss Kakashi sich auf die Lippe: wenn Ibiki es für nötig hielt, die Goikenban zu Rate zu ziehen, war die Lage wohl so ernst wie der Hatake befürchtete. Er zog die Tür hinter sich zu und deutete zur Begrüßung eine Verbeugung an. “Ich hörte, es gibt Neues zu berichten.” Ibiki nickte. “Setz’ dich. Ich habe die Ältesten bereits über den Vorfall berichtet.” “Und wir haben dir bereits gesagt, dass wir diesen Aufruhr für unnötig halten”, meinte Homura. “Eine tote Wache - das ist unerfreulich, gewiss, aber kein Anlass zur Beunruhigung.” Kakashi ließ sich auf dem Stuhl zur Rechten Ibikis nieder, sodass sie beide den Dorfältesten gegenüber saßen. “So bedauerlich der Vorfall auch ist”, ergänzte Koharu, “ihn als Angriff auf das Dorf zu werten, halten wir für übertrieben und raten dringend davon ab, deswegen den Ausnahmezustand auszurufen, Meister Hokage.” Kakashi blinzelte überrascht und drehte den Kopf zu Ibiki. “Ausnahmezustand?” “Das bedeutet unter anderem Ausgangssperren, Einreiseverbote und die Aussetzung von Missionen”, erklärte Homura. “Konoha wäre handlungsunfähig.” “Ich… ich habe nichts derartiges geplant.” “Weil ich keine Gelegenheit mehr hatte, das vorab mit dir zu besprechen. Aber ja, ich empfehle dir, es zumindest in Betracht zu ziehen.” “Wegen eines Toten?” Koharu schüttelte den Kopf. “Ausgeschlossen!” “Nicht wegen des Toten-” “Kotetsu”, unterbrach Kakashi. “Sein Name war Hagane Kotetsu und er ist noch keine zwölf Stunden tot.” Kurzes Schweigen. Dann räusperte Ibiki sich. “Jedenfalls ist es Anonyma, die mir Sorgen macht - die Gefangene.” “Inwiefern?”, wollte Homura wissen. Das Holz des Tisches knarzte, als Konohas Foltermeister sich mit beiden Armen auf der Platte abstützte, um sich über die Kante hinweg zu den Dorfältesten zu lehnen: “Wie Sie beide wissen, machen die Verhöre selbst nur einen Bruchteil der Arbeit meiner Einheit aus. Wir extrahieren Informationen aus allem, was wir von unseren Objekten, den Gefangenen, beschlagnahmen: mithilfe der Pollen, die am Gewebe ihrer Kleidung haften, und den Steinen, die im Profil ihrer Schuhe finden, können wir ihre Route über Tage und Grenzen hinweg rekonstruieren. Die Informationen in den Datenbanken unseres Dorfes sind so umfangreich, dass wir Shuriken und Kunai einzelnen Schmieden in allen Reichen zuordnen können. Aber die Untersuchung von Anonymas Habseligkeiten gibt uns Fragen auf, anstatt Erkenntnisse zu liefern. Nicht nur, dass der Stil ihrer Kleidung in keine Region des Feuerreiches oder eines anderen Landes passt, die Pollen in den Fasern sind unter keinen der über 100.000 Einträge in unserer Pflanzendatenbank. Doch damit nicht genug: das Erz des Stahls, aus dem ihre Waffen geschmiedet sind, ist nicht identifizierbar. Es dürfte gar nicht existieren.” Kakashi rutschte an die vordere Kante seines Stuhls und legte Anonymas Buch vor die Ältesten auf den Tisch. Ibikis Worte überraschten ihn nicht. “Zudem hatte sie das hier bei ihrer Ergreifung bei sich. Mir ist es zwar nicht gelungen, den Text zu dechiffrieren, aber ich vermute es sind Aufzeichnungen, eine Art Tagebuch, und wenn man sich die Illustrationen darin ansieht, scheint der Inhalt nicht besonders erfreulich zu sein…” “Werft außerdem ein Blick auf die Karte darin”, ergänzte Ibiki, während er sich  wieder zurück lehnte und die Arme vor der Brust verschränkte. “Schon mal gesehen?” Die Antwort lautete nein. Das wusste Kakashi schon, bevor Koharu und Homura Anonymas Buch aufgeschlagen und die Karte entfaltet hatten. “Es wird von Ländern jenseits des Ozeans erzählt”, meinte Ibiki nach ein paar Minuten. “Zu weit entfernt, um sie zu erreichen - zumindest mit den Schiffen, die an den Küsten unserer Reiche gebaut werden…” Homura ließ die Karte sinken. “Bei allem Respekt, Ibiki, langweilt der Frieden dich etwa so sehr, dass du anfängst an die Hirngespinste betrunkener Fischer zu glauben?” “Wenn man alle logischen Lösungen eines Problems eliminiert, ist die unlogische, obwohl unmöglich, unweigerlich richtig”, entgegnete der Kopf der Konoha Gakure Jōhōbu. “Laut dem Bericht der Mediziner ist Hagane Kotetsu an einem Gen-Jutsu-Syndrom gestorben. So etwas gab es zuvor noch nicht, erst recht nicht bei einem Erwachsenen. Wir sollten also um die Stärke jener besorgt sein, die mit Anonyma kamen. Denn sollte ich mit meiner Vermutung richtig liegen, ist sie wohl kaum allein über den Ozean und bis nach Konoha gereist. Wir sollten auf der Hut sein.” Koharu schüttelte den Kopf. “Es scheint mir dennoch übertrieben, deswegen den Ausnah-” “Ich unterstütze Ibikis Vorschlag”, unterbrach Kakashi. “Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass Konoha von einer Tragödie heimgesucht wird, weil zu spät Maßnahmen ergriffen wurden, nicht wahr? Als Hokage habe ich mir geschworen, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.” In ihren Augen konnte Kakashi sehen, dass sie die Anspielung auf das Uchiha-Massaker und die Wahrheit dahinter verstanden...  III“Gute Arbeit”, lobte Ibiki, als er Kakashi ein paar Minuten später ins Treppenhaus und die Stufen hinab in das Untergeschoss des Gebäudes führte. “Um den Ausnahmezustand auszurufen, brauchst du die Zustimmung der Goikenban. Aber offen gestanden war ich mir nicht sicher, ob du dich gegen die beiden behaupten kannst.” Diese Worte ließen Kakashi zusammenzucken. Ich auch nicht, mein Freund, ich auch nicht. “Hältst du die Situation wirklich für so dramatisch wie sie da drin dargestellt hast?” “Du für harmlos?” Ohne stehen zu bleiben, blickte Ibiki sich über die Schulter um. Ich weiß es nicht, aber das konnte Kakashi nicht zugeben. Als Hokage war es nämlich seine Aufgabe, das zu wissen. “Von der Küste bis Konoha ist es ein Marsch von mindestens eineinhalb, eher zwei Tagen, oder? Aber du sagtest, ihr konntet keine der Pollen an ihrer Kleidung in der Datenbank finden…" "So ist es." "Aber, wie…?" "Keine Ahnung.” Ibikis Lippen verzogen sich zu einem teuflischen Grinsen, bevor er den Blick wieder geradeaus richtete. Sie waren im Kellergeschoss der Jōhōbu-Zentrale angekommen. “Aber zum Glück ibt es da eine junge Dame, die uns diese  und alle anderen Fragen beantworte kann.: woher sie kommt, wie viele Komplizen sie hat, warum sie Konoha angegriffen haben, was in ihrem Buch steht... Das ist nicht mein erstes Mysterium als Leiter der Informationsbeschaffungseinheit. Ich hatte schon oft Spuren vor mir, zwischen denen kein Zusammenhang zu bestehen schien die keinen Sinn ergaben aber glaub' mir, sich war noch nie so gespannt darauf die Auflösung zu hören wie heute… und - ich hatte noch nie so große Angst davor.” Wem sagst du das? Kakashi folgte dem Morino in einen dunklen Korridor. Das Licht an der Decke flackerte, als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel und Kakashi stellte fest, dass er hier schon einmal gewesen war, damals während seiner Zeit bei der ANBU. Soweit er wusste, befanden sich hinter den Türen links und rechts des Flures nur Archive und Abstellkammern. Was wollen wir hier unten? Doch noch bevor er die Frage aussprechen konnte, blieb Ibiki plötzlich stehen und drehte sich zum jungen Hokage um. “Bist du sicher, dass du bei dem Verhör dabei sein willst?” Der zuckte mit den Schultern. “Das ist keine Frage des Willens, oder? So haben wir es mit den Ältesten vereinbart: sie stimmen einem Ausnahmezustand zu, wenn ich es für nötig halte.” “Von mir würden sie nichts erfahren, wenn du dich dafür entscheidest, dich nicht mit dem zu belasten, was sich in den Geheimgängen der Jōhōbu abspielt.” Mit dem Kinn deutete Ibiki auf die grauen Fliesen zu ihren Füßen. Kakashi runzelte die Stirn. “Soll das heißen, du hältst mich für einen Feigling?” “Ich halte dich für einen guten Menschen. Und als solcher wirst du dich in meiner Gegenwart wohl niemals wieder wohl fühlen, wenn du erst mal gesehen hast, wie ich arbeite.” Kakashi konnte nicht anders als hinter seiner Maske zu schmunzeln. “Wer bin ich schon, um dich dafür zu verurteilen, wie du deine Pflicht erfüllst? Mach’ dir keine Sorgen. Ich kenne deinen Ruf und habe bestimmt keine falschen Illusionen über das, was du tust. Schließlich habe auch ich schon unzählige Menschen um Gnade betteln hören. Und sie flehten alle vergebens.” “Meinen Ruf zu kennen und meine Methoden zu sehen sind zwei verschiedene Dinge. Du warst Attentäter, ich bin Foltermeister - wer dich um Gnade angefleht hat, hoffte auf das Leben; bei mir auf den Tod.” “Vergiss es, Ibiki. Ich werde nicht kneifen.” Was für ein Hokage wäre er, wenn er nicht mal zu dem Wort stehen konnte, das er den Ältesten gegeben hatte? Sie vertrauten auf sein Urteil! Dieser Verantwortung durfte er sich nicht entziehen. “Ich muss dabei sein. Es geht nicht anders.” “Gut, wie du willst.” Nacheinander formte Ibiki die Fingerzeichen Eber, Affe, Hund und Drache, bevor er auf ein Knie sank und beide Hände auf den Boden presste. Die Erde unter den Füßen der beiden Shinobi erzitterte, während sich zwischen ihnen der Boden auftat. Kakashi musste einen Schritt zurückweichen, weil die Fuge unter seinen Schuhen aufbrach und die Fließen sich verschoben, um einen rechteckigen Schacht zu öffnen. Weißer Staub wirbelte auf und umtanzte Ibikis muskulösen Körper. MIt einem Arm stützte er sich auf dem Oberschenkel seines aufgestellten Beines ab, mit dem anderen deutete er auf den Schacht. Durch den bleichen Dunst hindurch grinste er Kakashi an. “Nach dir, Hokage-sama.” Dieser ging in die Hocke, um den  Schlund hinab zu spähen und hinter langer, schwarzer Finsternis einen rötlichen Schimmer zu entdecken. Seine Finger schlossen sich um die Kante des Schachts und mit einem kleinen Satz ließ er sich in die Dunkelheit fallen. Der Luftzug des Sturzes strich über seine Wangen und pfiff in seinen Ohren. Der Stoff seines hellgrauen Mantels flatterte hinter ihm. Das rötliche Licht bleichte mit jedem Meter aus, den Kakashi ihm entgegen stürzte. Es schwoll an und verschluckte den jungen Hokage schließlich. Einen Augenblick später fanden seine Füße den Boden…  IVDie Erde unter Kakashis Füßen fühlte sich weich und schleimig an, als er einen Schritt zur Seite trat, um Platz für Ibiki zu machen, der knapp hinter ihm durch den Schacht glitt. Regenwürmer und Asseln krochen über seine nackten Zehen, die aus seinen Sandalen ragten. “Herzlich willkommen in meinem Reich”, verkündete der Foltermeister und das Echo seiner rauen Stimme hallte von den tropfenden Wänden wieder. Über ihren Köpfen schloss sich der Schacht. Lehm, dachte Kakashi, was ihm sagte, das dies keine gewöhnliche Zelle war. Denn diese wäre mit Stahl und Beton im Boden befestigt. Nein, dieses Gewölbe war mit dem Erdversteck geschaffen worden, um auf ewig jedes Geheimnis zu bewahren, das ihm anvertraut wurde. Nicht nur ein Verhörraum, sondern auch ein Grab… “Wie oft hast du das schon gemacht?”, fragte Kakashi, während er sich umblickte. An den Wänden der Lehmgrube flackerten Fackeln. Ihr orange-rotes Licht zuckte über den weichen, braunen Boden und zwischen den Klumpen erkannte der Hokage die Umrisse eines halb verscharrten Schädels. “Hab’ aufgehört zu zählen.” “Ist jemals jemand deinem Reich entkommen?” “Nicht ein einziger.” Kakashi spürte Ibikis Hand auf seiner Schulter, die ihn herum drehte. Gleichzeitig machte der große Shinobi einen Schritt zur Seite und gab so die Sicht auf sie frei, jene Frau mit dem Codenamen Anonyma. “Sie ist zäh. Aber früher oder später habe ich sie noch alle zum Reden gebracht.” Flankiert und bewacht von zwei Agenten der ANBU stand sie da, von einer Augenbinde abgesehen vollkommen nackt und mit gefesselten Händen. Ein langer Strick führte von den Fesseln zur Decke, wo er durch einen glänzenden Ring gefädelt wieder zu Boden fiel und mit einem Pflock in der Erde verankert war. Das Seil war so fest gespannt, dass die Gefesselte langgestreckt auf den Zehenspitzen balancieren musste - wohl schon die ganze Zeit über, seit Ibiki zu der Besprechung im ersten Stock jenseits diesen Lehmgewölbes aufgebrochen war. Selbst der Schein des Feuers reichte, damit Kakashi erkennen konnte, wie blau die Nagelbetten ihrer Finger angelaufen waren. Sie hielt den Kopf gesenkt, sodass ihre kupferroten Locken über ihre Schultern fiel und ihre Brüste bedeckte Das rötliche Licht schimmerte auf ihrer blassen Haut, die mit purpurnen Malen überzogen war. An ihren Mundwinkeln und unter ihrer Nase glänzten Spuren halb geronnen Blutes. Es tropfte auch aus den Wunden, die ein X auf ihrem Bauch formten, und verdeckte beinahe das blaue Tattoo, das ihren Nabel umschloss. Kakashi erkannte das Symbol. Es war das gleiche, das auch auf dem Buch prangte, an dessen Entschlüsselung er die ganze Nacht über gescheitert war. Und er erkannte, dass die Wunden in ihrer Haut keine Schnitte waren, dafür waren die Wundränder zu unsauber. Nein, diese Verletzungen stammten von Peitschenhieben, was ihm ungefähr verriet, wie der Rücken der jungen Frau aussehen musste. Kakashi konnte nicht anders als den Blick abzuwenden. Diese Geste entging Ibiki nicht. “Ach, geht dir das schon zu weit?”, kommentierte er, während er ein Kunai in die Flamme von einer der Fackeln hielt, bis das Metal orange glühte. “Dann wird dir das hier vermutlich noch weniger gefallen…” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)