Tatsächlich schwul von Maginisha ================================================================================ Kapitel 24: Am Ende des Regenbogens ----------------------------------- Der Spiegel im Bad war beschlagen. Nick hob die Hand und wischte einen breiten Streifen frei, um wenigstens etwas erkennen zu können. Aus dem reflektierenden Glas blickten ihm seine Augen entgegen, die immer noch mittelblau waren. Darüber mittelbraune Haare, die jetzt unordentlich um den Kopf herum hingen. Wenn er sie weiter so tragen wollte, würde er wohl bald mal zum Friseur gehen müssen. Oder Tossenklemmen benutzen, wie Lisa immer die Haarspangen nannte, mit denen sie ihren Pony aus dem Gesicht hielt. Vielleicht rosafarbene mit Daisy Duck drauf. So was gab es doch bestimmt. Er schüttelte den Kopf. Irgendwas war da oben heute anscheinend nicht ganz in Ordnung. Eigentlich war es das schon seit gestern Abend nicht mehr. Seit Javier plötzlich vor seiner Tür gestanden hatte, um ihm zu erzählen, dass er eine Bewerbung auf dem Schreibtisch seiner Tante gefunden hatte. Nick hatte versucht, seinen aufgebrachten Freund zu beruhigen, dass es dafür bestimmt eine Erklärung gab, aber Javier hatte darauf bestanden, dass seine Tante Nicks Stelle zur Neubesetzung ausgeschrieben hatte und dass er so dermaßen sauer darüber war, dass er heute Nacht unmöglich bei ihr im Haus schlafen könne. Nick hatte also zugestimmt, dass Javier blieb, auch wenn er nicht damit einverstanden gewesen war, dass dieser seine Tante einfach weggedrückt hatte, als sie später am Abend versucht hatte ihn anzurufen. Nick hatte fast erwartet, dass es kurz darauf bei ihm klingelte, aber vielleicht hatte Renata den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden. Oder sie hatte angenommen, dass Javier nicht bei ihm war. Obwohl er zugeben musste, dass es schon irgendwie seltsam gewesen war, ihn auf einmal nicht mehr um sich zu haben. Fast so, als würde etwas fehlen. Nick atmete tief aus und bescherte dem Spiegel damit eine neue Dunstschicht. Mechanisch griff er nach dem Rasierer, doch als er ihn ansetzen wollte, entschied er sich plötzlich dagegen. Warum sich rasieren, wenn er eh arbeitslos werden würde? Wenn er gekonnt hätte, hätte er sich auch noch seinen alten, grauen Hoodie angezogen, aber der war vermutlich bereits in tausend Streifen geschnitten irgendwo als Kissenfüllung verarbeitet worden. So musste ein graues Hemd reichen, das er sich aus dem Kleiderschrank holte, nachdem er das Badezimmer verlassen hatte. Javier beobachtete ihn vom Sofa aus, als er nur mit Shorts und Hemd bekleidet, zum wiederholten Male an ihm vorbei lief, um in der Küche zu prüfen, ob die Jeans schon trocken war, die er auf die Heizung gelegt hatte. Als er begann, sie anzuziehen, hob Javier erstaunt die Augenbrauen. „Was ist denn jetzt los? Bist du unter die Rebellen gegangen?“ Nick sah auf und verzog den Mund zu einem leichten Lächeln. „Ja, vielleicht.“ „Oh, die Macht ist stark in diesem hier“, frotzelte Javier. Nick richtete sich auf und hob mahnend seinen Zeigefinger „Du weißt doch, mit großer Macht kommt große Verantwortung. Also los, zieh dich an, wir müssen los. Du hast immerhin noch einen Job.“ „Praktikum“, korrigierte Javier ihn. „Und ich wusste, ich hätte dir Spider-Man gestern Abend nicht mehr zeigen sollen. Jetzt hast du voll den Moralkomplex und willst bestimmt die Welt retten. Aber erwarte nicht, dass ich dir die MJ mache.“ Javier wollte an ihm vorbeigehen, doch Nick streckte schnell den Arm aus und fing ihn ein. „Und wer bist du dann? Der grüne Kobold?“ Javier legte die Stirn in Falten. „Mhm, keine Ahnung. Ich glaube, ich wäre kein so guter Superheld. Eventuell gehe ich noch als Rocket durch. Oder Deadpool. Das könnte vielleicht auch funktionieren. Meinst du, der wäre was für Spidey?“ Nick zuckte nur hilflos mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung, wer das ist.“ „Viel zu lernen du noch hast“, verkündete Javier mit Grabesstimme und Nick musste gegen seinen Willen lachen. Es tat gut so herumzualbern, obwohl da dieses kleine Männlein in seinem Kopf war, das vehement zu wissen verlangte, was er tun würde, wenn Renata ihm heute tatsächlich endgültig kündigte. Er würde zumindest kurzfristig Geldprobleme bekommen und sich eine neue Stelle suchen müssen. Vermutlich sogar eine neue Wohnung in einer anderen Stadt, denn er konnte sich einfach nicht vorstellen, hier im Ort zu bleiben und vielleicht tagtäglich auf seinem Arbeitsweg am „El Corpiño“ vorbeizulaufen. Dazu war die Stadt einfach zu klein. Und was würde mit Javier werden? Er wollte nicht, dass der sich deswegen mit seiner Familie überwarf, obwohl er gestern Abend vehement verkündet hatte, dass ihm das egal war und er zu ihm halten würde. Wenn es denn tatsächlich zu dieser Kündigung kam, wollte Nick das zivilisiert über die Bühne bringen. Vielleicht konnte er Renata auf diese Weise auch um einen Aufhebungsvertrag anstelle der Kündigung bitten und um ein entsprechendes Arbeitszeugnis. Das würde ihm zwar nicht mehr Geld vom Arbeitsamt einbringen, aber immerhin eine bessere Chance bei einer neuen Bewerbung. Was die Begründung der einvernehmlichen Kündigung anging, war er sich allerdings noch im Unklaren. Dazu reichte seine Gehirnkapazität heute Morgen nicht aus. „Bist du fertig?“ Javier stand bereits an der Tür und sah ihn abwartend an. Stand er jetzt tatsächlich schon die ganze Zeit brütend hier in seinem Wohnzimmer herum? Er seufzte. „Ja, ich komme.“ Sie legten den Weg schweigend zurück. Nicks innere Stimme murmelte immer noch leise vor sich hin und auch Javier schien irgendwelchen Gedanken nachzuhängen. Welchen, das konnte Nick nur raten. Als sie an einer Werbetafel vorbeikamen, schnaubte Javier. Nick sah ihn fragend an, aber Javier schüttelte nur den Kopf. „Nicht so wichtig. Erklär ich dir später.“ Nick beließ es dabei, denn als sie um die nächste Ecke bogen, kam das das „El Corpiño“ in Sicht. Im Inneren brannte bereits Licht und Nick merkte, wie sich langsam Nervosität in ihm breitmachte. Plötzlich wünschte er, dass er sich doch rasiert und etwas anderes angezogen hätte. Aber jetzt war es zu spät, um noch umzukehren. Er würde das durchziehen müssen. Und vielleicht hatte er ja Glück. Vielleicht gab es ja doch noch irgendeine wunderbare Erklärung für diese Bewerberin. Vielleicht. Hoffentlich. Die Ladenglocke klingelte, wie sie es schon unzählige Male getan hatte. Nick sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. Er trat ein und ließ Javier vorbei, bevor er die Tür wieder schloss. Als er sich umdrehte, erschien Lisa im Durchgang zur Küche. „Nick!“ Ihre Stimme schwankte zwischen Unglauben und nur schwer verborgener Freude. „Aber was … ich hatte ja keine Ahnung! Was machst du hier? Ich wollte dich immer mal anrufen, aber es war so viel los und die Sache mit deiner Kündigung ... Ich kann das alles noch gar nicht so richtig glauben.“ „Ich eigentlich auch nicht“, erwiderte Nick und ließ sich von Lisa in eine Umarmung ziehen. Sie waren eigentlich nicht besonders eng befreundet, aber immerhin hatten sie schon so Einiges zusammen erlebt und es tat gut, sie wiederzusehen. „Ich habe gehört, dass du krank warst.“ Als er das sagte, lief Lisa plötzlich knallrot an. „Ja also das … Krank ist vielleicht nicht so ganz das richtige Wort.“ „Ich dachte, du hast dich übergeben“, mischte Javier sich ein. „Das hat meine Tante jedenfalls gesagt.“ Lisa wurde, obwohl das eigentlich nicht möglich war, noch eine Schattierung dunkler und dann nestelte sie plötzlich an ihrer Rocktasche herum. Im nächsten Augenblick hielt sie Nick ein Stück Papier unter die Nase. Es sah ein wenig aus wie eine Fotografie, eines dieser Polaroids, die früher mal Mode waren. Auf dem Bild war ein großer, dunkler Fleck inmitten von weißem Schnee und darin ein kleiner, heller Punkt zu sehen. Er runzelte die Stirn. „Was ist das?“ „Das ist ein Ultraschallbild“, erklärte Javier und drängte sich nach vorn. „Im Ernst jetzt? Du bist schwanger?“ „Ja!“, jubelte Lisa und hüpfte dabei wie ein Flummi auf und ab. „Ich hab erst gedacht, ich hätte was Falsches gegessen. Dann Magen-Darm. Aber als mir am dritten Tag wieder nur morgens schlecht war, hab ich mir einen Test gekauft. Es stimmt tatsächlich, ich bekomme ein Baby! 8. Woche jetzt. Ich kann es immer noch nicht fassen.“ „Aber wann … wie?“ Nicks Gehirn hatte anscheinend gerade beschlossen, eine Auszeit zu nehmen. Lisa grinste breit. „Muss ich dir jetzt wirklich erklären, wo die Babys herkommen? Hast du in Bio etwa nicht aufgepasst?“ „Er hatte das sogar als Leistungskurs“, warf Javier wenig hilfreich ein. Im Gegensatz zu Nick grinste er von einem Ohr zum anderen. Als er sah, dass Nick immer noch in Schockstarre war, boxte er ihm leicht in die Seite. „Ey, freu dich mal. Die Frau erwartet ein Kind. Du hast es meiner Tante doch schon gesagt, oder?“ „Ja, ich konnte einfach nicht warten. Jetzt wo Nick nicht da ist und ich nicht weiß, wie die Schwangerschaft verläuft, da wollte ich so fair sein und Renata rechtzeitig Bescheid geben, auch wenn man ja eigentlich die ersten drei Monate abwartet.“ Sie hatte Nick bei der Erklärung schuldbewusst angesehen, aber Javiers Grinsen wurde noch eine Stufe breiter. Irgendetwas ging hier vor, das Nick nicht zu begreifen schien. Warum freute sich Javier so darüber, dass Lisa schwanger war? Das setzte Renata zwar unter Druck, für Ersatz zu sorgen, aber … Er hätte sich fast mit der flachen Hand vor die Stirn geschlagen. Natürlich. Die ausgeschriebene Stelle war nicht seine, sondern Lisas! Renata war auf der Suche nach einer Schwangerschaftsvertretung. Und das hieß dann ja … er würde seinen Job wiederbekommen! Nick sah Javier an und dessen Augen funkelten zurück. „Endlich geschnallt?“ Nick lachte auf. „Kann ja nicht jeder so eine Intelligenzbestie sein wie du.“ „Und ich dachte, du liebst mich wegen meines schönen Körpers." „Das sowieso.“ Lisa sah ein wenig irritiert zwischen ihnen hin und her. „Ähm, habe ich hier was verpasst? Ihr beide wart doch immer wie Hund und Katz und jetzt?“ Javier grinste breit. „Jetzt schläft die Katze im Hundekörbchen.“ Er drückte Nick einen Kuss auf den Mund und zog ihn anschließend in Richtung Büro. „Komm, Cariño! Wir müssen zu Tante Nata, damit sie dich wieder einstellt.“ Nick warf Lisa noch einen entschuldigenden Blick zu, die ihnen mit großen Augen hinterherstarrte. „Ich erzähle dir das alles später“, rief er noch, bevor er sich umdrehen musste, um nicht die Stufen hoch zu stolpern. Er vergaß völlig anzuklopfen und stand plötzlich vor Renatas Schreibtisch. Sie musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. „Oh, äh, guten Morgen. Ich bin … ich bin einfach reingekommen. Entschuldigung.“ Renatas Mundwinkel zuckten ein winziges Stück, bevor sie auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch wies. „Bitte setz dich und du, Javier“, sie fasste ihren Neffen scharf ins Auge, „du schuldest mir wohl eine Erklärung. Ich habe mir Sorgen gemacht. Du warst heute Nacht nicht zu Hause. Und deinen Schlüssel hast du auch vergessen.“ „Ich habe bei Nick geschlafen. Ich … ich war gestern in deinem Arbeitszimmer und als ich die Bewerbung auf deinem Schreibtisch gesehen habe, da habe ich ...“ „Die vollkommen falschen Schlüsse gezogen.“ Renata schüttelte den Kopf und seufzte. „Das dachte ich mir schon. Ich bin zwar eine alte Frau, aber blind bin ich nicht. Ich sehe, wenn jemand an meinen Sachen war. Dazu hattest du kein Recht. Diese Informationen sind vertraulich.“ „Ja, tut mir leid, Tante.“ Javier senkte den Kopf. „Ich bin da wohl etwas voreilig gewesen.“ „Wäre ja nichts Neues“, brummte Renata und deutete auf einen Stuhl, der in einer Ecke des Büros unter einem Berg Aktenordner verschwand. „Nimm dir den und setz dich! Da du ja vermutlich ohnehin nicht draußen warten wirst, kannst du wenigstens aufhören, hier wie ein aufgescheuchtes Huhn hin- und herzurennen. Ich glaube, ich habe selten jemand erlebt, der so viele Hummeln im Hintern hat wie du.“ Javier wackelte einmal mit besagtem Hinterteil, was Nick leicht erröten ließ, holte dann aber gehorsam den Stuhl und stellte ihn direkt neben Nicks, bevor er sich darauf fallen ließ. „Also, wir hören.“ Renata atmete noch einmal durch und verkniff sich offensichtlich eine Bemerkung. Stattdessen wandte sie sich an Nick. „Ich habe mir den Beschluss, den ich dir heute mitteilen will, wirklich nicht leicht gemacht. Es kamen viele, verschiedene Faktoren zusammen, die ich berücksichtigen musste. Wie du sicherlich bereits weißt, erwartet Lisa ein Baby. Ich sah mich also zusätzlich zu deinem Problem mit der Aufgabe betraut, in absehbarer Zeit jemand Neuen einzustellen, der sie wenigstens temporär ersetzt. All das hat mir meine Entscheidung nicht einfacher gemacht. Aber, Nick, ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich dir deinen alten Job nicht wiedergeben kann.“ „WAS?“ Noch bevor Nick reagieren konnte, war Javier bereits aufgesprungen und hatte angefangen, in wüstem Spanisch auf seine Tante einzuschimpfen. Sie versuchte zwar, ihn zu unterbrechen, aber Javier wollte nicht hören. Erst als Nick ihm die Hand auf den Arm legte, hörte er auf zu fluchen. „Bitte setz dich wieder.“ Nick sprach ganz ruhig, obwohl ihm überhaupt nicht danach zumute war. Doch statt wie Javier auszubrechen wie ein sprichwörtlicher Vulkan, hatte Nick das Gefühl, innerlich zu Eis zu gefrieren. Es war doch alles umsonst gewesen. Die ganze Wartezeit, die Hoffnung, all das ging gerade den eiskalten Bach hinunter, der durch Nick hindurch floss und ihm das Atmen schwermachte. Einzig die Tatsache, dass Renata ihn immer noch mit diesem warmen, mütterlichen Gesichtsausdruck ansah, verhinderte, dass er ganz erstarrte. „Warum nicht?“ fragte er und war erstaunt, wie wenig seine Stimme zitterte. Neben ihm fasste Javier nach seiner Hand. Seine Finger waren warm und Nick war froh darüber, dass er da war. „Weil du hier nicht glücklich werden würdest.“ Renata hatte die Hand ausgestreckt und etwas zu sich herangezogen, das Nick sofort wieder erkannte. Es war die Mappe mit seinen Bildern. „Weißt du, Nick, ich habe immer schon gewusst, dass in dir etwas Besonderes steckt. Aber um das zu erklären, muss ich vielleicht etwas weiter ausholen. Wenn du erlaubst?“ Er nickte und versuchte, langsam und gleichmäßig zu atmen, obwohl sein Herz bis zum Hals klopfte. Renata schloss kurz die Augen, bevor sie mit fester Stimme zu erzählen begann. „Als mein Mann damals starb, stand ich von einem Tag auf den anderen allein da. Alles was ich gekannt hatte, wofür ich gelebt hatte, war plötzlich fort. Es war eine furchtbare Zeit, von der ich mich teilweise heute noch frage, wie ich sie überhaupt überstehen konnte. Aber nach einer Weile wurde mir klar, dass ich nicht weiter einfach nur dasitzen und traurig sein konnte. Das Leben ging weiter und es gab noch andere Menschen, die mir wichtig waren. Meine Schwester und ihre Familie, meine Eltern, sie alle hatten mir in dieser schweren Zeit hilfreich zur Seite gestanden und ich wusste, dass sie sich auf mich verließen. Denn weißt du, mein Ehemann war nicht nur der Mann in meinem Leben. Er war auch derjenige, von dem die finanzielle Zukunft unserer Familie abgehangen hatte. Als Buchhalter hatte er sich um alle Geld-Belange der Familie gekümmert. Meine Eltern hatten nicht viel gespart und er hatte sich um ihre Absicherung im Alter gekümmert. Eine Absicherung, die zu einem großen Teil davon abhing, dass wir, ich und mein Mann, sie finanziell unterstützten. Meine Schwester und ihr Mann wären dazu nicht in der Lage gewesen. Ich weiß nicht, wie viel dir Javier erzählt hat, aber sie schwimmen nicht gerade im Luxus und dadurch, dass Maria gesundheitlich selbst so angeschlagen ist, wusste ich, dass nach dem Tod meines Mannes alles in meiner Hand lag. Ich hätte mich wahrscheinlich mit dem Geld, das mein Mann mir hinterlassen hatte, für den Rest meiner Tage zur Ruhe setzen können, aber mir war klar, dass das nicht reichen würde, um auch meine Familie durchzubringen. Also traf ich damals die Entscheidung, mich mit diesem Geschäft hier selbstständig zu machen. Es war ein gewagter Schritt, aber ich wusste, dass ich, wenn ich diese Verantwortung schon übernahm, auch an mich denken musste. Ich hatte keine abgeschlossene Ausbildung und konnte nur die Berufserfahrung vorweisen, die ich als Angestellte im Büro meines Mannes gesammelt hatte. Mit einem einfachen Aushilfsjob hätte ich von morgens bis abends schuften müssen, nur um dann selbst irgendwann im Alter kurz vor der Armutsgrenze zu stehen. Aufgezehrt und verbraucht von einer Aufgabe, die mich nicht glücklich machte, hätte ich irgendwo in einer kleinen Wohnung den Rest meiner Zeit verbracht und dazu war ich nicht bereit. Ich war noch jung, ich wollte etwas aus meinem Leben machen. Also baute ich mir diesen Laden auf und ich denke, wir sind uns einig darüber, dass ich ziemlich erfolgreich damit war.“ An dieser Stelle nickte Nick. Er hatte der Erzählung aufmerksam zugehört und auch Javier schien an den Lippen seiner Tante zu hängen, obwohl er einen guten Teil der Geschichte ja schon kennen musste. Es sah jedoch aus, als hörte er das alles zum ersten Mal. Renata machte eine kurze Pause und nahm einen Schluck Kaffee. Als sie weitersprach, ruhten ihre Augen auf Nick. „Irgendwann stellte ich fest, dass ich das Geschäft nicht mehr alleine betreiben konnte. Lisa vergrößerte das Team. Doch der Kundenkreis wuchs weiter, und mir wurde klar, dass ich noch eine zweite Kraft brauchte. Daher gab ich eine Annonce auf. Ich erhielt einige Bewerbungen, von denen jedoch nur zwei in Frage kamen. Die eine war deine und die andere stammte von einer jungen Mutter, die gerade von ihrem Mann verlassen worden war und jetzt eine Arbeitsstelle suchte, um sich und ihren kleinen Sohn zu ernähren. Du kannst dir mein Dilemma sicherlich vorstellen?“ Nick wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er hatte keinen Schimmer davon gehabt. Renata wartete kurz, ob er antworten würde, dann fuhr sie fort. „Wie du weißt, hat es damals eine ganze Weile gedauert, bis ich mich entschieden hatte.“ Jetzt nickte Nick wieder. Er hatte die Stelle damals eigentlich schon abgeschrieben, als dann doch noch die Zusage kam. „Es war wirklich nicht einfach, einen Bewerber auszuwählen. Auf der einen Seite du, der perfekte Kandidat aus unternehmerischer Sicht. Immerhin hatte ich bereits eine junge Frau, die plante, in nächster Zeit Kinder zu bekommen. Dazu eine weitere Frau einzustellen, die bereits ein noch sehr kleines Kind hatte und dadurch ein Risiko bezüglich ihrer Arbeitskraft darstellte, das kann für ein kleines Geschäft wie dieses den Tod bedeuten. Wir sind auf den Service angewiesen. Er ist es, der uns von den großen Ketten und der zunehmenden Konkurrenz aus dem Internet abgrenzt. Nur so kann sich das Geschäft halten und damit auch die Absicherung meiner Familie gewährleisten. Es war also wirklich eine wichtige Sache, wen ich einstellte. Aus menschlicher Sicht schien es mir besser, die Bewerbung der jungen Mutter anzunehmen und sie damit zu unterstützen. Ich wusste, was es heißt, als Frau auf einmal allein dazustehen. Noch dazu mit einem Kind an der Seite, auch wenn mir dieses Glück verwehrt wurde. Ich sah es als meine soziale Pflicht an, sie einzustellen, selbst wenn ich damit das 'El Corpiño' kurzfristig einem Risiko aussetzte. Also lud ich dich zu einem Bewerbungsgespräch ein und ich hoffte so sehr dabei einen Grund zu finden, um dich nicht einstellen zu müssen. Allein die Tatsache, dass du ein Mann warst, schien mir schon fast Berechtigung genug. Was sollten meine Kundinnen denn davon halten, wenn ihnen auf einmal ein Mann BHs verkaufte? Es fehlte nur noch ein winziges Zünglein an der Waage, um dich abzulehnen und das moralisch Richtige tun zu können. Aber dann kamst du und du warst wunderbar. Und schwul, wie ich damals dachte. Auf einmal hattest auch du ein moralisches Anrecht auf diesen Nischenplatz, den ich zu vergeben hatte. Schließlich wusste ich von Javier, wie schwer es ein junger Mann mit diesen Anlagen haben kann. Ich machte mir die Entscheidung trotzdem nicht leicht, aber irgendwann sah ich ein, dass mich die menschliche Seite hier nicht weiter bringen würde. Also ließ ich die Geschäftsfrau in mir entscheiden und ich wählte dich, während ich Bettina Anders eine Absage schickte.“ „Aber das ist doch ...“ Javier hatte sich plötzlich aufgesetzt. „Das ist doch der Name, den ich gestern in der Bewerbung gesehen habe.“ Renata lächelte nachsichtig. „Ja, das ist er. Und wenn du einmal richtig hingesehen hättest, hättest du vielleicht auch gemerkt, dass die Bewerbung schon mehr als ein Jahr alt ist. Ich wollte sie damals zurücksenden, aber als ich es endlich tat, kehrte der Umschlag mit dem Vermerk 'Empfänger unbekannt verzogen' zu mir zurück. Ich habe die Bewerbung aufgehoben, weil es mir nicht richtig erschien, all die Hoffnungen dieser jungen Frau einfach so in den Papierkorb zu werfen. Und als ich hörte, dass Nick immer noch diese Mappe hat, wusste ich, dass es bei ihm ebenso war. Er mochte sich vielleicht äußerlich von seinen Träumen verabschiedet haben, aber tief in seinem Inneren erahnte ich noch dieses Feuer, diese Leidenschaft, die er einst empfunden hatte und die sich jetzt immer noch in seinen Schaufenstern wiederfindet.“ Sie sah jetzt wieder Nick an. „Nick, du bist ein wunderbarer Verkäufer. Fleißig, zuverlässig, freundlich und immer professionell. Ich weiß, dass du deine Arbeit hier immer gern gemacht hast. Aber eigentlich bist du ein Künstler. Das steckt dir einfach im Blut. Ich will nicht, dass du irgendwann auf dein Leben zurückblickst und dich mit der Frage herumplagst, was hätte sein können. Daher habe ich deine Mappe am Wochenende einem Bekannten vorgelegt. Er arbeitet an der Hochschule für Bildende Künste und hat mir bestätigt, dass es dir ohne Weiteres möglich wäre, dein Studium wieder aufzunehmen. Allerdings müsstest du noch bis zum nächsten Wintersemester warten, bis du anfängst, da die Hochschule nur zu diesem Zeitpunkt neue Studenten aufnimmt. Ich biete dir daher bis zum nächsten Herbst einen befristeten Vertrag an. Du würdest mit dem gleichen Gehalt wie vorher noch bis zum nächsten Sommer hier arbeiten. Danach würde ich dich freistellen, damit du keine Lücke in deinem Lebenslauf hast und dich trotzdem auf dein Studium vorbereiten kannst. Wenn du das möchtest.“ Nick war nicht in der Lage zu reagieren. Er sollte … wieder studieren? Wieder Kunst erschaffen? Er schluckte. Der Gedanke machte ihm Angst und gleichzeitig ließ er ein leises Prickeln in seinem Nacken entstehen. Er blickte zu Javier hinüber, der ihn mit leuchtenden Augen ansah. Als er Nicks Blick bemerkte, lachte er. „Mensch, guck mich nicht so an. Das musst du wissen. Aber ich würde sagen, du schaffst das. Auf jeden Fall.“ Nick sah zu Renata. „Ich … ich bin gerade ein wenig überfordert. Ich würde mir gerne ein wenig Bedenkzeit ausbitten. Wenn das okay ist?“ Sie nickte. „Das ist vollkommen in Ordnung. Allerdings würde ich dich bitten, dich bis zum Ende der Woche zu entscheiden. Wie du ja weißt, werde ich ab dem Sommer nicht nur eine, sondern gleich zwei Stellen zu besetzen haben. Ein unternehmerischer Alptraum. Ich würde auch ganz gerne wissen, woran ich bin.“ „Das verstehe ich.“ Nick stand auf, obwohl er sich im ersten Moment nicht sicher war, ob ihn seine Beine tragen würden. Das Wechselbad der Gefühle, dass er gerade hatte durchlaufen müssen, hatte nach der nicht unbedingt ruhigen Nacht doch sehr an seinen Nerven gezerrt. Jetzt schien sich vor seinen Füßen, einem plötzlich entstandenen Regenbogen gleich, eine Brücke aufzutun, die ihn dazu einlud, ihn in eine unbekannte Zukunft zu entführen. Ihr Anfang sah sicher und fest aus, aber er konnte nur erahnen, wie steil der Anstieg später noch werden würde. Es gab keine Garantie, dass die Brücke nicht irgendwann im Nichts enden und er dann vor einem Abgrund stehen würde. Alternativ konnte er den geraden und eintönigen Weg am Boden wählen, der ihn sicher und vermutlich relativ unbeschadet durch sein Leben tragen würde. Aber da war dieses leise Gefühl. Eine flüsternde Stimme, die ihm zuraunte, dass er sich tatsächlich wohl immer fragen würde, wie es gewesen wäre, wenn er den Aufstieg gewagt hätte. Wenn er versucht hätte, sich in die schwindelerregenden Höhen zu erheben und zu fliegen, statt immer nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Weite und die Freiheit zu genießen und der Welt zu zeigen, was wirklich in ihm steckte, auch wenn er sich damit der Gefahr aussetzte, dass sie ihn ablehnte. Der Gedanke ließ ihn schwindeln. „Hey!“ Javier griff plötzlich nach seiner Hand. „Ist alles okay?“ Nick holte von irgendwo her ein Lächeln hervor. „Ja,es ist nur … etwas viel gerade.“ Javier lächelte und wandte sich an seine Tante. „Krieg ich auch frei? Ich meine, guck dir Nick doch mal an. Wenn wir den jetzt so rausgehen lassen, läuft der uns noch vor einen Bus. Das willst du doch nicht riskieren, oder?“ Renata öffnete den Mund und entließ einen Laut der Verblüffung. „Nun schau sich einer diesen Rotzlöffel an. Da steht sein Freund, von dem er mir gerade noch voller Inbrunst beteuert hat, dass er ihn von ganzem Herzen lieben würde, vor der wichtigsten Entscheidung seines jungen Lebens und er will das gleich wieder zu seinem Vorteil nutzen. Das ist doch wirklich unerhört.“ „Tante!“ Javier war bei Renatas Worten erst blass und dann rot geworden. Er sah Nick mit großen, runden Augen an. „Also das … das hat sie nicht so gemeint. Das habe ich gar nicht gesagt.“ Renata lachte. „Oh doch, das hat er. Mich wundert, dass er nicht 'como la trucha al trucho' verwendet hat. Das hätte dem Ganzen noch den entsprechenden Pathos und Schmalz verliehen.“ Nick blickte Javier an, der inzwischen aussah, als hätte er anstatt eines Kopfes eine Tomate und wäre auf der Suche nach dem nächsten Mauseloch. Nick hatte plötzlich das Gefühl, ihn in die Arme nehmen zu müssen, um ihn nie wieder loszulassen. Er konnte sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass das Javier in diesem Moment so gar nicht recht gewesen wäre. Also wandte er sich stattdessen an Renata. „Darf ich ihn mitnehmen? Als moralische Unterstützung?“ Renata sah Nick an und auf ihrem Gesicht lag plötzlich wieder dieser Ausdruck, den er auch manchmal bei seiner Mutter beobachtet hatte. Er musste kurz daran denken, dass es wirklich schade war, dass Renata nie eigene Kinder gehabt hatte. „Na haut schon ab. Aber morgen will ich ihn hier wieder pünktlich auf der Matte stehen haben. Das 'El Corpiño' kann schließlich nicht wie ihr von Luft und Liebe leben.“ Javier wirkte ebenso erleichtert, wie Nick sich fühlte, als sie das Büro hintereinander verließen. Sie verabschiedeten sich von Lisa und wünschten ihr noch einmal alles Gute für die Schwangerschaft, bevor sie sich schließlich vor dem Laden wiederfanden. Nick stellte fest, dass im Schaufenster immer noch seine Halloween Dekoration stand und befand, dass es langsam Zeit wurde, sie zu ersetzen. Vielleicht sogar schon durch etwas, das mit Schnee oder Weihnachten zu tun hatte. Er sah zu Javier, der die Arme um sich geschlungen hatte und in der feuchtkalten Novemberluft sichtbar fröstelte. „Was machen wir jetzt?“, wollte er wissen, offenbar nicht bereit, noch auf das Gesprächsthema von gerade eben einzugehen. Nick war das Recht, denn in seinem Kopf wirbelte es auch gerade ziemlich durcheinander. Aber etwas wusste er ganz sicher. „Jetzt kaufen wir dir erst mal eine neue Jacke. Eine ordentliche, in der du nicht wie der sprichwörtliche Schneider frierst.“ Javier sah ihn an wie eine Eule. „Dein Ernst? Du hast frei und willst shoppen gehen?“ „Warum nicht? Wir haben immerhin den ganzen Tag Zeit und wo ich dich schon mal unter meiner Fuchtel habe.“ Javier knurrte etwas Unfreundliches, setzte sich aber gehorsam in Richtung Ladenstraße in Bewegung. An der Ecke zog Nick ihn jedoch in Richtung Bahnhof. „Komm, wir fahren in die Stadt. Da ist die Auswahl besser.“ Außerdem dauerte es länger, bis sie dort ankamen, denn Nick hatte irgendwie keine Lust, schon wieder in seine Wohnung zurückzukehren, die ihm auf einmal viel zu klein vorkam. Er wollte sich heute den Wind um die Nase wehen lassen, vielleicht eine Runde am Hafen spazieren gehen. Dafür musste er Javier vorher aber entsprechend einkleiden. Sie mussten nicht lange warten, bis ein Zug kam, der sie direkt bis in die Stadt bringen würde. Nick ließ sich auf dem Sitz gegenüber von Javier nieder und betrachtete ihn. Sein Freund sah aus dem Fenster, offenbar bemüht, nicht in seine Richtung zu blicken. Nick stellte wieder einmal fest, dass er ihn tatsächlich gerne ansah. Es war nicht gelogen, als er ihm gestern gesagt hatte, dass er ihn schön fand. Das schmale Gesicht mit den glänzenden, braunen Augen, den langen Wimpern, dem immer leicht trotzig gereckten Kinn und dem fein geschwungenen Mund mit den vollen Lippen, die so wunderbar küssen konnten. Plötzlich wünschte er sich ein Blatt Papier und einen Stift, um ihn zeichnen zu können, wie er dort am Fenster saß, den Fuß auf die Kante der Abteilwand gestützt, die Hand am Mund und den Blick aus dem Fenster gerichtet, als lägen irgendwo da draußen seine großen Träume verborgen. Nur die Haare, die würde er dunkel zeichnen. Es erschien ihm irgendwie passender. Javier hob den Kopf und sah ihn fragend an. „Was ist? Hab ich was im Gesicht?“ Nick lächelte leicht. „Nein, ich habe nur gerade überlegt, ob ich nicht mal zum Friseur gehen sollte. Die Matte da oben wird langsam ganz schön lang.“ Er zupfte vielsagend an einer Ponyfranse herum, die ihm immer wieder in die Augen fiel. Javier grinste schief. „Also mir gefällt's. Jetzt noch ein Drei-Tage-Bart und ich kann so tun, als hätte ich eine Berühmtheit zum Freund.“ Nick strich sich über das Kinn. Es kratzte ein bisschen. „Wenn du mich dann noch küsst, kann ich es ja mal ausprobieren.“ „Logisch. Das kann sich sogar echt interessant anfühlen.“ Er wackelte mit den Augenbrauen und Nick verzichtete darauf, ihn wegen der Anzüglichkeit zu rüffeln. Dazu fühlte es sich einfach zu gut an. „Also gut, dann ein Bart. Wer weiß, vielleicht kann ich ihn brauchen. Als Student hat man ja bekanntlich nicht so viel Geld. Da muss man jede Wärmequelle nutzen, die sich finden lässt.“ Javier setzte den Fuß nach unten und drehte sich komplett zu ihm herum. „Das heißt, du machst es?“, fragte er aufgeregt. Nick zuckte leicht mit den Schultern. „Ja, ich denke schon. Ich habe zwar eine Heidenangst davor, aber ich glaube, es wäre das Richtige.“ „Cool!“ Javier strahlte ihn an und Nick wünschte sich plötzlich, dass sie allein wären und nicht irgendwo in einem halbvollen Zugabteil säßen mit Pendlern und den drei älteren Damen, die sich im Hintergrund lautstark über die zu geringen Renten beklagten. Er stand auf, setzte sich neben Javier und ergriff seine Hand. „Sag mal, erklärst du mir eigentlich noch die Sache mit den Forellen? Irgendwas habe ich da, glaube ich, nicht so ganz verstanden.“ Javier schluckte und es flog erneut ein Schatten von Röte über sein Gesicht. „Das … das ist so ein geflügeltes Wort in Spanien. Es geht auf eine Geschichte zurück, in der ein Forellenweibchen ihr Leben riskiert, um ihr Männchen zu retten. Daher sagt man auch 'Ich liebe dich wie die Forelle den Forellerich'.“ Nick gluckste. „Forellerich? Ich bin mir nicht sicher, ob es das Wort im Deutschen überhaupt gibt.“ Javiers Mundwinkel zuckten. „Im Spanischen gibt es das auch nicht. Forelle ist eigentlich immer weiblich. Das hat einfach mal irgendwann jemand erfunden.“ Nick spürte, wie es in seinem Bauch warm wurde. Und er wusste plötzlich, dass er, obwohl es noch viel zu früh für so was war, tatsächlich Javiers Forellerich sein wollte. Ein schillernder Regenbogenforellerich, sodass sie zusammen gegen den Strom schwimmen konnten, egal wie lange es dauern würde, bis sie die Quelle erreichten. „Javier“, sagte er und drehte sich dabei zu seinem Freund herum, damit dieser auch mitbekam, was hier gerade passierte. „Ich … ich möchte dir etwas sagen. Und zwar ... Ich liebe dich.“ Zuerst dachte er, dass Javier einfach in Ohnmacht gefallen war und nur vergessen hatte umzukippen. Er sah ihn zwar immer noch an, aber in seinem Gesicht regte sich kein Muskel, er blinzelte nicht und Nick war sich nicht sicher, ob er überhaupt noch atmete. „H-hab ich was Falsches gesagt?“, stotterte Nick, als es plötzlich dunkel um sie herum wurde und der Zug in den Bahnhof einfuhr. Die Lautsprecherdurchsage forderte alle Fahrgäste auf, die Waggons zügig zu verlassen, da dies die Endstation war und der Zug in wenigen Minuten wieder zurückfahren würde. „Wir müssen aussteigen“, sagte Javier plötzlich. Er wirkte irgendwie blass um die Nase und Nick konnte nicht anders, als ein wenig enttäuscht zu sein. Nach dem Geständnis, das er gerade abgelegt hatte, hatte er eigentlich gehofft … Ein wenig konfus und mit einem Stein im Magen drehte er sich um und stieg aus dem Zug, Javier auf den Fersen. Er sah sich nicht um und kämpfte sich durch die Menschenmassen, die den Bahnsteig bevölkerten, ein jeder auf dem Weg in eine eigene Richtung, eine eigene Zukunft. Und er, er hatte gehofft, dass er und Javier … dass sie … Er stoppte abrupt, als ihn eine Hand festhielt und zu sich herumdrehte. „Nick, warte doch mal. Ich … Es tut mir leid. Das kam gerade so plötzlich. Ich hatte irgendwie nicht damit gerechnet und der Zug und alles …" Javier stockte und blickte Nick aus großen, braunen Augen an. „Ich möchte … ich möchte dir auch etwas sagen, aber ich … ich traue mich nicht so recht.“ Nick fühlte, wie sich die Schmetterlinge in seinem Bauch wieder zu regen begannen und ganz leicht mit den Flügeln schlugen. Er zog Javier an sich und legte die Arme um ihn. „Wenn du möchtest, kannst du es ja mal auf Spanisch probieren. Da gibt es doch bestimmt noch mehr Tiere, die du dafür bemühen kannst als Pferde und Forellen.“ Javier überlegte für einen Augenblick, dann lachte er leise. „Da wäre tatsächlich etwas.“ Er drückte den Rücken durch, hob den Kopf, sah Nick tief in die Augen und verkündete feierlich: „Quisiera ser gato, para pasar sietr vidas a tu lado.“ Nick hob fragend die Augenbrauen. „Und das heißt?“ „Ich wäre gerne eine Katze, damit ich sieben Leben an deiner Seite verbringen kann.“ „Im Ernst?“ Nick musste ein bisschen schmunzeln. Er zog Javier noch ein bisschen näher. „Ich würde das auch gerne.“ Javier atmete tief durch. „Nick?“ „Ja?“ „Te amo.“ Die Schmetterlinge flogen auf und zogen breite Regenbogenbahnen durch die gläserne Kuppelhalle des Bahnhofs, als würden sie sie mit tausend bunten Lichtern erfüllen. Es war fast wie in diesem Rapunzelfilm von Disney nur besser, weil es echt war und nicht gezeichnet. Und es fühlte sich wunderbar an. „Ich dich auch“, flüsterte Nick noch einmal, bevor er Javier in einen Kuss zog und ihn in den nächsten fünf Minuten auch nicht mehr losließ, bis ihn irgendwann ein Gepäckwagen unsanft am Knöchel streifte. Der Mann, dem der Wagen gehörte, murmelte irgendwas und eilte dann weiter. Nick verzog schmerzerfüllt das Gesicht und massierte das malträtierte Körperteil. Javier sah dem Mann nach und schickte ihm einen saftigen, spanischen Fluch hinterher, von dem Nick annahm, dass ihm, wenn er ihn verstanden hätte, vermutlich ziemlich die Ohren geschlackert hätten. Er grinste, als sie anfingen, langsam in Richtung Ausgang zu gehen. „Weißt du was, ich wünsche mir zwei Sachen von dir zu Weihnachten.“ Javier, der immer noch die Stirn kraus gezogen hatte, ließ seine Augenbrauen nach oben schnellen. „Gleich zwei Sachen? Na du bist mir ja einer.“ Nick lachte auf. „Ja, zwei. Zum einen möchte ich ein gescheites Spanisch-Wörterbuch. Ich will endlich verstehen können, mit was du da immer um dich schmeißt.“ Javier grinste. „Ich bin mir nicht sicher, ob es eins mit so vielen Schimpfwörtern gibt.“ „Dann streng dich halt an und such eins“, erwiderte Nick und Javier nickte. „Okay, gebongt. Und was ist das zweite?“ „Ich möchte, dass du dir einen Studienplatz suchst.“ Javier blieb wie vom Blitz getroffen stehen. „Was?“, krächzte er, aber Nick ließ sich von seinem entsetzten Gesicht nicht beirren. „Du hast mich gehört. Ich möchte, dass du auch anfängst zu studieren. Du bist verdammt intelligent und das weißt du auch. Und ich … ich möchte einfach nicht der einzige, arme Student in unserer Beziehung sein. Ich will, dass wir zusammen nochmal die Schulbank drücken.“ Javier blies die Backen auf und ließ langsam die Luft entweichen. Dann lachte er plötzlich. „Was ist los?“, fragte Nick. „Na mir ist gerade eingefallen, dass es in Spanien die Geschenke erst am 6. Januar gibt. Da habe ich ja noch ein bisschen mehr Zeit, um mich zu entscheiden, ob du das bekommst oder lieber ein paar sexy Unterhosen.“ Nick konnte nicht anders, er musste ihn schlagen. Ganz fest, damit er nicht vergaß, dass Nick darüber keine Witze hören wollte. Javier rieb sich grinsend den Arm und klagte: „Ich hab doch gesagt, ich steht nicht auf Schmerzen.“ Er kam einen Schritt näher, schmiegte sich an Nick und zog ihn ein wenig zu sich herab, um ihm ins Ohr zu hauchen: „Aber ich zeige dir gerne mal, was du mit deiner scheußlichen Krawatte mit mir anstellen darfst. Ich glaube, das würde dir gefallen.“ Nick spürte ein interessantes Kribbeln durch seine Lenden huschen und presste noch einmal seine Lippen auf Javiers Mund, bevor sie beide zusammen endlich den Bahnhof verließen, um eine neue Jacke für Javier zu kaufen. Und gleich morgen würde er zu Renata gehen und ihr sagen, dass er in den Zeitvertrag einwilligte. Er hatte keine Ahnung, ob es eine gute Idee war, was er da vorhatte, aber er wusste, dass er das nicht alleine durchstehen musste. Er hatte Javier und auch seine Eltern würden ihn sicherlich unterstützen, wenn sie hörten, dass er sich nun doch entschlossen hatte, sein Studium wieder aufzunehmen. Und vielleicht … vielleicht erfüllte Javier ja tatsächlich seinen zweiten Weihnachtswunsch. Die Vorstellung gefiel ihm und er legte den Arm ganz fest um Javier, damit er ihm nicht doch noch entkam, sein ganz persönlicher, spanischer Regenbogenforellerich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)