Tatsächlich schwul von Maginisha ================================================================================ Kapitel 19: Familienrat ----------------------- „Haben Sie den hier auch in 70 E?“ Javier blickte von den Slips auf, die er gerade wieder auf Bügel beförderte. Nick hatte wirklich nicht übertrieben; Samstag war die Hölle. Nicht nur, dass so viele Kundinnen kamen wie sonst die ganze Woche über zusammen, nein, sie hinterließen auf ungefähr dreimal so viel anprobierte Wäsche, von der Javier die zweifelhafte Ehre hatte, sie wieder in eine präsentable Form zu bringen und auf die richtigen Ständer zu sortieren. Es war zwar ohne Zweifel so, dass er dadurch langsam ein Gefühl dafür bekam, wo sich was im Laden befand, aber es setzte ihn mit genauso zielsicherer Unfehlbarkeit dem Blick der Kundinnen aus, die ihn sogleich mit Fragen überschütteten. Fragen, die er nicht beantworten konnte. Nein, er wusste nicht was ein Bandeau-Top war und ob es im „El Corpiño“ auch Minimizer-BHs gab. Dass es BHs ohne Träger gab, war ihm zwar bekannt, aber dass es die auch als „Multiway und abnehmbar“ gab, absolut neu. Es erschloss sich ihm auch nicht, wo der Vorteil eines T-Shirt-BHs lag, und dass es BHs mit Frontverschluss gab, war für ihn bis vor fünfzehn Minuten noch ein großes Geheimnis gewesen. Nicht davon anzufangen, dass er den Überblick verloren hatte, was nun unter einem „Brazilian“ zu verstehen war und wie sich dieser von einem „Hipster“ unterschied und dass es G-, T- und normale Strings zu geben schien und außerdem noch sogenannte „Bauchweg-Panties“, vor deren Verkauf er jedoch unter einem Vorwand geflüchtet war. Die weitaus häufigste Frage war allerdings die nach einer anderen Größe. Er wusste wirklich nicht, warum er sich eigentlich die Mühe machte, den Kram wieder richtig einzusortieren, wenn die Schilder, die gut sichtbar und leserlich an den Ständern angebracht waren, offensichtlich nicht ausreichten, um die Kundinnen in die Lage zu versetzen, sich die gewünschten Stücke einfach selbst rauszusuchen. Obwohl er zugeben musste, dass es solche Exemplare auch gab. Die kamen rein, wollten „nur mal gucken“, nahmen ein oder zwei Stücke mit in die Kabinen, und kamen nur wieder damit heraus, um sich zügig zur Kasse zu begeben und diese zu bezahlen. Er dankte dem Herrn im Himmel dafür, dass es davon eine ausreichende Anzahl gab. Ansonsten wäre er vermutlich bereits nach zwei Stunden im Laden zusammengebrochen. Jetzt jedoch hing immer noch ein Stück aus dunkelblauer Spitze vor seiner Nase und wartete auf eine Antwort. Er schluckte die Frage hinunter, ob die Dame schon auf dem entsprechenden Ständer geguckt hatte, und nahm den BH entgegen. „Ich gehe mal nachsehen“, sagte er und verschwand damit in Richtung Lager. Dort angekommen schloss er die Tür hinter sich und ließ sich erschöpft dagegen sinken. Er überlegte, ob er Nick eine Nachricht schreiben und ein bisschen rumheulen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Nach Nicks Aussage waren die schlimmsten Samstage ohnehin die in der Adventszeit. An diesen waren alle dazu entschlossen, ihr sauer verdientes Geld für alle möglichen Dinge, die sie schön fanden, aber eigentlich nicht brauchten, unters Volk zu streuen. Außerdem gab es Ende November für viele Weihnachtsgeld, sodass die Euros besonders locker saßen. Vermutlich konnte er sich also noch glücklich schätzen, dass heute nur ein „normaler“ Samstag war, auch wenn ihm bestimmt tausend Dinge eingefallen wären, die er lieber gemacht hätte, als hier den Aufräumer und wandelndes Auskunftsbüro zu spielen. Zum Beispiel mit Nick noch eine Wiederholung des gestrigen Abends zu probieren. Gott, das war so … Er fand keine Worte dafür. Zuerst die Tatsache, dass er es ihm tatsächlich mit dem Mund gemacht hatte. Javier war fast aus allen Wolken gefallen deswegen. Von dem Anblick würde er wahrscheinlich noch wochenlang träumen. Aber dann … Das Gefühl von Nick in seinem Rücken, seine Hände auf seinem Körper, die absolute Sicherheit von ihm begehrt zu werden und das auf mehr als eine Art, das alles ließ ihn fast ein bisschen über dem Boden schweben. Mit Nick zusammen war alles einfach wunderbar. Sogar morgens mit Spermaspuren an den Beinen aufzuwachen, weil irgendein fröhlicher, elektronischer Weckton durch den Raum schallte, um ihn aus seinem gemütlichen Bett zu schmeißen. So was hatte er noch nicht erlebt. Natürlich hatte er schon so manche Nacht nicht in seinem eigenen Bett verbracht. Manchmal war der Morgen danach auch noch sehr nett gewesen oder hatte sogar in Runde Zwei geendet. Trotzdem war spätestens, wenn die Tür hinter ihm zufiel, die Euphorie von ihm abgefallen und er hatte wieder geradeaus denken können. Mit Nick kam er sich vor wie ein Herzaugen-Emoji auf zwei Beinen. Es war fast schon ein bisschen albern. Mit einem Seufzen sah er auf den BH in seinen Händen hinab. Er musste wieder da rausgehen und so tun, als habe er leider, leider nichts finden können. Dabei hätte er nur zu gerne noch ein bisschen hier gestanden und an den gemeinsamen Morgen gedacht. Im Nachhinein war er Nick dankbar gewesen, dass dieser sie so früh hatte wecken lassen. So war genug Zeit gewesen für ein bisschen Rumknutscherei im Bett, die ziemlich schnell in eine gemeinsame Dusche übergegangen war. Dort hatten sie es zwar nicht bis zum Ende durchgezogen, aber die Vorteile von warmem Wasser und Seife, die sie sich gegenseitig auf ihren Körpern verteilt hatten, waren nicht von der Hand zu weisen gewesen. Allein die Erinnerung daran, wie Nick sich tatsächlich getraut hatte, ihn ein wenig mit den Fingern zu erkunden, ließ Javier fast instant hart werden. Oh Scheiße! So konnte er doch jetzt da nicht wieder rausgehen. Was sollte die Kundin sonst denken? Ein Klopfen ließ ihn auffahren. „Javier, bist du da drin?“ Verdammt, seine Tante! Wenn die ihn jetzt hier so erwischte, war sicherlich eine Gardinenpredigt fällig. „Ja, ich suche nach einem BH.“ „Ich habe der Kundin inzwischen schon gebracht, wonach sie verlangt hat. Ist alles in Ordnung mit dir?“ Er schickte nochmal ein kleines Dankgebet nach oben, dass sie in der Lage waren, sich zu unterhalten, ohne dass jemand verstand, worum es ging. „Ja, Tante. Es ist alles in Ordnung. Ich brauche nur noch einen kleinen Moment. Mir ist ein bisschen schwindelig.“ Vor Glück. „Hast du auch genug gegessen?“ „Ja hab ich.“ Hatte er wirklich. Nach der Dusche hatten Nick und er zusammen ausgiebig gefrühstückt. Kalte Pizza und Nutellatoast passten besser zusammen, als man auf den ersten Blick denken sollte. Vor allem, wenn er Nick danach von den Spuren des letzteren befreien konnte, indem er sich auf seinen Schoß setzte und ihm die Schokolade aus den Mundwinkeln leckte. Dieser Kerl konnte aber auch wirklich gut küssen … Javier schlug sich innerlich mit der flachen Hand vor die Stirn. Er sollte doch runterkommen und nicht noch weiter über Nick phantasieren und an welchen Stellen er am liebsten noch Dinge von ihm herunterlecken wollte. Das war nun wirklich zu dämlich und absolut unhilfreich. „Dann trink etwas. Du musst genug trinken.“ „Ja, Tante, mache ich.“ Und jetzt verschwinde bitte, bitte, damit ich mich aufs Klo schleichen und mir einen runterholen kann. Im Moment sah er wirklich keine andere Möglichkeit, um das Problem loszuwerden. Er fragte sich, wie Nick es geschafft hatte, hier im Geschäft immer so ruhig zu bleiben. Bei der Vielzahl an Reizen, die sich für einen heterosexuell interessierten Mann im „El Corpiño“ boten, musste das wirklich ein Riesenmaß an Disziplin gekostet haben. Oder er hat sich halt in der Mittagspause auch immer einen von der Palme gewedelt. Der Gedanke ließ Javier grinsen. Und im nächsten Moment schämte er sich ein bisschen deswegen. Vermutlich war Nick da viel tugendhafter als er. Hoffentlich hielt er ihn nicht irgendwann für sexsüchtig. Es war ja nicht so, dass er nur Sex mit ihm haben wollte. Er musste nur ziemlich oft daran denken, weil es einfach unheimlich schwer war, die Finger von Nick zu lassen. Er hatte ständig das Bedürfnis, ihn anzufassen, zu küssen und sich in seiner unmittelbaren Nähe aufzuhalten. Ja sogar der unbeabsichtigte Tritt, den Nick ihm in Restaurant verpasst hatte, oder der Klaps heute morgen auf seinen Hintern, als er sich nicht schnell genug zur Arbeit bewegt hatte, zählten dazu. Dabei war Nick doch selber Schuld daran gewesen, dass er spät dran war. Immerhin hatte Javier ihn erst lang und breit davon überzeugen müssen, dass das mit dem „du würdest eine gute Ehefrau abgeben“ nicht böse gemeint gewesen war. Er hatte ihn doch nur ein bisschen aufziehen wollen, weil er ihm Frühstück gemacht und sein Shirt gewaschen hatte. Das Shirt, das sich jetzt fast wie eine permanente Umarmung um seinen Körper spannte und nach Nicks Waschmittel roch, sodass er ständig in Versuchung war daran herumzuschnüffeln. Er war echt so was von verschossen, das ging auf keine Kuhhaut mehr. Aber immerhin hatten die letzten Gedankengänge dabei geholfen, den lästigen Ständer wieder abschwellen zu lassen, sodass er jetzt das Lager verlassen und sich erneut in den samstäglichen Einkaufswahnsinn stürzen konnte. „Javier, ich will mit dir reden.“ Ein wenig erstaunt sah er von seinem Mittagessen auf. Eigentlich hatte er angenommen, dass er jetzt für ein paar Minuten seine Ruhe hatte, zumal seine Tante ja das Geschäft überwachen musste, während sie allein war. Aber anscheinend hatte sie die Vordertür doch einfach zugesperrt, um ihm jetzt hier in der engen Teeküche aufzulauern. Die Tatsache, dass sie Empanadas gemacht und mitgebracht hatte, hätte ihn eigentlich schon stutzig werden lassen sollen. Seine Tante kochte im Gegensatz zu seiner Mutter nicht besonders gern und wenn sie sich extra in die Küche stellte, um ihn während der Mittagspause hierzubehalten, musste es dafür einen Grund geben. Zumal sie selbst normalerweise mittags nur einen Salat zu sich nahm. Er war ihr voll in die Falle getappt. „Und worüber?“, fragte er und konzentrierte sich darauf, eine weitere Teigtasche aus der Tupperdose zu angeln. Die waren wirklich gut, musste er feststellen. Sie hatte sich alle Mühe gegeben. „Deine Mutter hat gestern angerufen.“ Der Bissen, den er gerade noch herunterschlucken wollte, sperrte sich plötzlich und wollte einfach nicht weiter rutschen. Er griff nach seinem Glas und kippte fast die Hälfte des Inhalts herunter. Danach war es besser. „Und was wollte sie?“ „Wissen, wie es dir geht. Und dich eigentlich sprechen. Ich musste ihr sagen, dass du nicht da bist.“ Er zuckte mit den Schultern. „Das kennt sie ja schon von mir.“ „Javier!“ Ihre Stimme zerschnitt die Luft wie eine Peitschenschnur. „Hör endlich auf, dich wie ein rotziger 12-Jähriger zu benehmen. Du bist 20 Jahre alt. Du hast eine Verantwortung deiner Familie gegenüber. Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, was für Sorgen sich deine Mutter macht? Wie oft sie sich nachts in den Schlaf weint? Wie sehr dein Vater fürchtet, dass du auf die schiefe Bahn geraten könntest? Wie kannst du nur so egoistisch sein?“ So langsam stieg Wut in ihm hoch. Er wusste, dass seine Tante ein wenig übertrieb. Seine Mutter weinte sich nicht in den Schlaf. Zumindest nicht, soweit er wusste. Natürlich machte sie sich Sorgen, das war ihm bewusst. Aber er sagte ihr doch immer wieder, dass es dazu keinen Grund gab. Außerdem ahnte er, dass sie immer noch glaubte, das das mit dem Schwulsein nur eine Phase war. Nur deswegen ließ sie ihn wahrscheinlich überhaupt so viel herumziehen. Sie hoffte, dass er irgendwann genug davon hatte und sich doch eine nette Frau suchte und ihr ein paar Enkelchen bescherte. Und sein Vater? Der wollte ihn lediglich als fleißigen Teil der arbeitenden Bevölkerung sehen. Was das anging konnte sich ja nun momentan wirklich niemand beschweren. Er arbeitete doch! Was wollten sie denn noch? „Ich tue doch schon alles, was ihr von mir verlangt. Ich bin hier, ich arbeite, ich bemühe mich. Ich bin sogar heute Morgen pünktlich gekommen.“ „Was, wie ich vermute, nicht dein Verdienst war.“ Die Augenbrauen seiner Tante bildeten eine zornige Linie. „Warst du wieder bei Nick?“ „Und wenn?“ „Javier!“ Er rollte mit den Augen. „Ja. War ich. Und wenn du sichergehen willst, dass ich auch nächste Woche noch pünktlich komme, stell ihn doch einfach wieder ein. Dann hast du eine Sorge weniger.“ Sie seufzte und ließ sich endlich auf einem Stuhl nieder, statt die ganze Zeit nur wie ein fleischgewordener Racheengel in der Tür herumzustehen. Vermutlich um seine Flucht zu verhindern. „Das ist nicht so einfach. Ich muss da erst noch einige Dinge in Erfahrung bringen, bevor ich mich entscheide.“ „Aber er ist gut!“, rief Javier aufgebracht. „Er managt den Laden da draußen mit links selbst ohne Lisa. Wie soll denn das laufen, wenn er nicht wiederkommt? Willst du ihn dann einfach ersetzen?“ Sie seufzte erneut. „Ich weiß es nicht. All diese Dinge kann man nicht einfach aus dem Bauch heraus entscheiden. Ich habe eine Verantwortung.“ „Nick gegenüber hast du auch eine Verantwortung. Er ist doch nicht einfach irgendwer. Er ist ...“ Javier fehlten die Worte. Er wusste, dass er recht hatte. Er wusste aber auch, dass er in dieser Frage nichts zu melden hatte. Diese Entscheidung oblag ganz allein seiner Tante. Er atmete tief durch. Einen Streit vom Zaun zu brechen, würde Nick auch nicht helfen. „Nick ist ein guter Mensch. Er hat nicht verdient, dass du ihn so behandelst.“ Seine Tante sah ihn an. „Du magst ihn wirklich gern, oder?“ Er spürte, wie ihm warm wurde. Gern war ja gar kein Ausdruck. „Ist da noch etwas, das ich wissen sollte?“ Javier biss sich auf die Zunge. Bisher hatte er noch nichts davon erwähnt, dass er und Nick … Seine Tante hätte ihn vermutlich ohnehin für verrückt erklärt. Immerhin war er es doch gewesen, der ihr erst eröffnet hatte, dass Nick nicht schwul war. Wenn er jetzt zugab, dass er etwas mit ihm angefangen hatte und Nick seine Zuneigung sogar erwiderte, brachte er sich damit in echte Erklärungsnot. Er konnte es selbst ja manchmal noch gar nicht so recht glauben. Seine Tante sah ihn immer noch fragend an und er wusste plötzlich, dass er sie nicht würde anlügen können. Hatte er noch nie gekonnt. Es war irgendwie so, wie wenn man versuchte, bei der Beichte zu schummeln. Man konnte es sich vornehmen, aber wenn man dann auf den Knien im dunklen Beichtstuhl saß, kam es doch irgendwie heraus. Nicht, dass er da in den letzten Jahren besonders häufig gewesen wäre, aber er erinnerte sich noch sehr gut an das Gefühl, dass er als kleiner Junge dabei gehabt hatte. Seine Tante hätte vermutlich einen ganz wunderbaren Padre abgegeben. „Ich … also … wir haben …“ „Ja?“ „Es ist kompliziert.“ „Ich verstehe eine ganze Menge.“ „Aber ich kann es dir nicht erklären.“ Sie seufzte erneut und sah ihn mit vage amüsierter Miene an. „Mein lieber Javier, ich bin vielleicht eine alte Frau, aber blind bin ich nicht.“ Er lächelte, als sie das Kinderbuch zitierte, dass sie ihm früher manchmal vorgelesen hatte. Wie lange war das jetzt schon her? „Und ich erkenne, wenn mir ein verliebter, junger Gockel vor den Füßen herumläuft und den Betrieb aufhält.“ Sein Kopf ruckte nach oben. Er war sich sicher, dass er gerade etwas blass geworden war. Woher wusste sie …? Seine Tante begann zu lachen. „Nun schau sich einer das junge Gemüse an. Ja meinst du denn, ich war nicht mal jung? Auch wenn du es nicht glaubst, aber diese Zeit hat es tatsächlich gegeben. Ich war jung und verliebt. In deinen Onkel, wenn du es genau wissen willst. Er war so ein stattlicher Mann, der Sohn eines Nachbarn. Wir kannten uns schon seit Ewigkeiten, aber als er anfing, mir den Hof zu machen, da wusste ich sofort, dass er der Eine ist. Und auch wenn ihr äußerlich wirklich wenig gemein habt, erkenne ich doch diesen Blick, den er damals gehabt hat, in dir wieder.“ Javier verzog den Mund. Er kannte seinen Onkel fast nur noch von Bildern. Der hagere, große Mann mit dem sorgfältig gepflegten Bart war gestorben, als Javier noch sehr klein gewesen war. Ein Autounfall, an dem ihn keine Schuld getroffen hatte. Er war auf der Stelle tot. Seine Tante hatte damals ein ganzes Jahr lang schwarz getragen. Danach hatte sie die Trauerkleidung abgelegt und ein neues Leben begonnen. Sie hatte ein Ladengeschäft gekauft und sich mit dem „El Corpiño“ selbstständig gemacht, obwohl ihr alle geraten hatten, doch wieder in den Schoß der Familie zurückzukehren. Wenn er richtig rechnete, musste sie damals so Mitte 30 gewesen sein. Im Grunde genommen kein Alter, um nicht noch einmal eine neue Beziehung einzugehen. Trotzdem war sie seit dem allein geblieben. „Und was wäre, wenn ich so gucken würde wie Onkel Alonso? Nur mal rein hypothetisch.“ Sie legte den Kopf ein wenig schräg und sah ihn milde an. „Dann müsste ich dir wohl sagen, dass du dich da in etwas verrennst. Javier, du hast mir doch selber erzählt, dass Nick ...“ Er unterbrach sie einfach. „Ja, ich weiß, was ich gesagt habe, aber … ich habe mich geirrt. Oder auch nicht. Keine Ahnung. Die Sache ist die, dass ich und Nick … also … wir haben … wir haben uns geküsst. Und nicht nur das. Und er … er erwidert meine Gefühle … glaube ich.“ Die letzten Worte waren mit etwas weniger Überzeugung gekommen. Sie hatten irgendwie nicht darüber gesprochen, aber im Grunde war das doch offensichtlich. Nick hätte kaum mit ihm … na ja fast mit ihm geschlafen, wenn er nicht ebenso empfinden würde. So ein Typ war Nick einfach nicht. Nick war anders als alle Kerle, mit denen er sich bisher getroffen hatte. Und er sorgte dafür, dass Javier nicht nur sprichwörtlich gegen Laternenpfähle lief. Unauffällig schielte er zu seiner Tante hinüber, die immer noch kein Wort gesagt hatte. Es war schwer, aus ihrem Gesichtsausdruck etwas herauszulesen. War sie jetzt wütend? Enttäuscht? Entsetzt? Von allem etwas? Warum sagte sie denn nichts? Endlich regte sich etwas auf der anderen Seite des Tisches. Seine Tante schüttelte langsam den Kopf und atmete hörbar aus. „Ich glaube, ich brauche jetzt wirklich einen Schnaps. Ihr Kinder bringt mich noch ins Grab und das meine ich wortwörtlich.“ Sie sah zu Javier hinüber. „Und du sagst das auch nicht nur so, damit ich Nick wieder einstelle?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, Tante Nata. Nick und ich sind wirklich …" Fast hätte er gesagt zusammen, aber das war irgendwie noch zu viel trotz allem, was schon so gelaufen war. Allerdings war da eine kleine Stimme in ihm, die ihn darauf hinwies, dass es schön gewesen wäre, wenn er es hätte sagen können. Aber er zischte sie an, dass sie still sein sollte. Er konnte doch immer noch kaum fassen, dass er Nick jetzt hatte. Die Vorstellung, dass er ihn vielleicht sogar behalten wollte und konnte, war jedoch immer noch so abstrakt und so voller Fragezeichen, dass er sich weigerte, sich darüber Gedanken zu machen. Da waren einfach zu viele Wenns und Abers. Über so etwas nachzudenken war eher Nicks Stärke. Er selbst war mehr jemand, der den Augenblick genoss, ohne sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Immerhin wurde die halbe Welt ja nicht müde, ihm genau das immer wieder vorzuwerfen, also war wohl etwas dran. Er räusperte sich. „Und stellst du ihn nun wieder ein?“ Sie begann zu lachen. „Also eins muss man Nick ja lassen. Er sorgt dafür, dass du anfängst, dir auch mal über jemand anderen Gedanken zu machen als nur über dich selbst.“ Er versuchte ein böses Gesicht zu machen anhand dieser Unterstellung, aber er konnte es nicht. Er wollte, dass Nick glücklich war und dass er wieder hier arbeiten konnte und dazu war es sicher hilfreich, wenn seine Tante eine möglichst gute Meinung von ihm hatte. „Ja, Nick ist tatsächlich sehr pflichtbewusst. Ein ganz tolles Beispiel für mich. Du solltest ihn wirklich wieder in den Schoß der Familie aufnehmen, damit du ihn mir dreimal am Tag unter die Nase halten und mich fragen kannst, wann ich endlich mal ein bisschen mehr werde wie er. Papá würde ihn bestimmt auch mögen.“ Er zögerte bevor er hinzusetzte: „Mama vielleicht auch.“ Seine Tante sah ihn an und um ihre Augen erschienen eine Menge Falten, die sie bestimmt geleugnet hätte, als sie lächelte. „Ich sehe schon, wie immer ich mich entscheide, Nick wird mir in meinem Leben wohl noch ein wenig erhalten bleiben. Aber trotzdem werde ich mich nicht jetzt sofort entscheiden. Es geht einfach nicht. Außerdem müssen wir das 'El Corpiño' so langsam mal wieder öffnen, sonst kostet ihr zwei mich nicht nur Nerven sondern auch noch jede Menge Geld.“ „Ist recht, Tante Nata.“ Er sprang auf, wischte sich die Hände an der Hose ab und ging um den Tisch herum. Bevor seine Tante wusste, was geschah, hatte er ihr einen Kuss auf die Wange gedrückt. „Du wirst es bestimmt nicht bereuen.“ „Ich habe doch noch gar nicht 'Ja' gesagt", protestierte sie. „Aber du wirst doch deinem Lieblingsneffen nicht diesen einen, klitzekleinen Wunsch abschlagen, oder?" Er versuchte sich an Hundeaugen. Seine Tante seufzte schon wieder und strich ihm über den Kopf, so wie sie es früher immer gemacht hatte. „Ich sagte, ich überlege es mir. Nächste Woche gibt es eine Entscheidung. Richte Nick das bitte aus." „Jetzt gleich?" Hoffnungsvoll irrte sein Blick in Richtung Tür. Seine Tante sah ihn an, als hätte er gefragt, ob er mal eben mit den Tageseinnahmen in die Karibik fliegen könnte. „Nein, natürlich erst nach Feierabend. Ich nehme nicht an, dass du heute Nacht zu Hause schläfst?" Er grinste. "Könnte sein. Wir wollen heute Abend ausgehen." „Dann benimm dich anständig. Nicht, dass du Nick gleich wieder vergraulst." „Das werde ich nicht." Hoffentlich nicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)