Tatsächlich schwul von Maginisha ================================================================================ Kapitel 14: Bewährungsprobe --------------------------- Nick lag im Bett und dachte an Javier. Er hätte gerne behauptet, dass es furchtbar philosophische Betrachtungen waren, die sich mit dem Wesen und dem Charakter des jungen Mannes mit der spanischen Abstammung befassten. Aber eigentlich dachte Nick nur daran, wie er ausgesehen hatte, als er halbnackt in der Küche herumgehüpft war. Und dass er ihn dabei angestarrt hatte, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt. Außerdem war er sich ziemlich sicher, dass er heute Nacht von ihm geträumt hatte. Und er war sich nicht sicher, ob die fast schon schmerzhaft harte Erektion, mit der er heute Morgen aufgewacht war, nicht vielleicht doch etwas mit diesem Traum zu tun hatte.   Dabei hatte er nun wirklich andere Dinge, die ihm im Kopf hätten herumspuken müssen. Sein Gespräch mit Alexandra vom Abend zuvor beispielsweise. Er war, gelinde gesagt, erstaunt gewesen, als sie plötzlich vor seiner Tür gestanden hatte. Noch erstaunter war er gewesen, als sie ihm erzählt hatte, dass es Javier gewesen war, der sie dazu bewegt hatte, sich bei Nick zu melden. Irgendwann an dem Punkt war Alex in Tränen ausgebrochen und hatte sich weinend bei ihm entschuldigt, dass sie so unfair zu ihm gewesen war und das das alles ein bisschen viel auf einmal gewesen wäre. Er hatte ihr die Küchenrolle gegeben und dann hatten sie geredet. Das hieß, eigentlich hatte Nick geredet und Alexandra hatte zugehört. Es war ihm beim zweiten Mal schon leichter gefallen, die Geschichte wiederzugeben, die er zuvor bereits Javier erzählt hatte. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand einem anderen so etwas antun kann“, hatte Alexandra gemeint und Nick mit unendlich mitleidigen Augen angesehen. „Warum hast du ihr nicht die Meinung gesagt und verlangt, dass sie wenigstens das Bild löscht?“ Nick hatte keine Antwort darauf gehabt. Nach seiner Flucht hatte er die Seite ein ums andere Mal angesehen, bis sie schließlich irgendwann vom Netz genommen worden war. Ob aus Einsicht von Katja oder aus dem Grund, dass jemand getan hatte, wozu er nicht den Mut gehabt hatte, wusste er nicht. Aber es hatte geholfen, ihn Dinge vergessen zu lassen. Am Ende war es zwischen ihm und Alex fast wieder so wie früher gewesen. Allerdings nur fast, weil Alexandra gemeint hatte, dass sie sich schon irgendwie noch an den Gedanken gewöhnen müsse, dass der Mann, der sie bereits diverse Male ziemlich leicht bekleidet gesehen hatte, ihren Reizen nicht ganz so verschlossen war, wie sie angenommen hatte. „Das muss doch total anstrengend für dich gewesen sein.“ Nick hatte nur leicht mit den Schultern gezuckt. „Na ja ... nein. Anfangs schon, aber dann warst du halt einfach nur eine Freundin.“ Er hatte kurz überlegt und dann hinzugefügt: „Aber vielleicht könntest du in Zukunft deine ... ähm ... Sessions von der Badewanne ins Schlafzimmer verlegen. Da gibt es so ein Rohr in der Wand, durch das man ganz genau hören kann, was im anderen Raum passiert.“ Alexandra hatte einen Augenblick gebraucht, um zu verstehen, was er meinte. Anschließend war sie erst blass und dann rot geworden und dann hatten sie beide gelacht und sich ein wenig umständlich in den Armen gelegen. Nick war sich sicher, dass es noch Zeit brauchen würde, bis sich das alles neu sortiert hatte. Es war … ein wenig unangenehm, aber trotzdem irgendwie befreiend, dass er jetzt nicht mehr so tun musste, als ob.   Und nun lag er im Bett und phantasierte von Javier. Nick rieb sich mit der Hand über die Augen. „Was für eine Scheiße“, murmelte er und stellte beiläufig fest, dass anscheinend auch schon Javiers Sprache auf ihn abfärbte. „Wenn ich mir am Samstag einfach die Kante gegeben hätte und am nächsten Morgen mit ihm zusammen im Bett aufgewacht wäre, wäre es einfacher. Aber nein, ich musste es ja kompliziert machen.“ Er seufzte abgrundtief und überlegte, ob er jetzt wirklich aufstehen musste, als sein Handy im Wohnzimmer einen Ton von sich gab. Sofort war er auf den Füßen und entsperrte eilig den Bildschirm. Es war allerdings nur eine Nachricht von Rainer.   Denkst du noch an den Kurs heute Abend? 19 Uhr geht's los.   Nick tippte eine positive Antwort und ließ das Gerät nach dem Abschicken auf das Sofa fallen. Er setzte sich daneben und schüttelte über sich selbst den Kopf. Was hatte er denn gedacht? Dass er eine Nachricht von Javier bekam, nur weil er die ganze Zeit an ihn dachte? Außerdem bezweifelte er, dass Alex in ihrem gestrigen Zustand daran gedacht hatte, Javier Nicks Nummer zu geben. Warum auch? Sie waren ja schließlich nicht befreundet. Oder doch? Immerhin hatten sie sich gegenseitig ihre Lebensgeschichte erzählt und zwar ohne, dass dabei auch nur ein einziger Tropfen Alkohol geflossen war. Das machte sie doch bestimmt zu … irgendwas. Zu was genau vermochte Nick allerdings nicht zu sagen. Zumal er seine Faszination für die körperliche Attraktivität nicht verstand. Wenn mir das irgendeiner erzählen würde, würde ich ihm vermutlich einen Vogel zeigen und ihm sagen, dass er einfach nur notgeil ist. Ich frage mich, wie Leute es schaffen, im Zölibat zu überleben. Die sind wahrscheinlich spirituell viel weiter als ich.   Er kämpfte gerade mit sich, ob er sich erheben und duschen gehen sollte, als es an der Tür klingelte. Nick sah auf die Uhr und runzelte die Stirn. Es war halb neun. Wer sollte um diese Uhrzeit etwas von ihm wollen? Ob Alex nochmal vorbeigekommen war, bevor sie zur Arbeit ging? Sie hatte diese Woche Frühschicht und musste daher schon um neun im Fitnessstudio sein. Sicherheitshalber huschte Nick noch ins Bad, um sich seinen Bademantel über den Schlafanzug zu ziehen, bevor er an die Tür ging. Als er öffnete, stand Javier draußen. „Du musst mitkommen.“ „Äh ...“ antwortete Nick äußerst eloquent. Irgendwie war er gerade zu nichts weiter fähig, als denjenigen anzustarren, der schon den ganzen Morgen durch seine Gedanken geisterte. Warum war ihm vorher eigentlich nie aufgefallen, was für lange Wimpern Javier hatte? Und dass sich seine vollen Lippen immer ein wenig spöttisch zu kräuseln schienen? Obwohl das auch daran liegen konnte, dass Nick gerade einfach nur vor ihm stand und ihn anglotzte wie ein exotisches Tier im Zoo. Schon wieder. „Wohin?“, fand Nick seine Sprache so weit wieder, dass es mit sehr fest zusammengekniffenen Augen vielleicht als Gespräch durchgehen konnte. „Ins 'El Corpiño'. Meine Tante hat gerade mit Lisa telefoniert, als ich weg bin. Die hat sich wohl irgendwas eingefangen und kommt heute nicht. Bitte, Nick, du musst mich begleiten.“   Nick war immer noch nicht in der Lage, sich zu rühren. Wie kam es bloß, dass Javier es immer wieder schaffte, ihn in absolut unmögliche Situationen zu bringen, in denen Nick nicht wusste, wie er sich zu verhalten hatte? Bye-bye Komfortzone, DJ Destroyed Denim is in da house. Er schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht. Ich … ich bin noch gar nicht angezogen.“ „Dann ändere das!“ Javiers Ton schwankte irgendwo zwischen amüsiert und verzweifelt. Nickt atmete tief durch. „Deine Tante hat mich rausgeschmissen, wenn du dich mal erinnern könntest. Ich kann doch da jetzt nicht einfach so aufkreuzen, um … weswegen eigentlich?“ Javier sah ihn an, als wäre er ein bisschen begriffsstutzig. „Na um deinen Job wiederzubekommen. Ich wollte eigentlich mit ihr reden, aber als ich gestern nach Hause kam, war sie aus und ist erst total spät wiedergekommen. Und heute Morgen hab ich's irgendwie nicht auf die Reihe gekriegt. Tante Nata ist nicht so wirklich ein Morgenmensch, musst du wissen, und ich ...“ Javier verstummte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, die danach in einem sehr eigenartigen Winkel vom Kopf abstanden. Nick riss seinen Blick davon los und sah Javier wieder ins Gesicht. Der verzog den Mund zu einer schiefen Grimasse. „Ich versuche doch nur, die Scheiße wieder geradezubiegen, die ich da verbockt habe. Das Problem ist bloß ... ich kann das nicht so gut. Aber wenn du zu Tante Nata gehst und ihr erzählst, was du mir erzählt hast, dann stellt sie dich vielleicht wieder ein.“ Javier sah ihn bittend an. Nick zog den Bademantel fester um sich. Es war kalt hier draußen und seine bloßen Füße waren gerade dabei, sich in Eisklumpen zu verwandeln. Am liebsten hätte er die Tür wieder zugemacht. Aber was war mit Javier? Sollte er ihn draußen lassen oder hereinbitten? Was war es doch noch gleich, was man über Vampire sagte? Gefährlich wurde es erst, wenn man sie über die Schwelle bat. Vermutlich war es besser, ihn nicht einzulassen, aber irgendwie wurde Nick das Gefühl nicht los, dass es dafür ohnehin schon zu spät war. Er seufzte. „Komm erst mal rein. Es ist schweinekalt.“ Er ließ Javier vorbei und schloss die Tür. Einen Augenblick lang blieb er stehen, die Hände an das glatte, weißgestrichene Holz gelegt, und fragte sich, was er hier eigentlich gerade tat. War er wirklich bereit, sich auf Javiers Idee einzulassen? Sich auf dessen unerschütterliche Hoffnung zu stützen, dass doch noch alles gut werden würde? Wollte er wirklich diesem grünen Licht folgen, von dem er nicht wusste, ob er es jemals erreichen würde. Er lächelte, als ihm klarwurde, dass er gerade aus Gatsby zitiert hatte, ohne es zu wollen. Javier hatte offensichtlich noch mehr mit der Romanfigur gemein, als er ohnehin schon angenommen hatte. Trotzdem war da diese Angst. Was, wenn das Boot auf Grund lief? Wenn ihn das Vertrauen auf eine weitere Untiefe führte und ihn erneut stranden ließ. Was dann? „Ziehst du dir nun endlich was an?“ Javiers Stimme riss ihn aus seinen Betrachtungen. Er drehte sich um und sah, dass Javier ungeduldig in seiner Küche stand und darauf wartete, dass Nick endlich etwas tat, anstatt nur alles zu zerdenken. Er erinnerte Nick an einen Windhund kurz bevor das künstliche Kaninchen auf die Rennstrecke geschickt wurde. Aber Nick war der Gedanke, wie ein Bittsteller ins „El Corpiño“ zurückzukehren, unangenehm. Was, wenn Renata ihn gleich wieder rausschmiss? „Du hättest anrufen können.“ Angriff war ja bekanntlich die beste Verteidigung. Jetzt war es an Javier, nervös den Blick zu senken. „Hab deine Nummer nicht“, nuschelte er. „Und meine Tante wollte ich nicht fragen.“ „Was ist mit Alex? Sie hätte dir meine Nummer geben können.“ Er wusste, dass es unfair war, was er tat. Natürlich konnte Javier Alex nicht nach seiner Nummer fragen. Das wäre seltsam gewesen nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war. Er hätte umgekehrt auch nicht gefragt. Javier schwieg. Ziel erreicht. Doch Nick musste feststellen, dass er jetzt, wo er es geschafft hatte, eigentlich gar nicht wollte, dass Javier aufhörte zu reden. Er wollte weiter seine Stimme hören und sich von ihm mitreißen lassen zu irgendwelchen schwachsinnigen Aktionen, bei denen nichts Gutes herauskommen konnte, die ihm aber während ihrer Dauer ein unglaubliches Gefühl der Lebendigkeit gaben. Trotzdem wollte er gerne vorher gefragt und nicht einfach mit irgendwelchen Plänen überfahren werden. Vielleicht sollte er Javier das einfach mal sagen. „Sie war gestern hier“, sagte er stattdessen. So ein Gespräch führte man nicht im Stehen in der Küche. Während er noch im Bademantel war. „Alex meine ich. Wir haben … geredet.“ Javier hob den Kopf. „Bist du sauer, dass ich es ihr erzählt habe?“ Nick atmete kurz durch. Vermutlich hätte er es sein sollen, aber eigentlich war er nur froh, dass er und Alex es geschafft hatten, sich zusammen an einen Tisch zu setzen. Er schüttelte den Kopf. „Nein, schon okay.“ „Und?“, fragte Javier und seine Stimme klang hoffnungsvoll. „Ist jetzt wieder alles cool zwischen euch?“ Nick machte ein unbestimmtes Geräusch. „Weiß nicht. Ja. So in etwa. Ist alles noch ein bisschen wackelig, aber ich glaube, wir bekommen das hin.“ Javier ließ die Schultern sinken und steckte die Hände in die Hosentaschen. Er sah Nick von unten heraus an. „Und kommst du jetzt mit?“ Das war sie. Die Frage, die Nick das Gefühl gab, dass er auch etwas in der Angelegenheit zu sagen hatte und nicht nur mitgeschleift wurde. „Meinst du denn wirklich, dass das was bringt?“ Javier formte den Mund zu einem schmalen Strich. „Ich weiß es nicht“, sagte er langsam. „Ich kann dir nicht sagen, wie sie reagieren wird. Ich kann dir nur sagen, dass ich denke, dass es einen Versuch wert ist. Tante Nata ist schließlich kein Unmensch. Und sie mag dich, Nick. Sie hält wahnsinnig viel von dir. Sie wird dir zuhören. Eher als mir.“ Nick ließ geräuschvoll die Luft entweichen. Das war ein ziemlich großer Schritt für ihn. „Vielleicht gehst du dich erst mal anziehen und überlegst es dir in Ruhe, während ich ...“ Javier machte eine Geste, die wohl bedeuten sollte, dass er irgendwie möglichst unauffällig auf ihn warten würde. Als wenn irgendwas an ihm je unauffällig hätte sein können. Zumindest nicht für Nick. „Ja, okay, ich … geh erst nochmal ins Bad und du … du kannst dich ja so lange ins Wohnzimmer setzen.“ Javier nickte und wollte sich gerade die Schuhe ausziehen, als sein Handy anfing zu klingeln. Er ging ran. „Sí?“ Sein Gesicht verfinsterte sich etwas, während der Anrufer auf ihn einredete. Nick hatte so eine Ahnung, wer das sein könnte. Javier antwortete noch mit einem knappen, spanischen Satz, bevor er das Gespräch wieder beendete. Er sah Nick entschuldigend an. „Meine Tante. Sie fragt, wo ich bin.“ Da ging sie dahin, Nicks Zeit für eine besonnene Entscheidung. Wenn er sich nicht beeilte, würde Renata vermutlich über Javiers langes Fortbleiben so ungehalten sein, dass ein Besuch bei ihr ohnehin sinnlos wäre. Er beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. „Okay, ich beeile mich.“ Er ging ins Bad, machte eine Katzenwäsche und ließ nach einem kurzen Zögern seinen Schlafanzug einfach auf dem Badezimmerfußboden liegen. Es war keine Zeit, sich noch lange mit solchen Dingen aufzuhalten, auch wenn er sich nur allzu bewusst war, dass er unter dem Bademantel vollkommen nackt war, als er an Javier vorbei ins Schlafzimmer lief, um sich dort umzuziehen. Er sah kurz in den Spiegel und befand, dass das Rasieren auch ausfallen konnte. Ein leichter Schatten würde seine Chancen, seinen Job wiederzubekommen, weniger beeinflussen, als nochmals zehn Minuten später zu kommen. Er trat wieder ins Wohnzimmer. „Bin fertig.“ Javier, der nur darauf gewartet zu haben schien, sprang auf und schenkte Nick ein kleines Lächeln. Warum, konnte Nick nicht sagen, aber es gefiel ihm.     Der Tag hatte anscheinend beschlossen, die schöneren Seiten des Herbstes herauszukehren und wartete ausnahmsweise nicht mit Nebel sondern mit klarem Sonnenschein auf, der an den teilweise schon überfrorenen Autoscheiben leckte und sie binnen kürzester Zeit freischmolz. Nick beschloss, dass das ein gutes Zeichen war, während er an Javiers Seite durch die Straßen eilte. Als das „El Corpiño“ in Sichtweite kam, wurden Nicks Schritte jedoch langsamer. In seinem Magen begann sich ein leichter Knoten zu bilden. Was, wenn es doch nicht klappte? „Wehe, du kneifst.“ Erstaunt sah er Javier an. War das wirklich so deutlich gewesen? Er blieb stehen. „Ich hab ein bisschen Schiss“, gestand er. Javie trat zu ihm und hob die Hand. Er griff nach Nicks Mantelkragen und strich ihn ein wenig glatt, auch wenn Nick das Gefühl hatte, dass er eigentlich etwas anderes hatte machen wollen. „Du schaffst das“, sagte Javier zuversichtlich. „Ich bin ja bei dir.“ Er lachte und setzte hinzu: „Obwohl ich mir nicht sicher bin, dass das wirklich hilfreich ist.“ Nick antwortete nicht darauf, aber in seinem Inneren hatte er bereits beschlossen, dass es für ihn in jedem Fall hilfreich war. Er war froh, dass Javier gekommen war, obwohl er jetzt gerade das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen, was vielleicht auch daran lag, dass er vollkommen vergessen hatte zu frühstücken. Er straffte die Schultern. „Also schön“, sagte er weit tapferer, als er sich fühlte. „Ziehen wir es durch.“ Mehr als schiefgehen konnte es ja nicht.   Als sie den Laden betraten, verflüchtigte sich ein guter Teil von Nicks Wagemut zunächst. Er war das letzte Mal in Schimpf und Schande vom Hof gejagt worden und jetzt hierher zurückzukehren war schwerer, als er angenommen hatte. Doch dann begann das zu wirken, was er schon beim ersten Mal gespürt hatte, als er hierher gekommen war. Das „El Corpiño“ war nicht nur einfach seine Arbeitsstätte. Es war zu einer Art zweiter Heimat geworden. Er war gern hier, er liebte es hier zu arbeiten und er wollte seinen Platz wieder zurückhaben. Entschlossenen Schrittes ging er auf die Bürotür zu. Javier folgte ihm wie ein gehorsamer Wachhund. Als sie fast an der kleine Treppe, die am Ende des Ladens nach oben führte, angekommen waren, öffnete sich die schwarz verkleidete Tür, die den Zugang fast vollkommen mit der Wand verschmelzen ließ. Renata trat heraus wie eine böse Fee aus einem Märchen. Nein, keine böse Fee. Eher eine weise Frau. Als sie Nick sah, blieb ihr einen Augenblick lang der Mund offenstehen. „Nick?“, fragte sie, als sie sich wieder gefangen hatte. „Was machst du denn hier?“ „Ich möchte noch einmal mit dir reden. Über meine Kündigung.“ Renatas Gesicht verschloss sich. „Da gibt es nichts mehr zu reden. Du hast meine Entscheidung gehört.“ „Aber Tante Nata!“ Javier drängelte sich an ihm vorbei. „Du musst Nick zuhören. Er kann dir alles erklären. Es war nicht seine Schuld.“ Renata zog eine Augenbraue nach oben. „Es war nicht seine Schuld, dass er mich angelogen hat? Sich die Anstellung hier feige erschlichen hat? Wessen Schuld sollte es denn sonst sein, wenn nicht seine?“ Javier sah zu Nick und dann wieder zu seiner Tante. „Ich … ich weiß inzwischen, warum er das gemacht hat. Und alles, worum ich dich bitte, ist, dass du ihm die Chance gibst, es dir auch zu erklären. Lass dir von Nicks seine Geschichte erzählen. Bitte.“ Nick sah Renata an, dass sie mit sich rang. Sie war eine stolze Frau, so viel konnte er sagen, und eine einmal getroffene Entscheidung wieder zurückzunehmen, würde sie sicherlich einiges kosten. Und trotzdem hoffte er, dass sie es tat. „Na schön“, sagte sie schließlich. „Du hast eine halbe Stunde. Ich werde noch ein Schild an die Tür hängen, dass wir heute später öffnen. Ihr wartet in meinem Büro auf mich.“ Sie stieg mit klackernden Schritten die Stufen herab und ging hinter den Tresen, um einen entsprechenden Zettel zu schreiben. Als sie Nick damit entgegenkam, sah er, was sie darauf geschrieben hatte. „Wegen dringender Familienangelegenheiten geschlossen.“ Er fühlte, wie sein Herz einen Sprung machte. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren. Mit zittrigen Knien stieg er die Treppe hinauf.   Als Renata wieder im Büro erschien, ließ sie sich ohne viel Federlesen hinter ihrem Schreibtisch nieder und blickte Nick erwartungsvoll entgegen. „Also gut, fang an.“ Javier, der neben dem Schreibtisch stand, nickte ihm zu und Nick begann zu erzählen. Er begann damit, dass er sein Studium abgebrochen hatte. Den Grund dafür nannte er nicht, sondern ließ lediglich durchblicken, dass es persönliche Gründe waren, die durch Fremdeinwirkung an die Öffentlichkeit geraten waren. Danach schilderte er seine Lehrzeit, die Verdächtigungen und Gerüchte, bis er bei dem Tag ankam, als er zum ersten Mal den Raum betreten hatte, in dem er gerade stand. Damals hatte er einen dunklen Anzug getragen, war ordentlich zurechtgemacht und tadellos frisiert gewesen. Jetzt kam er sich schäbig vor und musste an sich halten, um nicht etwa an seiner Kleidung herumzuzupfen. Er sah Renata mit dem ehrlichsten Gesichtsausdruck an, den er zustande brachte. „Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich wollte nicht lügen. Ich wollte nur unbedingt hier arbeiten und habe daher einfach auf das zurückgegriffen, was sowieso alle in mir gesehen haben. Es … es tut mir leid, dass ich dich enttäuscht habe.“ Renata schwieg eine Weile. Ihr Blick war irgendwo an Nick vorbei auf die Wand gerichtet und er wartete ab, was sie wohl sagen würde, während seine Handflächen feuchte Abdrücke auf seiner Hose hinterließen. Schließlich atmete sie tief durch. „Ich möchte sie sehen“, sagte sie und sah Nick jetzt wieder geradeheraus an. „Die Arbeiten, die du für dein Studium angefertigt hast. Zeig sie mir.“ Natürlich, sie wollte einen Beweis dafür, dass er sich das ganze nicht einfach so aus den Fingern gesogen hatte. „Ich … ich kann sie herholen.“ Er stockte. „Jetzt gleich?“ Sie überlegte kurz. „Ich werde heute nicht die Zeit finden, sie mir anzusehen. Lisa ist krank und wir werden heute alle Hände voll zu tun haben. Wenn du erlaubst, würde ich die Mappe gerne mit nach Hause nehmen und sie mir in Ruhe anschauen.“ Nick schluckte. Konnte er das Stück wirklich aus den Händen geben? Er gab sich einen Ruck. Es waren nur ein paar Zeichnungen und Fotos, nichts weiter. Er würde sie Renata aushändigen können. „Ich könnte mitkommen und die Mappe abholen“, bot Javier plötzlich an. Renata sah ebenso erstaunt aus, wie Nick sich fühlte, aber dann nickte sie. „Einverstanden. Du kannst auf dem Weg gleich noch neue Kekse besorgen. Lisa hat sämtliche Vorräte vernichtet. Und ich werde wohl noch eine halbe Stunde ohne dich auskommen. Das 'El Corpiño' ist immerhin immer noch mein Laden.“   Sie erhob sich und sah Nick fest in die Augen. „Meine Entscheidung bezüglich deiner Anstellung war eigentlich bereits gefallen, Nick Kaufmann. Aber ich kenne dich jetzt schon eine ganze Weile und weiß, was du hier alles geleistet hast. Daher will ich mir zunächst alle Fakten ansehen, bevor ich mir hinterher vorwerfe, einen Fehler gemacht zu haben. Trotzdem bleibt die Kündigung vorerst bestehen, das muss dir klar sein.“ Nickt nickte eilig. „Das ist mir bewusst. Ich … danke.“ Er wusste nicht, was er noch weiter sagen wollte. Er hatte die letzte, halbe Stunde fast ununterbrochen geredet und jetzt erschien es ihm, als wären alle seine Worte aufgebraucht. Renata murmelte etwas auf Spanisch und Nick sah, dass Javier sich ein Grinsen verkneifen musste. Plötzlich konnte er es nicht erwarten, endlich wieder hier raus zu kommen und mit Javier allein zu sein. Er ging zur Tür und öffnete sie für Renata, die wie die Königin, die sie war, hindurch rauschte und ihn nicht weiter beachtete. Die Audienz war beendet, er konnte den Thronsaal verlassen.   Draußen vor dem Laden atmete er tief durch. Die klare Herbstluft füllte seine Lungen und auch wenn noch ein kleiner Wermutstropfen blieb, fühlte er sich gut. So gut, dass er Javier angrinste und fragte: „Was hat deine Tante gesagt?“ Javier grinste zurück. „Wer eigentlich die Regel aufgestellt hätte, dass man vor zehn Uhr morgens keinen Schnaps trinken dürfe.“ Nick konnte nicht anders, er musste lachen „Wo sie recht hat ...“ Er wurde wieder ernster. „Aber wir sollten uns vielleicht tatsächlich beeilen. Wenn Lisa heute nicht kommt und ihr nur zu zweit seid, wird das ein langer Tag.“ „Jaha, es wäre so cool, wenn da noch jemand wäre, der uns helfen könnte“, bestätigte Javier und puffte Nick leicht in die Seite. „Komm, lass uns zu dir.“   Sie gingen zusammen die Straße entlang und Nick kam nicht umhin zu bemerken, dass sie sich beim Laufen immer wieder berührten. Er hatte keine Ahnung, ob er sich das einbildete oder ob es tatsächlich so war, aber es fesselte seine Aufmerksamkeit so sehr, dass er gar nicht merkte, dass sie plötzlich vor seiner Wohnung standen. Er blinzelte seine Haustür an. „Was ist los? Hast du den Schlüssel vergessen?“ Nick blinzelte erneut. Schlüssel? Ach ja, der Schlüssel. Er kramte das klimpernde Ding hervor und steckte es in das Türschloss. Irgendwas in seinem Magen zog sich schon wieder zusammen, als er daran dachte, dass er Javier gleich die Mappe geben würde. Vermutlich würde er demnächst beim Arzt ein Magengeschwür diagnostiziert bekommen. Irgendwas war da definitiv nicht in Ordnung. Er drehte den Schlüssel herum.   Als er wieder in die Küche kam, hatte Javier die Tür hinter sich geschlossen. Er stand da und sah Nick an. „Ich hab die Bilder geholt“, sagte Nick überflüssigerweise, ging noch ein Stück auf Javier zu und hielt ihm die Mappe hin. „Ist das Foto von dir noch drin?“ Javiers Stimme schwankte ein wenig. Nick schüttelte den Kopf. „Das habe ich rausgenommen. Ich fand es ... nicht so passend.“ „Schade. Ich hätte es mir gerne nochmal angesehen.“ Ein Schauer lief über Nicks Rücken, als ihm Javier bei diesen Worten tief in die Augen sah. All das, was ihm heute Morgen durch den Kopf gegangen war, stürmte mit einem Mal wieder auf ihn ein und ließ ihn schwindeln. Der Stein in seinem Magen zog sich zusammen. „Du musst los“, sagte er und seine Stimme klang plötzlich ebenso zittrig wie Javiers. Was war hier los? Warum sah Javier ihn so an? Warum kam er jetzt einen Schritt näher? Im nächsten Moment streiften warme Lippen Nicks Mund. Er hielt erschrocken den Atem an. Javier trat zurück und schluckte. Seine Augen waren riesig und dunkel. „E-Entschuldige. Ich … ich hätte das nicht tun sollen.“ Er riss die Mappe an sich, öffnete die Tür und stürmte hinaus.   Nick war unfähig sich zu rühren. Der Stein in seinem Magen war gerade geplatzt und hatte sich in tausend Schmetterlinge verwandelt, die in atemberaubenden Tempo durch seinen Körper rasten und dort alle möglichen unvernünftigen Wünsche auslösten. Unter anderem den, Javier noch einmal zu küssen. Aber der war weg. „Warte!“, rief er und stürzte aus der Tür. „Javier, warte!“ Javiers eilige Schritte wurden langsamer. Nick rief noch einmal nach ihm. Endlich blieb er stehen, hatte den Kopf aber weiter streng geradeaus gerichtet. „Jay!“ Wie schon beim ersten Mal brachte die vertrauliche Anrede den Ausschlag. Javier drehte sich endlich zu ihm herum. Nick wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Er war nicht sauer, aber gleichzeitig schrillte ungefähr ein Dutzend Alarmglocken in seinem Kopf und darüber rief eine gellende Stimme ihm zu, dass er gerade dabei war, einen Riesenfehler zu machen. Nick beschloss, sie zu ignorieren. Er hob die Hand mit seinem Handy darin. „Krieg ich deine Nummer? Nur für den Fall, dass ...“ Er zuckte ganz leicht mit den Schultern. Auf Javiers Gesicht erschien ein winziges, hoffnungsvolles Lächeln. Er kam langsam – sehr langsam – zurück und streckte die Hand nach Nicks Handy aus. „Ich speicher sie dir ein.“ Als er fertig war, gab er Nick das Gerät wieder zurück. Er hielt den Kopf gesenkt, aber ganz kurz schielte er doch zu Nick nach oben. Nick konnte nur hoffen, dass Javiers Herz nicht genauso laut klopfte wie sein eigenes, denn sonst würden sich womöglich gleich die Nachbarn beschweren, wer da draußen so einen infernalischen Lärm machte. „Danke. Ich … ich melde mich.“ Es gab keine Worte für alles, was zwischen den Zeilen mitschwang. „Ich würde mich freuen.“ Damit drehte Javier sich um und machte sich nun endgültig auf den Rückweg ins „El Corpiño“. Nick sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war. In seinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander, das von zwei Gedanken herrührte, die einander umkreisten wie wütende Hummeln.   Der erste lautete: Javier hat mich geküsst.   Der zweite lautete: Das kann unmöglich gut gehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)