Tatsächlich schwul von Maginisha ================================================================================ Kapitel 13: Dornröschen ----------------------- Er wollte ihn küssen. So sehr, dass es wehtat. Nick löste irgendetwas in ihm aus, dass er so noch nie gespürt hatte. Das Gefühl, ihn beschützen zu wollen vor der bösen Hexe, die sein Herz gestohlen und es dann zu Haschee verarbeitet hatte. Aber Javier war kein Märchenprinz, der kam, um die schöne Prinzessin mit einem sanften Kuss aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken. Er war mehr so der Typ Märchendrache, der beim Versuch, die Prinzessin in seine Krallen zu kriegen, das Schloss in Schutt und Asche gelegt hatte und jetzt mit wedelndem Schwanz auf den Trümmern saß, verlegen die Krallenspitzen aneinander tippte und hoffte, dass die Prinzessin ihn wenigstens noch in der Hundehütte schlafen ließ. Es war vollkommen ausgeschlossen, dass er die Prinzessin – oder in dem Fall vielleicht eher den Prinzen – bekam. Der Zug war abgefahren. Er senkte den Kopf. „Ich wünschte nur, du würdet mich einmal so ansehen“, murmelte er auf Spanisch, damit Nick es nicht verstand.   Zögernd legte er das Foto wieder auf den Tisch. „Das sind wirklich tolle Sachen. Es ist schade, dass du das nicht weiter gemacht hast. Du warst gut.“ „So gut auch wieder nicht.“ Nick beeilte sich plötzlich, den Inhalt der Mappe wieder zusammenzusuchen, ihn zwischen die Pappdeckel zu stopfen und die Bänder zu schließen. Einen Augenblick lang überlegte Javier, ob er Nick sagen sollte, dass er die Bilder schon kannte, aber dann entschied er sich dagegen. Spätestens jetzt hätte er die Mappe ja ohnehin zu sehen bekommen, versuchte er sich zu beruhigen. Es gelang nicht völlig.   Da saß er nun, rundherum eingefüllt in den Bademantel, der so fürchterlich gut nach Nick roch, und hatte keine Ahnung, was er jetzt machen sollte. Nicks Geschichte hatte ihn wütend gemacht und er wollte irgendetwas tun, damit es Nick wieder besser ging. Aber er konnte die Vergangenheit nicht ungeschehen machen, konnte aus Nick nicht wieder den glücklichen, unbeschwerten Jungen von damals machen. Doch vielleicht … vielleicht konnte er wenigstens ein bisschen von dem Schaden wieder gutmachen, den er selbst angerichtet hatte. Er stand auf. „Ich … ich sollte vielleicht mal wieder los, weil ...“ Er zögerte. Sollte er Nick erzählen, was er vorhatte? Und wenn es nicht klappte? Dann würde Nicks Herz erneut brechen. Das wollte er unbedingt verhindern. „Ich muss noch ins Geschäft.“ Oh ja, das war ja viel besser. Streu noch Salz in die Wunde, du Idiot. Nick nickte langsam. „Ja, ist vielleicht besser. Nicht, dass ich nachher noch eine Anzeige wegen Entführung bekomme.“ Er lächelte, aber das Lächeln erreichte nicht seine Augen. Javiers Finger krallten sich in den Stoff des Bademantels. Er dufte nicht, musste sich beherrschen.   Mit einem Ruck fuhr er herum, ging in die Küche, riss sich förmlich den Bademantel vom Leib und versuchte, sich wieder in seine immer noch völlig durchnässten Jeans zu zwängen. Während er auf einem Bein hüpfte und mit dem widerspenstigen Stoff kämpfte, hörte er hinter sich ein Geräusch. Er drehte sich halb herum und sah Nick, der auf der Türschwelle stand und ihn beobachtete. Als er Javiers Blick bemerkte, machte er den Mund auf. „Ich … äh … wollte nur … den Bademantel aufhängen.“ Er stürzte an Javier vorbei, schnappte sich das blaue Ungetüm und stürmte ins Badezimmer. Wirklich, kein Mensch konnte so ordentlich sein. Das war doch krankhaft. Javier runzelte die Stirn und versuchte, nun endlich sein zweites Bein in die Hose zu bekommen. Nick war wieder in der Tür erschienen. „Willst du … vielleicht was von mir zum Anziehen haben? Deine Sachen sind ja noch klitschnass.“   Für einen Augenblick ging Javiers Fantasie mit ihm durch. Er stellte sich vor, wie er vor dem Spiegel in Nicks Schlafzimmer stand, nur noch mit den dunklen, engen Shorts bekleidet, die er gerade anhatte. Nick trat hinter ihn. Nicht so nahe, dass er ihn berührte, aber so, dass Javier deutlich spürte, dass er da war. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel und die Intensität von Nicks Augen, die sich in seine bohrten, ließ Javier zittern. Er fühlte sich nackt und gleichzeitig gehalten, gefangen in diesem Blick, der ihn an- und auszog. „Ich sehe dich“, schien er zu sagen. „Ich sehe dich und nur dich. Nicht was du anhast oder wo du herkommst, nicht wie du redest oder welchen Stempel du für die Welt trägst. Ich sehe dich, wie du wirklich bist.“ Nick trat einen Schritt vor und sein Körper streifte Javiers. Der schloss die Augen, als warmer Atem über seinen Nackens strich. „Ich sehe dich“, sagte Nick leise, während seine Fingerspitzen sanft über Javiers Seiten glitten, sich auf dem Bauch trafen und langsam tiefer wanderten. „Aber ich möchte noch mehr von dir sehen.“ Die Finger erreichten den Bund der Shorts.   Mit einem Keuchen riss Javier die Augen auf. Sein Tagtraum hatte sich ziemlich deutlich zwischen seinen Beinen manifestiert und einen Moment lang fürchtete er, dass Nick es gesehen hatte. Der stand jedoch noch in der Tür zum Bad. Als er Javiers heftiges Atmen hörte, trat er auf ihn zu. „Alles in Ordnung?“ „Ja, alles bestens.“ Javier dreht sich weg und versuchte panisch, endlich in diese verdammte Hose zu kommen. Als er sein Bein zu guter Letzt in den klammen Stoff gestopft bekam, hätte er beinahe erleichtert aufgeatmet. Er riss den Reißverschluss nach oben und schnappte sich Shirt, dessen lange Ärmel immerhin trocken waren, und warf es über den Kopf. Während er es nach unten zerrte, angelte er bereits nach seiner Jacke. „Ich muss wirklich los, sonst macht mir meine Tante die Hölle heiß. Du weißt ja, wie sie ist.“ Nick blieb stehen, als hätte er ihm einen Tritt vors Schienbein verpasst. Javier zuckte innerlich zusammen, aber diese Spitze war besser, als wenn Nick mitbekam, dass er einen Ständer hatte. Sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb. Er griff nach der Türklinke, drückte sie herunter und wollte schon hinausstürmen, als er sich noch einmal herumdrehte. „Ich … danke. Fürs Zuhören und fürs Erzählen. Vielleicht … vielleicht sieht man sich ja nochmal wieder?“ Die Schwanzspitze des Drachen zuckte, als er mit bangem Hoffen auf die Reaktion der Prinzessin wartete. „Ja, vielleicht“, antwortete Nick und wirkte irgendwie verloren, wie er da in seiner Küche stand und nicht wusste, was er von Javiers plötzlichem Aufbruch halten sollte. Trotzdem war bleiben keine Option. Javier musste erst mal einen klaren Kopf und seinen Körper unter Kontrolle kriegen. Und außerdem hatte er einen Plan. „Mach's gut, Nick“, sagte er noch, bevor er die Tür hinter sich zuzog.     Javier eilte die Straße entlang, allerdings nicht in Richtung des „El Corpiño“. Seine Tante war damit einverstanden gewesen, dass er sich den Nachmittag freinahm, und jetzt führten ihn seine Schritte an das andere Ende der kleinen Ladenstraße. Dort prangte an einer Ecke ein hellblaues Schild mit dem roten Zeichen des bekanntesten Reiseveranstalters Deutschlands. Durch das Fenster des Reisebüro konnte er Natascha hinter ihrem Computer sitzen sehen. Er nahm die zwei Stufen am Eingang auf einmal und öffnete die gläserne Schwingtür. „Kann ich Ihnen helf… Javier?“ Natascha sah ihn erstaunt an. „Was machst du denn hier?“ „Ich muss zu Alex. Es ist dringend.“ Natascha runzelte die Stirn. Sie sah sich um, um sich zu versichern, dass ihr Kollege ihm Büro nebenan nichts mitbekam, dann stand sie auf und kam hinter ihrem Schreibtisch hervor. „Was ist passiert?“, wollte sie wissen. Sorge zierte ihre Züge. „Ich muss mit ihr reden. Jetzt gleich. Kannst du mich hinbringen?“ Natascha verzog den Mund und schüttelte den Kopf. „Ich hab noch anderthalb Stunden bis zum Feierabend. Wenn du wartest, kann ich dich dann mitnehmen.“ Anderthalb Stunden. Das kam ihm vor wie eine Ewigkeit, aber er nickte tapfer. „Klar, ich warte im Döner gegenüber.“ Ein verzerrtes Lächeln erschien auf Nataschas Gesicht. „Dann klingel ich dich an, wenn ich Feierabend habe. Wenn ich da rein gehe, komme ich mit einem Kilo mehr auf den Rippen wieder raus.“ „Okay.“ Er winkte ihr, ignorierte den schrägen Blick ihres Kollegen und trat wieder auf die Straße. Hier draußen war es kalt und obwohl noch Nachmittag war, wurde es bereits dunkel. Die Straßenbeleuchtung sprang an, als er über den kleinen Marktplatz ging und die Tür des Dönerladens öffnete. Der Geruch von gebratenem Fleisch und Zwiebeln schwappte ihm entgegen und die Wärme quoll an ihm vorbei in den kalten Vorwintertag. Er hatte eigentlich keinen Hunger, bestellte sich aber eine Portion Pommes und eine Fanta und setzte sich in einer Ecke auf einen der hohen Barstühle, die hier als Sitzgelegenheit dienten. Sein Blick glitt zur Uhr, die über dem Verkaufstresen hing. Noch anderthalb Stunden.     Lustlos malte er mit einem der verbleibenden Pommes Muster in das Ketchup. Die Kartoffelstäbchen waren längst kalt geworden und der Zeiger der Uhr schien über das Ziffernblatt zu kriechen. Er hatte immer noch eine halbe Stunde bis zu Nataschas Feierabend und in seinem Kopf stapelten sich zerknüllte Gedanken. Noch 28 Minuten. Die Tür des Dönerladens öffnete sich und zwei junge Männer kamen herein. Bisher war nicht viel los gewesen, aber jetzt, wo es auf die Abendstunden zuging, kamen die ersten Hungrigen, um sich ein schnelles Essen zu besorgen. Javier musterte die beiden. Einer von ihnen trug einen langen Schal um den Hals, dem anderen baumelte ein Ohrring vom linken Ohr. Ein kleines, silbernes Kreuz. Nichts besonderes, aber Javier war sich plötzlich total sicher, dass die beiden ein Paar waren. Warum er das wusste, konnte er nicht sagen. Es war so ein Gefühl. Die Art wie sie sich ansahen, als sie überlegten, was sie essen wollten; die Art wie sie darüber stritten, wer bezahlte. Während der Mann hinter dem Tresen die Bestellung fertigmachte und seine Hilfe kassierte, sah Javier, wie sich die Hand des Typs mit dem Ohrring auf den Hintern seines Freundes schlich. Nur ganz kurz, eine kleine Berührung, die niemand bemerkt hätte. Niemand außer Javier, der hinter ihnen saß und sie so genau im Blick hatte. Als sie ihr Essen bekamen und sich umdrehten, bemerkte der Ohrring Javiers Blick. Er stutzte, taxierte ihn. Javier hob seine Mundwinkel ein Stück und nickte ein mikroskopisch kleines Nicken. Der Ohrring begann zu lächeln und flüsterte dem mit dem Schal etwas zu. Der lachte und gemeinsam verließen sie den Laden wieder. Javier sah zu, wie sich die Tür langsam wieder schloss und den dunklen Novemberabend mit seinem Nebel und den eiskalten Temperaturen aussperrte. Er fragte sich, was die beiden wohl verraten hatte. Vielleicht gab es sie doch, diese unsichtbaren Vibes, von denen viele für sich beanspruchten, sie mit einer Art Gaydar wahrnehmen zu können. Javier hatte sich bisher nie groß Gedanken darum gemacht, aber vielleicht war ja doch etwas dran. Nur wenn es um Nick geht, lässt mich mein Gefühl vollkommen im Stich, dachte er bei sich und zerdrückte die Pommes wie einen Zigarettenstummel. Der Kerl macht mich total wuschig, obwohl doch ganz klar ist, dass er nicht auf Männer steht. Warum also krieg ich ihn nicht aus dem Kopf? Am besten hielt er sich in Zukunft einfach von ihm fern. Aber zuerst musste er noch in Ordnung bringen, was er angerichtet hatte.   Als sein Handy in der Hosentasche vibrierte, sprang er vom Stuhl legte noch schnell ein Geldstück auf den Tisch für die Zeit, in der er den Stuhl besetzt hatte, und raste aus dem Laden. Natascha wartete vor dem Reisebüro auf ihn. „Mein Auto steht hier nebenan im Parkhaus. Ich hab Alex angerufen. Sie ist zu Hause.“ Schweigend stiefelte er neben ihr her zu ihrem Auto, stieg ein und ließ sich in den kalten Sitz sinken. Natascha bewies zum Glück genug Feingefühl, um ihn nicht zu fragen, was er von Alex wollte. Oder sie hatte einfach keine Lust, sich sein Geseier zweimal anzuhören. Er war in beiden Fällen dankbar dafür, nicht reden zu müssen, denn inzwischen wirbelten die Gedanken in seinem Kopf nur noch wild durcheinander und ergaben überhaupt keinen Sinn mehr. Bis er vor Alex stand, musste er das hinbekommen.   Natascha wohnte im gleichen Ort wie Javiers Tante in einem der höheren Wohnblocks, die das Stadtbild optisch verschandelten. Immerhin gab es einen Fahrstuhl, sodass sie binnen kürzester Zeit vom Parkplatz zum vierten Stock gelangten. Als sie sich der Wohnungstür näherten, wünschte sich Javier plötzlich, er hätte die Treppe genommen. „Ich bin wieder da“, rief Natascha und legte ihren Autoschlüssel auf einen kleinen Schrank. Sie war gerade dabei, ihre Schuhe auszuziehen, als Alexandra schon um die Ecke kam. „Hallo Süß... oh.“ Alex' Blick war an Javier hängengeblieben, der immer noch neben der Eingangstür stand. Er schob die Hände in die Hosentaschen. „Hi, Alex. Ich … ich muss mit dir reden.“ Er stockte kurz und setzte dann hinzu: „Darf ich reinkommen?“ Alexandra sah zu Natascha, aber die zuckte nur mit den Schultern. „Ist deine Entscheidung. Er ist dein Gast. Ich hab ihn nur hergefahren.“ Alexandra seufzte. „Na dann komm halt rein.“ Sie drehte sich um und ging zurück in den Raum, aus dem sie gekommen war. Dort angekommen machte sie den Fernseher aus und ließ sich auf dem überdimensionalen, roten Sofa nieder, das das Wohnzimmer beherrschte, das ansonsten in eher kühlen Weiß- und Grautönen gehalten war. „Also, was willst du?“ Die Frage war nicht unbedingt freundlich, aber das konnte Javier ihr nicht verdenken. Immerhin hatte er auch ihre Welt ziemlich ins Wanken gebracht. „Es geht um Nick“, fing er an und Alexandras Gesicht verfinsterte sich prompt. Natascha hatte sich inzwischen aus der Küche ein Glas Wasser geholt und setzte sich neben ihre Freundin. Javier blieb stehen. Er war hier trotz Nataschas Erklärung kein Gast. Er war ein Eindringling. „Ich habe … ich war noch mal bei ihm und wir haben geredet.“ „Ach.“ Es war erstaunlich, wie viel Verachtung in einem einzelnen Wort liegen konnte. „Ja und ich wollte dir sagen ... ich meine ...“ Verdammt, er bekam es nicht zusammen. Vorhin hatte das alles noch Sinn gemacht, aber jetzt, wo Alexandra ihn mit gefurchter Stirn ansah und Natascha nicht viel freundlicher guckte, war auf einmal alles weg. „Ich hab mich geirrt, okay? Ich … Nick ist kein schlechter Kerl. Er hat nur … er ist … Nick ist Dornröschen.“ „Wie bitte?“ Aleaxandra zog die Augenbrauen hoch und Natascha schüttelte fassungslos den Kopf. „Sag mal Javier, hast du was geraucht?“ Er kniff die Augen zusammen und atmete tief durch. Wenn er es falsch erzählte, würden die beiden ihn noch rausschmeißen. „Also nochmal: Ich war bei Nick, um mich bei ihm zu entschuldigen. Wegen Samstag. Wir haben geredet und Nick hat mir einige Sachen aus seiner Vergangenheit erzählt. Unter anderem von seiner Exfreundin, die ihm ziemlich übel mitgespielt hat. Und deswegen hat Nick sich in sein Schloss zurückgezogen wie Dornröschen beim Winterschlaf, hat eine rosa Dornenhecke drumherum aufgestellt und ein Schild „Vorsicht schwul!“ an die Tür gehängt, damit ihn auch ja keine Frau mehr anrührt. Die Einzige, die er noch reingelassen hat, warst du, Alex. Anfangs vermutlich, weil er vor dir nichts zu befürchten hatte, aber inzwischen bist du seine beste Freundin.“ Er sah Alexandra genau ins Gesicht. „Und die einzige. Ich weiß nicht, warum er dir nie die Wahrheit gesagt hat. Vielleicht weil er Angst hatte, dass du dann nicht wiederkommst. Aber er hat nie, aber auch wirklich nie, irgendwas von dir gewollt.“ Er hörte auf zu reden. Sein Herz klopfte in seiner Brust, als hätte er gerade einen Hundertmeterlauf hinter sich. Würde es reichen? Würde Alexandra ihm glauben? Er hatte lange überlegt, wie viel und was er ihr sagen sollte. Was er und Nick besprochen hatten, war im Vertrauen geschehen, aber Alexandra musste die Wahrheit erfahren. Und zwar die ganze Wahrheit und nicht nur den Teil davon, den Javier auseinandergerissen und falsch wieder zusammengesetzt hatte. Sie schien jedoch nicht überzeugt. „Aber du hast gesagt, er hat meinen Namen ...“ Sie sprach nicht weiter. Javier hätte in die Tischkante beißen können, wenn er einen Tisch vor sich gehabt hätte. Stattdessen ballte er die Hände zu Fäusten und trat einen Schritt auf das Sofa zu. „Man, Alex! Nick war betrunken und ich hatte seinen Schwanz im Mund. Da kann ein Mann nicht mehr klar denken.“ „Uuh! Too much information!“ Natascha verzog das Gesicht und wedelte mit der Hand, als wolle sie einen üblen Gestank verscheuchen. Javier sank in sich zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen. Jetzt hatte er es endgültig verbockt.   Nach einer Weile räusperte Natascha sich. „Ich glaube, was Javier versucht dir zu sagen, ist, dass Nick dich nicht zum Lustobjekt degradiert hat, wie du angenommen hattest.“ Javier hob den Kopf. Dass ausgerechnet Natascha ihm half, hatte er nicht erwartet. Aber vermutlich sorgte sie sich dabei weniger um ihn oder Nick, sondern vielmehr um ihre Freundin, die sich prompt ihr zuwandte. „Meinst du?“ Anscheinend konnte sie mit Nataschas Worten mehr anfangen als mit seinen. Natascha nickte langsam. „Wenn ich das richtig verstanden habe, bist du Nicks einzige, emotionale Bezugsperson. Oder bekommt er sonst manchmal Besuch? Hat er noch mehr Freunde außer dir?“ Alexandra überlegte einen Augenblick, dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, Nick ist eigentlich immer allein, wenn ich nicht da bin.“ Sie verschränkte die Finger ineinander und starrte auf den Boden. „Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Er war irgendwie immer da, wenn ich ihn brauchte.“ Natascha griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. „Das hast du mir erzählt. Und eigentlich hatte ich auch den Eindruck, dass er ein netter Kerl ist. Ein wenig exzentrisch vielleicht, aber ein guter Freund. Und … na ja … vielleicht hat er sich in dem Moment auch einfach ein wenig Nähe gewünscht. Jemandem, dem er vertraut. Und die Einzige, die ihm in seinem Brausekopf dabei eingefallen ist, bist du. An unseren Casanova hier hat er jedenfalls nicht gedacht.“ Javier ignorierte den Stich, den ihm diese Feststellung gab. Nein, an ihn hatte Nick nicht gedacht. Warum auch? Er war ja nicht schwul. Aber hier ging es gerade nicht um ihn. Hier ging es um Nick und Alex. „Bitte Alex!“, wagte er jetzt wieder zu sprechen. „Bitte, geh zu ihm. Rede mit ihm oder ruf ihn wenigstens an. Lass ihn erklären, was da passiert ist. Seine Version. Die richtige Version. Verlass dich nicht auf irgendeinen Kerl, den du kaum ne Woche kennst, nur weil er schwul ist. Nick hat dein Vertrauen viel mehr verdient als ich.“ Alexandra sah ihn lange an. „Du hast recht“, sagte sie schließlich, stand auf und strich ihren Rock glatt „Ich hätte mich nicht auf dich verlassen dürfen, nur weil ich in meinem Kopf eine Grenze zwischen Homo und Hetero gezogen habe. Vollpfosten gibt’s nun mal überall.“ Sie bedachte ihn mit einem vielsagend Blick. Er sah zu Boden. Wenn das alles war, was sie ihm an den Kopf werfen wollte, war er relativ gut weggekommen. Eigentlich hatte er erwartet, dass sie ihm die Augen auskratzte.   Alexandra wandte sich an Natascha. „Kann ich dein Auto haben? Ich glaube, ich sollte heute Nacht bei mir schlafen. Was Nick und ich zu besprechen haben, wird sicherlich ne Weile dauern.“ „Na klar, ich fahre morgen früh einfach mit der Bahn.“ Sie küssten sich kurz, bevor Alexandra an Javier vorbei in den Flur ging. An der Tür hielt sie an. „Soll ich dich noch irgendwohin mitnehmen?“ Es war ein Rausschmiss, aber ein netter. Er verneinte. „Ich gehe gleich zu meiner Tante nach Hause, aber auf dem Weg muss ich mir noch überlegen, was ich ihr jetzt erzähle.“ „Wieso?“ Alexandras Gesicht wurde misstrauisch. „Was hast du denn noch ausgefressen?“ Er zögerte, bevor er antwortete. „Ich … ich habe ihr auch gesagt, dass Nick nicht schwul ist, und sie hat ihm deswegen gekündigt.“ Alexandra fiel alles aus dem Gesicht. „WAS? Bist du denn wirklich der größte Depp, der auf diesem Erdball rumläuft? Zuviel Sex macht anscheinend doch doof.“ „Ich hab das nicht gewollt“, jammerte er. „Als ich an dem Abend zu ihrem Haus kam, hat sie mir Vorträge gehalten, vonwegen Verantwortungsbewusstsein und so weiter. Aber als die Sprache auf Nick kam, war auf einmal wieder alles in Butter. Der große Nick, der tolle Nick, der immer alles richtig macht und das sogar, obwohl er schwul ist. Da bin ich ausgerastet. Ich wollte ihm mal ein bisschen was von seinem Goldglanz nehmen und ihn von dem Podest holen, auf den meine Tante ihn immer stellt.“ Er wurde wieder leiser. „Und dabei habe ich vergessen, dass er ja auch für sie arbeitet. Ich wollte ihm das nicht kaputtmachen. Ich wollte nur nicht immer so scheiße neben ihm aussehen.“ „Wenn man es selbst zu nichts bringt, kann man immer noch andere mit in den Dreck ziehen.“ Natascha schüttelte erneut den Kopf. „Und jetzt?“ Er zuckte mit den Schultern. „Jetzt muss ich irgendwie einen Weg finden, wie ich meine Tante dazu bringe, dass sie ihn wieder einstellt.“ Er hatte nur noch überhaupt keinen Plan, wie er das anstellen sollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)