Was die Hitze des Sommers nicht alles bewirken kann... von Mondsicheldrache (The Vessel and the Fallen 1) ================================================================================ Kapitel 1: Schlafmangel ----------------------- *~*   Es war Mittag. Die Sonne stand hoch am Himmel. Die Luft flimmerte in der unerbittlichen Hitze. War kaum zu atmen.  Was für ein anstrengender Tag. Nicht auszuhalten. Tauben gurrten. Stritten sich trotz der furchtbaren Wärme um die paar Körner, die noch auf der Terrasse ausgestreut lagen. Spärliche Überbleibsel vom Vortag. Diese seltsamen Tiere. Woher nahmen sie nur all die Energie? Wie er den Hochsommer hasste. Diese Schwüle! Und wie der Schweiß seine Gewänder durchtränkte…dabei war der Tag gerade mal zur Hälfte verstrichen. Unerträglich. Obwohl er sich bereits im Haus befand. Zu dumm, dass es derart offen konstruiert war, dass die Sommerglut es bereits am frühen Morgen vollständig durchdrungen hatte. Immerhin gab es hier noch Schatten, ansonsten hätte er sich auch gleich in die pralle Sonne legen können. Am liebsten wäre er heute einfach im Bett geblieben. Aber als zweiter kaiserlicher Prinz des Kou Reichs, war das leider leichter gesagt, als getan.   Koumei Ren seufzte. Selbst wenn er es wirklich wollte, sein Bruder hatte ihn bisher immer irgendwie geweckt, wenn er versucht hatte, sich einen Tag frei zu nehmen, indem er ihn einfach verschlief. Freizeit stellte wohl ein Fremdwort für den Kerl dar. Dabei litt der Jüngere schon seit Ewigkeiten an chronischem Schlafmangel. Kouen Ren, der erste kaiserliche Prinz Kous, konnte einfach nicht auf ihn verzichten. Er besaß die notwendige Macht und das Ansehen, Koumei die nötige Intelligenz, um zu regieren. Nur gemeinsam gelang es ihnen das riesige Reich oder zumindest die Heere die ihnen direkt unterstellt waren, unter Kontrolle zu halten. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis sie die gesamte Macht in ihren Händen halten würden. Und Koumei würde seinen Bruder immer unterstützen, das hatte er ihm und sich selbst geschworen. Er musste nicht an erster Stelle stehen. Lieber zog er im Dunkeln die Fäden, als sich der Öffentlichkeit derart zu präsentieren wie Kouen. Er würde sogar sein Leben für den Älteren geben.   Warum Kouen seinem jüngeren Bruder allerdings keine einzige ruhige Nacht lassen konnte, verstand dieser nicht. Er bekam schon schreckliche Aknenarben davon und seine sonstige körperliche Verfassung war… bemitleidenswert. Zumindest wenn er sich seinen älteren Bruder anschaute, der vor Muskeln nur so strotzte. Der ließ es sich wirklich gut gehen und reiste fröhlich im Reich umher. Nun gut, es wäre ungerecht, alles auf ihn zu schieben. Und sein Leben zu glorifizieren eine reine Übertreibung. Ohnehin blieb der Jüngere viel lieber im vertrauten Palast. Kein Wunder, dass sein Körper dürr und seine Haut leichenblass blieb. Und schließlich war das Wohlergehen des Kou Reichs auch Koumeis oberstes Ziel. Da konnte es schon einmal vorkommen, dass er Tage und Nächte lang ohne Schlaf durcharbeitete. Ja, ihr Land lag ihm wahrlich am Herzen. Scheinbar mehr als seine Gesundheit.   Trotzdem… an Tagen wie diesen fiel es ihm schwer, sich zu irgendetwas zu motivieren. Diese endlosen Listen, Verträge, Briefe und was es sonst noch an wichtigen Schriftstücken gab, die gelesen und abgezeichnet werden mussten. Konnte sich heute nicht mal sein Bruder damit herumplagen? Immerhin war Koumei eigentlich nur der Spezialist für Militärstrategie. Und er hatte das überaus erfolgreiche neu Regierungssystem des Kou Reichs beinahe im Alleingang aufgebaut. Indem die eroberten Länder verpflichtet waren, ihre Gesetze und Sitten gegen die von Kou einzutauschen, lebte die Bevölkerung in Gleichheit und Frieden. Gähnend kratzte er sich am Hinterkopf und beobachtete die Tauben, unter denen mittlerweile ein erbitterter Kampf um das Futter ausgebrochen war. Er legte das Papierbündel beiseite. Jetzt hatte er einen Grund, sich einen Moment vor der Arbeit zu drücken. Schlurfend erhob er sich von seinem mit dicken Troddeln verzierten Kissen. Schwindel erfasste ihn und beinahe wäre er zurück zu Boden gesunken. Balbadd war ein schreckliches Land. Es war einfach viel zu heiß und er war viel zu müde. Er sollte sich nicht überanstrengen. Doch dann wäre er sofort eingeschlafen.   Also taumelte er einen Augenblick orientierungslos durch den kleinen Raum, bis sich die schwarzen Punkte vor seinen roséfarbenen Augen gelichtet hatten. Vorsichtig fächelte er sich mit seinem schwarzgefiederten Fächer ein wenig Luft zu. Eine echte Erleichterung. Sein Metallgefäß war wirklich überaus nützlich. Dann erinnerte er sich wieder an sein Vorhaben. Da, ein paar Meter entfernt, auf einem kleinen Tischchen stand, was er brauchte. So weit weg… Sollte er sich das wirklich antun? Wollte er nicht doch lieber weiter arbeiten? Doch seine Demotivation siegte und so schlich er langsamer als eine Schnecke auf sein Ziel zu. Die klobigen, spitzen Schuhe an seinen Füßen schienen ihn am Weitergehen hindern zu wollen, genau wie die mehrlagigen Gewänder. Doch er ignorierte dies so gut wie möglich. Auch wenn er spürte, wie der Schweiß ihm den Nacken hinunter tropfte.   Endlich hatte er den Tisch erreicht. Mit zitternden Händen ergriff er den Beutel mit Körnern. Dann fiel sein Blick auf die unberührte Wasserkaraffe daneben.  Vielleicht sollte er etwas trinken… ja, bemerkte er,  das hatte er den ganzen Tag noch nicht getan. Kein Wunder, dass er zu nichts zu gebrauchen war, wenn er noch nicht einmal die Zeit fand, die alltäglichen Bedürfnisse seines Körpers zu erfüllen. Mit einem plötzlich brennenden Durst leerte er drei Gläser Wasser. Die lauwarme Flüssigkeit durchströmte seinen Körper wie ein neuer Lebenshauch. Eine Wohltat. Auf einmal rumorte sein Magen. Wenn er sich recht entsann, hatte er auch noch nichts gegessen. Seit mindestens zwei Tagen… Aber der gewaltigen Aufgabe, einen Sklaven zu rufen oder gar persönlich in die Küche zu gehen, wo er dem geschäftigen Treiben des Palastes ausgesetzt wäre, fühlte er sich jetzt wahrhaft nicht gewachsen. Wenn Kouen das wüsste… er hätte ihn ausgeschimpft und geschlagen. Wie immer. Vielleicht sollte sich sein Bruder einmal Gedanken über seine Motivationsstrategien machen. Möglicherweise gab es da effektivere. Obwohl, immerhin halfen sie gegen das Einschlafen. Wie oft hatte Kouen den Jüngeren nicht mit einer herzhaften Ohrfeige vor einer peinlichen Situation in der Öffentlichkeit oder bei wichtigen Regierungsgeschäften bewahrt? Jetzt hatte er nur das Wasser und seinen Fächer, um sich dem Schlaf zu entziehen.   Stöhnend wankte er mit dem Taubenfutter in der Hand zurück an seinen Arbeitsplatz. Kraftlos stolperte er über seine eigenen Füße und auf die Terrasse hinaus. Die gurrenden Vögel flatterten verdutzt bei Seite, blieben aber in der Erwartung neuer Leckerbissen in seiner Nähe. Sofort brach die unbarmherzige Sonne über ihn herein. Fast konnte er fühlen, wie die sengenden Strahlen seine weiße Haut verbrannten. Die Hitze war hier noch um einiges schrecklicher, als er gedacht hatte. Der Kopf unter seinen dicken roten Haaren schien regelrecht in Flammen zu stehen. Schnell schüttete er ein paar Hände voll Sämereien und Körnern auf die Holzdielen, bevor er sich wieder in den Schatten flüchtete. Begeistertes Flügelschlagen ließ ihn wissen, dass sein Opfer dankbar angenommen wurde. Ja, die Natur war nichts für ihn. Der offene Himmel und das Wetter hatten sich wohl gegen ihn verschworen. Nur im Haus fühlte er sich jemals sicher. Nach der Mittagshitze empfing ihn der dunklere Raum mit wohltuender Kühle. Doch Koumei wusste: Bald würde sie ihm wieder schrecklich und drückend vorkommen.   Nun lag wieder dieser riesige Aktenberg vor ihm. Dabei war die Tinte in seinem Fässchen beinahe aufgebraucht und auch seine Schreibfeder musste dringendst ersetzt werden. Aber er konnte nicht noch einmal aufstehen. Fühlte sich so schwach. Wieso kam denn kein Sklave vorbei und fragte, ob er etwas brauchte, ob er ihm dienlich sein konnte? Sie mussten bei Zeiten wirklich bessere Palastdiener anstellen… Ah, er hatte ja selber befohlen, dass ihn niemand stören sollte. Wie konnte er nur so dumm gewesen sein… Seine Augen wurden immer kleiner. Ließen sich kaum mehr offenhalten. Da half auch das Wedeln mit dem Fächer nichts mehr. Sollte er vielleicht Dantalion rufen? Sein Dschinn würde ihm vielleicht ein wenig Kraft verleihen. Danach allerdings… danach würde es nur umso schlimmer sein. Nein, das musste er alleine schaffen. Dabei wurde sein Kopf immer schwerer… vielleicht sollte er nur ein ganz kleines, winzig kurzes Schläfchen halten? Nur ein Minütchen? Bestimmt hätte niemand etwas dagegen einzuwenden… RUMMS! Papierbögen segelten vom Tisch und Tinte spritzte, als er mit der Stirn auf die Holzplatte krachte. Den kurzen Schmerz an der Schläfe spürte er kaum, so schnell war er eingeschlafen.   *~*   Kapitel 2: Ungehorsam --------------------- ~*~     Wind peitschte ihm um die Nase. Der Geruch nach Freiheit. Ekstase durchschoss seinen Körper. Der Klang tausender Flügel. Rukh fluteten durch ihn hindurch, durchflossen die Natur. Schenkten ihr und ihm ihre Energie. Schwarze wie Weiße. Sie alle liebten ihn. Alles folgte ihrem Strom. Dem Schicksal. Doch er nicht. Er hasste sein Schicksal. War ein Gefallener. Judar, der schwarze Magi. Aber in diesem Moment empfand er reine Freude. An der Geschwindigkeit, die ihn in einen Rausch versetzte. Dem Strom der Rukh. An der Begegnung vom Vortag… Sie war zwar nicht so verlaufen, wie er es sich vorgestellt, oder gar gewünscht hatte, doch immerhin hatte er ein wenig Angst und Schrecken verbreitet. Welch einen Spaß er gehabt hatte! Wie entsetzt die dummen Soldaten ihn angeglotzt hatten, als er diesen lumpigen Schutzwall zerstört hatte. Erbärmlich. Völlig mühelos. Wie das Fliegen. Sein langer schwarzer Zopf flatterte in der Luft, wie ein Banner. Der Wind ließ seine lockere Kleidung wehen. Was für ein herrliches Gefühl. Ja, das Treffen mit den schwachköpfigen Sindrianern hatte ihn regelrecht beflügelt.   Auch die kleine Auseinandersetzung mit Ja’far, dem Berater des Königs von Sindria und der Allianz der Sieben Meere, hatte ihm gefallen. Schade, dass der König so schnell dazwischen gegangen war. Ansonsten hätte er das schwächliche Sommersprossengesicht zerfetzt! Ein Hindernis weniger, das zwischen ihm und dem König stand. Nun, das Beste war allerdings Sindbads Blick gewesen, als Judar vor versammelter Mannschaft ein kleines Schauspiel geliefert hatte. Göttlich. Dieser Vollidiot. Zuerst kalt und hart wie immer, hatte er zwischenzeitlich tatsächlich Mitleid mit ihm gehabt. Nur weil er ihnen ein bisschen aus seiner ach so tragischen Vergangenheit vorgeheult hatte! Die ihn selber nicht die Bohne interessierte. Zu köstlich. Kein Wunder, dass er irgendwann Tränen gelacht hatte. Eigentlich hatte er gehofft, den Idiotenkönig einmal alleine anzutreffen. Er wünschte sich schon so lange, in aller Ruhe gegen ihn kämpfen zu dürfen. Das wäre sicherlich äußerst spaßig. Vor allem wenn er diesen Vollidioten, der partout nicht mit ihm zusammenarbeiten wollte, besiegen würde! Dann würde dieser Trottel die ganzen Abweisungen bereuen, mit denen er den jungen Magi bedacht hatte! Aber natürlich war das nicht so leicht. Also hatte er lediglich für ein wenig Aufregung gesorgt und Sindria nebenbei im Alleingang den Krieg erklärt. Immerhin etwas.   Nun konnte Judar sich leichten Gemüts wieder zu Hause sehen lassen. Dann könnte er sich endlich mal wieder richtig entspannen. Er liebte zwar Chaos und Krieg, aber nach all der Anstrengung und Aufregung konnte ein wenig Ruhe auch nicht schaden. Ausnahmsweise. Zwar gab es auch einiges in Kou zu tun, doch das war nicht der Rede wert. Alle dort tanzten nach seiner Pfeife. Außer der Kaiser Koutoku Ren und seine Frau Gyokuen. Auf letztere freute er sich am wenigsten. Diese nervige Alte! Kommandierte ihn immer herum wie einen erbärmlichen Diener! Aber das konnte er verdrängen. Bald würde er seine Königsgefäße wieder sehen! Ob sie sich in seiner Abwesenheit verändert hatten? Würde sich bald zeigen, wer von ihnen am besten für seine Zwecke geeignet war? Wohl kaum. Aber sie alle waren äußerst vielversprechende, starke junge Menschen. Metallgefäßbändiger natürlich. Besonders der eine hatte es ihm neuerdings angetan. Er war der einzige, der immer ein kleines Mitbringsel von seinen Ausflügen nach Sindria bekam. Vielleicht, weil er der einzige war, der sich ernsthaft darüber freute oder es zumindest gebrauchen konnte. Den Besuch bei ihm würde er sich bis zum Schluss aufheben. Aber eigentlich wollte er sie alle sehen. Inzwischen hatte sogar der Kleinste einen Dschinn. Noch dazu einen überaus nützlichen und mächtigen. Welch ein Spaß es gewesen war, mit ihnen allen die verschiedensten Dungeons zu erobern. Oder eher gesagt, ihnen dabei zuzusehen. Nun gut, manchmal hatte er sie auch ein wenig unterstützt, aber mit dem Herbeirufen eines Dungeons hatte sich die Sache für ihn meist erledigt… Ach, da waren ja auch schon die Dächer der Stadt. Wieso die kaiserliche Familie momentan in Balbadd residierte, wollte ihm zwar nicht so recht einleuchten, aber endlich war er wieder dort, wo er hingehörte. Bester Laune segelte er durch die Lüfte und hielt Ausschau nach dem Stützpunkt der Kou Armee. In Balbadd kannte er sich nicht allzu gut aus. Doch hier würde er sie hoffentlich alle treffen. Suchenden Blickes glitt er über der Stadt dahin. Da! Das sah schon mal viel versprechend aus. Judar schwebte über dem palastartigen Gebäude. Keine Minute später landete er in Mitten einer Traube von Soldaten. Die heißen Pflastersteine verbrannten seine bloßen Fußsohlen. Sofort schnellte er wieder in die Luft. Sie bemerkten nichts. Der schwarze Magi lachte übermütig. Sprang über ihre Köpfe hinweg und streckte dabei, mehr versehentlich, einen von ihnen zu Boden. Die erschrockenen Rufe belustigten ihn außerordentlich. Seine Aktion endete in einem kleinen Tumult. Taumelnde Soldaten, umgeworfene Kisten, in denen dem Scheppern nach zu schließen, neue Waffen steckten und aufgescheuchtes Vieh.   Alarmierte Schreie gellten über den Hof. Bald schon fand er sich von einem Dutzend bewaffneter Männer umzingelt. Scharfe Lanzenspitzen richteten sich bedrohlich auf seine Brust und hinderten ihn daran, seinen Zauberstab aus dem weißen Tuch, welches um seine Schultern lag, zu ziehen. Die waren vielleicht angespannt! Das war ja schlimmer als in Sindria! „Was willst du, Eindringling?“, schnauzte der augenscheinlich älteste Soldat grob. Vollidioten! Erkannten sie ihn denn nicht? „Na, was denkst du denn, dämlicher Trottel?“, keifte Judar wütend. So eine respektlose Behandlung ließ er sich doch nicht von den eigenen Landsleuten gefallen. In Sindria hatte es ihn noch mit Adrenalin  und tiefer Befriedigung erfüllt, dass sie ihn für so einen gefährlichen Feind hielten. Hier jedoch ging es ihm gehörig gegen den Strich. Er hatte genug und wollte endlich seine Königskandidaten treffen. Empörtes Gemurmel machte sich unter den Männern breit. „Wenn du nicht sofort einen triftigen Grund lieferst, warum du hier so plötzlich aufgetaucht bist und Unruhe gestiftet hast, schlagen wir dir den Kopf ab!“, donnerte ein anderer Soldat erzürnt. Dem schwarzen Magi blieb der Mund offen stehen. Eine Unverschämtheit! Ein jüngerer Kerl murmelte kaum hörbar: „Immer diese Kanalratten, die glauben die kaiserliche Familie belästigen zu können!“ Das brachte das Fass zum überlaufen. Sahen sie denn nicht, dass er goldene Armreifen und edelsteinverzierten Schmuck trug? Und dann nannten sie ihn eine Kanalratte?! Dieses dreiste, minderwertige Pack! Er würde sie alle vernichten! „Was glaubst du, mit wem du da sprichst?“, fauchte Judar und katapultierte sich mit einem Satz in die Lüfte.   Jetzt war es an den Soldaten, mit offenem Maul zu ihm aufzuschauen. Mit einer fließenden Bewegung zog er den kleinen Stab hervor und sammelte dunkles Magoi an der Spitze des roten Kristalls. Schwarze Rukh umschwirrten ihn sirrend. Dafür würden diese Bastarde bezahlen! Er würde sie alle mit Eiskristallen durchbohren! Plötzlich wurde er von einer erstaunlichen Kraft herum gerissen. Ächzend prallte er gegen die Palastmauer. Nur sein magischer Schild schützte ihn davor, sich sämtliche Knochen zu brechen. Mist. Er wusste, wer das war. Oh ja… „Schluss damit! Warum bedroht ihr einen der unseren, Soldaten? Und Judar, wie kommst du auf solch eine kindische Idee? Aus welchem Grund vergreifst du dich an unseren eigenen Männern?“, polterte eine mächtige Stimme. Befehlsgewohnt. Beinahe angsteinflößend. Überrascht ließ sich der Magi zu Boden sinken. Die Soldaten wichen zitternd vor ihm zurück. Dann fielen sie auf die Knie. „Verzeiht, eure kaiserliche Hoheit. Wir haben ihn nicht erkannt.“ Judar warf ihnen einen verächtlichen Blick aus roten Augen zu. Erbärmliche Heuchler. Doch dann besann er sich auf den, den er sowieso hatte sehen wollen. „Ach, Kouen, lange nicht gesehen!“, grinste er. Die Dschinnausstattung des Angesprochenen löste sich auf.   Der erste kaiserliche Prinz bedachte ihn mit einem respekteinflößenden Blick. Andere wären vor Angst erstarrt. Der Mann wirkte aber auch imposant mit den breiten, muskulösen Schultern und dem roten Haar. Und er war bewaffnet. Judar jedoch warf lediglich lässig den Zopf über die Schulter und lief ihm entgegen. Als sein Magi, der ihm zur Eroberung dreier Metallgefäße verholfen hatte, brauchte er ihn nicht zu fürchten. „Ist etwa der Priester wieder da, Bruder En?“, ertönte eine weitere, wohl bekannte Stimme. Glockenhell wie sie war, verschleierte sie gekonnt die wahre Natur ihres Besitzers. Verdammt, den schrecklichen Kerl hatte er beinahe schon verdrängt gehabt. Doch zur Flucht blieb keine Zeit mehr… „Oh, Judar, du kommst spät!“ Ehe er ausweichen konnte, klammerten sich kleine Hände um seinen Arm. Unerbittlich, wie ein Schraubstock. Rosafarbenes Haar kitzelte ihn unangenehm am Bauch und ebensolche Augen blickten groß zu ihm hinauf. Groß wie bei einem Reh. Ansonsten hatten sie nichts mit den unschuldigen Tieren gemein. Sie mochten zuerst so wirken, doch schnell ließ sich der Wahnsinn in ihnen erkennen. Zumindest, wenn man seit seiner Kindheit mit ihm in einem Palast lebte. „Balbadd ist so ein schwüles Land! Viel zu heiß! Ich schwitze wirklich schrecklich hier!“, beschwerte sich Kouha Ren, der dritte kaiserliche Prinz. Judar sträubte sich innerlich. Er hasste es, einfach so von anderen berührt zu werden. So vollkommen ohne Erlaubnis. Auch wenn er selbst nicht besser war. Was für eine schöne Begrüßung…Und was kümmerte den kleinen Kouha schon die Hitze dieses Landes? Er wollte doch ohnehin nur Aufmerksamkeit. „Wenn das so ist, dann geh weg von mir. Lass mich los. Du lässt mich schwitzen!“, beschwerte sich der Magi, obwohl der Kleine schon Recht hatte. Die Mittagssonne brannte unbarmherzig und die Luft fühlte sich auf seiner nackten Haut abgestanden und staubig an.   Maulend folgte der Junge dem Befehl und beobachtete ihn neugierig. Ein beängstigendes Verhalten, wenn man betrachtete, dass sie beide ungefähr im gleichen Alter waren. Kouha zeigte sein typisches, irres Lächeln. „Wo warst du?“ „In Sindria“, antwortete Judar höchst selbstzufrieden und bedachte ihn mit einem möglichst überheblichen Blick. Der Junge konnte einem echt Angst machen. Was für ein Glück, dass er selbst ein mächtiger Magi war, da konnte er sich immerhin verteidigen… Kouen hob bereits erwartungsvoll die Augenbrauen. „Was hast du da gemacht?“, drängte Kouha wissbegierig. Der Kleine war eine echte Nervensäge. Dann aber mischte sich auch der ältere Bruder ein: „Dafür dass du mich so lange hast warten lassen, musst du mir aber ein interessantes Geschenk mitgebracht haben.“ Oh ja, das hatte er wahrlich. Die Selbstzufriedenheit zeigte sich mittlerweile sogar im breiten Grinsen des Magi. „Ja…ich habe mich mit Sindbad getroffen. Und ihm und Sindria den Krieg erklärt!“ Die Brüder wechselten einen erstaunten Blick. „Ohne Einwilligung von Kaiser Koutoku?“ Plötzlich brach Kouen in herzhaftes Gelächter aus. Es klang eher wie ein Donnern. „Na, das passt ja hervorragend zum Magi unseres Reiches!“ In der Tat. Das fand Judar auch. Ihn scherte es einen Dreck, was andere ihm befahlen. Wenn er dem Idioten König Krieg erklären wollte, tat er das auch. Während sich die beiden Brüder immer noch blendend über seinen Ungehorsam amüsierten, schlenderte er an den frustrierten Wachen vorbei. Ihre bösen Blicke ließen seine roten Augen voller Vergnügen funkeln. Ja, er hatte es mal wieder allen gezeigt.   ~*~ Kapitel 3: Panik ---------------- ~*~   Beschwingten Ganges lief Judar durch die Flure des Militärstützpunktes. Nun fehlten ihm noch vier seiner Königsgefäße. Zuerst würde er Hakuryuu einen kleinen Besuch abstatten. Der Jüngste im Bunde hatte viel versprechende Anlagen, um sein liebster Königskandidat zu werden. Mit ein wenig Glück würde er dem Weg des schwarzen Magi folgen. Das konnte er fühlen. Er wusste, dass der Junge einen tiefen Groll gegen sein eigenes Reich hegte. Oder eher gegen seine eigene Mutter. Wenn das Schicksal dem Prinzen gewogen war, würden seine Rukh sich so schwarz färben, wie die seines Magi. Was für eine Ironie. Natürlich würde ihm das Schicksal dann nicht gewogen sein. Das war es jetzt schon nicht. Aber noch hasste der Kleine es nicht genug. Bis dahin lag noch ein ganzes Stück Weg vor ihm.   Eine halbe Stunde später schlug Judars  ausgelassene Stimmung in bittere Enttäuschung um. Der jüngste Metallgefäßbändiger war von seiner Reise nach Sindria noch nicht nach Hause zurückgekehrt. Hätten sie sich dann nicht dort treffen müssen? Wie schade! Dabei hatte er sich so sehr darauf gefreut dessen Dschinn und seine neuen Fähigkeiten zu bewundern! Wie konnte das Balg es nur wagen, sich einfach in der Welt herum zu treiben, wie es ihm passte? Schwarze Rukh umtanzten den jungen Mann ungehalten. Nun, er musste sich wohl vorerst mit Hakuryuus Schwester Hakuei zufrieden geben. Die Mädchen der kaiserlichen Familie fungierten ebenfalls als Generalinnen und waren nicht zu unterschätzen. Besonders Hakuei Ren. Die mutige, ausgeglichene Prinzessin, konnte überaus gut mit ihrer Dschinnausstattung umgehen.   Nach einer Weile des Herumstreunens, hatte Judar sie endlich aufgespürt. Vernahm ihre freundliche Stimme bereits vom Gang aus. Missgelaunt trat er die halb offenstehende Schiebetür beiseite und schritt ohne Ankündigung in den kleinen Raum. Hakuei befand sich mit ihrem Untergebenen Seisyun Ri in einem angeregten Gespräch. Die beiden machten einen sehr einträchtigen Eindruck, wie sie sich an einem kleinen Tischen gegenüber saßen und dampfenden Tee aus teuren Schalen tranken. Doch als der schwarze Magi mit seinem Fußtritt beinahe die Tür zertrümmert hätte, fuhr die junge Frau halb erschrocken, halb verärgert herum. Als sie ihn erkannte, nickte sie ihm lediglich freundlich zu und murmelte etwas von wegen „Oh, Priester, wie schön euch zu sehen“, bevor sie sich wieder ihrem Hausgefährten zuwandte. Sie nahmen nicht weiter Notiz von ihm. Ein wenig irritiert runzelte Judar die Stirn. Er war es nicht gewohnt, dass Leute ihn einfach so stehen ließen. Schon gar nicht von Hakuei. Sie wollte ihn bestimmt nur ein wenig ärgern. Für seinen wüsten Auftritt strafen. Wobei, das passte ebenfalls nicht zu ihr. Trotzig verschränkte er die Arme, wobei seine Armreifen klirrend aufeinander schlugen und lehnte sich gegen einen Holzbalken. Was bildete sie sich bloß ein, ihn warten zu lassen? Wieso machte er sich überhaupt die Mühe, seine Königskandidaten aufzusuchen, wenn sie entweder nicht anwesend, schrecklich nerv tötend, beängstigend gewalttätig oder beleidigend abweisend waren? Weshalb fand Hakuei eine Unterhaltung über Metallgefäße mit ihrem armseligen Untergebenen spannender, als die Anwesenheit ihres Magi? Schließlich hatte sie erst ihm ihre Macht zu verdanken. Er war derjenige gewesen, der sie eingeladen hatte, seinen Dungeon zu erobern! Womit dankte sie es ihm? Mit reiner Ignoranz. Die konnten ihm wirklich gestohlen bleiben!   Nun erst recht schlecht gelaunt, stapfte der Gefallene ins Freie. Die unbarmherzige Sommersonne strahlte ihm entgegen. Angewidert verzog er das Gesicht. Balbadd gefiel ihm nicht. Diese Hitze…unerträglich. Kouha hatte ausnahmsweise Recht behalten. Dabei war er für dieses Wetter beinahe passend angezogen. Sein bauchfreies Oberteil ließ wenigstens etwas Luft an ihn heran und die weiten Hosen bauschten sich erfrischend in jedem noch so sanften Windhauch. Doch seine Kleidung war schwarz. Schwarz wurde warm. Und das beschränkte sich nicht nur auf seine Kleider. Obwohl er sonst immer so stolz auf sein üppiges Haar gewesen war, es nie in seinem Leben abgeschnitten hatte, wünschte er sich in diesem Moment, es wäre um mindestens einen Meter kürzer. Oder blond, wie das von diesem verrückten Magi Yunan. Aber Blond war ebenso schrecklich hässlich, wie diese Sonne. Eine schwarze Sonne wäre viel besser, als dieses gleißende Leuchten. Scheußliches Wetter. Selbst in der Wüste konnte es nicht viel schlimmer sein. Wie sehr sehnte er sich nach Kou, wo er aufgewachsen war und die meiste Zeit seines Lebens verbracht hatte. Aber nein, die Rens mussten ja in diese ranzige Stadt pilgern, um von dort aus wichtige Regierungsgeschäfte zu erledigen…dass er nicht lachte. Wozu hatte man denn Boten? Ach, diese finsteren Gedanken nutzten ihm auch nichts. Ihm blieben nur noch zwei Königsgefäße.   Wieder hatte Judar eine ganze Weile mit dem Einholen von Informationen über den Aufenthaltsort der zwei verbliebenen vergeudet. Immerhin hatte er in Erfahrung gebracht, wo sich Kougyoku Ren, die achte kaiserliche Prinzessin versteckte. Verstecken traf es gut, denn offenbar befand sie sich mal wieder in tiefer Verzweiflung. Zumindest wollte sie niemanden in ihre Nähe lassen und hatte sich seit Stunden im Baderaum eingeschlossen. Nun, eigentlich tat sie dies ständig. Die Prinzessin kümmerte sich sehr um ihr Aussehen. Judar jedoch hatte beschlossen, sie trotzdem zu besuchen. Immerhin war auch er mittlerweile nur noch frustriert. Da konnte er ein wenig Aufmunterung durch das tollpatschige Mädchen gut gebrauchen. Wenig später ließ er den Riegel vor der Tür, hinter der sich seine Königskandidatin verbarrikadiert hatte, mit ein wenig Zauberei zerspringen. Dann schlenderte er selbstverständlich in den dunstverhangenen Raum. Man konnte kaum etwas erkennen vor lauter Nebel. Die Luft noch stickiger als draußen, geschwängert mit dem Geruch nach Seife und Haaröl. „Na, alte Hexe, setzt du mal wieder alles unter Wasser?“, begrüßte er die Prinzessin wie üblich gehässig. Dabei konnte er sie noch nicht einmal sehen. War sie etwa im Waschzuber ertrunken?   „Judar? Bist du’s?“, fragte da eine zaghafte Stimme. „Was denkst du denn?“, brummte er und tastete sich mit den Füßen vorsichtig durch den Raum, bis er gegen den Badezuber stieß. Suchend beugte er sich über die dampfende Wasseroberfläche. Wo war die Prinzessin denn bloß? Plötzlich blickte er in ein Paar erschrockene, magentafarbene Augen.  „Aaahhh! Geh weg! Warum bist du überhaupt hier drinnen? Ich wollte doch alleine sein!“, kreischte sie hysterisch und Wasser spritzte auf. Sie kniff die Lider zusammen, blies die Backen auf und musterte ihn mit vom Baden gerötetem Gesicht. Bitterböse. Der Magi ließ sich vorsichtig am Rand der Wanne nieder und starrte sie verstimmt an. Weshalb hatte er sich nur solche dummen Königsgefäße ausgesucht? Sicher, die anderen, die zur Verfügung standen waren noch schlimmer. Zum Beispiel dieser widerwärtige Ali Baba Saluja…es schauderte ihn allein bei dem Gedanken an diesen Versager. Aber es wäre doch schön, wenigstens einmal freudig empfangen zu werden. Und zwar von jemandem, der nicht Kouha hieß, vollkommen verrückt und so schrecklich anhänglich war.   Unterdessen duckte sich Kougyoku noch tiefer in ihr dampfendes Schaumbad. Wenn sie noch länger da drin hockte, würde sich ihre Haut sicher bald abschälen lassen, wie bei einer Zwiebel. Dann wären ihre Minderwertigkeitskomplexe endlich mal gerechtfertigt.  „Freust du dich etwa nicht, mich zu sehen?“, knurrte Judar böse. Bei diesem Empfang hätte er gleich in Sindria bleiben können. Die Prinzessin errötete noch stärker, falls das noch möglich war. Nun, ihr Gesicht hatte beinahe den gleichen Farbton wie ihr kirschrotes Haar. „Nein!“, gab sie trotzig zurück. „Ich freue mich kein bisschen, dich zu sehen, Judar. Ich wollte meine Ruhe haben und du platzt einfach unangemeldet hier rein“, schmollte sie, ehrlich gekränkt. Dann schwieg Kougyoku, wie es ihre Art war. Dumme Vettel. Judar wusste doch, dass sie sich immer freute, ihn zu sehen. Heute konnte sie es ruhig einmal zeigen. Nach dieser Pleite mit ihren Geschwistern, konnte er etwas Aufheiterung gut gebrauchen. Scheinbar musste er sich selber darum kümmern. Mit neuem Tatendrang, ließ er seinen Blick durch den vernebelten Raum schweifen. Es musste doch irgendetwas geben, mit dem man die Prinzessin ein wenig aufziehen konnte, als Strafe für ihr unzulängliches Verhalten. Da blieben seine Augen an einem kleinen, rosafarbenen Kristallglasfläschchen auf der Ablage hängen. Neugierig stemmte er sich am Wannenrand hoch und schlenderte über den glitschigen Boden hinüber. „Was machst du da?“, verlangte Kougyoku unsicher zu wissen. Der Magi ignorierte sie geflissentlich. Er schnappte den Flakon und musterte seinen Inhalt. Das farbige Glas machte eine nähere Bestimmung schwer. Aber es sah hübsch aus. Genau das richtige für eine Prinzessin, die derart auf ihre Schönheit bedacht war. Sobald er den Deckel öffnete, strömte ihm der verlockende Duft nach süßen Pfirsichen entgegen. Lecker. Sein Lieblingsobst. Eigentlich sogar seine Leibspeise. Ob man das trinken konnte? Mittlerweile hatte sein Königsgefäß bemerkt, was er da in der Hand hatte und kreischte sogleich hektisch los: „Judar? Stell das sofort wieder weg!“ Unwillig kratzte er sich am Kopf. „Warum? Darf man es sich nicht mal anschauen?“, nörgelte er und schwenkte das offene Fläschchen wild in der Luft herum. Ein paar Tropfen des Inhalts spritzten auf seine Hände und verbreiten sogleich ihren verführerischen Geruch. Aber die alte Hexe zeterte einfach weiter: „Was hast du mit meinem Pfirsich-Haaröl vor? Jetzt pass doch auf! Du hast schon alles verschüttet! Das war ein Geschenk von König Sindbad! In Sindria ist das die neueste Mode. Du hast ja keine Ahnung, was das für ein Vermögen wert ist!“ Etwas überrascht über diesen plötzlichen Redeschwall hielten sie beide inne. Dann zogen sich Judars Mundwinkel erfreut nach oben. Endlich. Er hatte seinen Spaß. „Mach es zu und stell es weg!“, fauchte die Prinzessin noch einmal. „Keine Lust. Das riecht, als könnte es gut schmecken!“ Er zwinkerte ihr spöttisch zu und genoss ihre entsetze Miene.   Kougyoku bekam unübersehbar Panik, dass der teure Inhalt des Fläschchens zwischen Judars Lippen verschwinden könnte, und wollte schon aus dem Badezuber schnellen. Im letzten Moment schien ihr jedoch einzufallen, dass sie in diesem Falle splitterfasernackt vor ihm stehen würde. Also ließ sie sich verzweifelt und hilflos zurück in das Wasser plumpsen. Zufrieden schraubte er das kleine Deckelchen wieder auf den Flakon. Erleichtertes Aufatmen begleitete seine Tat. Doch als er das Ding wieder an seinen Platz gestellt hatte, fiel ihm etwas Besseres ein. „Ehrlichgesagt kann ich das ziemlich gut gebrauchen!“, verkündete er begeistert, packte das Fläschchen und schob es flink unter sein Schultertuch. Dann schwebte er genüsslich Richtung Tür. Nicht lange. Die Prinzessin brüllte auf, als hätte man ihr grade das wertvollste auf der ganzen Welt genommen. Mit einem gewaltigen Platschen sprang sie aus der Wanne und stürmte ihm kreischend hinterher. Erschrocken, dass sie sogar ihre Scham für dieses Haarzeugs ignorierte, hechtete er zur Tür. Mit letzter Kraft stürzte er hindurch und knallte sie der aufgebrachten Kougyoku vor der Nase zu. Der Riegel fiel mit einem endgültigen Krachen davor. So, vorerst musste er sich nicht um eine Verfolgerin kümmern. Und er hatte sich mit wenigstens einem seiner Königskandidaten angemessen vergnügen können. Die kleine Prinzessin stellte immer eine gute Zielscheibe für kleine Stichelleien und anderen Ärger dar.     Nun blieb nur noch Koumei Ren. Der Besuch bei ihm würde Judar die größte Freude sein. Er konnte sich sogar vorstellen, wo er ihn antreffen könnte. Mit Sicherheit in seinem Schlafgemach, fleißig bei der Arbeit wie jeden Tag. Rund um die Uhr. Oder zumindest mit irgendetwas Anstrengendem beschäftigt. Irgendwomit musste sich seine stetige Müdigkeit schließlich erklären lassen. Guter Laune schritt der schwarze Magi seinem letzten Ziel entgegen. Der gestohlene Flakon schlug bei jedem Schritt schwer gegen sein Schlüsselbein. Ebenso wie das kleine Mitbringsel für das letzte Königsgefäß. Koumei würde sich bestimmt freuen, auch wenn Judar sein eigenes Geschenk eher abstoßen fand. Obwohl, wenn er ihm erzählte, dass er Sindria, ohne Erlaubnis des Kaisers, den Krieg erklärt hatte, wäre der Prinz sicherlich sprachlos vor Staunen. Oder wütend… Keine üble Vorstellung, den sonst so schläfrigen Zottel einmal kochend vor Zorn zu erleben. Sicher eine einmalige Gelegenheit. Während er etliche Flure passierte, begann er zu schwitzen. Kouha hatte wohl immer noch Recht. Balbadd war einfach nur ein schreckliches Land.   Endlich hatte Judar den Gang erreicht, indem sich der Gesuchte seines Wissens nach befinden sollte. Keuchend stemmte er die Arme in die Seiten. Verdammt, heute war echt zu viel passiert. Und diese Hitze. Wieso machte sie ihm erst jetzt so plötzlich zu schaffen? Aber nun hatte er hatte nichts mehr zu tun, außer Koumei zu besuchen. Danach konnte er sich ein paar Pfirsiche aus der Küche stehlen und vom Dach aus den weiten Nachthimmel betrachten. Alles in allem ein angenehmer Tag. Er hatte viel Spaß gehabt. Und gleich würde er ihn sicherlich immer noch haben. Vielleicht sogar noch viel mehr… Falls er jemals die richtige Tür fände jedenfalls. Wie ein Spion huschte der drahtige junge Mann über den Flur und linste verstohlen in verlassene Räume hinein. Mist. Wo hatte er denn noch nicht gesucht? Sich im richtigen Gang zu befinden schien ihm nicht viel zu nützen. Da erspähte er noch drei geschlossene Türen am Ende des Flures.   Plötzlich erstarrte er mitten in der Bewegung. Was war das für ein seltsames Geräusch? Angestrengt lauschend legte er den Kopf schief. Schon wieder… Ein kaum wahrnehmbarer Laut. Es klang nicht gut. Ein Stöhnen? Viel zu leise, um es sicher zu sagen. Angespannt schlich der Magi einige Schritte in Richtung der Türen. Es konnte nur von dort kommen, oder beobachtete ihn jemand heimlich von den geöffneten Zimmern aus? Vielleicht Kouha? Da war es wieder! Lauter jetzt. Es klang tatsächlich wie ein Stöhnen. Regelrecht gequält. Wie unheimlich. Ein kalter Schauer lief über seinen nackten Rücken. Wer war das? Und was hatte er für ein Problem? Er hatte den betreffenden Raum mittlerweile zweifelsohne erkannt, aber…was sollte er tun? Das Ächzen widerholte sich. Verdammt, das war eindeutig sein gesuchtes Königsgefäß! Hatte es über der ganzen Arbeit eine Herzattacke erlitten? Oder einen Anfall? Koumei besaß schließlich keine gute Gesundheit. Der Schlafmangel und die Überarbeitung machten ihn gewiss anfällig für so etwas.   Und die Geräusche, die an Judars Ohren drangen, hörten sich nach Schmerzen an.  Rang er um sein Leben? Kämpfte er mit dem Tod? Panik erfüllte seine Brust.  Er fürchtete sich vor dem Anblick, der ihn erwartete. Zitternd legte der Magi seine Hand auf den Türgriff. Was würde er da sehen? Am liebsten wäre er geflüchtet. Aber es half ja nichts. Bis er Hilfe geholt hätte, konnte es längst zu spät sein. Also fasste er sich ein Herz. Riss mit einem verzweifelten Ruck die Tür zur Seite. Was er erblickte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.   ~*~ Kapitel 4: Zwischen Schatten und Licht -------------------------------------- Zwischen Schatten und Licht (Traum)   *~*   Finsternis. Nur das ersterbende Flackern von schwächlichen Fackeln. Koumei schluckte. Wo war er bloß? Ihm kam es vor, als stünde er auf einer hohen Plattform. Um ihn herum nur schwarzer Abgrund. Ohne Brüstung, ohne Geländer, ohne Schutz… Vorsichtig ließ er sich auf die Knie sinken und kroch auf die nächste Kante zu. Späte hinab in die undurchdringliche Dunkelheit. Das wenige, das er sah, ließ seinen Atem stocken. Er hockte auf einem turmhohen Bücherstapel! Auf riesigen Büchern! Mit Seiten, doppelt so groß wie er! Nein, sie waren noch viel größer! Kein Schimmer, wie weit der Turm in die Höhe ragte, die Finsternis verschlang alles Sichtbare nach wenigen Metern. Aber das schlimmste war: Er war alleine! Ganz alleine an diesem merkwürdigen, nicht existenten Ort. Ohne seine Geschwister. Noch nicht einmal ein Palastdiener befand sich in der Nähe. Immerhin hatte er keine übersteigerte Höhenangst. Das wäre auch lächerlich für einen Metallgefäßbändiger.  In der Dschinnausstattung gehörte das Fliegen zu den selbstverständlichsten Dingen.   Oh, vielleicht war er doch nicht so alleine, wie gedacht… Sein Blick fiel auf den gefiederten Fächer. Dantalion! Sie würde ihm bestimmt helfen können. Was für eine gute Idee. „Geist des Raumes und der Zeit, Dantalion! Fahre in mich!“, sprach er die gewohnten Worte. Der achtzackige Stern an seinem Metallgefäß leuchtete auf. Strahlendes Licht brach aus ihm hervor. Doch anstatt seinen Körper zu umhüllen, wie es sonst immer der Fall war, formte sich aus ihm eine dämonische Gestalt. Eine riesige, junge Frau mit blauer Haut und einem Paar mächtiger, gewundener Hörner an den Schläfen. „Hallo, mein Koumei!“, zwitscherte sie und zwinkerte ihm zu. Ihr Lächeln hatte etwas Verschlagenes. Verdutzt starrte ihr Herr sie an. „Wieso hast du meinen Befehl verweigert?“, fragte er konfus. Die Dschinniya (weiblicher Dschinn) verschränkte die Arme vor der Brust. Plötzlich war da nichts fröhliches mehr. Ein trotziger Ausdruck trat in ihr Gesicht.   „Weil ich es satt habe! Immer muss ich dir meine Kräfte leihen, ohne je ein Wort des Dankes oder gar des Lobes zu hören.  Noch dazu für den Kampf! Obwohl ich dafür nun wirklich nicht geschaffen bin!“ Koumei war so perplex, dass er nichts entgegnen konnte. Das musste ein Traum sein! Ein ungehorsamer Dschinn? Davon hatte er noch nie gehört. Dabei wusste er so einiges. An Wissen und Intelligenz übertraf er die meisten Leute. Jedenfalls am Kaiserhof. Während er sich noch wunderte, zeterte die Frau immer weiter: „Du benutzt mich immer nur, wenn du in Schwierigkeiten bist. Nie sorgst du dich um mich. Nie hast du mich gefragt, ob es in Ordnung ist, wenn du dir einfach so meine Kräfte leihst. Typisch Mann! Dabei habe ich dir immer so viel Macht gegeben. Ich habe dich ausgewählt, weil ich dachte, dass du zu mir passt! Viel besser als dieser unflätige Kraftprotz Kouen oder dieser verrückte Kouha Ren! Aber selbst du siehst mich lediglich als Werkzeug! Meine Magie ist beinahe einzigartig. Wer, außer mir, kann denn schon ganze Berge versetzen? Wer, außer mir, kann ganze Truppen eures Heers in Sekundenschnelle an ihren Einsatzort bringen und euch den Sieg sichern? Na? Dein Verdienst ist das ganz sicher nicht, du Zottel!“   Koumei blinzelte verwirrt. Dass ein Dschinn ihm Widerworte gab und ihn beleidigte, irritierte ihn wie kaum etwas je zuvor. Noch dazu Dantalion! Seine gehorsame Unterstützerin, die ihn für seine kaiserliche Familie unentbehrlich machte. Seine größte Stärke. Ja, er hatte sie wirklich nie besonders beachtet, wenn er nicht grade ihre Hilfe benötigte, aber das taten die anderen Metallgefäßbändiger doch auch nicht! Ein Dschinn war dazu verpflichtet, seinem Herrn, den er sich ja in gewisser Weise selber aussuchen konnte, treu zu Diensten zu sein. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass sich seine Dantalion vernachlässigt fühlte. Und natürlich wusste er nicht, was er dagegen tun sollte. Ehrlichgesagt hatte ihn ihr widerspenstiger Auftritt bereits derart aus der Fassung gebracht, dass er überhaupt nicht mehr wusste, wie er sich verhalten sollte. Offenbar kümmerte es die Frau noch nicht einmal mal, dass sie sich beide in einer merkwürdigen und, wie es aussah, ziemlich unglücklichen Situation befanden.   Ratlos kratzte er sich am Kopf. Er wollte hier weg. So schnell wie möglich. Doch die Dschinniya war noch nicht fertig mit ihm. „Aber diese Ignoranz ist nicht das Einzige, was ich einfach nicht mehr ertragen kann!“, fauchte sie, entrüstet, dass ihr Herr außer seiner offenkundigen Verwirrung keinerlei Reaktion zeigte. Ein wenig Reue wäre doch sicher angebracht! Koumei krempelte, um Zeit zu schinden, die störenden Ärmel seiner Gewänder hoch. Dies erforderte scheinbar seine gesamte Aufmerksamkeit. Wenn man ihn beobachtete, hatte es den Anschein, dass dies eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe darstellte.  „Ähm…und was ist das?“, erkundigte er sich schließlich zögerlich, bevor Dantalion noch vor Groll explodierte. Die Dschinniya fletschte die Zähne. „DU!“, keifte sie und stach ihm mit einem gewaltigen Finger in die Brust, sodass er zurücktaumelte. Dabei kam er dem Abgrund beängstigend nahe.  „Es ist widerlich, deine Dschinnausstattung zu sein, wenn du mal wieder wochenlang ohne Pause durchgearbeitet hast! Du hast Pickel, trägst komische Kleider und du siehst ungepflegt aus! Vor allem solltest du dich wirklich öfter waschen! Du bist mager und schwach, kannst ja kaum ein Schwert heben! Außerdem hast du die schwärzesten Augenringe, die ich jemals gesehen habe, was schon etwas heißen will, so lange wie ich bereits auf dieser Welt lebe! Du bist und bleibst einfach ein verlotterter Zottel!“   Koumei schluckte vor so vielen harten Worten. Das war ja wohl die Höhe. „Dantalion, beruhige dich doch!“, meinte er mit möglichst besänftigender Stimme. Es fiel ihm nicht sonderlich leicht, freundlich zu bleiben. „Es ist nur zu verständlich, dass du dich übergangen fühlst, aber vielleicht hast du bereits bemerkt, dass wir uns in einer misslichen Lage befinden. Für deine Probleme finden wir auch später noch genügend Zeit.“ Die Frau schüttelte nur beleidigt den Kopf und schmollte regelrecht. So etwas war dem Prinzen noch nie passiert. „Was starrst du mich so missmutig an?“, schnappte Dantalion plötzlich. „Ich weiß, dass du ein Problem hast. Aber bilde dir nicht ein, dass ich dir in deinem erbärmlichen Leben auch nur noch ein einziges Mal helfe!“ Koumei wedelte ratlos mit dem Fächer. Wie konnte er seinen Dschinn davon überzeugen, das zu tun, was seine Aufgabe war? Er war so schlecht darin, mit anderen Leuten umzugehen. Vielleicht sollte er es mit Schmeicheleien versuchen? Ein Versuch war es wohl wert. „Meine verehrte Dantalion, verzeih mir meine Ignoranz. Ich verspreche dir, dass ich in Zukunft mehr auf dich achten werde. Nur kann ich uns ohne deine Hilfe wirklich nicht von hier fortbringen.“ Der Rothaarige stöhnte innerlich. Das klang ja hohl wie eine faule Nuss. Und wer sagte, dass dieser Bücherturm seiner Dschinniya nicht sogar gefiel? Vielleicht wollte sie ja sogar an diesem leeren Ort verweilen. Ein süffisantes Grinsen zierte ihr hübsches Gesicht. „An deiner Stelle hätte ich das auch versucht, du nutzloses Königsgefäß! Aber ich kann dir sagen, wie wir von hier fortkommen!“   Koumeis finsteres Gesicht hellte sich einen Moment lang auf. „Tatsächlich?“, wollte er begierig wissen. Dantalion strich sich aufreizend das Haar aus dem Nacken. „Aber gewiss doch, mein Koumei!“, flötete sie. „Dann sag es mir“, seufzte er. Nerv tötende Frauen verlangten ihm eindeutig zu viel Energie ab. Ermüdend. Wieso konnten sie nicht einfach den Mund halten und tun, was man von ihnen verlangte? „Ach, mein süßer, kleiner Herr General ist so unsensibel“, lächelte sie boshaft. „Habt ihr bei Hofe niemals gelernt, wie man sich einer Edeldame gegenüber verhält, eure Hoheit?“ Koumei raufte sich verzweifelt die Haare. Konnte man sie überhaupt als Edeldame bezeichnen? Sie war noch nicht einmal ein Mensch. Natürlich hatte man ihn höfisch erzogen, doch mit den meisten Leuten kam er nicht sonderlich gut zurecht. Dantalion verdrehte spöttisch die Augen. „Anscheinend hat man eure Ausbildung diesbezüglich vernachlässigt, Prinzlein. Aber der gnädigen Dantalion genügt bereits ein winziges ‚Bitte‘.“ Nun, das sollte sein geringstes Problem sein, wenn sie nur endlich von hier fortkämen. „Bitte“, sagte er mit fester Stimme und legte seine respekteinflößendste Miene auf. Immerhin das sollte er dank seiner Tätigkeit als General mittlerweile gelernt haben.   Seine Dschinniya spielte unterdessen betont interessiert mit ihren Haaren. Mit provozierender Langsamkeit beugte sie sich zu ihm hinab. „Habe ich dich richtig verstanden, mein Koumei?“ „Bitte“, widerholte er unerschütterlich, in der Hoffnung, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen.   „Was hast du gesagt?“ Oh, wenn er wieder Herr der Lage wäre, würde er sie wochenlang nicht mehr herbeirufen. In einer solchen Situation mochte er keine nervigen Machtspielchen. Obwohl er ansonsten eine hohe Reizschwelle besaß, kochte der Zorn langsam in ihm hoch. „Bitte!“, brüllte er mit ungewohnt lauter Stimme. „Na gut, na gut!“, wehrte Dantalion ab. Sie schien ein wenig erschrocken über seinen unerwarteten Ausbruch. Genau wie er selbst. Meist war er viel zu erschöpft, um so herum zu schreien. Doch viel zu schnell legte sie wieder ihr überhebliches Grinsen auf. Es zeigte ihm ganz klar, dass Menschen für die Dschinniya nur winzige, schwächliche Gestalten darstellten.   „Wenn du so nett bittest, werde ich dir den Weg nach unten zeigen!“, beteuerte sie und zwinkerte ihm wieder zu. Diese gehörnte Frau machte ihn verrückt. Was sollte das? Wollte sie ihn nervös machen? Glaubte sie, ein Dschinn hätte irgendeine anziehende Wirkung auf einen Menschen? Nun, eigentlich verhielt sie sich von ihrem Wesen her mehr wie ein Dämon, so boshaft wie sie war… Dantalion räusperte sich entrüstet: „Hörst du mir etwa nicht mehr zu?“ „Doch natürlich!“, entgegnete er empört. „Gut“, sie leckte sich genüsslich über die Lippen, „wenn ihr diesem schrecklichen Ort entfliehen möchtet, müsst ihr nur in den Abgrund springen, mein Prinzlein!“ Entgeistert öffnete ihr Metallgefäßbändiger den Mund zu einer Erwiderung. Doch er blieb ihm lediglich offen stehen. „Was?“, schnappte sie. „Willst du nicht?“ „I-ich hatte eher daran gedacht, dass du mir wie üblich deine Kraft zum Fliegen leihst oder mir einen guten Ratschlag gibst.“ Dantalion fletschte die Zähne. „Das habe ich doch und du bist immer noch unzufrieden? Du undankbarer Schelm!“ Ehe er sich‘s versah, hatte ihn eine blaue Hand am Kragen gepackt und in die Luft gerissen. Hielt ihn über die Buchkante. Schwenkte ihn hin und her, wie einen Staubwedel. Unter seinen baumelnden Füßen nur Schwärze. Ein Schuh fiel lautlos hinab. Kein Aufschlag war zu hören. Verdammt. Was ging nur im Kopf dieses Dschinn vor sich? „D-dantalion?“, brachte er grade noch hervor, als sie ihn auch schon in den Abgrund stürzen ließ.   Die Finsternis verschluckte ihn. Seine Eingeweide zogen sich beinahe schmerzhaft zusammen. Koumei wollte schreien, aber das einzige, was seine zugeschnürte Kehle hervor brachte, war ein heiseres Krächzen. Es verlor sich in der Schwärze. Sein Haar peitschte im Wind, löste sich und flatterte um ihn herum, wie ein rotes Banner. Seine Gewänder bauschten sich auf, doch sie konnten den rasenden Sturz nicht stoppen. Würde er auf ewig so fallen? Was für ein schreckliches Gefühl. In der Dunkelheit, fern von jedem Licht. Wie sollte er so jemals wieder Schlaf finden? Da blitzte etwas Weißes vor seinen Augen auf. Aus reinem Reflex heraus haschte er danach. Doch der Luftstoß wehte es davon. Dann ein Rascheln. Eine unendliche Zahl an Blättern und Akten regnete von oben herab. Einige fielen schnell, holten ihn ein, zogen an ihm vorbei. Andere segelten elegant durch die Gegend. Nach etlichen versuchen gelang es ihm endlich, eines der Blätter einzufangen. Rechnung für die Ausstattung des Westheers mit Eisenschwertern. 5 Millionen Kou? (Währung des Kou Reichs) Rechnung für die Renovierung des Palastes in Rakushou. 1 Milliarde Kou?! Rechnung für den Umbau Balbadds nach Kou Art. 1 Billionen Kou?!!! Und es ging immer weiter! Wie schrecklich! Wer hatte denn bloß diese unnötige Geldverschwendung angeordnet? Das waren ja alptraumhafte, völlig übertriebene Summen. Irreal. Selbst wenn die Währung einer starken Inflation unterworfen war… besaß der Kaiser überhaupt so viel Geld?   Wieso konnte er das alles überhaupt sehen?  Er war doch in einen finsteren, lichtlosen Abgrund gestürzt. Irgendetwas stimmte hier doch nicht! Da! Ein gedämpftes  Licht strahlte von unten. Er fiel direkt darauf zu. Bald konnte er erkennen, dass er in eine nahezu bodenlose Bücherschlucht fiel. Das Licht wurde immer stärker. Nur Seiten um Seiten, die an ihm vorbei rauschten. Nach einer halben Ewigkeit, in der er sich beinahe mit seiner Situation abgefunden hatte, tauchte in der Tiefe wieder Schwärze auf. Was war das? Es beunruhigte ihn. Kam immer näher. Er wollte das nicht. Aber da war nichts, was seinen rasenden Fall stoppen könnte. Die Bücherwände waren viel zu weit entfernt. Die wirbelnden Rechnungen nichts, was ihn hätte aufhalten können. Und er wollte sie auch nie wieder ansehen. Sie waren zu grauenhaft. Nahezu traumatisierend. Da wusste er plötzlich, was da immer näher kam. Auf den ersten Blick wirkte es wie ein schwarzer Spiegel. Eine glatte Fläche. Dann, berührten sie die ersten Blätter. Wo sie auf der Oberfläche auftrafen, kräuselte sie sich. Kreisförmige Wellen breiteten sich aus. Wurden plötzlich zu einem tobenden Meer.     Schwarze Tinte. Dabei konnte er gar nicht schwimmen. Sie würde ihn verschlingen. Doch ehe er Angst verspüren konnte, schoss er in die aufgewühlte Flüssigkeit hinein. Tauchte Dunkles Nass durchtränkte seine Kleider. Durchnässte sein Haar und färbte seine weiße Haut. Drängte in Augen, Mund und Nase. Durchdrang alles. Verschlang das Licht. Verzweifelt strampelte und trat er um sich. Wo war die Oberfläche? Er konnte nicht atmen. Nichts hören, außer dem gefräßigen Schwappen.   Dantalion, dachte er, warum hilfst du mir nicht? Sein Dschinn war ihm nicht gefolgt. Hatte ihn zurückgelassen und ins Verderben geworfen. Da durchstieß sein Kopf die Wellenberge. Hektisch schnappte er nach Luft. Stöhnte vor Schmerzen. Riss die Augen auf. Doch alles um ihn herum war schwarz. Die Tinte raubte ihm alle Sinne. Machte ihn blind und taub. Zerrte ihn unerbittlich hinab. Er kämpfte. Schlug und trat. Wild. Verbissen. Mit letzter Kraft. Nutzlos. Seine schweren, vollgesogenen Gewänder zogen ihn hinab. Dicke Flüssigkeit drang in seinen Mund. Das durfte nicht sein, er brauchte Luft! Seine Lungen schmerzten. Er durfte nicht einatmen. Das wäre das Ende. Aber seine Lungen flehten ihn an. Brannten wie Feuer. Er schnappte nach Luft. Endlich schoss die Tinte in ihn hinein. Floss wie ein Strom schwarzer Rukh in seine Lungen. Drückende Dunkelheit.   D-Dantalion…hilf mir…oh bitte…   l…ass…mi…ch…nic….ht…a…l….l…e…i…n…   Löschte ihn aus. Diese Schmerzen. Ein ersticktes Ächzen. Sein Herz warf sich gegen seine Brust. Lechzte nach Sauerstoff. Schlug mächtiger und lauter, als ein Steinhagel gegen seine Rippen. Er sank hinab. Die Lippen in einem lautlosen Schrei verzerrt. Da war nur noch das wilde Rasen seines verlorenen Herzens. Dieses unerträglich laute Pochen. Ein letzter Schlag. Und dann…   …gleißendes Licht…   *~*     Kapitel 5: Fehlinterpretation -----------------------------   ~*~   Kaum hatte Judar die Tür mit einem lauten Knall aufgerissen, wünschte er sich, es niemals getan zu haben. Lähmendes Entsetzen breitete sich in seinem Körper aus. Ließ ihn im Türrahmen erstarren. Das durfte nicht sein. Der Anblick, der sich ihm bot glich einem Massaker. Überall lagen verstreute Blätter: Rechnungen, Briefe, Gesetztestexte, er hatte keine Ahnung, was die alle hier verloren hatten. Kreuz und quer darüber verteilte sich wild verspritze Tinte. Feder und Tintenfass lagen zerbrochen am Boden. Aber das war nicht das Schlimmste. „K-Koumei?“, fragte Judar ungewohnt zaghaft. Er wunderte sich selbst über seine Betroffenheit. Keine Reaktion. Angst fraß sich in sein Herz. Der zweite kaiserliche Prinz kauerte zusammengesunken vor seinem Schreibtisch. Bewusstlos. Sein Kopf ruhte unter einem Berg von roten Zotteln auf der Tischplatte, als sei er einfach während der Arbeit zusammengebrochen. Die dünnen Handgelenke daneben zitterten so stark, dass die herzförmigen Anhänger an seinen Armbändern klirrend hin und her pendelten. Seine Finger krallten sich unkontrolliert in zwei völlig zerknüllte Schriftstücke. Wieder drang ein gequältes Geräusch unter der Haarmähne hervor. Tinte tropfte von der Oberfläche des Holzes auf die zerknitterten Gewänder hinab wie blaues Blut. Der schwarze Magi schluckte erschüttert. Was war das für ein seltsamer Anfall? Was fehlte seinem Königsgefäß bloß? Brauchte er Hilfe? Verdammt, sein Gegaffe brachte ihn auch nicht weiter! Zögernd verharrte er mitten im Schritt. Dann rang er sich endlich dazu durch, einzutreten. „K-Koumei? Kannst du mich hören?“, presste er grade so hervor. Keine Antwort. Nicht einmal mehr ein Stöhnen. Er sollte endlich jemanden zu Hilfe rufen. Aber konnte er jetzt einfach so verschwinden? Nein, nicht dass es dann bereits zu spät war. Also bahnte er sich voller Unruhe seinen Weg zwischen den rutschigen Blättern hindurch zu seinem Prinzen.   Aus der unmittelbaren Nähe wirkte das Ganze noch viel grauenhafter. Koumei bebte am ganzen Körper. Kalter Schweiß perlte über seinen Nacken. Ob es an der Sommerglut lag? Hatte er sich vielleicht überanstrengt und dann einen Hitzschlag erlitten? Judar kniete sich neben seinen Königskandidaten und rüttelte ihn sanft an der Schulter. Doch das einzige, was er damit bewirken konnte, war, dass dessen Hände leblos von der Tischplatte rutschten.  Beunruhigt griff der schwarze Magi nach seinen Armen. Tastete nach einem Lebenszeichen. Da musste doch irgendwo ein Puls sein! Aber er spürte keinerlei Pochen oder sonstiges. Nun bekam er es wirklich mit der Angst zu tun. „Verdammt, alter Zottel, das kannst du doch jetzt nicht machen!“, jaulte er verstört. Wollte sein Königsgefäß ihn etwa verlassen? Das durfte es nicht! Es gab nichts Schlimmeres für einen Magi, als seine Auserwählten zu verlieren. Angsterfüllt fasste er die Haare des anderen zusammen und strich sie ihm aus dem Gesicht. Koumeis Stirn schien regelrecht zu glühen. Darauf ein riesiger Blauer Fleck. Seine vernarbte Haut schimmerte leichenblass, ein scharfer Kontrast zu den Tintenspritzern auf seinen Wangen. Ein schmales Speichelrinnsal lief ihm aus dem Mundwinkel. Die sonst schon so schmalen Augen waren jetzt vollständig geschlossen. „Koumei!“, brüllte Judar panisch und schüttelte ihn nun gröber. Das konnte doch nicht wahr sein! Durfte nicht wahr sein! Wie konnte ihm sein Königsgefäß das nur antun? Sie alle wussten doch, dass es für einen Magi schrecklich war, einen Kandidaten, den er einmal auserwählt hatte, zu verlieren. Aber auch seine verstörten Gedanken brachten ihm Koumei nicht zurück. Eine schmerzhafte Leere erfüllte sein Herz.   ~*~                                                                                                                      *~*   Dieses Licht… wieso war es nur so schrecklich hell? Und dann dieser Krach… was sollte das? Benommen blinzelte Koumei unter seinen vom Schlaf verklebten Wimpern hervor. Ach ja… es war ja noch mitten am Tag… oder? Nun, die Sonne schien tiefer am Himmel zu stehen und strahlte rötlich am wolkenlosen Himmel. Das erkannte er an dem Lichtmuster auf seinem Schreibtisch. Bis zu ihrem Untergang konnte es sich nur noch um ein paar Stunden handeln. Trotzdem…diese Hitze… sie brachte ihn um. Er fühlte sich so verschwitzt und schmutzig, wie lange nicht mehr. Herrje, wieso konnte er denn nicht einfach weiter schlafen? Wieso war er überhaupt aufgewacht? Es konnte nicht nur an diesem Lärm liegen! Da trat langsam die Erinnerung an den seltsamen Traum in sein Gedächtnis. So merkwürdig klar…fast schon real. Der Wunsch nach mehr Schlaf verpuffte schlagartig. „D-Dantalion!“, stammelte er. Fahrig tastete er nach seinem Fächer, doch er fand ihn nicht. Stattdessen griff er mit seinen zittrigen Fingern in etwas Spitzes. Es stach. Verdammt. Er musste schleunigst prüfen, ob sich die Dschinniya wieder beruhigt hatte… Aber jetzt blutete er… Noch nie hatte er sich nach dem Schlafen derart schlecht gefühlt. So schlecht, dass er nicht mal sagen konnte, warum genau es ihm so furchtbar ging. War es vielleicht sein Kopf? Keine Ahnung. Diese Anstrengung konnte er sich also keinesfalls zumuten… Er schaffte es grade noch, sich den dünnen Speichelfaden, der rätselhafterweise aus seinem Mund troff, mit dem Ärmel wegzuwischen. Überall lag Papier verstreut. Tinte war darüber verlaufen. Wie hatte ihm das denn passieren können? Litt er an Halluzinationen? Es sah aus, wie auf einem Schlachtfeld, soweit er das zwischen seinen zu Schlitzen verengten Augenlidern erkennen konnte. Er brauchte wirklich Ruhe…   Plötzlich gruben sich zwei grobe Hände in sein zerzaustes Haar. Der Geruch von Sandelholz und Patschuli stieg aufdringlich in seine Nase. Oh und nicht zu vergessen Pfirsich. So roch nur ein einziger Mensch, den er kannte. Leider.  „Wie kannst du es wagen, mir einen solchen Streich zu spielen, dämlicher Zottel?!“, fauchte eine vor Aggression triefende Stimme. Viel zu laut. Ihm klingelten die Ohren. Sein Kopf wurde schmerzhaft nach oben gerissen. Was hatte der denn hier verloren? Koumei versuchte schlaftrunken den Kopf zu drehen und erblickte schließlich die Quelle allen Übels. „Priester…“, stöhnte er gequält. Jetzt war es mit der Ruhe vorbei. Moment. Was hatte der ungehobelte Kerl in seinem Schlafgemach und Arbeitszimmer verloren? Ehe er zu der entrüsteten Gestalt aufschauen konnte, sank ihm wieder müde das Kinn auf die Brust. „He! Bleib gefälligst bei Bewusstsein!“, keifte der andere. Koumei registrierte den verängstigten Unterton nur nebenbei. Ein Riss an seinem Zopf und zartes Rosé traf auf tiefdunkles Rot. Die stechenden Augen des schwarzen Magi bohrten sich in die seines verloren geglaubten Königsgefäßes. Versuchten seinen diffusen Blick aufzufangen. Vergebens. Eine harte Ohrfeige ließ Koumei vollends zu Boden gehen. Papierbögen segelten auf seine Brust herab, als er regungslos auf dem Holz liegen blieb. Was kümmerten sie ihn? Sein Blick schweifte irrlichternd über die Decke. Sie kam immer näher… Schlimmer als in seinem Albtraum! Zitternd drehte der den Kopf zur Seite. Er bemerkte verschwommen ein Paar nackte Füße, dann zwei Knie, die sich neben ihm niederließen. Alles drehte sich… Sein Kopf schien zu zerspringen. „K-Koumei?“ Die Stimme seines Hohepriesters klang verunsichert. Er antwortete nicht. Konnte sich plötzlich nicht an die richtigen Worte erinnern. Die Kehle war ausgedörrt. Der kalte Schweiß ließ ihn mit einem Mal frösteln. „Hey, ich rede mit dir, Zottel!“, jaulte Judar erzürnt und schüttelte ihn, sodass er nur noch Sterne sah. Nun erst bemerkte Koumei, an dem Tonfall des Jüngeren, dass es etwas gab, um das sich der Hohepriester sorgte. Um ihn. Der kindische, verhätschelte, arrogante Magi bekam Panik, nur weil sein Prinz auf dem Boden lag, kurz davor, weg zu dämmern? Wie überflüssig. Da kippte die Welt auf die Seite. Wieder breiteten sich diese schwarzen Punkte vor seinen Augen aus. Sein Herz begann zu rasen. Vielleicht war die Panik um ihn nicht so unberechtigt, wie gedacht? „Judar…“, brachte er krächzend hervor. „Wasser!“   Kaum hatten sich die Worte über seine Lippen gequält, klatschte ein Schwall der kühlen Flüssigkeit auf sein Gesicht. Hustend schnappte er nach Luft, schluckte dabei mindestens die Hälfte und blieb dann ermattet liegen. Doch sobald das rettende Nass über seine Zunge perlte, fühlte er sich besser. Ein Glas wurde an seine Lippen gehoben und mehr Wasser lief in seinen Mund. Der Schwindel verschwand beinahe gänzlich. Ebenso das Herzrasen. Als er die Augen öffnete, starrte er direkt in die finstere Miene des Hohepriesters.   „Was um alles in der Welt hast du dir dabei gedacht?“, keuchte Judar voller Entsetzen und schüttelte verstört den Kopf. Sein unbedeckter Bauch hob und senkte sich mit seinen hastigen Atemzügen. Der Magi hatte sich gefürchtet. „Warum grinst du denn jetzt so bescheuert?!“  Koumei konnte nicht anders. Trotz seines miserablen Zustandes und seinem eigenen bedauernswerten Aussehen belustigte ihn das verängstigte Gesicht. So erlebte man den schwarzen Magi schließlich nicht oft. Genauso selten wie seine Hilfsbereitschaft grade eben. Gewöhnlich war Judar zu verzogen und verwöhnt, um irgendetwas, das ihm keinen Spaß machte, selbst in die Hand zu nehmen. Ja auch der Magi war faul. Wenn auch nicht süchtig nach Schlaf, aber kein Wunder, wenn er ihn jederzeit haben konnte, vermisste er ihn wohl auch nicht. Koumei rappelte sich vorsichtig wieder in eine sitzende Position auf. Schlagartig klärten sich seine Gedanken. Auch seine Wahrnehmung schärfte sich wieder. Offenbar hatte er sich nicht getäuscht. In seinem Zimmer herrschte das reinste Chaos. Die verstreuten Manuskripte waren wohl größten Teils ruiniert. Kouen würde ausrasten. Doch das kümmerte ihn jetzt nicht mehr, denn ihn beschäftigte eine viel wichtigere Frage: Wo war sein Fächer? Ah, er lag rätselhafterweise hinter dem Bett. Wie kam er dorthin? Schwankend versuchte er, auf die Beine zu kommen. Das war allerdings zu viel. Seufzend sank er wieder auf die Knie. Judar warf ihm von oben herab einen tödlichen Blick zu. Der junge Magi hatte sich gar nicht verändert, obwohl er ihn einige Zeit nicht mehr gesehen hatte. Immer noch trug er die gleiche, seltsam freizügige Kleidung, in der sich ein Mann seiner Stellung besser nicht der Öffentlichkeit präsentieren würde. Nun, hier half sie gewiss gegen die unerträgliche Hitze, auch wenn sie Sonnenbrand begünstigte. Selbst wenn der schwere Zopf, der wie immer über den Boden schleifte, diesen positiven Effekt wieder zu Nichte machte. Trotzdem irgendwie beneidenswert. Interessiert ließ er den Blick weiter über den jungen Mann schweifen. An der Ausbeulung in Judars weißem Schultertuch erkannte er, dass sein Magi wohl mal wieder etwas gestohlen hatte. Dieser hoffnungslose Unruhestifter.   Nach einer Weile des betretenen Schweigens, verschränkte der Gefallene plötzlich trotzig die Arme vor der Brust. „Freust du dich denn gar nicht, mich zu sehen?“, maulte er. Aus irgendeinem Grund wirkte er beleidigt. „Pah, kein Wunder, dich kümmert schließlich nichts außer deinen Papierstapeln!“, knurrte er und trat wütend gegen den Tisch, sodass noch mehr Zettel zu Boden segelten. Welch ein unverschämtes Auftreten. Koumei sollte den ungehobelten Kerl aus seinen Gemächern werfen. Aber…in diesem Zustand konnte er sich nicht zu einem Eingreifen durchringen. Also hielt er dem vorwurfsvollen roten Blick lediglich stand und versuchte angestrengt, wach zu bleiben. „Kannst du dir eigentlich vorstellen, was für einen Schrecken du mir eingejagt hast?“, brach es schließlich aus seinem Magi hervor. Ja, das konnte er, so aufgebracht wie Judar sich gebärdete. Vielleicht sollte er stolz darauf sein, dem jungen Mann so etwas wie Empathie entlockt zu haben. „Ich dachte du hättest einen Anfall und wärst am Abkratzen, als ich rein gekommen bin!“, fauchte Judar. Koumei hob milde überrascht die Augenbrauen. Was für eine ungebildete Wortwahl. Wie dumm dieser Kerl war. Hatte er denn nicht erkannt, dass er lediglich einen Albtraum hatte? Einen der schlimmsten Sorte zwar und etwas dehydriert und überhitzt war er auch gewesen, aber doch nichts Lebensbedrohliches. Vielleicht hatte sich der Magi auf seiner Reise ein wenig überanstrengt. Das konnte wie der Prinz aus eigener Erfahrung wusste schwerwiegende Auswirkungen auf die eigene Wahrnehmung haben. „Ich denke nicht, dass mir so etwas passieren würde, dennoch danke ich dir für deine Hilfe“, erklärte er distanziert. Wieso konnte er denn nicht endlich aufstehen? Er musste zu seinem Fächer und überprüfen, ob Dantalion ihm, wie gewöhnlich, gehorchte. Doch seine eigene Schwäche und Judars Zorn hielten ihn davon ab.   Um die angespannte Stimmung ein wenig zu lockern fragte der Rothaarige: „Sag mal, wo bist du eigentlich gewesen?“ Schlagartig trat ein selbstzufriedenes Grinsen auf Judars Lippen. „In Sindria!“ „Was du nicht sagst“, gähnte Koumei, denn er hatte nicht richtig zugehört. Plötzlich jedoch merkte er auf. „In Sindria?!“ „Habe ich doch grade gesagt, ja“, brummte der Magi ungehalten. „Was hast du da gemacht? Hattest du die Erlaubnis dazu?“ Wieso stellte er überhaupt diese dämlichen Fragen und heuchelte Interesse? Er hatte jetzt keine Lust zu einer freundlichen Unterhaltung mit dem anstrengenden Hohepriester. „Ich habe dem Idiotenkönig einen Besuch abgestattet! Mach nicht so ein finsteres Gesicht!“ Koumei stöhnte verzweifelt. Dieser Magi untergrub den brüchigen Waffenstillstand zwischen Sindria und Kou anscheinend wo er nur konnte. Süffisant grinsend fügte Judar noch hinzu: „Ach, und ich habe ihm den Krieg erklärt!“ Der Prinz fiel aus allen Wolken und musste sich an der Tischkante abstützen. „Was?“, keuchte er entsetzt. Dieser Verrückte, das würde Konsequenzen haben… Aber Judar ließ ihn nicht zu Ende denken. „Sei doch nicht so böse, alter Zottel. Ich habe dir etwas mitgebracht. Ein kleines Geschenk. Eine Spezialität aus Sindria. Du wirst begeistert sein!“ „So?“, entgegnete Koumei  scheinbar unbeeindruckt. Stattdessen überschlugen sich in seinem Kopf bereits die Gedanken. Wusste Kouen bereits von Judars unbeaufsichtigten Fehltritten? Was sollten sie jetzt machen? Würde Sindria zum Angriff übergehen? Die Allianz der Sieben Meere war ein ernstzunehmender Gegner, selbst für das mächtige Kou Reich.   Seufzend sank er in sich zusammen. Die Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Hände vors Gesicht geschlagen. Wo sollte das nur hinführen? Der gefallene Magi brachte nichts als Ärger. Wenn Koumei, so wie jetzt, mit ihm alleine war und sein Blick scheinbar zufällig auf Judars entblößte Bauchmuskeln fiel, stiegen ungute Erinnerungen in ihm auf. Verknüpft mit zu viel Alkohol, Übelkeit und lauen Sommernächten. Und eindeutig zu viel Nähe. Nicht sonderlich angenehm oder erfreulich. Ein Glück, dass niemand es bemerkt hatte. Seitdem wusste er mit unumstößlicher Sicherheit, dass es Menschen gab, die lieber die Finger vom Alkohol lassen sollten. Sie beide zählten eindeutig dazu. Es war nicht mal allzu lange her… Aber das wollte er mittlerweile eigentlich längst verdrängt haben. Genau wie ein anderes, mittlerweile etliche Jahre zurückliegendes, deshalb nicht minder traumatisches Ereignis, das sein ehemals unbedeutendes Leben vollkommen zerworfen hatte. Wieso konnte er das immer noch nicht? Wieso erinnerte ihn sein unliebsamer Magi an einen Menschen, der schon lange nicht mehr an seiner Seite weilte? Wo er ihm doch in keinster Weise ähnelte? Noch nie hatte er eine derart unberechenbare, idiotische und zerstörungswütige Person gekannt. Bei Hofe wollte das einiges heißen. Ob das schlicht und ergreifend Dummheit war? Judar machte ihnen nur Schwierigkeiten. Und trotzdem brauchten sie ihn.   „Hör auf zu träumen, Zottel!“ Plötzlich baumelte ein kleines Päckchen vor seiner Nase. Prompt wurde er aus seinen seltsamen Gedankengängen gerissen. Entnervt hob er den Kopf. Ein verführerischer Geruch stieg trotz des harten Wachspapiers daraus hervor. Judar hielt es mit spitzen Fingern an der Kordel, die das Ganze zusammenhielt, und ließ es beiläufig hin und her pendeln. „Na? Willst du es?“, lockte er siegessicher. Koumeis Magen meldete sich mit einem unüberhörbaren Knurren zu Wort. Und wie er es wollte! Der Magi ließ das Geschenk angeekelt in seinen Schoß fallen. Mit überraschender Schnelligkeit zerriss Koumei die Schnürung und das Packpapier. Zum Vorschein kamen die göttlichsten Tintenfischröllchen, die er je gesehen hatte. Wieso hatte er nicht vorher gemerkt, wie hungrig er war? „Habe ich dir zu viel versprochen?“, schnurrte Judar selbstzufrieden, als erwartete er ein angemessenes Lob für seine Großzügigkeit. „Nur für dich geklaut.“ Doch diese bissige Bemerkung konnte seinen Königskandidaten nicht mehr beeindrucken. Mit ungezügeltem Appetit schlang er die Häppchen hinunter. Rekordzeit. Das Essen kam grade noch rechtzeitig. Kein Wunder, dass er kaum stehen konnte, wenn das hier seine erste Mahlzeit seit Tagen darstellte.   *~* Kapitel 6: Erinnerung ---------------------   ~*~ Judar beobachtete äußerst fasziniert, mit welcher Begeisterung sein Geschenk angenommen wurde. Unglaublich, wie man so schnell essen konnte! Sein Königsgefäß ließ nicht einmal mehr einen Krümel von dem widerlichen Zeug übrig. Fisch an sich war schon etwas, das der Magi immer nur kritisch beäugte. Doch Tintenfisch? Bereits beim Anblick dieser widerwärtigen Saugnäpfe kam ihm die Galle hoch. Koumei hingegen verputzte sein Leibgericht mit größtem Vergnügen. Er musste regelrecht am Verhungern gewesen sein, so schnell, wie er den Dingern den Gar ausgemacht hatte. „Ah, das war gut. Köstlich“, befand er und leckte sich die Lippen. Judar konnte nur fassungslos den Kopf schütteln, während er im Schneidersitz hinter dem Zottel schwebte. „Allerdings solltest du das nächste Mal so ehrlich sein, und das Stehlen aufgeben“, bemerkte Koumei tadelnd. Säuerlich zog Judar eine Grimasse. „Wieso? Glaubst du Gyokuen wirft mir das Geld hinterher?“ „Woher soll ich das wissen?“, gab der andere gähnend zurück. Judar knirschte mit den Zähnen. Oh nein, dieser Penner würde jetzt nicht schon wieder einschlafen! Das wollte er nicht! Seine übertriebene Reaktion von vorhin würde Judar wohl noch eine ganze Weile verfolgen. Aber es hatte wirklich so ausgesehen, als ob Koumei dem Tod näher als dem Leben wäre. Wie konnte man auch nur auf so widerwärtige Weise schlafen? Dieser Kerl erfüllte ihn manchmal regelrecht mit Mordlust. Wieso mussten seine Treffen mit den Königskandidaten jedes Mal eine so ernüchternde Angelegenheit sein? Nun gut, Koumei redete wenigstens mit ihm und hatte sich über sein Geschenk gefreut. Außerdem lag der unvermeidliche Hang zum Schlafen zu tief in seinem Wesen verankert, als dass man ihm deshalb böse sein konnte. Eigentlich. Aber auch Koumei schien ihn jetzt gar nicht weiter zu beachten. Was für eine langweilige Königsfamilie. Ein Magi verdiente mehr Aufmerksamkeit! Unwillig beobachtete er, wie der zottelige Schopf seines Königskandidaten schon wieder auf die Tischplatte sank. Konnte Kouen seinem Bruder nicht mal ein vernünftiges Arbeitsverhalten einbläuen? Apropos Arbeitsverhalten. Plötzlich kehrte eine lange zurück liegende Erinnerung in sein Gedächtnis zurück. Zumindest hatte er beschlossen, dass dieses Ereignis weit hinter ihm liegen sollte. Das Geschehene mit aller Macht mit Hilfe seines Magoi verbannt. Ansonsten wäre sein ungezwungener Umgang mit Koumei nicht mehr so ohne weiteres möglich. Seine Rukh flatterten und sausten erregt um ihn herum. Außer Rand und Band. Verfluchter Mist, das wollte er jetzt nicht sehen. Aber es half nichts. Sein Kopf ließ sich nicht herumkommandieren. Bedauernswert. Ob sein Königskandidat sich ebenso häufig daran erinnerte, wie er? Und falls ja, was dachte er sich dabei? Waren seine Erinnerungen wirklich nur ebenso verschwommen wie die seinen, oder war das nur Fassade, weil ein kaiserlicher Prinz keine boshaften Gerüchte über seine Verfehlungen schüren wollte?   * Es war ungefähr vor einem Jahr gewesen. Hochsommer. Schwüle Hitze, selbst in Kou. Der erste Prinz Kouen, der jüngere Kouha, einige andere Höflinge und ihr engeres Gefolge hatten beschlossen, sich für einen Abend eine Auszeit zu gönnen. Im Sommer, noch dazu bei diesen Temperaturen keine Seltenheit. Schließlich hatten sie sonst immer so viel schwere Arbeit zu verrichten. Dass er nicht lachte! Sie brauchten lediglich eine Ausrede, um sich mal wieder so richtig zu betrinken. Wieso handhabten sie es mit dem Alkohol nicht einfach, wie Idiotenkönig Sindbad? Der hatte seinen ersten Wein bereits früh morgens intus. Inklusive Alkoholfahne. Da machte das Arbeiten sicher gleich doppelt Spaß. Egal. Aus irgendeinem Grund hatten sie Judar an diesem Abend mitgenommen. Das kam selten vor. Der Magi verabscheute den penetranten, bitteren Geschmack des Alkohols, der selbst den von Zucker übertünchte. Vor allem aber hasste er dessen Wirkung auf die Menschen und auf sich selbst. Das Zeug legte sein Magoi lahm. Durchtrennte die Verbindung mit den Rukh und ließ ihn schutzlos zurück.  Nun gut, er vertrug es generell nicht. Sein Verhalten wurde unberechenbar, wenn er sich beim Trinken zu sehr gehen ließ. Deswegen hatte er keine Lust gehabt, wollte sich weigern. Aber sie hatten ihn schließlich einfach mitgeschleift. Seinen wilden Protest ignoriert. Das Gelage hatte im Sommerpavillon des Palastgartens stattgefunden. Judar hatte sich gleich nach der Ankunft mit einem Becher Pflaumenwein auf die hinterste Ecke der Bank geflüchtet und beobachtete das ausgelassene Treiben ungehalten. Er schlürfte angewidert an dem dunklen Getränk. Zu seinem Leidwesen blieb ihm so aber auch keine Fluchtmöglichkeit. Scheinbar musste er hier den ganzen Abend ertragen. Samt seinen unangenehmen Nebenwirkungen und Folgen. Dann würde er ihn sich eben schön trinken. Zu seiner Überraschung erblickte er neben sich plötzlich noch ein anderes Gesicht. Eines, dass er ebenso wenig an diesem Ort und auf dieser Feier erwartet hätte, wie sich selbst. Eines, das überhaupt nicht hier hin passte. Koumei Ren. Verdutzt starrten sie sich an. Der zweite kaiserliche Prinz kratzte sich verwundert am Hinterkopf, wie immer. Judars Blick verfinsterte sich. Er nahm noch einen großen Schluck aus dem Becher. Mist, leer. Dämlicher Zottel. Diese Augenringe waren verstörend. Er hatte keine Lust in dieses finstere Gesicht zu sehen. Und Aknenarben zu zählen. Das ließ seine ohnehin miserable Laune den Tiefpunkt erreichen. Also schnappte er sich einen neuen Becher von dem verhassten Gesöff und funkelte sein Königsgefäß trotzig an. „Ist irgendetwas? Gibt es ein Problem?“, fragte Koumei irritiert und nippte hoheitsvoll zurückhaltend an seinem Wein. „Nicht, dass ich wüsste, verlauster Zottel“, schnappte Judar. Das sollten vorerst die einzigen Worte zwischen ihnen beiden sein. Koumei hob nur gleichgültig die Schultern. Er war nicht sonderlich eitel und kannte die Launen des Hohepriesters zu gut, um sich darüber aufzuregen. Niemand beachtete die beiden. Ansonsten hätte Kouen dem schwarzen Magi, wegen der unverschämten Bemerkung gegen seinen Bruder, sicherlich die Hölle heiß gemacht. Ab hier verloren seine Erinnerungen an Schärfe. Ungehalten leerte Judar den mittlerweile sechsten Becher. Das war eindeutig kein Wein mehr, sondern etwas Stärkeres. Es war so heiß hier. Der Schweiß rann in Perlen über seinen Rücken. Derweil kümmerte es ihn nicht mehr, was er da trank. Auch der bittere Geschmack und das Brennen in seiner Kehle konnten ihn nicht mehr davon abhalten. Das Gelächter der anderen drang nur noch dumpf an seine Ohren. Wie durch einen Vorhang. Hätte er nach den Rukh getastet, er hätte sie nicht mehr gefunden. Doch mit alkoholvernebeltem Geist kam er nicht mal mehr auf die Idee, sie zu suchen. Was sollte er hier auch mit ihnen anfangen? Zaubertricks zur allgemeinen Belustigung aufführen? Wo sowieso niemand Notiz von ihm nahm? Gähnend griff er nach der Weinkaraffe. Nichts mehr drin… Dabei hatte er einen solchen Durst… Wieso sah er plötzlich alles wie durch einen Schleier? Verschwommen? Wirr? Weshalb drehte sich alles? Schwindelnd legte er seinen Kopf auf die mit Alkohol besprenkelte Tischplatte und blinzelte benommen. Aber das Bild wollte sich einfach nicht lichten. Plötzlich legte sich eine kalte Hand auf seinen Arm. „Ich glaube du hast langsam genug.“ Verworrene Wortfetzen. Judar hatte Mühe, die Laute, von dem was er sagen wollte, zu einem vernünftigen Satz zu verbinden. „Mmh? Was’n losch? Mich….Fass nicht an…“ Ein mitleidiges Schnauben. Dann fühlte er, wie sich dünne Arme um seine Schultern legten. Überraschend stark. Er wollte protestieren und sich aus dem Griff heraus winden, doch wieder begann sich alles zu drehen. Undeutliche Satzfetzen: „Kouen, ich bringe Judar mal lieber zurück in den Palast. Ich glaube er hat sich ein wenig übernommen... Ich werde dann auch mal wieder an die Arbeit gehen…“ Koumei? Es klang beinahe so schläfrig und weggetreten, wie er sich fühlte. Ein hoffnungslos überdrehtes Kichern: „Viel Spaß, Mei Mei. Gute Nacht ihr beiden!“ Kouha? Judar konnte die Stimmen kaum noch zuordnen, bei dem Lärmpegel, der inzwischen herrschte. Er wurde vorsichtig von der Bank hochgezogen. Jemand leitete ihn durch die schier endlose Reihe von amüsiert Feiernden. Dabei ebenfalls nicht grade elegant. Der andere wankte ebenso wie er selbst. Nun, immerhin konnte er scheinbar noch alleine gehen. Er und sein Begleiter taumelten ins Freie. Dabei fielen sie beinahe über seinen langen Zopf, der dabei durch eine Weinpfütze schleifte. Doch Judar war bereits zu weggetreten, um sich deshalb zu ekeln. Ein frischer Luftzug empfing sie. Eine Wohltat. Doch sofort ließ ihn der kalte Schweiß auf seiner Haut frösteln. Einen Moment verharrten sie orientierungslos in der finsteren Nacht. Dann wurde Judar in irgendeine Richtung davon gezogen. Wer war das? Ein Diener? Koumei? Schwer zu sagen. Er roch nach Wein. Darunter vielleicht ein wenig nach verstaubten Büchern und Räucherstäbchen? So konnte der Magi  es nicht herausfinden. Unkoordiniert tastete er nach dem Ärmel seines Begleiters. Sie torkelten. Da! Er hatte ihn! Lang und schwer. Von dort aus fuhr er den feinen Stoff weiter hinauf. Ein verwunderter Laut. Plötzlich stolperten sie über eine Unebenheit im Boden. Judar entfuhr ein erschrockener Schrei, dann krallte er seine Finger fest in das Gewand des Mannes, der ihn führte. Ein überrumpeltes Fluchen. Judar griff fester zu. Hing sich mit seinem ganzen Gewicht an ihn, um nicht umzufallen. Nun schwankten sie beide und kämpften darum, ihren festen Stand wieder zu finden. Nicht leicht mit so viel Alkohol im Blut. Verdammt. Er schlang seine Arme so fest wie möglich um den anderen, um ja stehen zu bleiben. Denn eines war wohl klar: Wenn er einmal am Boden läge, würde er heute sicherlich nicht mehr aufstehen können. Seinem Begleiter schien Judars anhängliches Verhalten eher das Gegenteil zu nutzen, denn der Magi spürte wie sich der andere nun an ihm fest klammerte, um nicht hinzufallen. Die schlanken Hände auf seiner nackten Haut. Etwas Kaltes schlug gegen seinen Bauch. War das ein Armband? Endlich standen sie still. Der Schwindel in seinem Kopf ließ jedoch kaum nach. Weiche Haare kitzelten ihn an der Wange. Ein merkwürdiger Schauer lief über seinen Rücken. Die Finger des anderen lagen immer noch um seine Seiten. Lösten ein seltsames Kribbeln in ihm aus. Spätestens jetzt erinnerte er sich nur noch an winzige Bruchstücke. Warmer Atem an seiner Kehle. Ein zarter Duft nach Kirschblüten und altem Papier. Seine Hände, die suchend über die Kleidung des anderen fuhren, um den Fremden endlich zu erkennen. Sein viel zu schnell schlagendes Herz, das wusste, was geschehen würde, lange bevor er selbst es begriff. Die unreine Haut, die er ertastete. Dann diese überraschend rauen und doch seltsam verlockenden Lippen, die er wie zufällig fand. Der bittersüße Geschmack von Pflaumenschnaps, als sich die Zunge des Anderen zögerlich, fast schüchtern ihren Weg in seinen Mund bahnte. Das flammende Gefühl, das plötzlich von seinem gesamten Körper Besitz ergriff. Dann ein Leuchten, wie von einem aufflammenden Sternenbild. Ein heftiger Ruck. Ein Platschen. Wasser? Eisige Kälte, als sie eng umschlungen in den flachen Zierteich des Palastgartens stürzten. Erfrorenes Keuchen, als sie sich unsicher wieder aufrichteten. Nur um sogleich wieder das Gleichgewicht zu verlieren.   * Keine Ahnung was dann passiert war. Letztendlich wollte er es vielleicht auch niemals erfahren. Judar wusste nicht, was damals mit seinen Erinnerungen geschehen war. Sie waren fort. Verdrängt? Vielleicht lediglich aus Selbstschutz. Weil er es auf der einen Seite genossen hatte. Sich auf der anderen Seite jedoch schämte. Es war verboten. Falsch. Nur gut, dass sie niemand bemerkt hatte. Er konnte es sich lediglich zusammen reimen, was in dieser Nacht noch zwischen ihnen vorgefallen war.   * Am nächsten Morgen war Judar aus heiterem Himmel aufgewacht. Im Palastgarten. Genauer gesagt zwischen den stacheligsten Dornenbüschen, die er je kennengelernt hatte. Oh ja, er konnte diese fiesen Stacheln immer noch in seinem Fleisch spüren. Sie waren überall gewesen. Es hatte ewig gedauert, sie alle zu finden und zu entfernen. Tage! Wochen! Nun gut. Das war nicht weiter tragisch. Verglichen mit dem, was da noch in seine Wahrnehmung trat. Bereits im Wachwerden hatte er festgestellt, dass etwas nicht stimmte: Erwacht unter freiem Himmel. Alleine. Im Palastgarten. Im Gebüsch. Mit wahnsinnigen Kopfschmerzen. Halb erfroren, trotz des milden Wetters. Zerzaustes Haar, das wild über seine bloßen Schultern fiel. Unbekleidet. Nackt. Von seinen Kleidern keine Spur. Nur die goldenen Armreifen und der Halsschmuck schimmerten noch unschuldig in der Morgensonne. Auch sein Zauberstab – verschwunden. Verdammt! Sein Zauberstab! Er durfte nicht fort sein! Hatte jemand ihn gestohlen? Judar wollte aufspringen, sank jedoch qualvoll stöhnend auf die Knie zurück. Oh, sein Schädel! Nie war ihm derart schlecht gewesen. Er musste sich mehrmals übergeben. Es dauerte, bis er sich davon erholt hatte. Verzweifelt hatte er sich auf die Suche nach seinen Sachen gemacht. Hatte sich mehr und mehr Dornen in die Haut getrieben. In der verzweifelten Hoffnung, dass niemand in die Nähe der Sträucher kommen würde. Denn mit einer bissigen Bemerkung käme er hier nicht davon. Er konnte sich die Gerüchte, die dann entstehen würden, lebhaft vorstellen. Endlich fand er seine Hose, achtlos beiseite geworfen. Was war nur in dieser Nacht geschehen? Er hatte doch nicht etwa…? Und das alles im Alkoholrausch? Nur, weil er ein wenig zu viel getrunken hatte? Er hasste dieses dreckige Zeug immer mehr. Das konnte alles nicht wahr sein. Vor allem hatte er keinerlei Gewissheit, was wirklich geschehen war. Andererseits… wenn er sich die blauen Flecken, die sich über seinen gesamten Körper erstreckten besah und dem dumpfen Schmerz in seinem Unterleib nachspürte, konnte er es sich in aller Lebhaftigkeit ausmalen. Der schwarze Magi schlug zitternd die Hände vors Gesicht. Nein. Niemals. Verzweiflung stieg in ihm auf. Das durfte nicht sein. Nach endloser Suche entdeckte er schließlich das dünne Oberteil, samt seinem Schultertuch und dem Zauberstab. Schmutzig und zerfetzt, einzig der Stab funkelte noch silbrig und unberührt. Daneben der Beweis, den er vergangene Nacht so verzweifelt gesucht hatte. Nicht, dass er ihn jetzt noch benötigte. Ein blau-goldener Anhänger im Stil von Ying und Yang. Herzförmig. Daneben ein zerrissenes Perlenarmband.   *   ~*~ Kapitel 7: Drohung ------------------   ~*~ Der schwarze Magi hasste diese Erinnerungen. Und zugleich faszinierten sie ihn. Doch da waren noch mehr ungewollte Gedankenfetzen.  Sein Blick fiel auf den herzförmigen Ohrring, der, sanft hin- und herschaukelnd, an Koumeis Hals stieß. Seinen Beobachter zu verhöhnen schien. Schwarze Rukh ballten sich um ihn herum zusammen. Wenn er seinen Gefühlen völlig nachgeben würde, hätte er ihn wohl gepackt und aus dem winzigen Loch in Koumeis Ohrläppchen herausgerissen. Bis Blut aus der Wunde tropfte. Schadenfroh. Erwartungsvoll. Was würde sein Königskandidat wohl tun, wenn Judar ausnahmsweise einmal ihn verletzte? Ja, er hatte den Prinzen immer gemocht. Trotz seiner finsteren Miene und dem ungepflegten Äußeren, das beinahe kränklich wirkte. Denn irgendwann hatte er dessen scharfe Intelligenz und die versteckte Härte unter diesem schläfrigen Antlitz entdeckt und für bewundernswert erklärt. Ihn zu seinem Königskandidaten gemacht. Aber diese Nacht… Er hatte sie so erfolgreich verdrängt. Fast vergessen. Schon viele Male war er Koumei seitdem begegnet. Als ob zwischen ihnen beiden nie etwas Derartiges geschehen wäre. Ihr Verhältnis unverändert. Gefäß und Gefallener. Eine Beziehung des Nutzens und der Regeln wegen. Weil alle Mitglieder der Familie Ren zu ihm gehörten. Er schenkte ihnen Macht. Auch Koumei. Und  sie hatten sich trotz allem gut verstanden. So wie vorher. Judar wusste nicht genau warum, aber ihm schien es, als hätte Koumei als einziger schon immer ein wenig Verständnis für seine schwierige Art gehabt. Nicht viel. Auch der Zottel war meist von ihm genervt. Ihre Gespräche ebenso gereizt wie die mit seinen anderen Königsgefäßen. Doch manchmal zeigte er sich von einer zugänglichen Seite, die Judar noch nie von einem anderen Menschen dargeboten worden war. Die er bei jedem anderen auch abgelehnt hätte. Er mochte es nicht, jemanden an sich heran zulassen. Konnte niemanden an seinen Gefühlen teilhaben lassen. Selbst den alten Zottel nicht. Doch er wusste, dass dieser ihn durchschaute. Auch ohne Worte verstand, was nach all den Jahren als Werkzeug der Kaiserin immer noch in ihm vorging. Die meiste Zeit, wenn er nicht Gyokuen zu Diensten sein musste, zog Judar laut und unverschämt, wie es seinem Wesen entsprach, durch die Gegend. Aß Pfirsiche auf dem Palastdach und warf die Wachen damit ab, bis sie ihm wutgeladene Morddrohungen an den Kopf warfen. Kindisch, aber unvorstellbar spaßig. Schockierte Kouen mit seinen unvorhersehbaren Launen. Ärgerte Kougyoku und flüchtete vor Kouha. Begutachtete die Fortschritte von Hakuryuu und Hakuei mit größter Zufriedenheit. Erschuf Dungeons, wo er nur konnte und beobachtete oftmals gespannt, wer in ihnen scheiterte. Bestahl die Händler auf dem Markt von Rakushou. Trieb sich in der Welt herum und verursachte Chaos, Angst und Zerstörung. Doch wenn es ihn einholte, ihm alles zu viel wurde, hatte er Koumei besucht. Sich einfach in eine Ecke gesetzt, bis ihm langweilig geworden war. Irgendwann wurden ihm die Schatten der Vergangenheit dann tatsächlich so gleichgültig, wie er immer vorgab. Dann hatte er den Prinzen stets genervt und von der Arbeit abgehalten. Daraufhin hatte ihn dieser, mit Hilfe seines Metallgefäßes, vor die Tür gesetzt. Und prompt ging es dem schwarzen Magi besser. Bald hatte er geglaubt den unglücklichen Ausrutscher zwischen ihnen beiden vergessen zu haben. Doch scheinbar hatte er sich getäuscht. Er war nach Sindria gezogen und voller Vorfreude zu seinen Leuten wiedergekehrt. Nichts Böses ahnend. Wie immer hatte er sich am meisten auf den finsteren Zottel gefreut. Ohne Hintergedanken. Aber wieso waren dann die Erinnerungen heute auf einmal zurückgekehrt? Aus heiterem Himmel? Oder war etwa der Schock der Auslöser gewesen? Die Angst, einen seiner Königskandidaten zu verlieren? Er konnte es nicht sagen. Wieder zog dieser Ohrring seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Dieser Schmuck war nicht immer da gewesen. Zumindest nicht dort, wo er jetzt so scheinheilig baumelte. Nein. Erst nach dieser einen, verdammten Nacht.   * Es brauchte einige Zeit, bis Judar schließlich zur Besinnung kam. Sich die schmutzige Kleidung überstreifte und unsicheren Schrittes in Richtung Palast tappte. Ihm war immer noch übel. Kotz übel. So schlimm, dass er eine Pause auf einer der zahlreichen Bänke einlegen musste. Begleitet vom zarten Plätschern eines der zahlreichen Wasserspiele. Hatte sich nochmals übergeben und versucht die schlimmsten Stacheln aus der wunden Haut zu ziehen. Hatte die losen Perlen in seiner zerkratzten Hand betrachtet. Den glänzenden Anhänger. Er fühlte sich merkwürdig leer. Völlig ausgelaugt. Verdammt, dieser dämliche Zottel! Wie konnte er es wagen? Was war da nur in sie gefahren? Wie hatte er nur so viel trinken können, obwohl er doch genau wusste, was die Folgen waren? Wie hatte er derart die Kontrolle verlieren können? Selbst seine Rukh ließen sich nur langsam wieder ansprechen. Sein Magoi floss immer noch träge dahin, unnütz und schläfrig. Ließ ihn sich seltsam nackt fühlen. An diesem Morgen hatte er sich geschworen, nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren. Schließlich erhob er sich ungeschickt und setzte seinen Weg fort. Er würde erst einmal seinen Rausch ausschlafen müssen. Aber zuallererst wollte er Klarheit in das Gewirr aus zerstreuten Erinnerungsfetzen bringen. Doch dazu musste er Koumei aufsuchen. Aber etwas in ihm sträubte sich dagegen. Schämte sich. Wollte diese Nacht einfach vergessen und ihm nie wieder unter die Augen treten. Dabei scherte es ihn doch sonst nie, was andere von ihm hielten. Warum kümmerte es ihn jetzt auf einmal? Die andere Seite jedoch drängte ihn zu seinem Königsgefäß. Vielleicht nicht nur, weil er Antworten brauchte. Vielleicht, weil er…nun ja… er wusste nicht genau, was diese widersprüchlichen Gefühle, die in seinem Inneren umherschwirrten, bedeuten sollten. Als er endlich vor der Tür zu den Gemächern des Prinzen stand, war er unsicher, ob er wirklich hineingehen sollte. Nicht in dieser Verfassung. Nicht in diesen dreckigen, zerfledderten Klamotten. Das erste Mal wünschte er sich, etwas weniger freizügiges zu tragen. Wollte dem anderen nicht unter die Augen treten. Vor allem nicht nach dieser Nacht. Doch er brauchte Klarheit. Dass er nicht wusste, was vorgefallen war, machte ihn ganz hibbelig. Oder war das lediglich eine Nachwirkung dieses widerlichen Pflaumenweins? Seine Rukh ließen ihn im Stich und ließen ihn wehrlos und verletzlich zurück. Kaum jemals hatte er sich derart hilflos gefühlt. Was sollte er tun? Schließlich fasste er sich ein Herz und öffnete die Schiebetür einen winzigen Spalt. Dann noch einen. Bis er unauffällig hindurchschlüpfen konnte. In dem ihm so vertrauten Raum roch es nach längst verglühten Räucherstäbchen, Papier und frischer Tinte. Wie immer. Sofort überkam ihn eine besänftigende Ruhe. Bis er sich auf sein Anliegen besann. Der Prinz saß wie gewohnt an seinem Schreibtisch und arbeitete. Schrieb mit fahrigen Handbewegungen irgendetwas nieder. Er sah aus wie immer. Moment, wieso war er schon wieder auf den Beinen und beschäftigt, wo Judar grade erst erwacht war? Und weshalb sah er nicht im Geringsten lädiert aus? Seine Gewänder schienen sogar sauberer und geordneter als sonst. Ebenso das tiefrote Haar. Verunsichert räusperte sich der junge Magi. Mit einem Mal wusste er nicht mehr, wie er ihm gegenübertreten sollte. Koumeis Gesicht wandte sich mit der üblichen Langsamkeit zu ihm um. Die umschatteten Augen klitzeklein. Schlaftrunken. Nichts Neues oder gar Ungewöhnliches. Beinahe zu normal. „Na, was machst du denn hier?“, gähnte er und kratzte sich am Hinterkopf. „Das wollte ich eher dich fragen“, gab der Magi ungehalten zurück. Dabei konnte er seine Unsicherheit kaum verbergen. Es ärgerte ihn. „Arbeiten. Was sonst. Schon seit dem Morgengrauen. Wieso fragst du?“, erkundigte sich der Ältere ahnungslos. Judar runzelte die Stirn. Seine Mundwinkel sanken skeptisch herab und er verschränkte die Arme vor der Brust. Wie konnte das sein? „Ich wollte dir etwas wiederbringen“, rang er sich nach kurzem Zögern ebenfalls zu einer Antwort durch. Verwundert hob der Prinz die Augenbrauen. „Was denn? Ich vermisse nichts.“ Nun war Judar maßlos verwirrt. Nein, verärgert traf es besser. Wieso tat der alte Zottel so unwissend? Stellte er sich dumm? Als wüsste er nicht ganz genau, was in der vergangenen Nacht passiert war! Entschlossener überbrückte der Rotäugige die Distanz zwischen ihnen. „Na, das hier natürlich!“, zischte er. Anklagend ließ er das zerrissene Armband und den metallenen Anhänger vor der vernarbten Nase Koumeis baumeln. Für einen winzigen Moment versteifte sich sein Königsgefäß. Erstarrte regelrecht. Doch sofort entspannte es sich wieder. Eine leise Stimme drang warm und amüsiert in Judars Ohr. So einen Tonfall hatte er von dem Prinzen noch nie gehört. Beinahe ein Schnurren: „Oh, du hast mir also mein Herz gestohlen.“ Judar versteinerte. „Wa-Was?“, stotterte er. Eine feine Röte überzog seine Wangen. Koumei lächelte verhalten und verbarg seine Augen hinter dem schwarzen Fächer. „Natürlich rein wörtlich“, fügte er fast spöttisch hinzu. Judars Gesicht brannte vor Scham. So hinterhältig kannte er seinen Königskandidaten wirklich nicht. „Du kannst es gerne behalten. Als Erinnerung. Ich brauche es nicht mehr. Es ist kaputt und ich habe noch ein anderes“, meinte dieser und schob seine Gewänder hoch. An den dünnen Handgelenken pendelten wieder zwei Armbänder, genau identisch mit dem zerstörten Schmuckstück. Verwirrt betrachtete Judar den Anhänger und die Perlen in seiner Hand. Dann pfefferte er sie wütend auf den Tisch. Die Kugeln sprangen durch den ganzen Raum. „Glaubst du ernsthaft, ich will deinen Schrott?“, fauchte er zitternd und ballte die Hände zu Fäusten. Dieser dämliche… Plötzlich bohrten sich zwei roséfarbene Augen fest in die seinen. Ein gefährliches Funkeln vertrieb den Schleier der Müdigkeit. „Was willst du, Magi?“ Die tiefe Stimme auf einmal schneidend und scharf. „Antworten.“ Judar schluckte. Seine Stimme klang seltsam heiser. Mit einem Mal spürte er seine Schwäche wieder ganz deutlich. Die Übelkeit stieg wieder in ihm auf. Doch er drängte sie entschlossen zurück. Warum ließ er sich von diesem dämlichen Zottel auf einmal so sehr einschüchtern? „Welche Antworten?“, erkundigte sich Koumei scheinheilig. Dann zuckte er unmerklich zusammen und zog mit den Schneidezähnen einen langen Dorn aus seinem Zeigefinger. Der Gefallene knurrte unterdrückt. „Das weißt du ganz genau!“ Die Hand des Prinzen fuhr nachdenklich durch sein langes Haar. „So?“ Judar knirschte verbissen mit den Zähnen. „Was hast du heute Nacht mit mir gemacht?“ Koumei hielt erstaunt inne. Dann brach er in gedämpftes Gelächter aus. „Ich? Machst du Witze? Bei allen Rukh auf dieser Welt! Unser Magi beliebt wahrhaft zu scherzen! Ich?“ Er hielt sich belustigt die Hand vor den Mund. „Das fragst grade du? Nein, ist das herrlich. Verzeih aber-“ „Was ist denn, nun sag schon!“, forderte Judar aufgebracht. Sein Königskandidat kicherte einfach weiter. Vielleicht hatte der Kerl immer noch mehr von dem Pflaumenzeug von gestern im Blut, als ihm anzusehen war. Koumei hatte sichtlich Mühe, einen Satz hervorzubringen ohne an seinem Lachen zu ersticken. „Du musst es ja wissen, so wie du dich gestern Nacht regelrecht an mich herangeschmissen hast…“ Judar erbleichte. „Ich habe mich nicht… das hätte ich niemals getan! Du bist doch einer meiner Königskandidaten!“, protestierte er. Doch Koumei schenkte ihm nur einen mitleidigen Blick. „Du warst ganz schön betrunken gestern. Du kannst dich an gar nichts mehr erinnern, oder?“ „Oh doch! Und ich kann dir ganz genau sagen, dass ich nicht-“, fauchte der Magi entrüstet, aber der Ältere brachte ihn mit einem scharfen Schnalzen zum Schweigen, während er mit den Resten des zerstörten Armbands herumspielte. „Du warst vollkommen benebelt, Judar. Deshalb habe ich dich mitgenommen, als ich zurück an die Arbeit gehen wollte. Scheinbar hatte ich auch ein wenig zu viel getrunken. Aber meine Idee war es sicherlich nicht, mich plötzlich an meinen Begleiter zu hängen und ihm die Kleider vom Leib zu reißen… Nun gut, ich kann nicht behaupten, dass ich vollkommen unschuldig an der Sache bin. Wahrscheinlich hätte ich dich aufhalten sollen, oder?  Nur habe ich bedauerlicherweise auch keine weiteren Einzelheiten mehr im Kopf.“ Entgeistert starrte der Schwarzhaarige auf den anderen hinab. Was sollte er darauf noch erwidern? Bei aller Redegewandtheit, er hatte keine Ahnung, ob das falsch war oder stimmte. Und er schätzte Koumei nicht als Lügner ein. Der Prinz seufzte verständnisvoll. „Ich kann verstehen, dass du das nicht wahrhaben willst, aber so ist es nun einmal gewesen. Weißt du, in deinem eigenen Interesse solltest du das alles so schnell wie möglich vergessen.“ „Wie um alles in der Welt soll ich das bitte vergessen, verdammt noch mal?“, jaulte Judar entsetzt. „Ist das meine Sorge?“, schnappte Koumei ungewohnt harsch und erhob sich. Sein finsterer Blick eine unausgesprochene Drohung. „Dieser Vorfall bleibt in diesem Zimmer. Verlässt niemals diesen Raum. Du wirst dich davor hüten irgendjemandem auch nur ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen, hast du mich verstanden, Priester?“ Judar wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Doch Koumei folgte ihm, sein Metallgefäß in der Hand. Rote Haare kitzelten verlockend seinen Hals, als er sich zu ihm hinüber beugte, dass er die Narben zählen konnte. „Ich habe dich gefragt, ob du mich verstanden hast“, wiederholte Koumei verwarnend. Warmer Atem streifte seine Wange und ließ ihn erschaudern. Brannte. Verdammt, er konnte nicht mehr. Musste sofort hier weg. „J-ja, ich versprech‘s dir“, erwiderte Judar schließlich, während er schleunigst auf die Tür zu stolperte. Das Gefühl, welches die Nähe seines Königsgefäßes in ihm auslöste, gefiel ihm überhaupt nicht. Oder? Und wohin war der müde Prinz verschwunden, der kaum einen ganzen Satz zu Stande brachte, ohne zu gähnen?  Woher kam plötzlich diese dunkle, berechnende Seite? Die ihn so sehr verunsicherte? Und doch auf unerklärliche Weise faszinierte? Vollkommen von seinen Empfindungen überfordert trottete Judar in seine Gemächer. Er fühlte sich zerschlagen. Gedemütigt. Auf seltsame Weise sogar hintergangen. Völlig am Ende. Wollte sich nur noch in seinem Bett verkriechen, sich einrollen und Koumei nie wieder ins Gesicht sehen. Oder? Wenn er sich ehrlich war, spürte er noch etwas gänzlich anderes. Ein merkwürdig beschwingtes Gefühl. Prickelnd und stechend in seinem Herzen. Etwas, das er noch nie zuvor erlebt hatte. Was war das? Es war nicht schlecht. Aber war es deshalb sofort gut? Ach, dieses verfluchte Schicksal. Wieso konnte es nicht einmal eindeutige, einfache Situationen für ihn bereithalten? Stöhnend erwachte Judar. Verschwitzt und orientierungslos. Mitten am Tag. Er musste seit gestern Morgen durchgeschlafen haben. Nun fühlte er sich überraschend ausgeruht. Bis die Ereignisse wieder über ihm zusammenbrachen. Mann, das zog ihn wirklich runter. Verdammt, er wollte sie nur noch vergessen. Gähnend stand er auf. Streckte sich wie eine Katze. Er sollte baden gehen. Seine Haare waren immer noch voller spitzer Dornen und verdreckt. Also schnappte er sich ein dünnes Nachtgewand zum Überziehen und eilte in Richtung Bad. Als er um die Ecke bog tönten ihm wohlbekannte Stimmen entgegen. Die eine tief und ehrfurchtgebietend, die andere ein wenig weicher und müde. Oh nein, er wollte ihn jetzt nicht sehen! Doch es war zu spät. Die kaiserlichen Prinzenbrüder schritten einträchtig nebeneinander dahin. Kouen stolz und stark, Koumei dagegen… nun ja… zerzaust und halb am Dösen. Sie kamen direkt auf ihn zu. Fast erwartete Judar, dass Koumei etwas sagen würde, oder ihn mit einem stechenden Blick bedenken würde, um ihn an sein Versprechen zu erinnern. Wieder stieg dieses unbeschreibliche Gefühl in ihm auf. Doch nichts dergleichen geschah. Die beiden Brüder nickten ihm lediglich beiläufig zu, als registrierten sie gar nicht, dass ihr Magi sie kritisch musterte. Dann waren sie vorbei. Plötzlich bemerkte Judar etwas Neues an dem verlotterten Prinzen. Ein metallener Anhänger baumelte fröhlich an seinem linken Ohrläppchen. Das verlorene Herz funkelte im einfallenden Sonnenlicht, als wollte es ihn auslachen. Dann verschwanden die beiden um die nächste Biegung. Das einzige was zurückblieb, war ein zarter Duft nach altem Pergament und Kirschblüten.   * „Ist alles in Ordnung mit dir?“, zerschnitt Koumeis müde Stimme das Schweigen, welches sich unbemerkt zwischen ihnen ausgebreitet hatte, während Judar seinen unerfreulichen Erinnerungen gefolgt war. „Wenn ja, frage ich mich langsam, weshalb du mich die ganze Zeit über anstarrst.“ Judar schrak zusammen. Errötete. Wieso kamen die Erinnerungen grade jetzt? Und mit ihnen… ja mit ihnen zeigten sich auch wieder diese seltsamen Anwandlungen, besonders wenn er den Prinzen betrachtete. Nach all der Zeit, in der er sie so erfolgreich zurück gehalten hatte! Bis er überzeugt war, dass sie niemals wiederkehren würden. Aber seine Sorge um den anderen musste all die Mühe wieder zu Nichte gemacht haben. Er durfte sich nichts anmerken lassen. Seine Rukh stoben ertappt auseinander. Schnell gab er eine bissige Antwort: „Wie kommst du denn auf die blödsinnige Idee? Ich frage mich nur, ob du überhaupt noch mit deinem Metallgefäß zurechtkommst. Schließlich hockst du die ganze Zeit nur hier drinnen! Nimm dir lieber mal ein Beispiel an Kouen, der ist in deutlich besserer Verfassung als du!“ Keine Reaktion. Schnell  verdrängte er die unerwünschten Bilder und richtete seine Aufmerksamkeit auf Koumeis Fächer. Ein sichereres Thema. Der Zottel verbarg wirklich geschickt, was für eine berechnende Intelligenz hinter dieser zerzausten, schläfrigen Fassade steckte. Auch wenn es in diesem Fall frustrierend war, Judar gefiel das. Eigentlich. Er mochte mächtige Menschen. Wenn man den verlotterten zweiten Kou-Prinzen von außen betrachtete, wäre man nie darauf gekommen, wie hart er sein konnte. Niemand hätte ihn je verdächtigt, für die strenge gesetzliche Ordnung des Reiches verantwortlich zu sein oder wie er mit den Gefühlen anderer spielen konnte, wenn es darauf ankam. Wahrscheinlich nicht einmal er selbst. Dabei wirkte er immer so Menschenscheu. War das alles nur eine harmlose Fassade, um einen weitaus verschlageneren Charakter zu verhüllen? Es steckte mehr in ihm, als man dachte. Er war leicht zu unterschätzen. Aber das sollte ihn nicht davor bewahren, von seinem Magi in den Wahnsinn getrieben zu werden, beschloss Judar. Er hatte jetzt Lust dazu. Koumei konnte sich seinen heiß begehrten Schlaf sonst wo hin stecken. Er hatte es verdient. Schließlich war ihm grade erst wieder eingefallen, dass sie noch eine Rechnung offen hatten.   ~*~ Kapitel 8: Schauspiel ---------------------   *~* Koumei hatte langsam genug. Wieso war der Hohepriester immer noch in seinem Zimmer und störte ihn bei der Arbeit? Nicht, dass er sich momentan zu derartigen Anstrengungen in der Lage fühlte, aber dennoch… wenigstens ein wenig Schlaf sollte der andere ihm nach all der Aufregung gönnen. Ihn alleine lassen. Die Tauben stritten sich draußen immer noch um die ausgestreuten Körner. Bei dieser Hitze! Ermüdend. Seine Lieder wurden so schwer… Hätte er jetzt nur sein Metallgefäß griffbereit, dann hätte er den Magi wie üblich vor die Tür gesetzt. Manchmal schien diese spezielle Magie wirklich wie für ihn geschaffen. Mit ihr konnte man sich seine Ruhe nehmen, wann man sie brauchte. Ohne sich selbst großartig anzustrengen. Nicht, dass er dem Magi nicht dankbar für das Essen wäre. Ohne wäre er wahrscheinlich bald zusammengebrochen. Außerdem hatte er heute für kurze Zeit bewiesen, dass er doch nicht so kindisch und verhätschelt war, wie es immer den Anschein machte. Die aggressive Art für ein paar Sekunden gegen echte Sorge eingetauscht. Doch nun reichte es dem Prinzen mit der störenden Gesellschaft. Auch wenn Judar sich noch friedlich und für seine Verhältnisse mehr als erträglich verhielt, heute war ihm alles zu viel. Aber statt endlich den Raum zu verlassen, stand der Priester immer noch hinter ihm. Starrte auf seinen Hinterkopf, mit einer Intensität, dass er sie beinahe spüren konnte. Unzufrieden. Brennend. Wie das blutige Rot seiner Augen. Ungewöhnlich. Aber Koumei konnte sich denken, was in ihm vorging. Wusste, was er wollte. Diesen Blick hatte er lange nicht mehr an seinem Magi gesehen. Er konnte nur eines bedeuten. Zumindest vermutete er es. Aber das konnte nichts Gutes verheißen… er sollte ihn einfach ignorieren. Plötzlich richtete er sich auf. Trotz der quälenden Müdigkeit bemerkte er, wie sich sein Geist klärte. Wie Nebelschleier über einer weiten Ebene, davon getragen von einem belebenden Windhauch. Es war merkwürdig. Die meiste Zeit hing er schläfrig über seiner Arbeit und dann…von einem Moment auf den anderen, wenn es darauf ankam, wurde sein Verstand messerscharf. Berechnend und kalt. Ein wenig beunruhigend. Nun gut, eigentlich lediglich befremdlich. Aber solange es seinem Bruder und dem Reich half, wollte er sich nicht beschweren. Fragte sich nur, was er jetzt mit diesem plötzlichen Aufmerksamkeitsschub anfangen sollte. Auf einmal zuckte er zusammen. Dieser unverschämte Magi. Da gruben sich wieder diese ungeschickten Hände in sein Haar! Ziepten und zerrten durch die verknoteten roten Strähnen. Aufdringlich und grenzüberschreitend. „Judar, was soll das?“, protestierte er. „Du ignorierst mich“, keifte es ihm prompt entgegen. „Und du könntest eine Bürste vertragen!“ Koumei fühlte, wie sich ein schmales Lächeln in sein Gesicht stahl. „Tue ich das nicht immer, falls ich noch Arbeit zu erledigen habe? Weißt du, nicht jeder kann den ganzen Tag in der Gegend herumstreunen, Leute belästigen und tun und lassen was er will. Außerdem ist das Aussehen nebensächlich, wenn man dabei ist, wichtige Pläne zu verfassen.“  Die Miene des Jüngeren verfinsterte sich schlagartig. „Ich streune nicht herum und belästigt habe ich auch niemanden!“, gab er beleidigt zurück. Koumei nickte mit hochgezogenen Augenbrauen. Das konnte Judar jemand anderem unter die Nase reiben, aber ganz sicher nicht ihm, dem zweiten kaiserlichen Prinzen. Aber es störte ihn nicht. Anscheinend hatte er doch Interesse daran gefunden, sich mit dem Magi zu unterhalten. Nein, stellte er plötzlich fest, eher zu streiten. Wobei, das ist nicht das richtige Wort. Ich habe Lust, ihn ein wenig zu reizen. Mit ihm zu spielen. Mal schauen, wie er darauf reagiert. Verwundert über seine aufbrandende Energie schüttelte er den Kopf. Das war ganz und gar nicht gerechtfertigt. Nicht seine Art. Eigentlich wollte er alleine sein und noch ein wenig schlafen, bevor Kouen ihn beim Nichtstun entlarvte und bestrafte. Da spürte er einen unangenehmen Druck an seiner Schulter. Etwas Hartes. Der Magi lehnte sich provozierend gegen ihn, wie er es so gerne tat. Plötzlich fiel etwas Schweres auf seinen Kopf. „Au!“, entfuhr es ihm beinahe erschrocken, als er das kleine Fläschchen bemerkte, welches nach dem Aufprall direkt in seiner offenen Hand gelandet war. Judar stieß einen Laut des Erstaunens aus und langte nach seinem Besitz. Doch Koumei wich ihm aus. Momentan konnte er sich ausnahmsweise auf seine Reaktionen verlassen. Neugierig betrachtete er den Flakon. Pfirsich-Haaröl? Das hatte also in Judars Schultertuch gesteckt. Wozu, bei allen Rukh in dieser Welt, brauchte der Priester Haaröl? Für Damen? Noch dazu mit „erlesensten Pfirsichessenzen“, wie es das feine Etikett versprach? Natürlich, Judars Vorliebe für das süße Obst war im Palast ein offenes Geheimnis, so oft wie die, mit den Kernen der Früchte abgeworfenen, Wachen sich bei Kouen beklagten. Außerdem wusste jeder, dass er, wenn es um seine Haare ging, äußerst eigen war. Wer konnte schon sagen, was er alles anstellte, damit es so lang und glänzend wuchs. Allerdings…der edle Flakon kam ihm bekannt vor. Er hatte ihn bereits einmal gesehen. Bloß wo? Eine übliche Ware in ihrem Reich war das sicherlich nicht. Solch ein unnützes Luxusgut. Ah, Prinzessin Kougyoku hatte ihnen allen davon vorgeschwärmt, als sie es von König Sindbad geschenkt bekommen hatte. Angeblich ein ziemlich teures Produkt. In Sindria lebten die Menschen scheinbar in ungebrochenem Wohlstand, wenn sie für etwas derart überflüssiges so viel Geld ausgaben. Kein Wunder, dass Judar daran interessiert war. Es vereinte wahrscheinlich viele der Dinge, die ihm gefielen. So gewitzt, wie er seinen Priester kannte, hatte er es der Prinzessin mit Sicherheit gestohlen. Aus welchem Grund auch immer. Wahrscheinlich lediglich aus Langeweile. Wieder griffen die kräftigen Finger in sein Haar. Unsanft. Störrisch. Zogen mit Absicht daran. „Wie kann man nur so ein ungepflegter Zottel sein?“, murrte Judar unzufrieden. „Das Haarzeugs von der alten Vettel solltest lieber du benutzen, du hast es bitter nötig!“ An jedem anderen Tag, hätte Koumei die Tortur ohne größere Klagen über sich ergehen lassen, da er schlicht zu müde war. Oder er hätte sich der Störung mit Dantalions Hilfe entledigt. An diesem Abend jedoch… Ohne Vorwarnung schnellte seine Hand nach oben. Fing die Handgelenke des Magi ab, bevor dieser begriff, was geschehen war. Ließ sich nach hinten fallen, als wäre er zu erschöpft, um noch länger Sitzen zu können. Zog an Judars Armen. Spürte dessen erschrockenen Widerstand. Ja, der ungehobelte Magi konnte es nicht haben, wenn ein andere die Kontrolle übernahm. Nun, vielleicht befürchtete er lediglich einen erneuten Schwindelanfall von seinem Königskandidaten. Wie amüsant. Er würde sich noch wundern. Einen hämischen Gedanken konnte er nicht unterdrücken. Was er über all die Jahre hatte ertragen müssen… Mitten in der Nacht aus dem wohlverdienten Schlaf geschreckt, weil der Gefallene meinte, irgendwo Unheil und Zerstörung anrichten zu müssen. Gefolgt vom Schreien und Tumult unter den aufgescheuchten Wachen. Morgens grob geweckt, weil Judar mit seinen übrigen Königskandidaten stritt. Sie ankeifte, bis die Wände wackelten und an Schlaf nicht mehr zu denken war. Mittags von der Arbeit abgehalten, weil er unerwünschten Besuch bekam. Der ihn die ganze Zeit über mit diesen stechenden roten Augen musterte. Abends so entnervt von dem aufdringlichen Verhalten des Hohepriesters, dass er die Rechnungen und Papiere verzweifelt aufgab, um sich seiner endlich zu entledigen. Seine Dschinnausstattung und Dantalions Kräfte für so etwas Kleinliches verschwendete. Eine weitere Nacht in der er mit der Gewissheit ruhen musste, sein Reich vernachlässigt zu haben. Aus diesem nichtigen Grund. Nur wegen Judar... Da war eine Revanche ab und an durchaus legitim. Na, Judar, ist es das, was du wolltest?   *~*   ~*~ Überrascht beobachtete Judar, wie sein Königsgefäß mit einem Mal zu Boden sank. Ohne Vorwarnung. Wurde von den schlanken Fingern, die seine Handgelenke umklammerten, mit hinab gezogen. Der schwarze Magi war sofort alarmiert. Verdammt, schon wieder die Hitze? Oder hatte er zu wenig getrunken? Wenn man den geflüsterten Privatgesprächen zwischen Kouen und dem kleinen Kouha lauschte, hatte der Zottel manchmal ein Problem damit, für sich selbst zu sorgen. Besonders in der heißen Sommerzeit hier in Balbadd, konnte einem Nahrungs- oder Wassermangel zum Verhängnis werden. Eine echte Gefahr für Koumei. Immerhin war er noch bei Bewusstsein. „He, alter Zottel, kannst du mich hören?“, drängte er angespannt. Die hellen Augen begegneten unsicher seinem Blick. „Ah… diese Hitze!“, stöhnte der Angesprochene nur und wand sich mit sichtlichem Unwohlsein auf den Holzdielen. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Die verrutschten Gewänder entblößten eine sich angestrengt hebende und senkende Brust. Die Haut totenblass. Mist, dabei hatte er ihm doch schon Wasser und diese Tintenfischdinger gegeben und es ging ihm immer noch nicht besser? „K-Koumei?“, fragte Judar mit zitternder Stimme. „Was soll ich tun?“ Träge Augen blickten unter langen Wimpern halb geschlossen zu ihm auf. Schienen ihn kaum noch zu erkennen. „Dantalion…“, keuchte der Prinz. Sein Atem ging nur noch stockend. Sofort sprang der Magi auf. Eilte zu der Stelle, an der der Fächer einsam am Boden lag und schnappte sich das Metallgefäß. Nun bekam er doch wieder Panik. Dieses Mal war es sicher kein Schlafmangel mehr, der dazu kam. Seinem Königskandidaten schien es wirklich schlecht zu gehen. Schnell stürmte er zurück zu dem Liegenden und drückte ihm den Fächer in die bebende Hand. „Was hast du?“, zischte er angstvoll und fragte sich, wieso der Zottel nicht sogleich Gebrauch von dem Metallgefäß machte. Konnte es ihm überhaupt noch helfen? „He, antworte gefälligst!“, fauchte er besorgt. Doch er erhielt nur ein undeutliches Ächzen. Dann fiel der Kopf des Prinzen zur Seite und er verstummte. Die Hand, die krampfhaft den Fächer umklammert hielt, schlug kraftlos gegen Judars Knie. Verdammt, er hatte keine Ahnung, was er machen sollte! „K-Koumei? Hallo?!“ Er schüttelte den reglosen Mann. Keine Reaktion. Genau wie eben. Irgendetwas stimmte nicht mit seinem Königskandidaten. Angst krallte sich wieder in seine Brust wie ein Tiger. Ließ sie nicht mehr los und drohte, ihn zu ersticken. Es half nichts. Er musste Hilfe holen. Kouen oder irgendjemand anderen. Kam alleine nicht weiter. „Warte hier“, rief er nervös, „ich komme sofort zurück!“  Damit stob er zum Ausgang. Dabei entging ihm bedauerlicherweise das verräterische Zucken der, gar nicht mal so kraftlosen, Augenlider seines Königsgefäßes. Heimtückisch und nichts Gutes verheißend. Aber Judar eilte nur panisch davon. Doch weit sollte er nicht kommen. Bevor er die Tür auch nur annähernd erreicht hatte, blitzte ein goldener Lichtkreis genau vor ihm auf. Mitten in seinem Weg. Er taumelte direkt hinein. Wollte anhalten. Zu spät. Sternenlicht. Er war für eine Sekunde geblendet. Stürzte schwer atmend hinaus. Prallte gegen etwas Unerwartetes. Hartes. Unnachgiebiges. Spürte etwas Weiches in sein Gesicht wehen. Der sanfte Geruch nach Kirschblüten und altem Papier hüllte ihn ein. Rot. Ungläubig blinzelnd wollte er zurückweichen, doch etwas hielt ihn bestimmt fest. Kühle Hände, die auf seiner erhitzten Haut brannten, strichen mit aufreizender Langsamkeit von seinen Schultern hinab über seinen unbedeckten Rücken. Lösten ein intensives Prickeln aus. Wanderten spielerisch nach vorne. Fuhren beinahe genießerisch über seine sehnigen Muskeln. Schaudernd starrte er in die roséfarbenen Augen, die ihn unter den langen Wimpern hindurch belustigt musterten. Neckend. Spöttisch. Plötzlich weder leidend verschleiert, noch schläfrig. „K-Koumei?“, brachte er geschockt hervor. Welcher Wahnsinn war denn nur in den Prinzen gefahren? Doch als Antwort kitzelten ihn lediglich die schwarzen Federn am Hals. Sofort stand ihm die verschwommene Nacht wieder vor Augen. All das Verdrängen vergebens. Er senkte verlegen den Blick. Merkte, wie ihm die Röte auf die Wangen trat. „W-Was soll das?“, keuchte er verwirrt. Solch eine überflüssige Frage, schien der erheiterte Blick des anderen zu antworten. „Nun hab dich nicht so. Du bist doch sonst nicht so leicht zu verunsichern, Priester.“ Koumeis ansonsten eher dunkle Stimme, ein helles, verhaltenes Kichern.   ~*~ Kapitel 9: Annäherung ---------------------   ~*~ Judar wollte nur noch fliehen. In diesem Moment beneidete er sein Königsgefäß so sehr um diesen Fächer. Dabei konnte er doch auch ohne Metallgefäß Magie einsetzen. Nur die, die er sich grade wünschte, leider nicht. Er hätte dieses Ding nur einmal schwingen müssen und schon befände er sich an einem anderen Ort. Wo er sich nicht mit merkwürdigen Situationen und unerwünschten Erinnerungen herumschlagen musste. Keine widersprüchlichen Gefühle, sondern noch etwas Ruhe, danach vielleicht ein paar Kämpfe oder Krieg und ja… kein unheimlicher Prinz, der offensichtlich mit ihm… flirtete? Etwas anderes konnte es kaum sein, oder? Wobei, eigentlich war es schon viel schlimmer. Verdammt. Wieso war er nur so schrecklich unerfahren in solchen Dingen? Schließlich war er der mächtige schwarze Magi von Kou. Der Chaos und Zerstörung hervorrief, wo er nur ging und stand. Er wurde stets mit Vorsicht betrachtet. Wurde gefürchtet. Von allen. Wobei, scheinbar gab es mehr und mehr Leute, die wussten, wie man es mit ihm aufnehmen konnte. Denen er eigentlich immer vertraut hatte. Die, unerhörter Weise, bestimmte, ungute Grenzen überschritten, was ansonsten alleine in seiner Befugnis liegen sollte. Fand er. Schließlich war er unersetzlich. Etwas Besonderes. Aber jetzt stand er vor dem müden alten Zottel, der plötzlich überhaupt nicht mehr alt oder gar müde erschien, sondern so seltsam… berechnend, und fragte sich verzweifelt, wie er aus dieser misslichen Lage entkommen konnte. Doch Koumei schien gar nicht daran zu denken, es ihm leichter zu machen. Nein, es war genau wie damals. Nur ohne Alkohol. Verdammt, er befand sich bei vollem Bewusstsein. Sie beide! Und was taten sie hier? Begingen wahrscheinlich den zweitschlimmsten Fehler ihres Lebens. Oder wohl eher den schlimmsten. Mit diesem abscheulichen Pflaumenwein im Blut ließ sich jegliches Verhalten entschuldigen. Ekelhaft, aber nicht sein Verschulden. Nicht einmal das seines Königskandidaten. Aber so vollkommen nüchtern, machte sich der Hohepriester nun doch ungewöhnlich sorgenvolle Gedanken. Fahrig fingerte er an seinem Schultertuch herum. Wo war sein Zauberstab? Er bekam ihn nicht zu fassen! Mist! Er musste irgendwann heruntergefallen sein. Keine Ahnung wo und wann… hoffentlich erst in diesem Zimmer, sonst hätte er ein ernsthaftes Problem. Wobei… eigentlich hatte er das ohnehin schon. Er sollte sehen, dass er schleunigst davon kam. Sonst würde das hier noch in einer Katastrophe enden. Koumei wirkte jedoch nicht so, als hätte er irgendwelche Bedenken dabei, seinen Magi auf diese Weise herauszufordern. Die schmalen Hände glitten in seinen Nacken. Fuhren aufreizend langsam über die empfindliche Haut. Judars Rukh schwirrten erregt umher. Oh, diese beunruhigende Situation war dieser Nacht so erschreckend ähnlich. Das konnte nur ein Alptraum sein. „H-hör auf damit!“, stieß er empört hervor. Packte die Finger des anderen erzürnt und versuchte, sie festzuhalten. Bildete sich dieser bescheuerte Zottel denn ein, er könne mit ihm machen, was er wollte? Einfach so? Dafür gab es andere Leute, die sich bei weitem besser dazu eigneten. Vor allem aber: Wo er wollte? Hier konnte jederzeit ein Sklave oder Hofbeamte hereinplatzen. Oder noch schlimmer, jemand von der kaiserlichen Familie. Nicht auszudenken, wenn Kouen jetzt hierher käme. Oder gar die Kaiserin! Da wäre der Tod eine verlockende Alternative. Er musste sich aus dem Staub machen, bevor so etwas passieren konnte. Den anderen hinhalten. Aber Koumei entwand sich seinem festen Griff ungewohnt geschickt. Betrachtete ihn ein wenig mitleidig. Judar knirschte resigniert mit den Zähnen. Wieso musste er als Mensch auch so schwach sein? Sein einziger Schutz war sein Magoi. Das war nicht gut. Gar nicht gut. Angewidert wich er der Berührung des anderen aus. „Stell dich doch nicht so an, schließlich hattest du damit vorher auch kein Problem, Priester“, schnurrte der Prinz herausfordernd. Folgte ihm, der sich nun langsam rückwärts bewegte. Weg von hier! Aber es schien aussichtslos. Verdammt, heute hätte Judar diese dunkle Seite an dem anderen verfluchen können. Dabei war diese genau der Grund, weshalb er den Zottel zu seinem Königsgefäß berufen hatte. Dass er dadurch in solch eine Bedrängnis geraten könnte, hatte er damals nicht geahnt. Ihm blieb nur noch der stille Rückzug. Und nach diesem Mal würde er sich von ihm fernhalten. Für immer! Vorsichtig setzte er einen Fuß nach dem anderen hinter sich, um möglichst unauffällig die Tür zu erreichen. Doch Koumei ließ sich davon nicht abhalten. Ganz im Gegenteil. Plötzlich schrie Judar erschrocken auf. Ehe er reagieren konnte, griff ihn der Prinz beängstigend kraftvoll an den Schultern. „Ich weiß, dass dir ein wenig unwohl ist und du am liebsten davon rennen möchtest. Aber das gibt es jetzt nicht“, schnaubte er. Durchbohrte ihn regelrecht mit seinen atemberaubenden Augen. So schmal, immerzu halb geschlossen und nun doch so wach und hinterlistig. Helles Rosé, welches eine furchtbare Intelligenz enthüllte. Wie konnte solch eine sanfte Farbe so beängstigend wirken? Der Magi kam sich mit einem Mal klein und machtlos vor. Sonst ließ er sich doch nie so leicht einschüchtern, schon gar nicht von einem hässlichen alten Zottel mit vernarbter Haut. Wobei… so hässlich kam ihm Koumei gar nicht mehr vor… „Willst du nichts dazu sagen?“, hakte dieser nach, als er keine Antwort auf seine Äußerung erhielt. Judar registrierte nervös die Hand, die wieder an seiner Seite ruhte. Die schweren Perlen des Armbands, die gegen seinen Bauch schlugen. So besitzergreifend und doch seltsam gewohnt. „Ähm…“, brachte er verwirrt hervor. Errötete wieder. Koumei lächelte ein grausames Lächeln: „Gefällt es dir nicht? Beim letzten Mal hatte ich einen gänzlich anderen Eindruck von dir.“ Judars Herz schlug bis zum Hals. Der alte Zottel war nachtragend! Wieso zog er ihn damit auf? Er fühlte sich in die Enge getrieben, wie ein gejagtes Reh. Was sollte er antworten? Er konnte es ja schlecht zugeben, dass ihn diese verhaltenen Berührungen verrückt machten. Auf vielerlei Art und Weise. Aber wenn er weiter schwieg, würde er seinem Königskandidaten nur noch mehr unter die Nase reiben, wie sehr ihn diese Nähe verunsicherte. Wie sehr er sie doch wollte. Immerhin war er heute Abend vollkommen klar im Kopf. Fehler ließen sich danach nicht so leicht vergessen. Koumei zuckte mit den Schultern. Die zierlichen Hände zogen den Magi dichter zu sich heran. Widerstrebend stolperte Judar näher. Bis er die Wärme des anderen durch die verrutschten Gewänder hindurch spüren konnte. Die Hitze des Tages schien langsam abzuflauen. Die Sonne ging langsam unter und tauchte die Welt in ihr flammend rotes Licht. Doch Judar fühlte, wie ihm ein vereinzelter Schweißtropfen den Rücken hinunter rann. Unaufhaltsam. Diese Nähe verunsicherte ihn. Machte ihm Angst. Ja, er hatte es damals genossen. Anfangs. Soweit er sich erinnern konnte. Als er betrunken gewesen war. Nur noch von blinden Instinkten geleitet. Nun jedoch hatte er viel zu viele Bedenken. Außerdem wusste er um die möglichen Folgen Bescheid. Überraschend, dass Koumei diese Befürchtungen scheinbar nicht teilte. Stattdessen umschlangen seine Arme Judars Rücken und drückten ihn fest an sich, sodass er ihm nicht einmal mehr ins Gesicht schauen konnte. Stattdessen spürte er sehnige Muskeln und glatte Haut. Ein seltsamer Gegensatz zu den dutzenden winzigen Narben an Koumeis Nase. „Hey!“, jaulte der Magi erschrocken, doch wie sehr er auch versuchte zu zappeln, irgendwie wollte es ihm nicht recht gelingen. Ein heißer Schauer floss durch seine Adern. Wie wildgewordene schwarze Rukh, die ihre Kraft in einem gewaltigen Zauber entluden. Und ja, sie veranstalteten tatsächlich einen Heidenaufstand in seiner Brust. „Warum so angespannt?“, murmelte Koumei viel zu dicht an seinem Ohr. „Mh, warum wohl?“, gab Judar kleinlauter zurück, als beabsichtigt. Die Worte halb in rotem Haar erstickt. Nun ja, immerhin hatte er seine Sprache wiedergefunden. Koumei schmunzelte nur undurchschaubar, soweit er das noch erkennen konnte. Der Griff um seine Taille verhärtete sich.  Judar sträubte sich. Er konnte diesen engen Körperkontakt nüchtern nicht ausstehen. Es machte ihn ganz schwindelig. Und wütend. Über seine eigene Hilflosigkeit. Über das stumme Begehren nach mehr davon. Nein! So etwas durfte er nicht einmal denken! „L-Lass mich los“, forderte der Gefallene zittrig. „Das hättest du aber nicht verdient, Judar“, befand Koumei unerbittlich. Verdammt! Der meinte es wirklich ernst! Schweratmend schloss der Magi die Augen. Sog eher unbeabsichtigt den angenehmen Duft seines Gegenübers ein. Fröstelte. Nicht wegen den hochsommerlichen Temperaturen. Diese Berührungen machten ihn schier verrückt. Er konnte nicht mal mehr richtig denken! Aber dieses Gefühl… So brennend. Es ließ seine Knie ganz weich werden. So seltsam. Unsicher begegnete er dem Blick des anderen. Verlor sich darin. Koumei wirkte nicht grade abstoßend. Trotz seinen ungebändigten roten Zotteln, der Übermüdung und der viel zu langen Akkordarbeit. Wenn er ehrlich war, wirkten sogar diese unansehnlichen Aknenarben eher wie markante Sommersprossen. Sie gehörten eben zu ihm. Und ja, eigentlich war es nichts Neues, ihm so nahe zu sein. Verdammt, eigentlich hatte er sich sogar ein wenig danach gesehnt. So lange. Auch wenn es falsch war. Er sich geschämt hatte. Es immer noch tat. Die Erinnerungen beinahe in sich verschlossen hatte. Es hatte so gut geklappt. Aber vielleicht… nur vielleicht… war es ja doch nicht derart übel, jemanden ein wenig dichter an sich heran zu lassen. Sich zu etwas zu öffnen. Was konnte ihm jetzt, in just diesem Moment geschehen, wenn er sich ein wenig fallen ließ? Was kümmerte es ihn, was die anderen dachten? Sein Herz pochte schneller. Er tat immer nur das, was er wollte. Sein Schicksal juckte ihn nicht die Bohne. Also. Warum dann an diesem Abend? Diese Bedenken standen nur im Weg. Mussten beiseitegeschafft werden. Jetzt oder nie. Noch immer zweifelnd, erwiderte er die Umarmung. Zaghaft. Etwas anderes konnte diese Umschlingung nicht sein. Dann streckte er sich seinem Königskandidaten entgegen. Mit einer ungewissen Sehnsucht. Er war selbst überrascht. Spürte warmen Atem und wildes Haar an seinem Kiefer. Vergrub beinahe krampfhaft die Nägel darin. Stand fast reglos an seinen Prinzen gelehnt. Er empfand es als merkwürdig friedvoll. Etwas, das er selten verspürte. Ein Gemälde, festgehalten nur für diesen einen Augenblick. Es fühlte sich gut an. Überraschend angenehm. So… geborgen. Schockiert lauschte Judar auf seinen, mit einem Mal viel ruhigeren, Atem. Er konnte nicht glauben, dass er das grade gedacht hatte. Da ergriffen sanfte Finger sein Kinn. Strichen durch sein Haar. Er seufzte ergeben. Vorbei war es mit der Ruhe. Die winzigen Härchen an seinen Armen richteten sich kribbelnd auf. Erwarteten das unvermeidliche. Er starrte gebannt in die roséfarbenen Augen. Sie waren merkwürdig schön. Dann schloss er die Lider. Warme Lippen streiften die seinen. So anders als damals. Nicht zufällig. Bewusst. Aber beherrscht. Zurückhaltend. Erstaunlich zärtlich. Eine stumme Entschuldigung. Dabei genauso rau und aufgesprungen von der mangelnden Pflege, wie früher. Dennoch anziehend. Seine Rukh fühlten sich wohl. Er erwiderte den Kuss mit der gleichen Sanftheit. Behutsam. Neugierig, offen. War nicht länger verschreckt. Es passte nicht zu ihm. Das ganze Geschehen. Doch es war ihm egal. Die Rukh tanzten um sie herum. Frohlockend. Weiß.   ~*~   *~* Koumei Ren hätte sich nie träumen lassen, dass er seinem Magi jemals wieder derart nahe kommen würde. Hatte es nie gewollt. Schließlich war er ein Prinz aus Kou und sollte keine unnötigen Risiken eingehen. Obwohl, vielleicht hatte er es lediglich verdrängt. Jedenfalls war er nicht darauf gefasst gewesen, welch heftige Welle des Verlangens mit einem Mal über ihm zusammengeschlagen war, als er begonnen hatte, ein wenig mit dem Hohepriester zu spielen. Dieses lange, glänzende schwarze Haar, die herausfordernden roten Augen, die ihn bereits so verängstigt und dann wieder voller Wut angeblickt hatten. Dieser wohlgeformte und doch drahtige Körper, dem viel weniger Kraft innewohnte, als sein Äußeres vermuten ließ. Sein vollkommen kindisches, selbstzerstörerisches, verrücktes Verhalten. Und dann diese Verletzlichkeit und Empathie, die Judar nur selten zeigte. Niemandem außer ihm. Koumei schüttelte irritiert den Kopf. Sein Körper schien regelrecht in Flammen zu stehen. Diese sengende Hitze, die nun lediglich aus seinem Inneren stammte, empfand er beinahe als unangenehm. Doch sie zog ihn unnachgiebig zu dem jungen Magi hin. Er konnte es nicht verhindern. Wusste, dass er ihm damals Unrecht getan hatte. Die knappen Antworten, mit denen er ihn abgespeist hatte, mehr eine Lüge als die Wahrheit. Denn er konnte sich erinnern. Zumindest besser als Judar. Er hätte auch gelogen, dass es ihm nichts bedeutet hatte. Hätte es dem aufgelösten Magi gestehen können. Seine Gefühle. Schon so lange. Bereits vor diesem unglücklichen Vorfall. Wollte es nur nicht. Es passte nicht zu seiner Fassade des stillen, verschlafenen Bücherwurms und brillanten Militärstrategen, der keinen Kopf für andere Dinge hatte. Aber als er ihn nun so dicht bei sich hielt, überschwemmt von seinem schweren Duft, überkam ihn plötzlich ein seltsames Gefühl. Eine Art Reue. Er hatte es dem Hohepriester nicht leicht gemacht, wusste er doch instinktiv, dass Judar sich seit diesem Abend vor ihm zu schämen schien, obwohl er es niemals zu geben würde. Der Magi hatte sich wirklich nichts anmerken lassen. Dabei hatte Koumei ihm lediglich gedroht, um ihn davon abzuhalten, irgendein Wort nach außen dringen zu lassen. Hatte nur daran gedacht, welche unschönen Folgen diese Nacht für ihn haben konnte und vielleicht sogar für das gesamte Reich. Ebendeshalb hatte er versucht die Erinnerungen zu vergessen. Aber nun tat es ihm beinahe Leid. Auch, dass er plötzlich diese Lust verspürt hatte, seinen Magi zu verunsichern und mit ihm so rücksichtslos zu spielen. Sie hatten diese Unstimmigkeiten zu lange tot geschwiegen. Vielleicht war es nun an der Zeit, ihr Verhältnis zu einander zu prüfen. Sich auszusprechen. Nun, wo sich der junge Mann, nach anfänglichem Zögern, trotz allem so vertrauensvoll an ihn heran schmiegte, wusste er jedoch, dass dies vielleicht nicht mehr nötig sein würde. Er fühlte sich seltsam wach, nein lebendig, wo er hier, eng umschlugen mit seinem Magi, stand. So aufgeweckt. Fast berauscht. Wollte mehr von dieser Nähe. Viel mehr. Spürte den schmalen Körper so dicht an seinem. Die kräftigen Hände verhakt in seiner Mähne. Seltsam unpassend. Sah tief in die weit geöffneten Augen. Entdeckte dort verborgen seinen eigenen Wunsch. Strich durch das widerspenstige dunkle Haar, welches zu kurz war, um zurückgebunden zu werden und die leicht geröteten Wangen des anderen umspielte. Umfasste das immer noch jungenhafte Gesicht und verschmolz ihre Lippen miteinander. Halb in der Erwartung, dass der Priester dieses Mal zurückschrecken würde. Doch es geschah nichts. Stattdessen erwiderte der andere den Kuss. Weich und vorsichtig. Der Prinz staunte. Es wollte kaum zu Judars ruppiger, verletzender Art passen. Koumei spürte, wie sich tiefe Zufriedenheit in ihm ausbreitete. Eine seltsame Erleichterung, dass er mit seinen Empfindungen scheinbar nicht vollkommen alleine war. Aber das genügte ihm nicht. Er wollte mehr. Den anderen schmecken. Dieses Mal ohne den penetranten Alkohol, der ihre Sinne vernebelt hatte. Sachte öffnete er die Lippen. War überrascht, als der Priester es ihm gleichtat. So schnell. So… hungrig. Verwundert hielt er Inne. Ein unterdrücktes Beben durchlief seinen Körper. Dann Belustigung. Er hätte sich denken können, dass Judars Vorsicht nicht lange währen würde. Offenbar hatte sich sein Magi schnell von seinem Schreck und der kindlichen Unsicherheit erholt. Er wusste, dass der ganze verzweifelte Widerstand lediglich aus den längst vergangenen Tagen herrührte. Ob es wohl eine Erleichterung für den anderen war, sich endlich davon zu befreien? Grobe Finger krallten sich in seine Gewänder, schlossen die letzte, winzige Lücke zwischen ihnen. Er fühlte die plötzliche Erregung des anderen, als sich ihre Zungen trafen. Schmeckte Pfirsich und etwas fremdartiges, Köstliches. Konnte kaum mehr atmen. Judar schien ihn nie mehr loslassen zu wollen. Hielt ihn unerbittlich fest. Eigentlich hätte Koumei heute Nacht noch die versäumte Arbeit des Tages nachholen müssen. Doch seine Pflichten waren für diesen Abend vergessen. Nebensächlich. Er konnte nicht mehr daran denken. An nichts mehr. In diesem Moment gab nur noch sie beide. Versunken in dem tiefen Kuss.   *~* Kapitel 10: Aufmerksamkeit --------------------------   *~* Doch irgendwann mussten sie sich wiederstrebend voneinander lösen. Schweratmend sog Koumei die Luft ein. Gierig. Wie süß sie schmeckte, wenn sie einmal knapp geworden war. Judar tat es ihm gleich. Er wirkte ein wenig verwirrt. Leckte sich unsicher über die leicht geröteten Lippen, als fragte er sich, was nur in ihn gefahren war. Kein Wunder, wo er eben noch so abweisend und regelrecht verschüchtert reagiert hatte. Wahrscheinlich musste er erst einmal darüber nachdenken, was in seinem Kopf vor sich ging. Koumei wollte ihm diesen Freiraum gerne lassen. Er hatte nun genug Spaß daran gehabt, ihn zu reizen. Zugegeben, es fiel ihm schwer, es nicht mehr zu tun. Irgendwo hatte es der kindische Quälgeist verdient. Der Prinz kratzte sich ungeduldig am Hinterkopf. Diese brennende Aufmerksamkeit! Sie machte ihn wild. Seltsam fokussiert. Entsprach nicht seinem Wesen. Eigentlich hatte er nur seine Ruhe haben wollen. Und jetzt? Wollte er den schwarzen Magi. Herrje. Großartig. Genau das Gegenteil von seinem ursprünglichen Wunsch. Wie kam er nur zu diesen  widernatürlichen Neigungen? Und fand auch noch seinen Spaß daran? Beinahe mehr als an seinem kostbaren Schlaf! Er seufzte innerlich. Dieses Leben war anstrengend. Einfach nicht für ihn geschaffen. Plötzlich bemerkte er ein Zupfen an seinem kimonoähnlichen Überwurf. Als er nicht sofort reagierte wurde es heftiger. Ein ungehaltenes Zerren. „Judar! Was soll das?“, brummte er überrascht, dass der Priester schon wieder alle seine Sinne zusammen gesammelt hatte. Die stechenden, roten Augen, deren Iris mit schwarzen Ringen durchzogen war, funkelten ihn aufgebracht an. Er schien sich ja erstaunlich schnell gefangen zu haben. „Warum stehst du so dämlich da und starrst nur dumm in der Gegend herum?“, knurrte Judar beleidigt. Koumeis Mundwinkel zuckten erheitert. „Eigentlich wollte ich dir ein wenig Bedenkzeit einräumen“, gab er ruhig zurück. „Ach echt? Auf einmal?“, schnappte sein Gegenüber bissig. Der Prinz verdrehte lediglich ermüdet die Augen. „Antworte mir gefälligst, Zottel!“, fauchte Judar so erbittert, das sich seine Stimme überschlug. Vielleicht hatte er doch noch nicht alles verarbeitet. Nun ja, immerhin konnte er wieder harsche Worte ausspeien. Aber diese Unverschämtheiten schrien regelrecht nach Vergeltung. Wäre er noch müde gewesen, hätte er sie zwar ignoriert, aber nun… „Ich kann dir diese Zeit auch ersparen, wenn du sie nicht willst“, entgegnete er freundlich. „Tu was du nicht lassen kannst“, keifte der Magi. Der junge Mann besaß wahrhaft ein schwieriges Temperament. Kein Wunder, dass er mit alles und jedem aneinander geriet, überall aneckte und das Kämpfen und Unruhestiften für ihn eine der höchsten Freuden darstellte. Vielleicht war es aufgrund seiner wirren Lebensgeschichte jedoch auch verständlich. Oder sie rührte lediglich daher, dass sich niemand im Palast bemühte, seine schreckliche Langeweile zu vertreiben. Sie ließ den Hohepriester wahrhaft unbedachte Dinge tun. Judar verschränkte herausfordernd die beringten Arme vor der Brust. Die goldenen Armreifen schepperten leise. Dieser Kindskopf. Koumei stöhnte gequält auf. Dann packte er den viel zu dreisten Magi. Ohne Vorwarnung. Fing das zappelnde Bündel ein, das gänzlich aus schwarzem Haar bestehen zu schien. Die Antwort war ein verblüfftes Keuchen. Judar gebärdete sich wie wild. Er hatte wohl nicht mit dem plötzlichen Angriff seines Königskandidaten gerechnet. „Lass mich los, dämlicher Zottel! Was fällt dir ein?!“ Aber er kam nicht frei. Da konnte sich der Kerl noch so sehr winden. Koumei verstand sowieso nicht recht, weshalb er sich schon wieder derart sträubte. Vor allem, wenn er geradezu darum gebettelt hatte. Vielleicht kam der Jüngere nicht damit zurecht, ein weiteres Mal an Körperkraft zu unterliegen? Das würde dem schwarzen Magi allerdings immer wieder passieren, wenn er sogar gegen Prinzessin Hakuei im Armdrücken und gegen Prinzessin Kougyoku im Wettlauf verlor… Oder er hatte geplant, dasselbe mit ihm zu tun? Nun, dann hätte er früher handeln sollen, anstatt ihn mit diesem dummen Verhalten zu ärgern, das in seinem Alter wirklich mehr als unangemessen erschien. Plötzlich ein stechender Schmerz in seiner Hand. Das tat weh! Schrecklich weh! Judar hatte ihn gebissen! Seine kräftigen Kauwerkzeuge kurzerhand als Waffe benutzt. Wie konnte er es wagen? Zwar nicht so schlimm, dass es blutete, aber die Abdrücke der scharfen Zähne waren deutlich sichtbar. Das würde er büßen.   *~*   ~*~ Mit einem schmerzerfüllten Zischen schüttelte Koumei den zotteligen Kopf. Nun wahrhaft nicht mehr ruhig und schläfrig, sondern beinahe erzürnt. Judar, der sich immer noch eingeengt fühlte, wehrte sich gegen dessen festen Griff. Obwohl er seinen Königskandidaten herzhaft gebissen hatte, ließ dieser ihn nicht los. Im Gegenteil. Die Hände um seinen Bauch drückten nur noch mehr zu. Eisern. Unangenehm. Schnürten ihm gefühlt die Luft ab. Hitze flutete durch ihn hindurch. Doch Judar spürte kaum Unwohlsein, nein aus irgendeinem Grund genoss er diese zwanghafte Nähe. Schon wieder. So plötzlich. Sein Widerstand konnte lediglich ein Reflex sein. Obwohl, eigentlich gefiel es ihm auch, dem alten Zottel mal ein wenig Kraft abzuverlangen. Er sollte schließlich keinen Muskelschwund erleiden, wenn er sein Leben lang nur im Palast herum hing. Nein, er sollte wohl dringendst etwas für seine Kraft tun.  Wobei, dafür dass er tagein, tagaus nur in dieser Kammer hockte und langweilige Zettel unterschrieb oder irgendwelche unverständlichen Texte auf zerknitterte Blätter kritzelte, besaß er davon bereits mehr als genug. Jedenfalls reichte es, um den schwarzen Magi in Schach zu halten. Bewundernswert bei diesem verlotterten Äußeren. Auf einmal bemerkte er ein leichtes Ziepen in seinem Nacken. Was war das? Er wollte herumschnellen, doch seine empfindliche Haut spannte sofort. Dieser Dreckskerl! Hinterhältiger Bastard! Jetzt hatte Koumei endgültig den Spieß umgedreht. Gefährlich langsam verstärkte sich der Druck auf die dünne Hautfalte zwischen den Zähnen seines Königsgefäßes. Eine spöttische Drohung als Gegenleistung für die harschen Worte, die Judar ihm eben an den Kopf geworfen hatte. Rache für die verbitterte Gegenwehr des Magi. Eindeutig. Es machte ihn unruhig. Koumei würde doch hoffentlich nicht ernsthaft an dieser Stelle zubeißen? Das würde sicherlich mehr als unangenehm werden. Blutig. Wobei… Gar nicht mal schlecht. Judar erschauderte. Merkwürdigerweise gefiel ihm, was der andere da mit ihm anstellte. Es sandte ihm glühende Schauer über den Rücken. Da wand sich mit einem Mal ein kräftiges Bein um das seine. Der Magi stieß einen erschrockenen Laut aus. Verlor plötzlich seinen sicheren Stand. Taumelte. Fiel. Landete erstaunlich weich. Verwirrt starrte er an die hölzerne Decke. Blinzelte benommen. Dann erhaschte er  den Blick auf ein paar dicke, weiche, rot-goldbestickte Kissen. Er lag zwischen ihnen. Halb versunken. Einer ihrer dicken Troddeln kitzelte ihn an der Stirn. Er musste niesen. Widerlich. Auch noch staubig! Wie konnte man in diesem Bett nur schlafen? Koumei fand dies offenbar unglaublich komisch, denn er ließ wieder dieses lächerliche Kichern hören, welches Judar eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Es konnte nichts Gutes verheißen. Wo war der Kerl überhaupt? Doch bevor Judar auch nur auf die Idee kam, sich aus dem Meer von Kissen hervor zu kämpfen, stemmten sich zwei Arme links und rechts neben seinem Gesicht auf das Laken. Rote Haare fielen wild und ungebändigt beinahe bis auf seine Brust. Hüllten ihn mit ihrem anregenden Geruch ein. Koumei sah fast herablassend auf ihn hinunter. Nagelte ihn nur mit seinem eigenen Gewicht unter sich fest. Judar schluckte unwillkürlich. Diese Nähe war zu viel für ihn. Machte ihn so unbeholfen. Sein Körper stand in Flammen. Als würde er gleich verbrennen. Das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer. Was für ein Mist. Er konnte sich kein bisschen bewegen. Gefangen von seinem eigenen Königsgefäß!  Das konnte einfach nicht sein! Schlanke Finger legten sich um seine Hüfte. Der Magi erstarrte. Sein Schultertuch wurde ihm über den Kopf gezogen. Blieb kurz an dem goldenen Halsschmuck hängen. Wurde sogleich geschickt von den wertvollen Ringen gelöst. Dabei berührte warme Haut seinen Hals und streifte über seine Wange. Er blinzelte schweratmend. Der Prinz registrierte seine aufkeimende Erhitzung mit unbewegter Miene. Doch Judar erkannte an dem winzigen Zucken in seinem Mundwinkel, dass er ihn gerne so sah. Sich… amüsierte? Über ihn?! Na warte! Bebend langte er nach oben und zerrte an den, ohnehin bereits schlecht sitzenden, Gewändern seines Königskandidaten. Enthüllte viel zu langsam elfenbeinfarbene Schultern. Wie unpraktisch, diese vielen Teile! Koumei  schüttelte den losen Stoff ab, wie ein Hund die Wassertropfen aus seinem Fell schleuderte. Als hätte er nur darauf gewartet, die lästige Kleidung abzustreifen. Gebannt musterte Judar den entblößten Oberkörper seines Königskandidaten. Seine Rukh rasten elektrisiert durch die Luft. Für so einen ungepflegten Zottel gefiel ihm das, was er sah, außerordentlich gut. Mal etwas ganz neues, sein Gegenüber endlich sehen zu können. Ihm nicht nur in der Stockfinsternis der Nacht so nahe zu sein, sondern im schwindenden Licht, das langsam, aber sicher mal von ein paar Kerzen abgelöst werden sollte. Da gab es weder überschüssiges Fett, noch unnötige Muskeln. Alles hielt sich irgendwie in der Wage. Vielleicht kein Vergleich zu seinem Bruder aber dennoch… Es ergab ein überaus harmonisches Gesamtbild. Hä? Judar hätte sich am liebsten den Kopf an der nächstbesten Wand eingeschlagen. Wieso dachte er denn so einen Unsinn? Er schien nicht mal mehr seine eigenen Gedankengänge beherrschen zu können. „Na, überrascht?“, schnurrte es an seinem Ohr, bevor seinem Schultertuch auch noch das ohnehin bauchfreie Oberteil folgte. Judar blieben die Worte im Halse stecken. Schon wieder. Seine Hand griff reflexartig nach dem dünnen Stoff. Zu spät. Verdammt! Wollte er das wirklich? Die Antwort musste er nicht lange suchen. Er spürte das Gewicht des anderen über ihm. Nicht unangenehm, lediglich fremd. Schlanke Hände schoben sich in sein Haar und lösten faszinierend geschickt das weiße Band, welches es sonst so straff zusammenhielt. Widerstrebend ließ er den anderen gewähren. Eigentlich gefiel ihm das nicht. Er ließ seine Haare nicht gerne berühren. Konnte es nicht haben, wenn andere über ihn bestimmten. Aber was sollte er tun? Schwarze Strähnen flossen mit einem Mal um ihn herum. Es kam ihm vor wie ein Déjà-vu. Nur der herzförmige Ohrring klimperte ungewohnt schrill daneben. Unangenehm. Verdammt, verdammt, verdammt! Wieso tat er nicht endlich etwas dagegen? Koumei würde ihn bestimmt verstehen, oder? Aber kein einziges Wort drang aus Judars Kehle. Irgendwie war er sich seiner Überzeugung nicht mehr so sicher. Nein, er wollte gar nichts unternehmen. Raue Lippen berührten sanft seine Stirn und wanderten hinab zu den seinen. Vereinten sie so mühelos. Der Magi genoss es. Ungestüm kam er dem anderen entgegen. Doch der ließ sich zu nichts drängen. Judar stöhnte in den innigen Kuss hinein. Diese aufreizende Langsamkeit machte ihn fertig. Brachte sein Blut zum Kochen. Seine Hände fuhren über die makellose weiße Haut seines Königskandidaten. Erkundeten sie. Sie hatte sicherlich noch nie einen Sonnenstrahl gesehen, so blass wie sie war. Spürten seinen kräftigen Herzschlag, bevor sie weiter strichen. Verharrten bei einer dünnen Unebenheit, die sich einen langen Weg über die Brust des Prinzen erstreckte. Eine alte Narbe, inzwischen so unauffällig. Judar hatte selbst gesehen, wie sie entstanden war. Sie war der einzige Beweis dafür, dass Koumei nicht für den Umgang mit Schwertern geeignet war. Welcher Heranwachsende, nun gut, den Magi ausgeschlossen, schaffte es schon, in seine eigene Klinge zu stürzen, ehe der Übungskampf richtig begonnen hatte? Ach, es hatte damals einen riesigen Aufruhr gegeben. Als es passiert war, hatte die Wunde bei weitem nicht so unscheinbar und harmlos gewirkt, wie jetzt. Im Gegent- Verdammt! Plötzlich brandete eine erneute Hitzewelle durch seine Adern. Ließ seinen Gedanken schlagartig abreißen. Verzehrte ihn. Ausgelöst von den kühlen Fingern, die ungeniert seinen Oberkörper entlang fuhren. Seine Haut zum Glühen brachten. Hinunter wanderten. Über seinen flachen Bauch. Hinterließen eine Spur aus unendlich winzigen Flammen. Sie forderten ihn heraus. Spielten mit dem weichen Stoff seiner weiten Beinkleider. Schoben sie Stück für Stück über seinen Hüftknochen. Nach unten. Immer tiefer. Glitten plötzlich brennend die Innenseite seiner Oberschenkel entlang. Verdammt. Das war zu viel. Judar winselte. Er hatte das Gefühl, dass gleich etwas in ihm zerreißen würde. Er konnte das nicht ertragen. „L-Lass das“, murmelte er wie betäubt. Erkannte seine eigene Stimme kaum wieder. So zittrig und dünn. Koumei antwortete nicht. Judar wollte zu einem erneuten Befehl ansetzen, doch er verstummte mürrisch. Das prickelnde Gefühl verschwand unwiederbringlich. War das Koumeis Ernst? Aber er verharrte immerhin ruhig. Tat nichts, das ihn weiter reizte. Der Gefallene zwinkerte angestrengt. Wirres rotes Haar hing ihm in den Augen. Es piekte. Wirklich ätzend. Dann krachte der dazugehörige Schädel mit voller Wucht gegen sein Schlüsselbein. Judar stöhnte vor Schmerz. Die Stelle würde sich sicherlich bald grün und blau färben. Fühlte sich an, als wäre der Knochen zersplittert. In tausend Teile! Dieser dämliche Zottel! Der schwarze Magi hätte ihn am liebsten gepackt und aus dem Bett geworfen. Aber das war noch unmöglicher, als gedacht. Sein Königsgefäß lag mit seinem ganzen Gewicht auf ihm.  Schlafend. Dieser jämmerliche Taugenichts. Wie brachte er es nur fertig, einfach, ganz plötzlich selig einzunicken? Ein schöner Beweis, wie viel Interesse er an seinem Magi hatte. Offenbar fand er ihn furchtbar langweilig. Zum Einschlafen. Wie unverschämt. Wie konnte er seinen Hohepriester einfach so in Ungewissheit und mit dermaßen unbefriedigenden Gedanken alleine lassen? Das war wirklich armselig. Ächzend zwängte er sich unter seinem Königsgefäß hervor. Gar nicht so einfach. Dieser Kerl war ein einziges Ärgernis. So unfähig und verschlafen. Nutzlos. Judar schnaubte verärgert. Aber er musste sich wohl endgültig eingestehen, dass seine Gefühle, die die unfreiwilligen Erinnerungen ausgelöst hatten, ein wenig tiefer reichten, als erhofft. Sein Blick glitt abschätzend über den halbverhüllten Zottel. Judar betrachtete die helle Haut, zerschnitten von den scharfen Narben. Ob die wirklich nur vom Schlafmangel kamen? Musterte die langen dunklen Wimpern, die beinahe wie Rabenfedern wirkten. Wahrscheinlich das einzig bemerkenswerte an seinem Äußeren. Ein schöner Kontrast zu diesen karmesinroten Zotteln. Wie hatte er ihn jemals hässlich finden können? Natürlich, schön anzusehen war er ebenfalls nicht. Dem Kerl fehlte es einfach an Pflege. Vielleicht sollte er einfach mal Kougyokus Haaröl über seinem Kopf auskippen? Als kleine Strafe für diese unverschämte Schläfrigkeit? Obwohl, das wäre eine ziemliche Verschwendung. Und vielleicht ging es seinem Königsgefäß ja tatsächlich schlecht. Aber anders als zuvor, erschien Koumei nun deutlich gesünder. Und er würde nicht vergessen, wie hinterhältig er ihn hereingelegt hatte. Dabei hätte er nie gedacht, dass Koumei ebenfalls bleibende Eindrücke aus dieser Nacht davon getragen hatte. Aber krank schien er wahrhaft nicht zu sein. Dieses Mal hatte sein Zottel wohl lediglich einen ausgesprochen guten Schlaf. So friedlich wie er da schlummerte. Lächerlich. Erbärmlich. Nun, immerhin zuckte er nicht wieder  die ganze Zeit, als ob er am Verrecken wäre. Das beruhigte ihn. Judar entfuhr ein gewaltiges Gähnen. Der regelmäßige Atem des anderen schien ihn ebenfalls einzulullen. Außerdem hatte er heute wirklich einen anstrengenden und vor allem Nerven aufreibenden Tag hinter sich gebracht. Selbst seine Rukh wirkten erschöpft. Es dauerte nicht lange, da lagen der Gefallene und sein Königsgefäß einträchtig schnarchend, dicht an dicht, nebeneinander, während am Nachthimmel Balbadds die ersten Sterne funkelten.   ~*~ Kapitel 11: Rot und Blau - Schwarz und Weiß ------------------------------------------- Rot und Blau - Schwarz und Weiß (Traum)     *~*   Die sengenden Sonnenstrahlen prallten unbarmherzig auf seinen Kopf. Gequält riskierte er einen Blick auf den schrecklichsten aller Sterne. Gähnte angestrengt. Eigentlich mochte er die leuchtenden Himmelskörper und kannte sich bestens mit ihnen aus. Doch dieser hier kam ihm eindeutig zu nahe. Das gleißende Sonnenlicht machte einen blind! Schnell schaute er zu Boden. Unwillig schüttelte er eine rote Haarsträhne beiseite, die ihn schon die ganze Zeit nervte. Wieso musste sie auch immerzu in seine Augen fallen? Da ertönte schmerzlich vertraute Stimme, zu Beginn kaum mehr, als ein flüchtiger Hauch, doch mit jedem Wort kräftiger und klarer: „Hallo Koumei, lange nicht gesehen!“ Der Prinz versteinerte. War mit einem Mal hellwach. Wie war das möglich? So viel Zeit war vergangen, seit er diese angenehmen Töne beinahe jeden Tag vernommen hatte. Mit bebender Langsamkeit drehte er den Kopf in Richtung der unerwarteten Begrüßung. Jemand hatte sich von hinten an ihn heran geschlichen. Jemand, von dem er gedacht hatte, ihn für immer verloren zu haben. Dann sah er ihn. Erblickte fröhliche blaue Augen und grobes, zu einem Knoten gebundenes schwarzes Haar. Zwei gelöste Strähnen hingen unordentlich bis zu den Schultern des jungen Mannes herab und verliehen ihm ein draufgängerisches Aussehen. Dieses wurde noch durch sein breites Grinsen und die begeistert geröteten Wangen verstärkt. Ungebrochen von dem schwarzen Muttermal auf seinem Kinn. Ungläubig starrte Koumei ihn an. „Geht es dir gut? Du siehst so blass aus“, befand sein Gegenüber und musterte ihn besorgt. Unfähig auch nur einen Ton von sich zu geben, starrte der Prinz auf die Erscheinung vor ihm. Unmöglich. Das konnte nur ein Traum sein. Der andere wirkte verlegen: „Habe ich dich erschreckt? Wenn ja tut es mir wirklich leid, Mei. Aber ich wollte wirklich gerne noch einmal sehen, wie es dir so ergangen ist. Nur ein einziges Mal noch.“ „W-wie es mir ergangen ist?“, wiederholte Koumei stotternd. „Aber ja. Schließlich sind wir uns seit Jahren nicht mehr begegnet. Ich hatte Sehnsucht nach dir. Du etwa nicht auch nach mir?“   Ein unangenehmer Schauer durchlief die Adern des Rothaarigen. War das schreckliche Verzweiflung oder nicht zu bändigende Freude? Er wusste es nicht, vielleicht eine Mischung aus beidem. „D-doch, sch-schon so l-lange“, erwiderte er. Seine Stimme viel zu leise. Der plötzlich Erschienene legte ihm eine erstaunlich warme Hand auf die Schulter und lächelte derart offenherzig, dass Koumei vor Kummer der Atem stockte. „Keine Angst“, meinte der andere beruhigend. „I-ich habe keine Angst“, widersprach der Prinz, wobei er sich sogleich ungeheuer kindisch vorkam. Verlegen raufte er sich die Haare und wechselte einen langen Blick mit dem alten Bekannten. Selbst nach all den Jahren erkannte er die tiefe Verbundenheit darin. Dann ein ansteckendes Lachen: „Dieses Mal habe ich deine Lüge durchschaut, Mei! Du solltest stolz auf mich sein. Mach dir nichts draus, es ist doch in Ordnung, wenn du dich fürchtest. Solange du dich nicht vor deiner Furcht versteckst, ist alles gut.“ „Wenn du meinst…“, murmelte Koumei. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Diese Verschwiegenheit schien sein Gegenüber jedoch nicht im Mindesten zu kümmern. Die blauen Augen richteten sich unvergleichlich erfreut auf Koumeis rechte Faust, die krampfhaft Dantalions Fächer umklammerte. „Ach, du hast ihn immer noch? Das ist fantastisch! Und er ist nun dein Dschinngefäß?“ Der Rothaarige nickte nur. Wie hätte er dieses unsagbar wichtige Erinnerungsstück denn fortwerfen können? Es war der einzige Gegenstand von tatsächlich hohem Wert, der ihm wirklich etwas bedeutete. Außerdem fühlte Dantalion sich wohl darin.   Plötzlich schlug sich der Schwarzhaarige erschrocken die Hand vor die Stirn. „Oh Mist! Ich muss wieder los. Hab die Zeit ganz vergessen. Vater wird wütend sein. Es tut mir schrecklich leid. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr es mich gefreut hat, dich hier angetroffen zu haben. Mach‘s gut, Mei!“ Verwundert schüttelte Koumei den Kopf. Er wollte schon fort? So schnell? So plötzlich? Ohne ein vernünftiges Gespräch geführt zu haben? Ihn abermals alleine lassen? Weshalb? Er wollte etwas erwidern, aber er konnte nicht. Noch eine flüchtige Berührung ihrer Hände und schon hatte sich der so sehr Vermisste auch schon wieder abgewandt, um in die unendliche Ferne zu entschwinden. „G-geh nicht!“, rief er panisch und spürte, wie sein Herz abermals brach. Doch kaum verhallten seine Worte in der flimmernden Luft, verging die sich immer weiter entfernende Gestalt in einem gleißenden Leuchten. Zutiefst erschüttert eilte Koumei ihr hinterher. Doch ehe er ihr auch nur ein wenig näher gekommen war, verschwand sie mit einem letzten Strahlen. So hell. Selbst die Sonne konnte es nicht übertreffen. Nein. Wie konnte er ihm das nur antun. Er durfte ihn nicht noch einmal verlassen. Geblendet und voller Trauer blickte er auf die letzten sirrenden Lichtpartikel. Seufzte schwer. Verfluchte seine blitzartig aufgekommene Hoffnung, auf ein längeres Beisammensein.   Nun war er wieder alleine an diesem unbarmherzig heißen Ort. Sekunden vergingen. Vielleicht auch Jahre. Eine Ewigkeit? Er konnte es nicht sagen. Und während er so da saß, lichtete sich sein verzweifelter Geist, bis er sich nur noch an der furchtbaren Sonne störte.   Plötzlich ein leises Klackern. Verwundert blickte er hinab auf seine Hand. Wie kam denn die Tüte mit Körnern plötzlich dort hinein? Und wo befand sich sein Metallgefäß? Verwirrt kratzte er sich am Kopf. Währenddessen rieselten mehr und mehr Sämereien auf die erhitzten Fliesen. Ein sanftes Gurren. Koumeis Augen weiteten sich überrascht. Eine schwarze Taube stakste aufgeplustert um seine spitzen Schuhe herum und pickte begierig nach dem Futter, das er verloren hatte. Ein außergewöhnliches Tier. Wie hübsch ihr ausladendes Federkleid in dem strahlenden Licht glänzte.  Merkwürdig, eine wie sie hatte er noch nie gesehen. Besonders ihr Auftauchen, schier aus dem Nichts, gab ihm zu denken. Doch es war eine reine Freude, den dunklen Vogel bei seiner Mahlzeit zu beobachten. Mit einer unerwarteten Geschwindigkeit verputzte sie die ausgestreuten Körner. Gurrte beleidigt, als nichts mehr übrig war. Legte mit einem Mal den Kopf schief und starrte begehrlich zu ihm hinauf. Besser gesagt auf die Tüte in seiner erhobenen Faust. Der Prinz erstarrte. Diese Augen! Ein blutiges Rot, dass sich schier in seine Gedanken zu bohren schien. Weit mehr als nur ein verständnisloser Tierblick. So…brennend. Lächerlich. Das war nur eine Taube! Der schöne Vogel gurrte immer noch beharrlich und schielte gierig zu dem Futter auf.   Koumei zögerte kurz, dann schüttete er eine kleine Menge auf seine Handfläche. Legte die Tüte beiseite und ging in die Knie. Die Taube ruckte mit dem Kopf. Dann machte sie einen beinahe begeisterten Satz auf seinen Unterarm. Oh, sie war ziemlich schwer. Ihre spitzen Krallen zwickten in seine ungeschützte Haut und hinterließen rote Striemen. Doch das war er gewohnt. Zufrieden schlang sie das dargebotene Futter hinunter. Unglaublich, wie schnell die Samen in ihrem Kropf verschwanden. Er hatte kaum Zeit zu blinzeln, da war seine ausgestreckte Hand wieder leer. Wieder bohrten sich die fordernden roten Augen in die seinen. „Tut mir leid, mehr habe ich nicht“, gestand er bedauernd und zeigte ihr das leere Päckchen. Beleidigt spreizte das Tier die Flügel und stob flatternd auf. „WUMM!“ Plötzlich ein gewaltiger Knall. Erschrocken wich der Prinz zurück. Die düstere Silhouette der Taube zerplatzte mitten in der Luft. Hunderte schwarze Federn, die trudelnd zu Boden segelten. Verstört betrachtete er das zerfetzte Tier. Doch aus den blutigen Überresten erhob sich ein neues Wesen. Viel kleiner. Es glich einem winzigen schwarzen Schmetterling, der emsig mit den feinen Flügelchen schlug, sodass ein sachtes Sirren erklang. Fasziniert streckte Koumei die Finger nach ihm aus. Mit einem stummen Flattern ließ sich das seltsame Etwas auf seinem abgekauten Nagel nieder. Irgendwie kam ihm diese Gestalt bekannt vor. Da durchschoss ihn die Erkenntnis: Ein Rukh! Es konnte nur ein Rukh sein, die Lebensenergie dieser Welt! Ein schwarzer? Einmal hatte er sie an Judar gesehen, als dieser einen besonders mächtigen Zauber gewirkt hatte. Nur war sein schwarzer Magi in eine erdrückende Wolke von ihnen gehüllt gewesen. Dieser hier war hingegen so klein und zart. Sicherlich konnte er alleine nicht viel bewirken.   Plötzlich fiel undurchdringliche Dunkelheit wie ein Schleier über den sonnenerhellten Himmel. Sprachlos betrachtete er die Finsternis, lediglich erhellt durch ein diffuses Glimmen am Horizont. Moment mal! Wo war er überhaupt? Er stand auf einer vollkommen freien Fläche, nichts als steinerner Boden um ihn herum! Panisch tastete er nach seinem Fächer. Welch ein Glück. Er steckte wieder zuverlässig in der Schärpe seiner Gewänder. Erleichtert zog er das Metallgefäß hervor. „Dantalion, fahre in mich!“, rief er seine Dschinniya. Doch kaum hatte er die vertrauten Worte ausgesprochen, zerschmolz die Waffe in seinen Händen. Löste sich auf. Zurück blieb nur ein feiner Goldstaub, der höhnisch an seinen verschwitzten Fingern klebte. „Wa-Was ist das?“, murmelte er schockiert. „Dantalion? Wo bist du?“ Sie antwortete nicht. Wie konnte sie sich ihm nur immer wieder widersetzen? Stattdessen erklang in der Ferne ein markerschütterndes Brüllen. Wie von einer wilden Bestie.   Koumei versteinerte. Feiner Nebel kroch aus heiterem Himmel um seine Beine herum. Umschmeichelte sie mit trügerischer Frische. Der schwarze Rukh sirrte aufgebracht, während der Dunst immer dichter wurde. Sich fester und fester zog. Zu einer Kugel wurde. Schließlich eine diffuse Gestalt zu formen begann. Einen verschwommenen Kopf. Ein langer Rumpf. Vier kräftige, kurze Gliedmaßen. Sich verfeinerte. Bis der Prinz sich einem wahrhaftigen Ungeheuer gegenüber sah. Ein rein weißer Drache. Lang wie eine Mauer, höher als ein Haus. Eine wilde Mähne aus Nebelwolken. Brennhaare, lang wie Schlangen. Schuppen wie aus Perlen geschliffen. Hart und undurchdringlich. Eine einzige Rüstung. Die Klauen und Zähne scharf und gebogen, wie Dolche. Gefährlich. Tödlich. Der Rothaarige tastete aus Reflex nach seinem Fächer. Natürlich vergebens. Das Monster fixierte ihn. Nein, den schwarzen Rukh, der immer noch auf seinem Nagel hockte und erregt mit den filigranen Flügeln schlug. Der Drache grollte dunkel und bedrohlich. Die Erschütterungen liefen bis zu Koumeis Füßen. Die gewaltige Bestie schnaufte schwer. In den blauen Augen, eines davon seltsam verschleiert, stechende Intelligenz. So kalt und eisig wie ein tiefer Bergsee. Merkwürdig anmutig. Lähmende Furcht schlich sich in das Herz des Prinzen. Dieser trübe Blick schien ihn zu fesseln. Er fühlte sich so klein und schwächlich gegenüber diesem machtvollen Wesen. Nur ein erbärmlicher Mensch. Nicht besser als die Sklaven im Kou-Reich oder die Menschen in den Gossen Balbadds. Vor allem ohne seine Dschinnausstattung. Er konnte sich nicht wehren. War verloren. Doch das Monster verharrte lediglich starr vor dem Prinzen. Beäugte nur den schwarzen Rukh in seiner Hand. Beinahe argwöhnisch. Seltsam…beeindruckt. Fürchtet er sich etwa vor diesem kleinen Wesen? Er könnte uns beide problemlos verschlingen, wieso tut er das nicht? Koumei runzelte unsicher die Stirn. Die Nähe des Drachen ließ seine Beine zittern. Plötzlich schwirrte der Rukh auf. Überrascht zuckte der Rothaarige zusammen und stolperte zurück. Keinen Moment zu früh: Der Drache stieß ein markerschütterndes Brüllen aus, dessen Windstoß den Prinzen zu Boden schleuderte. Tosend. Der Rukh schoss trotz des niederschmetternden Drucks mit einer ungeahnten Geschwindigkeit auf das weit aufgerissene Maul zu. Mitten hinein. Verschwand zwischen vernichtenden Zahnreihen. Der riesige Fang klappte zu. Verschlang das zarte Wesen wie ein Staubkorn. Schien es kaum zu bemerken. Koumei schluckte. Was war das nur für ein seltsamer Alptraum? Da stieß der weiße Drache mit einem Mal ein Fauchen aus. So wild und übermächtig, dass es ihn noch weiter zu Boden drückte. Wurde zu einem gellenden Schrei. Schockiert beobachtete der zweite Prinz, wie sich das so gewaltige Tier unter niederdrückenden Krämpfen wand. Brüllte. Voller Schmerzen. Der Nebel, der den Drachen so sanft umwoben hatte, wie eine weiße Aura, ergraute. Schwärzte sich unheilvoll. Was hatte das zu bedeuten? Schwarzer Schaum quoll der Bestie aus der Schnauze. In ihrer Brust erglühte ein finsteres Licht. Zitternd robbte Koumei fort von der gequälten Kreatur. Der Nebel verdichtete sich brausend. Hüllte den Drachen ein, durchdrang die perlweißen Schuppen, fuhr in den anmutigen, schlangengleichen Körper. Bis nichts mehr übrig war. Lediglich der Drache. Doch von seiner atemberaubenden Reinheit war nichts mehr zu spüren. Die harten Schuppen glänzten in einem unerbittlichen Schwarz. Der gesamte Leib schien die Dunkelheit regelrecht auszudünsten. Nur die ungleichen blauen Augen durchbohrten Koumei mit ihrem eisigen Blick. Schwankend richtete der Rothaarige sich auf. Wäre beinahe wieder gestürzt. Dieser Blick nahm ihm all seine Lebenskraft. Ein ohrenzerreißendes Donnern ertönte aus den Tiefen des tödlichen Kiefers. Schwarze Flammen leckten gierig über die zersprungenen Fliesen. Zerreißende Klauen schliffen klirrend über den Boden. Schritten bedrohlich auf ihn zu. Würden ihn gleich zerfetzen.   Koumei riss sich von den verschlingenden Iriden des Ungeheuers los und schnellte herum. Rannte, egal wohin, bloß fort. Sein Herz raste in Todesangst. Er stolperte über die hinderlichen Schuhe, verlor einen nach dem anderen im Lauf. Egal. Nur weg. Seine Müdigkeit wich reiner Panik. Dunkles Feuer lechzte nach ihm. Verfehlte ihn knapp. Bei allen Rukh auf dieser Welt! Er musste schneller sein, als dieses Monster. Die dröhnenden Schritte hallten gellend in seinen Ohren wieder. Unangenehm. Ließen den ganzen Boden erbeben. Brachten ihn zum Straucheln. Doch er fing sich wieder. Hechtete zur Seite vor einem erneuten Flammenstoß. Stürmte weiter. Plötzlich erhoben sich um ihn herum steinerne Wände. Schoben sich lautlos aus der Erde. Wuchsen empor. Himmelhoch. Ein ewig langer Korridor. Endlos. Wie sollte er dem blutdurstigen Drachen so entkommen? Kreuchend raste er weiter.  Ignorierte verbissen das grausame Stechen in seinen Seiten. Seinen röchelnden Atem. Diese verdammte Kondition! Würde sie der Grund sein, weshalb er zerrissen zwischen den Fängen dieses Ungeheuers enden würde? Das darf nicht sein! Ich habe noch so viel zu erledigen! Was soll nur Kouen ohne mich anfangen?, schoss es durch seine Gedanken, während er um sein Leben rannte. WUMM! Ein harter Aufprall. Koumei wurde zurück geschleudert. Ein Splittern. Holz? Vor ihm eine verbogene Tür. Hinter ihm brennende Hitze. Panisch sprang er auf die Füße. Stürzte durch das Tor hindurch. Gelangte in einen schmalen Flur. Nur schwach erhellt von halb heruntergebrannten Fackeln an den Wänden. Am gegenüberliegenden Ende eine weiter Tür. Massiv und abwehrend. Seine Rettung? Um Atem ringend eilte er voran. Oh, lass sie offen sein. Lass sie bitte offen sein! Sein stummes Gebet wurde erhört. Kaum lehnte er sich mit aller Kraft gegen diese Zuflucht, schwang das Tor auf. Ließ ihn hindurch fallen und schlug heftig hinter dem Prinzen zu. Ein endgültiger Knall. Finsternis. Das Gebrüll verklang in der Ferne. Erleichtert lag Koumei auf den kalten Steinen. Hechelte nach Luft. Adrenalin brandete durch seine Adern und verging nur langsam. Sein Herz pochte viel zu schnell. Egal. Ermattet ließ er den Kopf auf den wohltuenden Boden sinken. Gerettet. Endlich.   Auf einmal zuckte er erschrocken zusammen. Eine eisige Berührung an seinem bebenden Arm. Diffuser Feuerschein flammte auf. Erhellte die enge Kammer. Kam aus dem Nichts. Zeigte ein Bild der Verwüstung. Feine Metallstücke. Gold und silbern. Ein zersplitterter Beidhänder. Verstörende Erkenntnis fraß sich in Koumeis Herz. Er kannte diese Waffe. Wie konnte diese schwere Klinge nur brechen? „…Mei…“ Ein ersterbendes Stöhnen. Koumeis Augen weiteten sich geschockt. Zarte Finger griffen verzweifelt nach den seinen. Erschlafften in seiner Hand. Rot. Die Haut aufgesprungen. Abgeschält. Enthüllten reine Muskelfasern und weiß hindurchschimmernde Knochen. Blut rann unaufhaltsam aus den tiefen Wunden. Ein Arm vollkommen verdreht. Das Gesicht unkenntlich und schwarz verbrannt. Nein! Was war nur mit seinem kleinen Bruder geschehen? Wie hatte er das zulassen können? „K-Kouha…?“, Koumeis Stimme brach. Wie konnte das sein? Wieso er? Voller Entsetzen hob er den Kopf.  Erschauderte voller Erschütterung. Erblickte Kougyoku, die ebenso schrecklich zugerichtet im Sterben lag. Die Beine zerfetzt und versengt, immer noch in ihrer Dschinnausstattung, als hätte sie bis zum letzten Moment gekämpft.   Schmerzerfüllte Tränen auf dem erstarrten Gesicht. Die Waffe ebenfalls zerstört. Voller Grauen betrachtete der Prinz die gefallene Prinzessin. Neben ihr Hakuei, bedeckt mit einer Schicht aus weißen Federn, scheinbar unverletzt und doch so schrecklich still. Ihr fächerförmiges Metallgefäß völlig zerrupft. Erstickende Panik schlug über ihm zusammen. Wo war Kouen? Sein älterer Bruder? Er musste noch am Leben sein, niemand konnte ihn einfach so vernichten! Hektisch riss er den Kopf hin und her. Sein metallener Ohrring klirrte schrill. Fachte seine verzehrende Angst nur noch mehr an. Koumei ballte die Hände zu Fäusten, bis sich die Nägel tief in die Haut gruben. Suchte verzweifelt nach dem zukünftigen Thronfolger. Da! Unsicheren Schrittes tappte er zu dem halbverborgenen Schatten in der hintersten Ecke des Raumes. „Mein Bruder und König? Kouen?“ Wie dünn seine Stimme mit einem Mal klang. Doch kaum hatte er sich der dunklen Ecke genähert, wünschte er sich, es niemals getan zu haben. Sein Bruder lehnte zusammengesunken an der gemauerten Wand. Der sonst so starke Körper gebrochen. Der Kopf hing ihm leblos auf die Brust. Die purpurroten Augen starrten glasig ins Leere. Nein! Dem Rothaarigen stockte der Atem vor Abscheu. Arme und Beine des ersten Prinzen waren nur noch blutige Stümpfe. Die abgetrennten Gliedmaßen lagen hilflos daneben. Als hätte jemand sie in einem barbarischem Blutrausch abgehackt. Die eine Hand hielt immer noch krampfhaft sein gesplittertes Schwert umschlossen. Selbst seine drei Dschinn hatten Kouens Leben nicht retten können. Nicht einmal Phönix mit ihren wundersamen Heilkräften. Unmöglich.   Koumei sank zu Boden. Verzweiflung überfiel ihn. Warum nur? Zwar hatte er schon mehrmals schrecklich verstümmelte Soldaten gesehen, die auf dem Schlachtfeld umgekommen waren, schließlich lebten sie in Kriegszeiten! Doch es bei seiner eigenen Familie zu erleben, war zu viel. Fassungslos schüttelte er den Kopf. Was war nur geschehen? Wer hatte seine Familie so grausam zugerichtet? Welcher gottlose Mensch konnte so etwas tun? Wer wagte es, die kaiserliche Familie derart gewissenlos abzuschlachten? Wie hatte er das nur geschafft. Sie waren alle Metallgefäßbändiger. So stark… Ein stilles Schluchzen stieg in seiner Kehle auf. Schüttelte ihn. Der Verlust drang mit aller Macht in sein Herz. Raubte ihm jegliche Wärme und ließ ihn zu Eis erstarren. So leer und kalt. Lediglich erfüllt von einer gleichgültigen Müdigkeit. Ließ ihn am Boden kauernd, blind, taub und stumm zurück. Schloss alles aus. Ja, er war alles leid. Selbst als die Wände des Raumes erzitterten und unter gewaltigen dunklen Pranken in sich zusammen fielen. Als die Hitze des finsteren Feuers alles verschlang, was sich ihr in den Weg stellte. Sogar, als der schwarze Drache mit den stechenden Augen herein toste. Doch Koumei bemerkte nichts von der tödlichen Anmut. Das Untier verharrte einen verwunderten Augenblick. Der Prinz blickte nicht einmal mehr auf. Erst, als die scharfen Klauen seine Brust durchstießen, verspürte er den sengenden Schmerz des bitteren Verlustes. So gnadenlos. Zu spät, um zu trauern. Diese unerträgliche Qual… Glühend rot. Doch kein Schrei drang über seine blutleeren Lippen. Die brennende Hitze verschlang ihn. Unwiederbringlich.   *~*   Kapitel 12: Schlaflos ---------------------     *~* Mit einem gellenden Schrei schreckte Koumei aus seinem furchtbaren Albtraum auf. Schnellte so rasch in die Höhe, dass etliche  Kissen aus dem Bett fielen. Zu Tode erschrocken. „Kouen!“, keuchte er entsetzt. Dann erblickte er die vertraute Umgebung. Seine geweiteten Augen glänzten verstört im sanften Mondlicht. Unpassend zu der friedlichen Atmosphäre, die der stille Nachthimmel in dem dunklen Raum erzeugte. Der zurückhaltende Sternenglanz drang durch die offenen Fenster und versilberte alles, was auf seinem Weg lag. Doch der zweite Prinz hatte keinen Blick für diese Schönheit übrig. Sein rasselnder Atem wollte sich einfach nicht beruhigen. Die zerzausten Haare standen kreuz und quer von seinem überhitzten Kopf ab. Nur einige winzige rote Strähnen klebten verschwitzt an seiner Stirn. Unangenehm. Der Ohrring pendelte hektisch hin und her. Sein Herz pochte schmerzhaft schnell. Panisch ließ er den Blick durch seine Gemächer schweifen. Doch nichts erinnerte mehr an diesen schrecklichen Traum. An all den Tod und die Zerstörung. Den furchtbaren Verlust nahezu seiner gesamten Familie. Dabei hatte er ähnliches schon einmal erleben müssen. Obwohl er wusste, dass das alles dieses Mal nicht real sein konnte, verspürte er ein ungutes, dumpfes Gefühl. Einen mahnenden Druck in seiner Brust, der ihm irgendetwas mitteilen wollte. Ihn warnte. Aber er konnte nichts damit anfangen. Diese ruhestörenden Albträume! Wie sollte er auf diese Weise schlafen, wenn er immer von derart verstörenden Bildern geweckt wurde? Dabei hatte alles so echt gewirkt. Er hatte alles gesehen, gehört, gerochen, sogar gespürt! Das Blut, die Hitze, diesen Schmerz. Und auch diese unverhoffte Begegnung. Die ihn in ihrer Kürze und Schmerzhaftigkeit schier verhöhnt hatte. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Bebend zwängte er sich zwischen all den Kissen und Decken hervor. An Schlaf konnte er nicht mehr denken. Wieso hatten seine Diener die dicken Stoffe nicht fortgenommen? Es war brütend heiß in diesem Land! Doch kaum hatte er die schwere Decke abgestreift, fröstelte er unterdrückt. Verwundert registrierte er seinen bloßen Oberkörper. Dabei schlief er sonst nie auf diese Weise. Er schnellte in die Höhe, wobei er sich heftig den Kopf an dem, mit Intarsien verzierten, Himmel des Bettes stieß. „Au…“, entfuhr es ihm verärgert. Das würde eine Beule geben, aber jetzt wollte er endlich raus. Verwirrt suchte er nach seinen Gewändern. Fand sie nicht. Wo hatte er die nur abgelegt? Plötzlich trat er auf etwas kleines, hartes, das sich unangenehm in seinen bloßen Fuß bohrte. Ein ungehaltenes Zischen drang aus seinem Mund. Ein Stock? Nein, ein wohlbekannter Zauberstab. Egal, den hatte sicher der Priester hier vergessen. Jetzt benötigte er erst einmal seine Kleidung. Doch sie ließ sich nicht aufspüren. Nicht in dieser Dunkelheit. Das Mondlicht reichte lediglich für unscharfe Umrisse und Silhouetten aus. Dafür entdeckte er etwas anderes, was ihn noch ein wenig mehr schockierte. Im ersten Moment. Dann erinnerte er sich schlagartig und musste sich am Bettpfosten abstützen, um nicht, von einer plötzlichen Schwindelattacke gepackt, zu Boden zu stürzen. Judar! Sein Magi lag selig schlafend zwischen den Kissen und schien nichts von den verstörenden Träumen seines Königskandidaten bemerkt zu haben. Stattdessen hatte er die Finger tief in den weichen Troddeln verhakt und schien, im Gegensatz zu Koumei, in einem überaus schönen Traum aufzugehen. Er wirkte so anders, wenn er schlief. Friedfertiger. Keine Wut oder Frustration, die seinen dünnen Körper angespannt oder aggressiv wirken ließ. Keine keifende Stimme, die an alles und jedem herum nörgelte, dumme und unzivilisierte Worte ausspie. Nein, wenn er ruhte, schien der Magi einen regelrecht angenehmen Charakter zu besitzen. Welch ein Trugschluss. Aber diese Erfahrung musste der Prinz natürlich nach all den Jahren nicht mehr machen. So betrachtete er das entspannte Gesicht, halb verborgen unter schwarzem Haar, welches Judar, einmal gelöst, ungebändigt über die Schultern fiel. Die geschlossenen Augenlider, auf denen nur noch verlaufen die violette Farbe erkennbar war. Der leicht geöffnete Mund, durch den stiller Atem ein und ausströmte. Nein, wenn man ihn nicht kannte, hätte man nicht gedacht, dass Judar eine unheilbar kindische, aufmüpfige und dennoch tödliche Person darstellte. Gefürchtet wurde. Jedenfalls von einigen Menschen. Nun gut, wahrscheinlich von sehr vielen. Doch als zweiter Prinz wusste er nicht so genau, was seine Untertanen über den Priester dachten. Genau genommen kümmerte  es ihn nicht. Sie sollten Judar einmal so sehen. Sonderlich gefährlich schaute er nicht aus. Dabei ziemlich anziehend… Wenn auch nicht so vertraut, wie er. Ohnehin… es war gefährlich, sich da in etwas hineinzusteigern. Ein Fehler, der sie beide in größere Schwierigkeiten bringen konnte. Koumei kratzte sich selbstvergessen am Kopf. Scheinbar half ihm die Betrachtung seines schwarzen Magi trotz aller Zweifel über den bitteren Nachgeschmack seines unruhigen Schlafes und der bedauernswerten Vergangenheit hinwegzukommen. Wobei, eigentlich war es eine wahrhaftige Schande. Zumal Judar einen recht unzufriedenen Eindruck gemacht hatte. Dieser junge, unverschämte Mann aus einem armseligen kleinen Dorf stammend, stellte wirklich keinen guten Gefährten dar. Nein, er sollte ihn lieber Prinzessin Kougyoku überlassen. Sie hatte mehrmals Interesse an dem jungen Mann gezeigt, obwohl er sie mit Begeisterung zur Weißglut trieb. Das wäre sicher die beste Entscheidung. Etwas, das geduldet werden würde. Etwas, das richtig war. Schließlich wusste er nicht einmal, was er für ihn empfand. Liebe wohl kaum. Abneigung allerdings auch schon lange nicht mehr, obwohl er laute, lebhafte Menschen für Gewöhnlich nicht leiden konnte, vor allem, wenn sie ihr Schicksal verflucht hatten. Dennoch. Eigentlich konnte Judar nichts dafür. Koumei konnte ihn schlecht dafür verurteilen, dass man ihn im Schloss einer sehr strengen, konsequenten und groben Erziehung unterworfen hatte, oder doch? Er konnte es nicht sagen. Vielleicht gab es da tief in ihm ein sanftes Verständnis für den Gefallenen, auf dem seine seltsame Hingezogenheit beruhte. Egal. Koumei seufzte schwer. Woran dachte er denn da? Sein zweifelbehaftetes Verhalten war nur eine Beleidigung für ihn. Zu viele Gedanken. Eigentlich hatte er nur ein paar Minuten an die frische Luft gehen wollen. Des Nachts konnte sie hier in Balbadd herrlich erfrischend sein. Ein ungewöhnlicher Gegensatz zu den sengenden Temperaturen, welche der Aufgang der Sonne stets mit sich brachte. Nun, wo es keine Wolken gab, die die Sonne davon abhielten, erbarmungslos auf die Erde nieder zu prallen, gab es auch keine Wolken, die nach ihrem Untergang ihre Wärme festhalten konnten. Einfache Logik. Leider konnte ihm das kaum vorhandene Licht immer noch nicht den Weg zu seinen gestern Abend achtlos abgestreiften Kleidern zeigen. Also würde sein Aufenthalt auf dem Balkon ein sehr kurzer werden. Vorsichtig, damit die Holzdielen nicht übermäßig knarzten und Judar aufweckten, schritt er nach draußen. Sein Vorhaben ging auf, was ihn erleichterte. Mit dem Magi wollte er momentan noch nicht reden. Sofort packte ihn ein mächtiges Schlottern. Koumei ignorierte die Gänsehaut mit stoischem Willen. Wenn man sich einmal an diese Hitze gewöhnt hatte, erwischte einen die nächtliche Kälte mit ungeahnter Brutalität. Fand er zumindest. Dafür bot sich ein atemberaubender Blick in den sternenklaren Himmel. Die Gestirne leuchteten heller, als er es je in Kou erlebt hatte. Da durfte er schon ein wenig frieren.  Sofort erkannte er einige Sternenbilder, die ihm auch aus seiner Heimat bekannt waren. Lyra, Sagitta, Canis venatici, Fornax, Monoceros… Hätte er noch ein wenig konzentrierter hingeschaut oder systematischer gesucht, wären ihm vielleicht noch ein oder zwei weitere aufgefallen. Aber in dieser Nacht wollte er lediglich den herrlichen Anblick genießen. Seinen grässlichen Albtraum vergessen.  Versonnen wog er den gefiederten Fächer in der Hand. Sein vertrautes Gewicht beschwichtige ihn. Ob Dantalion die funkelnden Himmelskörper ebenso sehr schätzte? Vielleicht hätte er ihr gestatten sollen, sich in ihrer wahren Gestalt zu zeigen, doch dies würde unweigerlich ein schreckliches Aufsehen und Ärger erregen. Die Nachtruhe war schließlich ein hohes Gut. Also musste die Dschinniya wohl oder übel in ihrem Metallgefäß bleiben. Koumei gähnte entspannt. Es gab nichts, dass ihn so sehr beruhigen konnte, wie ein wolkenloser Nachthimmel. So lehnte er lediglich mit seinem Untergewand bekleidet an der Wand und betrachtete das strahlende Firmament. Seine weiße Haut schien das Licht regelrecht zu reflektieren. Diese kleinen Sonnen, zumindest waren das viele von ihnen, so weit entfernt, erschienen ihm ungleich verlockender, als der große, übermächtig brennende Stern, der die Hitze in ihre Welt brachte. Das freundliche Schimmern tat ihm wahrhaft gut. Trotz der beißenden Kälte, die ihn zittern ließ, wie Espenlaub. Aber noch wollte er nicht in die verschwiegene Dunkelheit des Hauses zurückkehren. Wollte Judar nicht wecken, der mit Sicherheit vollkommen erschöpft von seiner Reise war. Und natürlich von der ganzen Aufregung, die Koumei ihm nur mehr oder weniger freiwillig bereitet hatte. Nun, als Magi und Hohepriester hatte der junge Mann es wirklich nicht leicht. Sicherlich hatte er sich viel zu oft mit Kaiserin Gyokuen herumzuschlagen. Sie wirkte immer derart freundlich und charmant mit ihrer blendenden Schönheit, doch dass sie in einem fort mit dieser seltsamen Organisation namens Al-Thamen unter einer Decke steckte, gab ihm schon länger zu denken. Vor allem, was sie mit dem schwarzen Magi anstellten. Es konnte nichts Gutes sein. Des Öfteren schon hatte er flüchtig einige leichte Schürfwunden und Kratzer auf der Haut des Priesters bemerkt. Nie hatte er sich darüber Gedanken oder gar Sorgen gemacht, doch wo er grade darüber nachsann, war es nicht unwahrscheinlich, dass die Kaiserin etwas damit zu tun hatte. Ihm war nicht nur einmal aufgefallen, dass Judar seine Stiefmutter nicht mochte. Sich vielleicht sogar ein wenig vor ihr fürchtete. Der Prinz konnte es ihm nicht verübeln, verstand er doch auch nicht, weshalb sein Vater nach seiner der lange verstorbenen Gemahlin, der Mutter seiner ältesten Söhne, ausgerechnet diese scheinheilige Frau hatte heiraten müssen. Weil sie bereits mit seinem Bruder, dem ehemaligen Kaiser Hakutoku liiert gewesen war, der eines verhängnisvollen Tages gemeinsam mit seinen beiden ältesten Söhnen tragisch verstorben war, und sie somit als Frau die höchsten Stellung bei Hofe besaß? Weil sie ihn mit ihrer Schönheit betört hatte? Oder lediglich aus Mitleid? Nun, die Handlungen seines Vaters konnte er seit dessen Krönung ohnehin nur noch schwer nachvollziehen. Seine Söhne hatten ihm jedenfalls nie sonderlich nahegestanden. Kaiser Koutoku ließ sich leicht von den vergänglicheren Freuden des Lebens ablenken. Kümmerte sich nicht um seine Kinder und wenn doch, zeigte er sich als jähzorniger, viel zu strenger Mann, dem schnell einmal die Hand ausrutschte. Es wurde immer auffälliger. Wie konnte er sich nur derart von seinem älteren und damals so geschickt regierendem Bruder Hakutoku unterscheiden? Schlecht für seine Nachkommen, gut für Gyokuen. Es ließ ihre Macht noch weiter steigen. Es war unheimlich. Koumei traute beiden Regenten nicht vollkommen. Eher im Gegenteil. Deshalb hielt er sich an seinen älteren Bruder. Denn dieser würde eines Tages einen wahrhaft guten Kaiser abgegeben, davon war er überzeugt. Bereits jetzt hatte Kouen schon einigen Einfluss auf das Reich und zog Koumei mit in diesen Strom der Macht hinein. Auch wenn der Thron eigentlich jemand anderem gebühren sollte. Doch dieser weilte schon lange nicht mehr auf dieser Welt. Ebenso wenig wie dessen Bruder. Er. Koumei schluckte schwer. Schweigend starrte er in den Nachthimmel hinauf. Immer wenn er an den alten Kaiser und seine beiden ältesten Söhne Hakuyuu und Hakuren dachte, wurde er von einer merkwürdig trübseligen Stimmung ergriffen. Besonders die Gedanken an Hakuren ließen ihn seltsam leer zurück. Wochenlang hatte er aufgrund seiner fesselnden Arbeit nicht mehr an sie gedacht. Aber dieser Traum hatte ihn wieder daran erinnert. An die alte Trauer, die selbst nach zehn Jahren nie völlig verschwinden wollte.   * Seinen drei Jahre älteren Vetter hatte er über alle Maßen geschätzt. Regelrecht vergöttert, als er noch ein kleines Kind gewesen war. Der Ältere war immer so voller Energie und Lebensfreude gewesen. Wie einfach es gewesen war, Zeit mit ihm zu verbringen. Selbst für einen verschlafenen, wortkargen Jungen mit einem nicht vorhandenen Selbstvertrauen, wie Koumei ihn in seiner Kindheit dargestellt hatte. Bei anderen Menschen gelang ihm das oftmals selbst heute nicht mühelos. Nun, sein Cousin hatte sich nie groß an seinen zahlreichen Schwächen gestört. Im Gegenteil. Schon als Kleinkinder hatte zwischen ihnen eine besonders enge Bindung bestanden. Die über bloße Freundschaft hinausging. Auch wenn das wohl eher Hakuren als Koumei zu verdanken war. Hätte der Ältere den Jüngeren nicht regelrecht dazu gezwungen, aus seinem Zimmer heraus zukommen und mit den anderen zu spielen… Er wäre wohl bei seinen Tauben oder noch eher im Bett schlafend verrottet. Schließlich konnte er schon damals laute, lebhafte Leute nicht ausstehen und genoss die Ruhe mehr als alles andere. Warum er dann irgendwann einen Narren an seinem Cousin gefressen hatte, der eines der temperamentvollsten Kinder bei Hofe dargestellt hatte, konnte er nicht verstehen. Nun, er hatte sich, im Gegensatz zu so manch anderen Kindern, auch selten Hakurens voller Energie aussetzen müssen. Seit ihrem ersten Treffen, bei dem Koumei einen kleinen Anfall vorgetäuscht hatte, da er beim besten Willen lieber lesen und faulenzen wollte, als irgendwelche langweilige Vettern kennenzulernen, war der Sohn des Kaisers besorgt um ihn gewesen. Wenn er dem Jüngeren begegnete, schien er gleich ruhiger zu werden, als hätte er Angst gehabt, ihn mit seinen wilden Spielen zu verschrecken. Er war auch nach Jahren noch der einzige, der auf Koumeis erbärmliche Schauspielereien und Lügen Mal um Mal hereinfiel. Der schwarzhaarige Junge verstand einfach nicht, dass der Kleinere keineswegs derart fürsorgebedürftig war, wie es schien, sondern einfach nur eine intelligente Methode gefunden hatte, sich unangenehmen Situationen zu entziehen. Kouen hatte es Hakuren und auch Hakuyuu mehrmals, um Verzeihung bittend, erklärt, dass sein kleiner Bruder weder an einer chronischen Krankheit litt, noch zu schwach war, um seine ehrenwerte Verwandtschaft zu begrüßen oder sterben würde, wenn man sich nicht rund um die Uhr um ihn sorgte. Hakuyuu hatte lachend abgewunken und sein Verständnis beteuert. Mit der Zeit hatte Hakuren scheinbar ebenfalls begriffen, dass Koumei hinterhältiger war, als es schien. Doch von dem Zottel an der Nase herumführen, ließ sich der gutgläubige zweite Prinz immer, solange Koumei ihn gekannt hatte. Wenn er an die Vergangenheit zurück dachte, fielen ihm noch immer so unendlich viele Dinge ein, die er trotz allem nie ausreichend geschätzt hatte. Es war eine regelrechte Schande. Doch jetzt gibt es keine Möglichkeit mehr, versäumte Zeit nachzuholen, dachte er wehmütig.   Hakuren hatte wahrlich ein großes Herz besessen, in dessen Mitte neben seiner ansteckenden Fröhlichkeit auch der eiserne Wille schlummerte, eines Tages das Reich, welches eigentlich seinem älteren Bruder Hakuyuu gebührte, zu führen. Hätten die Geschwister noch den Tag von Hakuyuus Thronfolge erlebt, hätte es wohl einige Unruhen gegeben. Letztendlich hatte Hakuren zwar gewusst und akzeptiert, dass es ihm nicht bestimmt war, anstelle seines Bruders zu regieren und stellte schon früh einen guten Berater dar, doch ab und an hatte er es nicht lassen können, den Höhergestellten ein wenig herauszufordern. Belustigt schüttelte Koumei den Kopf. Wie sehr er sich damals auf Besuche bei seinen Vettern gefreut hatte. Langweilig war es wirklich nie gewesen. Das musste in seinen Augen zwar nicht immer etwas Gutes heißen, aber es hatte ihm dennoch gefallen. Er konnte sich nur zu lebhaft an ihre brüderlichen Streitereien erinnern, die vielleicht nicht ganz so harmlos gewesen waren, wie es schien. Bei ihm und Kouen hätte es so etwas nie gegeben. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, die Position seines Bruders in Frage zu stellen. Auch wenn sie nun beide Judars Königskandidaten waren. Doch wieder kehrten seine Gedanken zu Hakuren zurück. Ein großer Teil seiner Vergangenheit bestand aus dem traulichen Beisammensein mit dem ehemaligen zweiten Prinzen, dessen Stelle er nun eingenommen hatte.   *   *~*           Kapitel 13: Kindertage ----------------------   *~*   * Hakurens allzu früher Tod war solch eine Verschwendung. Erfüllte Koumei noch immer mit hilflosem Zorn. Ein Gefühl, das er ansonsten kaum kannte. Das einzige Geschehnis in seinem Leben, was dazu führte, dass er sich wirklich machtlos fühlte. Auch heute noch. Da waren so viele Dinge gewesen, die sie verbanden. Als sie noch klein und unwissend waren, die Spiele im Palastgarten. Wie sie die Gärtner geärgert hatten, weil sie die frisch gepflanzten Blumen zertrampelten oder für zerknickte, schlechtgebundene Sträuße und geflochtene Kränze pflückten. Außerdem waren sie des Öfteren in den kleinen Brunnen und Teichen geschwommen, wobei der Rothaarige das alles meist nur mit offenem Mund und nervösen Blicken beobachtet hatte. Ihm war das alles zu viel und er war viel zu bequem, um sich körperlich derart zu verausgaben. Später folgten dann gemeinsame Bankette, bei denen Kinder eigentlich unerwünscht waren oder keinen Ton von sich geben durften. Schwierig mit dem kleinen Kouha und Hakuei am Tisch, irgendwann auch mit Hakuryuu, Kougyoku und den anderen Prinzessinnen, die damals noch nicht annähernd diesen hohen Rang einnehmen durften. Kinder hatte es im kaiserlichen Palast damals zur Genüge gegeben, wenn die ganze Familie beisammen war. Sie trieben Gyokuen und Koutoku in den Wahnsinn, während der Kaiser sich königlich über seine aufgeweckte Verwandtschaft amüsierte. Auch wenn es Koumei meist zu viel gewesen war und er sich immer freute, schnell wieder in die Stille und Einsamkeit seiner Gemächer zurückzukehren, wünschte er sich heute manchmal in die damalige Zeit zurück. Mit zwölf Jahren folgten die Übungen an den Waffen. Bei denen er Judar zum ersten Mal im kaiserlichen Palast über den Weg gelaufen war. Damals noch ein winziger, verzogener Bengel von grade mal vier Sommern, ebenso wie Kouha. Beide mit einer Wut in den Augen, die jeden erwachsenen Mann erschaudern ließ. Koumei erinnerte sich nicht gerne daran. Kouhas traurige Vergangenheit kannte er: Ein kleiner Junge, der sich völlig alleine um seine geistig umnachtete Mutter kümmern musste. Durchgedreht. Attackierte jeden, der sich ihm bis auf ein paar Schritte näherte und quälte Tiere mit einem wahnsinnigen Lachen. Abgeschottet von den anderen Frauen seines Vaters oder jeglichem Hofstaat. Verständlich, dass die Leute ihn mieden, immerhin hatte er schon vielen von denen, die ihm zu nahe kamen einige böse Wunden zugefügt. Doch Kouha hatte ein schweres, freudloses Leben ohne Hilfe verlebt, bis Kouen und Koumei seine Existenz ans Licht brachten und ihn aufsuchten. Sich um ihn kümmerten. Schließlich war er sonst der einzige Bruder den sie noch hatten. Koumei fühlte sich verantwortlich für den Kleinen, der etwas ehrliche Zuneigung und Zuwendung sichtlich brauchte. Auch wenn er nur ungern wirklich mit ihm spielte, da Kouha durchaus rabiat werden konnte. Koumei beschäftigte sich lieber anderweitig mit ihm, denn er hatte etwas gefunden, dass seinem kleinen Bruder gefiel: Tatsächlich genoss der Junge es, wenn der Ältere ihm ab und an eine spannende Legende oder alte Sagen vorlas. Dann schmiegte er sich immer an seinen großen Bruder und von dem wirren Wahnsinn in seinen grellen Augen war nichts mehr zu erkennen. Ja, Koumei liebte Kouha sehr und sorgte sich viel um ihn, trotz dessen beängstigenden Gewaltausbrüchen. Aber viel zu spät hatte er begriffen, woher Judars Gereiztheit stammte. Dann hätte er ihn vielleicht schon früher mit ein wenig mehr Verständnis behandelt. Nicht nur das grauenvolle Biest in ihm gesehen, für das er stets gehalten wurde. Vielleicht lag es daran, dass er nicht sein Bruder war sondern von Kaiserin Gyokuen und ihren engsten Untergebenen verhätschelt wurde, weil er ein Magi war. Koumei hatte sich nie dafür interessiert, auch wenn er wusste, welche Macht diese Zauberer besaßen. Er hielt Judar damals lediglich für ein unflätiges Straßenkind. Bedauerlich. Leider ließ es sich nicht mehr rückgängig machen. Koumei hätte dies wirklich gerne geändert. Aber erst nach einigen Jahren, als er schon beinahe erwachsen war, sollte er lernen, mit Judar auszukommen. Erzwungenermaßen. Er seufzte. Außerdem hatte er in diesem Alter bewiesen, wie untalentiert er sich im Schwertkampf anstellte, als er sich beinahe selbst erdolcht hätte. Das Übungsschwert einfach zu scharf und zu schwer, Koumei zu ungeschickt und zu schwach. Hakuren war natürlich einem Nervenzusammenbruch nahe gewesen. Hatte einen riesigen Aufstand gemacht. Wegen nichts, schließlich war die Wunde nicht weiter lebensbedrohlich. Der kleine Koumei, der plötzlich mit schmerzender Brust auf einem Krankenlager erwacht war, hatte sich halb zu Tode erschrocken, als er plötzlich in die aufgerissenen blauen Augen des Älteren starrte, der sich erwartungsvoll über den Genesenden gebeugt hatte. Seitdem schien sein älterer Cousin ein noch schärferes Auge auf ihn zu haben. Selbst nach über zehn Jahren blieben dem Rothaarigen die sorgenvollen Worte des anderen noch im Kopf, als wäre es gestern gewesen. Immer wenn sie gemeinsam im kaiserlichen Palast gewesen waren, ließ er ihn keine Minute alleine. Eigentlich war es ein unheimliches und nervtötendes Verhalten, aber damals hatte es dem Rothaarigen gefallen. Sein Vetter war zu dieser Zeit schließlich der einzige Mensch gewesen, mit dem er ein Gespräch führen konnte, welches länger als fünf Minuten andauerte. Ja, damals war er sehr schüchtern gewesen. Doch mit einem regelrechten Papageien, der so beständig redete wie Hakuren, konnte auch er längere Konversation betreiben. Koumei lächelte bei der Erinnerung an ihre ausgedehnten Unterhaltungen. Meist hatten sie daraus bestanden, dass der Ältere ihm etwas von seinen großen Heldentaten und von seinem älteren Bruder vorgeschwärmt hatte. Koumei hatte für gewöhnlich lediglich andächtig gelauscht und hin wieder bewundernde Töne beigesteuert. Ab und an vielleicht ein kleines Gähnen, eine Regung, die er sich nie verkneifen konnte, zu sehr liebte er sein gemütliches Himmelbett mit der weichen Decke und den herrlichen Kissen. Man hätte ihre Konversationen als einseitig bezeichnen können, aber Koumei hatte keinerlei Probleme damit, dass er so selten zu Wort kam, sondern nur kommentieren durfte. Ja, das reichte ihm völlig aus und es entspannte ihn, nicht fortwährend überlegen zu müssen, wie er die Unterhaltung aufrechterhalten konnte. Mit Hakuren war alles so einfach gewesen. Zwanglos. Hätte er das nur früher schon derart geschätzt. Die gemeinsame Zeit als wertvolles Geschenk angesehen und nicht für selbstverständlich befunden. Aber es ließ sich nicht ändern. Mit vierzehn Jahren hatte Koumei schließlich begonnen, sich für Militärstrategie, Recht, Gesetze und andere wichtige Dinge zu interessieren. Unerlässlich für einen möglichen Berater des zukünftigen Kaisers. Als ein Mitglied aus dessen engerer Verwandtschaft bestand diese Wahrscheinlichkeit durchaus. Schon immer hatte er Bücher aller Arten regelrecht verschlungen, sodass er bereits vor dem gezielten Lernen einige Dinge wusste, über die andere nur staunen konnten. Auch die Kriegsführung und die Magie waren zwei dieser Themen gewesen. Schon damals hatte Kaiser Hakutoku Koumei ab und an zu sich gerufen, damit er seine Magier und Wissenschaftler bei der Erforschung von Zauberei zu militärischen Zwecken unterstützte. Zuerst hatten sie sich gewundert, was ein kleiner Knirps ihnen helfen konnte, doch mit der Zeit freuten sie sich über seine Besuche und erkannten, dass er für sein Alter ungewöhnlich viel von ihrer Tätigkeit verstand, ja sogar gute Ideen mitbrachte. Nun da Koumei jedoch beschlossen hatte, ernstlich den Krieg zu studieren, nahm sein Wissen noch rascher zu, als vorher. Hakuren schien anfangs ein wenig erstaunt und manchmal sogar verstimmt darüber, denn von da an, hatten sie sich nur noch sehr selten gesehen. Koumei brütete Tag für Tag, manchmal sogar die Nächte hindurch, über alten, wertvollen Büchern und Schriftrollen, die ihm bereitwillig ihre machtverheißenden Geheimnisse preisgaben. Es war eine äußerst anstrengende, aber beinahe suchterregende Tätigkeit, die dem Jungen bereits damals große Freude bereitet hatte. Sein strenger Vater, der sich sonst wenig um seine Kinder scherte, und sogar der erhabene Kaiser begrüßten seine Gelehrsamkeit sehr. Schon immer hatte er, wenn er nicht zu faul und müde war, herausragende Leistungen in Angelegenheiten erzielt, die einen scharfen Verstand forderten. All die Lehrer, mit denen man sie gequält hatte, waren beeindruckt gewesen. Mit dem gleichen Erfolg vertiefte der Junge sich nun in die wichtigen Schriften. Ab und an bekam er noch ein wenig Unterricht, doch viel Unterstützung brauchte er nicht. Nur eines betrübte ihn irgendwann: An Begegnungen mit Menschen oder Treffen mit seinem Freund war nicht mehr zu denken. Ihm blieb einfach keine Zeit. Anfangs hatte es ihn nicht groß gestört, doch mit den zahllosen, verstreichenden Wochen vermisste er seinen Seelengefährten immer mehr. Schrecklich. Sehnte sich nach jemandem außer dem strengen, manchmal sogar furchteinflößenden Kouen, mit dem er reden konnte. Er liebte zwar alle seine Brüder und würde alles tun, was Kouen von ihm verlangte, schließlich kannte er ihn von allen Menschen in seinem Leben am längsten und mit am besten, aber wirklich tiefenentspannt konnte er neben ihm nicht sein, da schon ein herzhaftes Gähnen zu einer schmerzhaften Strafe führen konnte. Nein, er brauchte jemand anderen. Jemanden mit dem es Spaß machte, die seltene gemeinsame Zeit zu verbringen, der ihn nicht für seine zurückhaltende, verschlafene Art verurteilte. Und dann… einige Monate vor seinem sechzehnten Geburtstag, begegnete er Hakuren eines Tages mitten im Korridor, der zu seinen Gemächern führte. Ein flüchtiges Vorbeihasten. Stutzen. Dann erstaunte Gesichter. Tiefes Blau traf auf helles Rosé. Koumei erkannte das schwarze, seltsam geschnittene Haar sofort. Das typische Muttermal am Kinn und den offenherzigen Blick. Warum hielt sich der kaiserliche Prinz in der Residenz seines Onkels auf? Alleine? Sonst waren doch immer sie zum kaiserlichen Palast gereist. War der junge Mann ohne Erlaubnis hergekommen? Dann erst realisierte der Rothaarige, dass sich sein bester Freund verändert hatte. Mit seinen neunzehn Jahren wirkte Hakuren bereits deutlich erwachsener als Koumei. Einen guten Kopf größer. Gesünder und kräftiger. Vielleicht auch, weil er, so wie auch Kouen und Hakuyuu, nicht den ganzen Tag abgeschottet hinter einem Bücherhaufen verbrachte, sondern nebenbei auch Kämpfen und andere wichtige Dinge lernte. Qualitäten, die er für sein späteres Amt benötigte. Der Jüngere fühlte sich neben ihm schlagartig seltsam klein und unbedeutend. So schmächtig und dürr, regelrecht schwach. Doch kaum begegneten sich ihre Blicke nach all der Zeit, waren alle Unterschiede vergessen. „Oh, Koumei!“ Hakurens Stimme überschlug sich beinahe vor Begeisterung. Scheinbar hatte er sich innerlich weniger verändert, als erwartet. Dann verfiel er in seinen üblichen besorgten Tonfall: „Geht es dir gut? Du siehst so blass aus… Aber dein Haar leuchtet immer noch wie der Sonnenaufgang! Ich habe dich so lange nicht mehr gesehen! Hast du mich etwa nicht vermisst? Lass uns etwas unternehmen. Gleich hier und jetzt!“ Der übliche ungehemmte Wortschwall, aus dem immer noch kindliche Begeisterung sprach. Immer noch der gleiche, etwas zu gut gelaunte Kaiserssohn. War er nicht langsam ein wenig zu alt für so etwas? Er redete nicht sonderlich elegant daher. Seine noble Herkunft ließ sich lediglich zu Bruchstücken in diesen Worten erahnen. Egal. Koumei lächelte verhalten, um seine drängende Freude zu verbergen. Sein Herz raste vor Glück, ihn endlich wieder bei sich zu haben. Und wie ich dich vermisst habe! So sehr, wie du es dir niemals vorstellen könntest. Doch er entgegnete nur leise: „Hakuren. Es ist schön, dich zu sehen… Mir geht es gut und ich würde wirklich gerne mit dir kommen, aber… ich weiß nicht, ob Vater das erlaubt. Er möchte, dass ich so viel Zeit wie möglich, in meine Studien investiere.“ Hakuren lachte nur wegwerfend und meinte: „Du drückst dich aber gewählt aus! Scheint, als hättest du in der letzten Zeit einiges gelernt. Es ist fast über ein Jahr verstrichen, seit wir uns das letzte Mal begegnet sind! Da wird Onkel Koutoku wohl für einen Nachmittag ein Auge zudrücken! Komm schon, Mei!“ Der Junge zögerte unschlüssig. Wie sehr wünschte er sich, einmal seinem eintönigen Alltag zu entkommen. Das ganze Wissen faszinierte ihn, doch nach all der Zeit verlockte ihn das Angebot seines Cousins mehr als alles andere. Schließlich stand sein sechzehntes Lebensjahr kurz bevor. Selbst der ruhige Koumei verspürte in diesem Alter die Lust, einmal etwas Verbotenes zu tun. Nur für einen Nachmittag. Das konnte er sich sicherlich erlauben. Ohne einen weiteren Gedanken an mögliche Konsequenzen zu verschwenden, folgte er dem Älteren. Allerdings sollte es nicht bei diesem einen Nachmittag bleiben. Zu schön ihr Beisammensein. Zudem verbrachte Hakuren einige Zeit auf dem Anwesen seines Onkels, um mit Cousin Kouen seine Fechtkünste zu verbessern, da sein Bruder Hakuyuu keine Zeit mehr für so etwas aufbrachte, bevor er dann in den Palast zurückkehren sollte, um die Tochter eines fernen Königshauses zu ehelichen. Koumei bedauerte diesen Umstand sehr, sobald er von ihm erfuhr, denn es bedeutete, dass sie sich noch seltener treffen würden. Vor allem zwanglos und nur unter sich. Aber momentan weilte Hakuren erst einmal bei ihnen. Natürlich hatte niemand ein Problem damit, den Prinzen aufzunehmen. Der kleine Kouha musste sogar mühsam von der Dienerschaft gebändigt werden, um nicht dauerhaft an seinem geliebten Cousin zu heften, wie eine Klette, was oftmals in einem großen Gezeter endete. Mit Verletzten. Er sah zwar wie ein liebes, kleines Mädchen aus, doch hinter dieser zuckersüßen Fassade loderte der helle Wahnsinn. Hakuren fühlte sich ein wenig schlecht, wenn Kouha nur wegen ihm so ein Theater veranstaltete, aber sobald wieder Ruhe eingekehrt war, konnte er schnell wieder lachen. Der zweite kaiserliche Prinz trug eine ansteckend gute Laune mit sich herum. Alle Kinder freuten sich, nicht nur Kouha, sondern auch die zahlreichen Schwestern. Auch die, welche diesem Alter mittlerweile entwachsen waren. Kouen war natürlich auch glücklich, endlich einen guten Übungspartner zu haben, der ein Schwert halten konnte. Am meisten erfreute die Anwesenheit des Prinzen jedoch Koumei, denn durch seinen Vetter wurde sein Leben so unendlich viel angenehmer. Erträglicher. Glücklicher. Vor allem wenn sie ungestört und alleine waren. Ohne lärmende Geschwister, konnte auch seine leise Stimme mühelos bis zu Hakuren durchklingen. Wie sehr er das genoss. Sie beide versäumten in dieser Zeit so einige Pflichten. Bald bemerkte Koutoku dies und es hagelte Geschrei und Strafen. Besonders für Koumei, schließlich musste selbst der Bruder des Kaisers seine Zunge hüten, wenn er dessen Sohn tadelte. „Was fällt dir ein Junge, dich die ganze Zeit vor der Arbeit zu drücken, du hast deine Aufgaben zu erfüllen! Du bist erbärmlich! Ein Versager. Was bist du überhaupt nütze? Wenn Kouen sich die ganze Zeit herumtreiben würde wie ein verlauster, streunender Straßenköter, wie soll unsere Familie nur enden? Du bist nicht mein Sohn, sondern eine Schande für den verehrten Kaiser und für das Hause Ren! Und du Hakuren, wie kannst du es wagen, meinen Sohn derart abzulenken? Du bist ein hochrangiger Prinz und sollst deine Kampfkunst perfektionieren, nicht herum träumen!“, bellte Koutoku außer sich vor Zorn. Zwar besetzte Hakuren einen höheren Rang als er, doch der Kaiser hatte seinem Bruder erlaubt, seinen Sohn so zu behandeln, wie er es für angemessen hielt, solange es nicht vollkommen ungerecht fertigt war. Die Jungen ließen das alles klaglos über sich ergehen. Auch die Schläge. Es kümmerte sie nicht. Früher wäre Koumei alleine bei diesen harschen Worten in Tränen ausgebrochen, er war schon immer sensibel gewesen. Doch mit dem Älterwerden schien diese erbärmliche Marotte zu verschwinden. So nahm er sich lediglich ein Beispiel an Hakuren und ertrug es stillschweigend. Ja, es war unnötig, sich mit dem Zorn seines Vaters aufzuhalten. Unendlich viel wertvoller war es, Zeit mit einem lange vermissten Vertrauten zu verbringen. Aus Stunden wurden Tage, aus Tagen wurden Wochen. Treffen in jeder freien Minute. Zu lange waren sie getrennt gewesen. Nun sahen sie sich nahezu jeden Nachmittag, wenn nicht noch öfter. Langweilig wurde es ihnen nie. Sie speisten zusammen, wobei Koumei Hakuren mit seiner Vorliebe für Tintenfisch verschreckte. Lernten sogar manchmal gemeinsam, was mit dem allzeit plappernden Prinzen ein hoffnungsloses Unterfangen darstellte. Wanderten begeistert diskutierend im Garten des Anwesens umher. Er bot zwar nicht derart viel Raum, wie der Palastgarten, doch er wirkte wilder und auf eine erholsame Art natürlicher, als dieser, weshalb er sich bestens für diese gesprächigen Spaziergänge eignete. Außerdem gefielen Hakuren die Pflanzen dort. Er liebte den Bambus, die zarten Kirschbäume sowie die Seerosen und Lotusblüten auf den kleinen Teichen. Aber besonders die brennend roten Zweige des Hartriegels und den tiefroten Ahorn, die er alle beide mit Koumeis Haarfarbe verglich. Er fand ohnehin immer tausend Dinge, die er damit gleichsetzen konnte und brachte seinen Neid darüber zum Ausdruck, dass er, anders als seine Cousins, mit einem langweiligen Schwarz geschlagen war. Somit bot dieser friedvolle Ort viel Gesprächsstoff. Hakuren war es anzusehen, dass er von Koumeis gesteigertem Redetalent überrascht war. Er schien erfreut, sich noch besser mit ihm austauschen zu können. Sie sprachen über alle Dinge, die man sich nur vorstellen konnte. Selbst belanglose Themen klangen aus Hakurens Mund so lustig oder auch wichtig, dass Koumei gebannt an seinen Lippen hing. Er sog die Geschichten aus dem kaiserlichen Palast gierig auf. Solange hatte er die restliche Verwandtschaft nicht mehr getroffen. Vor allem interessierten ihn die Berichte über Hakuyuu, Hakuei und Hakuryuu. Auch wenn er mit keinem auch nur annähernd so vertraut war wie mit Hakuren, er schätzte sie, vor allem die kleine Hakuei. Die beiden jüngeren Geschwister hatten allerhand Unsinn im Kopf, während der Älteste sich zu einer respekteinflößenden Persönlichkeit entwickelte. Koumei bewunderte allerdings ebenfalls die Erzählungen von Hakurens Lehrstunden mit den berühmtesten Lehrern, die ihr machtvolles Reich zu bieten hatte. Lauschte ein wenig verschämt seinen Ausführungen und Anekdoten über die hübschen jungen Frauen, die den Älteren unerklärlicher Weise zu verzücken schienen, mit denen Koumei hingegen trotz seines Alters nichts anfangen konnte. Was er da hörte trieb ihm wahrhaft die Schamesröte ins Gesicht und handelte ihm einige aufziehende Kommentare und das Lachen des jungen Prinzen ein. Aber ebenso stark wie ihn die Neckereien irritierten, sorgte er sich um seinen Freund, als dieser enthüllte, dass sich seine Mutter Gyokuen sich in letzter Zeit seltsam benahm. Hörte mitfühlend zu, als er ihm erzählte, dass die Kaiserin sich lieber mit einem Kreis unheimlicher Untergebener traf, als sich mit ihrer Familie zu beschäftigen. Es schien, als seien ihr ihre älteren Söhne plötzlich vollkommen gleichgültig. Koumei, der nie eine Mutter gekannt hatte, sondern gemeinsam mit Kouen von Dienerinnen aufgezogen worden war, konnte es zwar nicht vollkommen nachvollziehen, wie sich der andere fühlte, doch er verstand, dass es ihn sehr verletzte, von der sonst immer so liebevollen Gyokuen mit herablassender Kälte bedacht zu werden. Zumal sie gegenüber seinen kleinen Geschwistern so mütterlich wie immer erschien, auch wenn sie kaum noch Zeit mit ihnen verbrachte. An eines ihrer Gespräche konnte Koumei sich besonders gut erinnern. Hakuren wirkte sehr bedrückt, als er ihm von Gyokuens Veränderung erzählte: „Mei, ich bin wirklich froh hier zu sein. Zu Hause ist es im Moment unerträglich. Manchmal habe ich den Verdacht, dass Mutter sich mehr für Judar interessiert, als für uns. Aber wir sind doch ihre eigenen Kinder und ihn hat sie von der Straße aufgabeln lassen! Ich verstehe das nicht! Natürlich ist er noch sehr jung, aber Hakuryuu ist noch viel kleiner als er und Hakuei ist auch nicht wesentlich älter. Immer geht es nur um ihn! Und weißt du warum, Koumei?“ Der Befragte legte mitfühlend den Kopf schief. „Weil sie denkt, er wäre ihr nützlicher als wir! Er ist ja ein Magi!“ „Ach stimmt…“, murmelte der Rothaarige leise. Hakuren knirschte erbost mit den Zähnen: „Ja und sie denkt, er könnte Kou nützlich sein. Deshalb scharwenzeln auch die ganzen widerlichen Priester von Mutter um ihn herum. Er bekommt alles was er will, dieses elende kleine Miststück! Und dabei ist er grade einmal neun Jahre alt und benimmt sich schon wie ein Tyrann!“ „Das ist wirklich ungerecht“, pflichtete Koumei betreten bei. „Und ob! Wie Recht du hast, Mei. Manchmal denke ich, dass Mutter nur darauf wartet, bis sie uns und Vater los ist und dann mit ihrem kleinen Liebling Kou beherrschen kann.“ Koumei erstarrte erschrocken. „Aber so etwas würde die Kaiserin doch niemals tun, Ren. Ihr seid doch ihre Kinder, die möchte man nicht loswerden. Wie kommst du darauf?“ „Ich weiß es nicht“, knurrte der Ältere, „aber Hakuyuu scheint mein Misstrauen zu teilen. Ihm gefallen diese dunklen Gestalten nicht, die mittlerweile nur noch bei uns ein und ausgehen. Früher kamen sie auch ab und an vorbei, aber nun sind sie überall! Und sie gehorchen nur Mutter, niemandem sonst. Nicht einmal Vater. Und diese Kerle scheinen Judar zu mögen. Dabei verhält er sich ihnen gegenüber noch respektloser als bei jedem anderen. Nur bei Mutter zieht er regelrecht den Schwanz ein, dieses furchtbare Kind! Und dann immer diese nächtlichen Versammlungen, bei denen Mutter nicht gestört werden will. Vater bekommt nichts davon mit. Als ich es ihm gesagt habe, meinte er, es wird schon nichts Schlimmes sein. Aber ich mache mir große Sorgen, was sie im Schilde führen. Normal sind diese Vorgänge jedenfalls nicht!“ Koumei musste seinem Cousin in diesen Punkten wohl oder übel zustimmen. Dieses Gespräch hatte sich noch bis in die späten Abendstunden erstreckt und auch wenn es irgendwann zu erfreulicheren Themen umgeschlagen war, führte es dazu, dass er sich ernsthafte Sorgen um die Geschehnisse im kaiserlichen Palast machte. Aber es blieb nicht nur bei ernsthaften Unterhaltungen und vernünftigen Aktivitäten. Die Vettern maßen sich, wie in alten Tagen, im Schwertkampf. Wer stets gewann war ein offenes Geheimnis. Dieses Mal überstand Koumei es jedoch ohne Verletzungen. Sie spielten darüber hinaus gemeinsam mit Koumeis kleinen Halbgeschwistern, wobei es einige Kunstfertigkeit erforderte, Kouha davon abzuhalten, irgendjemanden zu zerstückeln. Wie in alten Zeiten. Sie besuchten Koumeis zahme Brieftauben, die der Junge mit größter Hingabe pflegte. Hakuren war anzusehen, dass ihn die gurrenden Vögel nicht sonderlich faszinierten, selbst die schönsten Exemplare mit bemerkenswerter Zeichnung oder ausladenden Schwanzfedern konnten ihn nicht begeistern. Aber als sie ihn dann allesamt belagerten, um an Futter zu gelangen, schienen sie ihm mit ihren ruckenden Köpfen und den stechenden Augen sogar ein wenig Angst zu machen und nicht mehr nur langweilig zu sein. Nun war es an dem Rothaarigen, ihn auszulachen. Er war es selbstverständlich schon lange gewohnt, von vielen Tieren auf einmal grob angeflogen zu werden und die scharfen Schnäbel und Krallen auf der Haut zu spüren. Ja, seine Tauben waren gierig, aber er liebte sie trotzdem sehr, auch wenn niemand das so recht nachvollziehen konnte. Natürlich gab es noch andere Aktivitäten, die dann auch dem lebhaften Prinzen gefielen. Sie ritten gemeinsam aus, dabei mochte Koumei dies normalerweise nicht besonders. Nun gut eigentlich mochte er es generell nicht, kein Dach über dem Kopf zu haben. Nur mit Hakuren verspürte er auch nur den Hauch einer Bereitschaft dazu. Sie streiften durch die umliegenden Wälder, um aus ihrer vertrauten Umgebung zu entkommen. Die Luft erfüllt von erdrückendem Tannenduft, der weiche Boden bedeckt mit feuchten Moosen und kleinen, süßen Walderdbeeren. Einmal schwammen sie sogar in einem versumpften Weiher, weil Hakuren so versessen darauf war. Keine gute Idee, denn hinterher waren sie deutlich schmutziger als zuvor und voller Blutegel. Sie gegenseitig zu entfernen stellte sich als schwierig und ziemlich unangenehm heraus. Vor allem weil sich diese Biester an allen Stellen festsaugten, ohne Rücksicht, ob das nun anständig war, oder nicht. Außerdem schaute man sie mehr als nur schief an, als sie schließlich frierend und verdreckt zurückkehrten. Also mussten sie sich nach diesem Bad im Tümpel direkt noch einmal in einen Zuber mit heißem Wasser und Bergen von Seife begeben, um den Schlamm abzuwaschen. Doch Hakuren hatte einen Heidenspaß dabei. Es war, als würde der Prinz seine letzte Freiheit voll und ganz auskosten wollen, egal wie kindisch oder lächerlich es war, bevor er gezwungen wurde, erwachsen zu werden und zu heiraten. Und Koumei? Er machte all dies erstaunlich vergnügt mit. Auch wenn solche Unternehmungen seinem zurückgezogenen, eher menschenscheuen Wesen vollkommen widersprachen und vor allem die Blutegel ihn anwiderten, fand er mit Hakuren seinen Spaß daran. Der zweite kaiserliche Prinz war der Einzige, der ihn derart für andere Dinge begeistern konnte, die nicht daraus bestanden zu schlafen, zu lesen oder Tauben zu füttern.   * Koumei seufzte sehnsüchtig in der funkelnden Finsternis. All dies war schon so lange her und doch waren die Erinnerungen daran noch so schmerzhaft. Wie schön es doch wäre, wenn er mit seinem Dschinn die Zeit genauso manipulieren könnte wie den Raum. Dann hätte er sich die alten Zeiten, die man ihnen allen rücksichtslos gestohlen hatte, einfach zurückgeholt. Ihm war bewusst, dass seine Erinnerungen die Vergangenheit verklärten, auch oder besonders Hakurens Persönlichkeit, die keineswegs immer derart freundlich und gutmütig gewesen war, sondern schnell aufbrausend werden konnte, sobald ihm etwas nicht passte, wenn auch nicht oft bei Koumei. Doch wirklich gut erinnerte er sich nur noch an die vielen schönen Momente zu zweit. Durchzogen von einigen wahrhaft schlechten Erlebnissen und Gefühlen, die zu schwer und tiefgreifend waren, um vergessen zu werden. Ja ihrer aller Kindheit war eigentlich alles andere als angenehm gewesen. Schmerz, Ungewissheit und Angst hatten allzu oft ihren Alltag bestimmt. Das Verbarrikadieren in den Palästen und an geheimen Orten. In Flammen stehende Häuser. Brennende Hallen. Verkohlte Dörfer. Entstellte Leichen auf den Straßen. Kampfeslärm. Waffengeklirr. Blutgeruch. Todesschreie. Nicht selten. Immerhin stand ihr Kaiserreich mit vielen benachbarten Ländern im Krieg. So hatten die Kinder schon früh dessen Leid und all seine schrecklichen Folgen miterlebt. Hakuyuu, Hakuren und Kouen waren damals sogar schon mit in die Schlacht gezogen. Und wenn sie sich grade nicht im Krieg befanden, dann konnte schon eine falsche Bewegung Koutokus Jähzorn über einen hereinbrechen lassen. Kinder waren für ihn eine Last. Nützlich für später, aber solange sie noch zu jung dafür waren, stellten sie in seinen Augen verachtenswerte Kreaturen dar. Man musste sich wahrhaft vor ihm in Acht nehmen, wenn man eine längere Begegnung mit ihm ohne aufgeplatzte Lippen, geschwollene Augen oder üble Prellungen überstehen wollte. Doch die grauenvollen Erinnerungen an all die Gewalt und die Angst vor dem eigenen Vater waren nichts im Gegensatz zu all den schmerzhaft schönen Momenten, die nach all der Zeit noch ungebrochen in seinem Kopf herumwandelten. Und ja, die Kriege waren schrecklich gewesen. Aber damals hatte er noch niemanden verloren, der ihm derart nahe stand wie Hakuren.   *~* Kapitel 14: Gefühle -------------------   *~* Koumei lehnte fröstelnd an der Wand und ließ sich den eisigen Wind um die Nase wehen. Diese elende Vergangenheit. Weshalb musste ein Ereignis in der Gegenwart sie nur so schrecklich aufwirbeln? Er wollte sie nicht mehr sehen, zu schmerzhaft waren diese schönen Erinnerungen. Es war, als wollten sie ihn verhöhnen und ihm immer wieder vorhalten, was nun schon so lange verloren war. Hakuren und er hatten sich damals so gut verstanden, wie er es sich heute bei keinem Menschen mehr vorstellen konnte. Es gab niemanden mehr, dem er sein Herz öffnen konnte. Höchstens seinem Vasall Chuu’un, eine der wenigen Personen, die ihm direkt unterstellt und treu ergeben waren und einiges über ihn wussten. Dinge, die andere nie erfahren hatten. Allerdings war es nicht klug, sich ihm anzuvertrauen, wo er doch nicht annähernd mit ihm gleichgestellt war. Zu oft hatte es schon abschreckende Beispiele von zu engen Freundschaften zwischen Königen und Dienern gegeben, die in einer Katastrophe geendet hatten, denn so mancher liebenswerter Bediensteter oder General entpuppte sich, nach Jahren der scheinbar gegenseitigen Sympathie, als Spion für verfeindete Staaten. Hohe Stellungen machten es ihrem Inhaber nie leicht. So blieb ihm auch keine alter Kindheitsfreund oder ein verständnisvoller Bruder. Kouen oder Kouha kamen aufgrund ihrer viel zu unbarmherzigen oder verrückten Art ohnehin nicht in Frage und Judar, der immer noch wie ein Stein in Koumeis Bett schlief, schon gar nicht. Nein, derartige Gefühle sollte man vorsichtig behandeln. Der Magi würde sie sicherlich sofort vernichten, wenn er die Gelegenheit dazu bekäme. Vielleicht nicht einmal aus Absicht oder Boshaftigkeit, sondern weil es zu tief in seinem Wesen und seiner Erziehung verwurzelt lag. Aber daran konnte und wollte Koumei momentan nicht denken. Nicht jetzt, wo sich die Vergangenheit schmerzhaft klar in seinen Geist zurück drängte. Hakuren… Wieso hatte es früher nicht für immer so herrlich einfach bleiben können? Damals, nach ihrem glücklichen Wiedersehen, hatte es nicht lange gedauert, bis etwas geschehen war, dass ihre Freundschaft schrecklich durcheinander gebracht hatte.   * Hakuren weilte unterdessen bereits einige Wochen bei Koumeis Familie abseits des regen Kaiserhoflebens. Seine einzige nennenswerte Pflicht stellten die Kampfübungen mit Kouen dar. Dieser glückliche Umstand erlaubte ihm, oft bei seinem alten Freund zu sein. So verbrachten sie mehr und mehr Zeit miteinander. Und währenddessen ging etwas Seltsames in ihnen beiden vor. Etwas ungekanntes, das Koumei so unendlich fremd war. Etwas unvorstellbar Aufregendes. Zuerst bemerkte er es an Hakuren. An dem Tag am See, an welchem ihn der Ältere immer wieder so merkwürdig intensiv musterte, dass Koumei sich am liebsten wieder in seine Gewänder gehüllt hätte. Dann seine Sanftheit, als er ihm beim Entfernen der Blutegel immer etwas zu lange über den Rücken strich. An dessen Art, ihm bei jeder ihrer eigentlich so gewöhnlichen, unveränderten Begrüßungen tief in die Augen zu sehen. Dessen Begeisterung, wenn Koumei einmal von seinem selbstauferlegten Studium sprach, wo er all die Bücher früher als öde abgetan hatte. Wie er jedem seiner kostbaren Worte still Gehör schenkte, obwohl er doch am liebsten selber wild drauflos redete. Seine offensichtliche Freude, wenn Koumei ihn trotz seiner, noch vom Schlafen verfilzten, roten Zotteln, der zerfurchten Haut, tiefdunklen Augenringen und schrecklich müde an ihrem vereinbarten Treffpunkt erwartete. Wie Hakuren mit diesem strahlenden Blick beteuerte, dass er ebendiese Zotteln so sehr an ihm mochte. Anfangs hatte es Koumei gewundert und verwirrt. Ihn betrübt und verunsichert. Sein bester Freund schien mit einem Mal wie ausgewechselt. Was ging nur in ihm vor? Er behandelte ihn so anders als sonst. Zuvorkommender, aber mit einer seltsamen Distanz, als wären sie einander plötzlich fremd geworden, obwohl sie sich schon ewig kannten. Koumei wusste nicht, was dieses Verhalten zu bedeuten hatte. Doch dann bemerkte er die Veränderungen auch an sich selbst. Leistete keinerlei Widerstand, als Hakuren seine Aufgabe mit den Blutegeln scheinbar viel zu wichtig nahm. Errötete bei jeder winzigen anerkennenden Bemerkung des anderen. Senkte verlegen den Blick, wenn Hakuren ihm in die Augen sah. Bereitwillig ließ er sich von seinem Vetter mit zu verrückten Schwertübungen schleifen, bei denen er ohnehin nur über seine eigene Unfähigkeit staunen konnte. Doch es machte ihm nichts aus. Stattdessen freute er sich, wenn der andere immer wieder zu ihm hinüber eilte, um ihm die richtige Griffhaltung oder Bewegungsfolge zu zeigen. Besonders, wenn er nah an ihn herantrat, sodass er seinen vertrauten Geruch wahrnehmen konnte, beinahe übertüncht durch die scharfe Schwertpolitur, die sie nach den Übungen immer in die Waffen einreiben mussten. Koumei ertappte sich dabei, ihm nach ihrer, ihm immer schwerer fallenden, Verabschiedung hinterher zu starren, auch wenn er schon lange außer Sicht war. Wie er es kaum aushielt, auf den nächsten Nachmittag zu warten. Dieser begeisterten Stimme zu lauschen. Es war verrückt. Dieses stechende, beinahe unangenehme Gefühl in seiner Brust, wenn sich ihre Hände beim Nebeneinandergehen ausversehen berührten. Er war verliebt. Das erste Mal in seinem Leben, vielleicht aber auch schon seit unendlich langer Zeit. Der Junge wusste es nicht. Nein, er begriff erst viel zu spät, was da Neues zwischen ihnen entstanden war: Sie spazierten eines schönen Tages im verlassenen Garten umher, als sie ein Wolkenbruch überraschte. Der Regen donnerte mit einer erstaunlichen Wucht auf die Erde nieder, als wolle er sie niederringen. Die beiden rannten. Fanden Schutz unter den Bäumen. Durchnässt bis auf die Haut und außer Atem. Koumei fühlte sich feucht und unterkühlt, wollte am liebsten zurück in sein warmes Bett, das er an diesem Morgen viel zu früh hatte verlassen müssen. Plötzlich zuckte der Rothaarige zusammen. Eine warme, kräftige Hand legte sich auf seine Schulter, ein scharfer Kontrast zu dem unbarmherzigen, kalten Regen, brachte ihn dazu, sich umzudrehen und Hakuren in die Augen zu schauen. So tief und blau wie das Meer, welches er nur einmal in seinem Leben gesehen hatte. Doch solch ein atemberaubender Anblick ließ sich nicht vergessen. In Hakurens Blick glomm etwas unerklärliches, als er Koumei ansah. Begeisterung? Nein etwas anderes. Es verunsicherte ihn ein wenig. Der Junge bemerkte, wie sich der Prinz innerlich wand. Mit unausgesprochenen Worten rang. Schließlich erklang seine vertraute Stimme ungewohnt rau und leise, im Regenprasseln kaum vernehmbar: „Mei? Kennst du dieses verdammte Gefühl, wenn du jemandem etwas Wichtiges sagen möchtest, aber du dich fürchtest, dass du dann etwas zwischen euch…zerstörst und du dich immer und immer wieder fragst, wie er wohl reagieren wird? Du an nichts anderes mehr denken kannst?“ Die Worte klangen gründlich zurechtgelegt und mussten ihn wahrhaft Überwindung kosten, so sehr wie er herumzappelte. Koumei legte den Kopf einen Moment lang schief, dann nickte er eifrig: „Oh ja, bei Kouen geht es mir oft so!“ Hakuren ballte die Hände zu zitternden Fäusten. Er schien so seltsam nervös. Warum? Ratlos starrte Koumei ihn an, eher der andere entgegnete: „Nein, das meine ich nicht. Denk noch mal nach: Kennst du es wenn du Angst hast, etwas zwischen euch zu zerbrechen?“ Der Rothaarige runzelte verwirrt die Stirn: „Was denn?“ „N-naja, Freundschaft zum Beispiel?“, presste der Prinz hervor. „Warum? Hast du etwa Angst davor?“, fragte Koumei verblüfft. „Ja Mei, sogar sehr“, kam es prompt zurück und der Jüngere fühlte sich mit einem Mal von seinem flackernden Blick gefesselt. Er war vollkommen verwirrt. „Mh? Aber weshalb? Und was möchtest du jemandem sagen, Ren? Und wem? Etwa mir?“, fragte er angstvoll, ergriffen von einer unbehaglichen Erwartung. Wollte Hakuren nicht mehr so viel Zeit mit ihm verbringen? Ging er ihm auf die Nerven? Hatte er etwas Schlimmes getan, das ihr Beisammensein unmöglich machte? Nach einigem Zögern antwortete der Prinz endlich stockend: „Ja. Genau, es…ich muss mit dir reden. Du bist wirklich scharfsinnig. Es ist…ach…ich weiß nicht wie. Ich will nicht, dass du gleich in Panik davon rennst und mich nie wieder sehen möchtest. Also…“ Koumei kratzte sich verwundert am Hinterkopf. Seine Armbänder klirrten laut. Solch verhaltene Worte war er von seinem Freund nicht gewohnt. Es musste ihn sehr mitnehmen. Gerne hätte er einen Blick auf seine Gedanken geworfen und bedauerte, dass er kein Magier war, denn sie beherrschten diese Technik sicherlich. So musste er seinen Freund eben zum Reden bewegen. Aber wollte er das wirklich hören? Was, wenn es etwas Furchtbares war? Selbstbewusster, als er sich in diesem seltsamen Moment fühlte entgegnete er: „Du kannst mir alles sagen, Ren.“ Dieser biss sich verkrampft auf die fest zusammengepressten Lippen, die normalerweise zu einem breiten Grinsen verzerrt waren. Jetzt zeigten sie genau das Gegenteil. „Das ist wirklich großherzig von dir, Mei. Aber…“ Der Schwarzhaarige verstummte verzweifelt. Rang die Hände, als wolle er die Worte damit überreden, endlich aus seiner Kehle zu dringen. Koumei bekam es nun wirklich mit der Angst zu tun, so etwas sah dem anderen gar nicht ähnlich, da musste es etwas Schreckliches sein. „Sag es mir!“, bettelte er. „Ich kann nicht, Mei. Du wirst mich hassen.“ Sofort widersprach der andere: „Das glaube ich nicht!“ Wie könnte er nur? Hakuren war die wichtigste Person in seinem Leben, sein einziger wirklicher Freund, der ihm näher stand als seine Brüder. Mit niemandem sonst wollte er beisammen sein. Selbst dieser fürchterliche Wolkenbruch war ihm mit Hakuren an seiner Seite egal. Ein angespanntes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Unangenehm. Bis der Ältere es nicht mehr aushielt. Mit einem ergebenen Stöhnen stieß er hervor: „Na schön, es muss sein. Aber bitte, bitte lauf nicht gleich weg, ja?“ Wie kam er nur auf diese absurde Idee? Er und Laufen? Da konnte Hakuren lange warten. Koumei hatte nichts dergleichen vor, sondern musterte ihn lediglich in gespannter Erwartung. Ren seufzte bebend und dann sprudelte es mit einem Mal aus ihm heraus: „ Mei…ich…ich glaube ich liebe dich. Nein, ich weiß es. Es tut mir so leid, ich weiß, dass es so unangemessen ist, aber ich…ich glaube das ist wirklich so. Falls du verstehst was ich meine, es ist wirklich komisch und ich kann es nicht glauben, aber…ähm…“ Der Prinz verstummte peinlich berührt, als sein Satz nur noch ein wirres Gestammel ergab. Er schien tatsächlich zu fürchten, dass Koumei davon stürmen würde, kaum hätte er zu Ende gesprochen, denn er streckte vorsichtshalber die Hand nach ihm aus, zog sie aber schnell wieder zurück, als er merkte, dass er es so nur noch schlimmer machen würde. Unsicher begegnete er dem roséfarbenen Blick des Jüngeren. Zartes Rot breitete sich auf dessen Wangen aus. Die Augen schüchtern gesenkt, nur ein scheues Aufblinzeln zwischen dichten Wimpern. Dann aber meinte er überraschend unbeeindruckt: „Ja und?“ Dabei fühlte er sich alles andere als entspannt. Koumei war verwirrt. Wie hatte er das nur übersehen können? Er wusste nicht was diese Enthüllung bedeutete und dennoch kam sie ihm so selbstverständlich vor, als hätte er die ganze Zeit nur darauf gewartet. Er kannte diese Empfindungen nicht, die ihn da plötzlich überfluteten. Diese Worte… so warm und unbekannt. Die Gefühle so unendlich fremd. Doch er verstand, dass Hakuren sie teilte, sonst hätte er es ihm nicht gesagt. Nie zuvor hatte er dergleichen für einen anderen empfunden. So sehr, dass alle anderen Personen in seinem Umfeld zu gesichtslosen Schemen verschwammen. Irrelevant. Alle bis auf Hakuren. Auch der zweite kaiserliche Prinz, der bald eine Frau aus adeligem Hause heiraten sollte, interessierte sich nur noch für einen: Koumei. Und diesem erging es seltsam ähnlich, blendete er doch sämtliche Pflichten aus und vergaß alles außer dem anderen. So war er auch nicht allzu sehr überrascht, als der Ältere ihm seine Liebe an diesem regnerischen Tag unter dem dichten Blätterdach eines roten Ahornbaumes gestand. Nein, seltsam erleichtert, endlich Gewissheit zu haben. Zu wissen, was er all die vergangenen Tage und Wochen gefühlt hatte. Zu erkennen, woher diese weit mehr als freundschaftliche Anziehung herrührte, die ihn so lange verunsichert hatte. Es war eine erlösende Befreiung. Der erste Kuss kam so flüchtig und scheu wie ein Windhauch. Die folgenden zärtlich und behutsam. Ebenso wie die fallenden Blätter, die sanft auf sie herniedergingen. Koumei ließ sich gedankenlos darauf ein. Er vertraute Hakuren mehr als jedem anderen. Der tosende Regen war längst vergessen. Diese plötzliche Nähe! Sie löste Dinge in ihm aus, die Koumei nicht verstand. Obgleich sie ihm gefielen. Flatternd. Brennend. Eine seltsame Leidenschaft, die dem müden und schwachen Jungen bisher stets gefehlt hatte. Irgendwann wurden sie stürmischer, als wäre ihnen aufgefallen, dass ihnen nicht mehr viel gemeinsame Zeit verblieb. Doch dass ihre Zuneigung verboten sein könnte, kümmerte sie nicht. Was konnte an diesem reinen Gefühl falsch sein? Trotzdem trafen sie sich nur noch heimlich. Niemand sollte von ihnen erfahren,  denn Hakuren wusste: Sollte sie jemand sehen, den zweiten Prinzen und seinen Cousin, in einer innigen Umarmung versunken, hätte dies schwerwiegende Folgen für alle beide. Ihre Väter hätten keinerlei Verständnis für sie. Koumei allerdings wunderte sich, weshalb sein Seelengefährte diese Vorsicht zeigte. Wo er doch die Hingabe in dessen strahlend blauen Augen sehen konnte. Diese Heimlichtuerei passte nicht zu ihm, sondern eher zu dem Rothaarigen, der sich gar nicht vorstellen mochte, was ihm sein Vater für diese Verfehlung antun könnte, würde er sie bemerken. Letzen Endes blieb ihm jedoch kaum Zeit, an Koutoku zu denken, Hakuren zog ihn vollkommen in seinen Bann. Verborgen hinter den dornigen Zweigen der Brombeerbüsche wurden aus vorsichtigen Küssen innige Berührungen. Keiner der beiden hatte Bedenken. Sie vertrauten einander schon seit Anbeginn ihrer Zeit. Die Liebe war nur eine neue, wenngleich wunderbare Vertiefung ihrer Verbundenheit. Sie wussten nicht, wie sie darauf gekommen waren, sich an diesem Ort zu treffen, doch niemand anders hatte je die Muße sich durch die stacheligen Ranken zu kämpfen und so blieb ihnen ein einsamer Rückzugsort. Die Tage vor Koumeis sechzehntem Geburtstag trugen den Geschmack von Heidelbeeren, die Hakuren so sehr liebte, und das tiefe Gefühl von Geborgenheit. Etwas, dass er lange nicht mehr gespürt hatte. Hakuren schien sich ebenso wohl zu fühlen, war wie verwandelt. Die Sorge um seine Familie und das seltsame Verhalten der Kaiserin ließ sich für die meisten Stunden des Tages verdrängen, ebenso wie die einengende, fremdbestimmte Zukunft, der er mit jedem Tag schneller entgegen schritt und die ihn mit kalter Panik erfüllte. Dort, abgeschottet vom Rest der Welt, konnte er seine finsteren Ängste verdrängen. So genossen sie diese kostbaren Tage. So schön und sorglos, auch wenn sie beide wussten, dass es nicht ewig andauern konnte. Hakuren würde bald seine kaiserlichen und ehelichen Pflichten zu erfüllen haben. Für den zierlichen Koumei wäre in diesem Leben kein Platz mehr. Auch wenn der Ältere schwor, ihn nie mehr alleine zu lassen, der Jüngere wusste, dass seinem Prinzen keine andere Wahl bleiben würde. Sie lebten vielleicht in materiellem Überfluss, doch auch bei ihrem hohen Stand gab es keinerlei Freiheiten und wenn man sie sich nahm, hatte es spätestens irgendwann schwere Konsequenzen. Selbst Mitglieder des Hochadels mussten sich den Werten und Normen der Gesellschaft beugen. Ja, irgendwann würde dieses Schöne ein jähes Ende nehmen. Umso mehr genossen sie beide ihre unbezahlbaren Stunden. Koumei wusste nicht, wann er sich jemals in seinem Leben so gut gefühlt hatte. Lag so zufrieden in den Armen des Schwarzhaarigen, wie er es lange nicht mehr gewesen war. Drückte sich an den warmen Körper und strich fasziniert über dieses fröhliche Gesicht, welches so oft von einem strahlenden Grinsen und nun ebenso häufig von einem sanften Lächeln erhellt wurde. Seufzte wohlig, wenn dessen kräftige Hände, vom täglichen Üben mit Kouen von Schwielen übersäht, durch sein wildes Haar und über seinen mageren Rücken fuhren. Lauschte Hakurens immer noch lebhaften Worten und schwelgte verloren in dessen tiefer gewordenem Lachen, das damals noch so glockenhell und unschuldig gewesen war. Die tiefe Stimme wollte kaum zu den Worten passen, die ihn in alte Zeiten zurück versetzten und an längst vergessene Kinderspiele erinnerten. „Sieh nur wie schön die Sonne auf deinem roten Haar glänzt, Mei…scharlachhell. Am liebsten würde ich dich einmal zu meiner Kaiserin machen!“  Koumei seufzte entspannt. Ein gelöstes Behagen ergriff von ihm Besitz, das nicht einmal das gemütliche Lesen eines Buches aufwiegen konnte.  Nichts auf der Welt konnte diesen wunderbaren Klang übertreffen. „Ich liebe dich, Koumei. “ So aufrichtig und unbedacht. Die Tage vergingen wie im Rausch. Die Stunden, während denen Koumei über seinen Schriften und ellenlangen Listen hockte, glichen einer unerträglichen Folter. Die verschlungenen Schriftzeichen, fremdländische Buchstaben und Zahlen verschwammen vor seinen Augen und ehe er es bemerkte, hatte er fast eine ganze Stunde lang mit leerem Blick aus dem Fenster gestarrt, während er verzweifelt wünschte, endlich von dieser Sehnsucht erlöst zu werden. Die Zeit mit Hakuren hingegen verstrich viel zu schnell. Süß und kostbar. Seltsam eingelullt von dessen traulichem Geruch nach warmem Leder und feinen Beeren. Zugleich merkwürdig wachsam. Seine Sinne schienen so geschärft, wie nie zuvor. Nahmen Bilder, Laute, Farben, Gerüche, Berührungen unglaublich stark und ungebrochen wahr. Wollten den herrlichen Anblick und die Präsenz seines Geliebten in sich aufnehmen und nie mehr freigeben. Für alle Ewigkeit ein Teil von ihm, auch wenn diese Ewigkeit nicht lange andauern sollte. Doch vorerst blieb ihre gemeinsame Existenz zeitlos und gab ihm das Gefühl, das erste Mal in seinem Leben frei zu sein.   *   *~*   Kapitel 15: Geschenke ---------------------   *~*   * Woche um Woche verging dank Hakuren in einem angenehmen Schwebezustand. Koumei genoss ihr Beisammensein mehr als alles andere. Dann kam der Tag seines sechzehnten Geburtstages. Ein plötzlicher Einschnitt zwischen den verschwommenen Stunden. Koumei hasste Geburtstage. Sie waren so anstrengend. Zu viel für ihn und schrecklich ermüdend. Diese ganzen Menschen, die ihm ihre herzlichsten Glückwünsche aussprechen wollten… Vor allem diese Feierlichkeiten hier würden furchtbar werden, denn sechzehn war ein wichtiges Alter. Gewöhnliche Menschen des Kou Reichs wurden an diesem Tag volljährig und die jungen Männer offiziell als heiratsfähig anerkannt. Von nun an konnten sie ihr eigenes Leben führen, ohne dass ihre Familie dem Gesetz nach Einfluss auf sie erheben durfte, mit Ausnahme der Auswahl eines Partners für die Heirat. Doch danach konnten die Menschen zumindest auf dem Papier selbstständig leben und ihre eigenen Familien gründen und über sie bestimmen. Natürlich blieben viele in engem Kontakt zu ihrer alten Familie und ließen sich auch nach ihrer Kinderzeit noch stark von ihr beeinflussen, doch es gab auch durchaus viele Fälle, wo sich die jungen Leute von ihr lossagten. Natürlich liefen auch schon kleine Kinder von zu Hause fort, Koumei konnte das gut nachvollziehen, hatte er selbst diese Überlegungen manchmal bei Kouha beobachtet, aber das kam in jedem Land vor und trug nichts zum allgemeinen Brauch bei. Jedenfalls konnten einfache Bürger ab ihrem sechzehnten Lebensjahr größtenteils ihrem eigenen Willen folgen. Beim Hochadel war das ein wenig anders. Die einfachen Leute beneideten sie um ihren Reichtum und ihre Macht, doch dies bedeutete nicht, dass sie jemals frei waren. Nein, eigentlich war ihr Leben sogar noch enger vorgegeben, als das des gewöhnlichen Pöbels. Zwar wurden in Adelskreisen die Ehen auch oft in diesem jungen Alter geschlossen, wenn nicht bereits vorher und es kam nicht selten vor, dass die arrangierten Hochzeiten bereits im Säuglingsalter oder gar vor der Geburt beschlossen wurden. Meist erhoffte man sich dadurch Profit, zum Beispiel politische Bündnisse mit anderen Ländern oder wirtschaftliche Vorteile. So würde es auch Hakuren ergehen, seine zukünftige Frau kam aus einem unbedeutenden, kleinen Land, welches sich mit Kou gutstellen sollte. So traurig und sinnlos. Kou hatte es nicht nötig, sich mit einem derart winzigen Land zu verbünden. Nein, sie konnten es einfach überrennen und einnehmen, wenn ihnen bald der Sinn danach stünde. Wieso musste die Tochter irgendeines ärmlichen Königs nur an Hakuren vergeben werden? Hakuyuu hätte schließlich eigentlich zuerst heiraten sollen, war er doch der ältere Bruder. Weshalb musste Hakuren also vor ihm heiraten? Weil er lediglich an der zweiten Stelle in der Thronfolge stand und demnach unwichtig genug für diese Hochzeit erschien? Wie ungerecht. Koumei war unglaublich dankbar, dass ihn selber solch ein Schicksal noch nicht erwartete, doch das konnte jeder Zeit kommen. Ja, in diesem Punkt waren sie alle beinahe noch schlimmer eingeschränkt, als die einfachen Menschen. Außerdem erlaubte einem dieses Alter nicht von zu Hause fortzugehen und nach seinem eigenen Willen zu leben, wie es das gemeine Volk tun konnte. Solange sein Vater Koutoku existierte, mussten ihm die drei Brüder Folge leisten, bis Kouen nach dessen Tod die hohe Stellung erben würde. Somit würde sich mit diesem Geburtstag eigentlich nichts in seinem Leben verändern, schon gar nicht würde er sich erwachsen fühlen. Trotzdem, dieser Anlass wurde stets besonders prunkvoll gefeiert. An sich nicht sonderlich schlimm, jedoch graute Koumei vor diesem Tag, eben wegen dieser opulenten Feier. Kouen musste ihn an diesem Morgen regelrecht aus dem Bett zerren. Die aufgehende rötliche Sonne strahlte höhnisch in seine Gemächer, als wolle sie ihn ärgern. Koumei widersetzte sich mit aller Macht. Er krallte sich widerspenstig an seiner Bettdecke fest und als sein Bruder ihm diese entriss, klammerte er sich verzweifelt an den Bettpfosten. „Nein!“, heulte er und wand sich erbittert in Kouens Griff. Doch gegen die Kraft des Älteren, der mit jedem Tag stärker zu werden schien, war er einfach nicht gewappnet. Mit einem lauten Poltern stürzte er zu Boden und stieß sich den Kopf heftig an der Kante des Bettes. Das rotbraune Sandelholz war härter als seine Stirn. Benommen hockte er, nur mit einem zerknitterten Nachthemd bekleidet, auf dem hölzernen Boden und versuchte, die Situation zu begreifen. Sein rotes Haar stand ihm wild zu Berge und ließ bei seinem Anblick eher an eine Bestie, als an einen jungen Mann denken. Jammernd rieb er sich den lädierten Schädel und wischte sich einige Tränen aus den Augenwinkeln. Sein Kopf war sicherlich zersprungen, so wie er schmerzte! Aber Kouen blaffte ungnädig: „Koumei, stell dich nicht so an, so schlimm kann das nicht gewesen sein. Du hast heute Geburtstag und wirst bald erwartet! Willst du etwa, dass Vater sich ärgert? Du bist erwachsen, also verhalte dich dementsprechend. Komm jetzt! Ach, bevor ich es vergesse, alles Gute, auch wenn ich dir lieber in deinen faulen Hintern treten würde!“ Sein bedrohliches Gratulieren versank im Gähnen des jüngeren Bruders. Darauf folgten eine heftige Ohrfeige und ein sehr anstrengender Gang über die Flure ihrer Residenz, dem sich der Kleinere nicht entziehen konnte. Ja, selbst Koumeis Stöhnen, dass die grobe Behandlung ihm grade eine Gehirnerschütterung bereitet hätte, änderte nichts an Kouens zielstrebigen Schritten. Das einzige, was er knurrte war: „Bestens, hast du sonst noch ein Problem?!“ „Mir ist schlecht… ich muss mich hinlegen, sonst werde ich mich übergeben…“, hauchte Koumei  torkelnd. „Quatsch nicht!“, polterte der große Bruder und stieß ihn vorwärts. Der Ältere schleppte ihn zu den Dienerinnen, die offenbar den Auftrag erhalten hatten, ihn ausnahmsweise einmal ordentlich herzurichten, so begeistert, wie sie ihn empfingen. Offenbar herrschte mehr als nur gute Laune unter den Damen, denn sie summten regelrecht vor sich hin, auch wenn es sich für gewöhnlich für Bedienstete ganz und gar nicht gehörte. Sie gratulierten ihm mit tiefen Verbeugungen und stimmten dann ein altes Wäscherinnenlied an. Die meisten besaßen nicht grade reine Stimmen. Doch dieses Grauen war nichts im Vergleich zu dem, was er danach ertragen musste: Die ausgelassenen Frauen zogen ihm das Nachthemd über den pochenden Schädel, steckten ihn unbarmherzig in einen Badezuber mit kochend heißem Wasser, zumindest kam es ihm so vor, und begannen erbarmungslos seinen dünnen Körper abzuschrubben, bis sich seine Haut schälte. Selbst der blumige Seifenduft konnte nicht darüber hinweg trösten. Anschließend wuschen sie seine verfilzten Haare. Es ziepte unerträglich, als sie zu mehreren mit grobzinkigen Kämmen auf ihn losgingen. Es war, als rissen sie ihm jede Strähne einzeln aus. Trotzdem blieb am Ende noch genug übrig, um sich schwer mit Wasser vollzusaugen. Schmerzgepeinigt ertrug er die grobe Prozedur. Mit einer ungeahnten Effizienz erledigten die Dienerinnen ihre Arbeit. Schon zogen sie ihn aus dem Wasser und wickelten ihn in weiche Handtücher. Sie zwangen ihn auf einen niedrigen Hocker und machten sich an seinen Nägeln zu schaffen. Entfernten hartnäckigen Schmutz, der sich bei Koumei immer recht lange hielt, kürzten sie und feilten sie grade. Unterdessen vergriff sich eine von ihnen abermals an seinem Haar. Fuhr unsanft mit einer viel zu feinen Bürste hindurch, bis auch die letzte Zottel geglättet war. Schließlich fasste sie die Strähnen zu einem hohen Knoten zusammen und steckte sie fest. Das ganze Konstrukt krönte sie mit einer besonders prächtigen, goldenen Haarnadel, die leider genauso schwer war, wie sie aussah. Tränen traten in seine Augen. Koumei unterdrückte nur mühsam das Verlangen, alle Haarnadeln heraus zu ziehen, so sehr schmerzte seine Kopfhaut bereits jetzt. Doch viel Zeit, um sich von den Strapazen zu erholen, blieb ihm nicht: Schon streiften sie ihm das wärmende Handtuch ab und bearbeiteten seine mittlerweile trockene Haut mit viel zu stark parfümierten Ölen, bis sie schrecklich weich wurde. Langsam bekam der Junge es mit der Angst zu tun. Sie richteten ihn her, als ginge es zu einem wichtigen Staatsakt, seiner Hochzeit oder dergleichen. „Alles in Ordnung, mein Herr?“, erkundigte sich eine Dienerin pflichtbewusst und mitleidslos, als Koumei zu schwanken begann. Die verbrauchte, heiße Luft in diesem Zimmer stieg ihm zu Kopf, schließlich war dieser immer noch angeschlagen und bald bekäme er sicher eine riesige Beule dort. „Diese Hitze“, stöhnte er angestrengt und ließ sich erschöpft zu Boden sinken. Doch die Frauen kannten sein Verhalten schon zu Genüge und sorgten sich nicht sonderlich darum. Dafür verschlossen sie die Ölfläschchen und tupften etwas hautfarbene Creme auf seine tiefen Aknenarben und auf die Augenringe. Abschließend hüllten sie ihn in eng anliegende, glänzend-dunkelviolette Gewänder mit Blumenstickereien, die deutlich eleganter wirkten, als seine sonstige gelb-grüne Garderobe mit dem bestickten Gürtel und seinen geografischen Mustern. Trotzdem hätte er alles darum gegeben, seine Alltagskleidung anzuziehen. Immerhin hatte die Qual nun ein Ende. Verstört ließ sich Koumei danach von seinem Bruder abholen. Zwar ließ er sich für gewöhnlich immer von den emsigen Frauen ankleiden, aber nie hatten sie ihn derart gefoltert und so vornehm zurechtgemacht. Scheinbar war es Kouen in der Zwischenzeit nicht besser ergangen. Der Kerl sah ebenfalls ordentlicher aus als sonst. Eigentlich hatte Koumei bereits nach dieser quälenden Prozedur genug von diesem Tag. Er roch schlimmer, als die zahlreichen Haremsdamen beziehungsweise Ehefrauen seines Vaters und sah mit Sicherheit nicht viel besser aus. Natürlich reichte das noch nicht: Mittlerweile stand die Sonne hoch am Mittagshimmel. Sein Magen glich einem bodenlosen Loch und knurrte hungriger als ein Tiger. Kouen schleifte ihn in den Speisesaal, aus dem bereits der Geruch nach einem feudalen Festmahl drang. Sie schritten in die große Halle, wo sich die Gäste bereits in Reih und Glied, wie es in Kou üblich war, aufgestellt hatten. Überraschend viele Menschen - nicht gut. Diese Ordnung zerfiel jedoch schnell, sobald die Brüder ihren Weg zu der festlich gedeckten Tafel entlang schritten. Koumei mochte es nicht, derart von der überraschenden Menge an Menschen angestarrt zu werden und ließ sich erschöpft auf seinen Platz fallen, wo er aber sogleich von allen Seiten bedrängt wurde. Zuerst von seinen Brüdern, die ihn stolz anstrahlten. Zumindest tat das der kleine Kouha, der ihn lachend umarmte und blauäugig fragte, wie man nur so alt werden konnte. Mit Kouen hatte er es sich für diesen Tag wahrscheinlich verdorben. Dann erschien sein Vater. Koumei verspürte  keine überschwängliche Freude, allerdings sollte er sich geehrt fühlen, dass der hohe Herr sich dazu herab ließ, ihm zu gratulieren. Ja, zu diesem Anlass musste selbst er sich um seine Söhne kümmern und sie nicht nur herumkommandieren und mit Schlägen zu Recht weisen, wenn ihm etwas nicht gefiel. Alle Bewohner des Hauses waren anwesend. Niemand hatte es sich nehmen lassen, sich für diesen festlichen Anlass herauszuputzen. Dabei hatte er doch lediglich Geburtstag! Die zahlreichen Schwestern wagten sich deutlich zögerlicher an ihn heran, sahen aber noch blendender aus als alle anderen. Daneben gab es noch einige Staatsgäste, die bei ihnen untergekommen waren. Weshalb wohnten sie nicht im Palast der Hauptstadt Rakushou bei Onkel Hakutoku? Furchtbar. Immerhin waren der Kaiser, seine Frau und seine Söhne, sowie Hakuei nicht anwesend, damit hätte dieses Fest noch mehr an Wichtigkeit gewonnen. Eigentlich wunderte ihn dieser seltsame Umstand, für gewöhnlich ließ Kaiser Hakutoku es sich nicht nehmen, Familienfesten beizuwohnen. Doch all dies hatte eigentlich keine Bedeutung für ihn. Er wollte nur Hakuren sehen. Aber dieser zeigte sich ebenfalls nicht an der großen Tafel, beladen mit allerhand Köstlichkeiten, nur für ihn. Der Geruch war göttlich. Er erinnerte an eine kleine Weltreise, so viele verschiedene Dinge hatten die Köche aufgetischt. Unzählige edle Gewürze und Kräuter, deren Duft die Luft ihrer Residenz nicht jeden Tag erfüllte. Warmer Zimt, scharfer Ingwer, würziger Kardamom, süße Vanille, fruchtiges Curry, erdiger Kreuzkümmel, Koriander, Nelken, Zitronengras... zu viel um alles zu bestimmen. Die Speisen waren herrlich angerichtet und es gab so viele, dass man sicherlich das ganze Reich davon hätte ernähren können, wie es den Anschein machte. Exotisches Obst, eingelegtes, gesottenes, gebratenes, gegrilltes Gemüse, Wurzeln, Sprossen, sämtliche Getreidearten als Brot, Brei oder gekocht, Fisch in allen Formen, unendlich viele Gebäcksorten, süß und herzhaft, der übliche Duftreis in ausufernden Mengen, sodass ihm unbewusst das Wasser im Munde zusammen lief. Den Nachtisch noch gar nicht mitgezählt. Da standen kandierte Früchte, wieder haufenweise Gebäck, Bohnenmus, Klößchen, Pudding, Zuckerrohr, süßer Reis mit Zimt, Vanille und Safran und Dinge, die er noch nie gesehen hatte. Selbst gebratenes Fleisch gab es, was sonst nur zu wichtigen Anlässen serviert wurde. Nun ein Geburtstag zählte ebenfalls dazu. Eigentlich gab es viele wichtige Anlässe im Hause Ren… Zu diesem Zeitpunkt schien es ihm unvorstellbar, dass ihn bald, alleine bei dem Geruch nach verbranntem Fleisch, kaltes Entsetzen erfüllen sollte und Übelkeit ihn mit brutaler Macht zu Boden zwingen würde. Noch erschien ihm das reichhaltige Nahrungsmittel allerdings äußerst verlockend. Dennoch, all dies interessierte ihn kaum. Er fühlte sich fehl an dieser übersättigten Tafel. Sie, die Oberschicht, der Adel, schlugen sich hier mit noch nicht einmal der Hälfte der Speisen die Bäuche voll, während ein Teil der Bevölkerung in Armut lebte und Hunger litt. Die Reste dieses Festmahls würden den Schweinen zum Fraß vorgeworfen oder entsorgt werden. Das war ernüchternd. Was für eine Verschwendung, wenn ich das hier geplant hätte, würde ich grade mal die Hälfte von allem auftischen. Und das würde immer noch für die doppelte Zahl an Menschen genügen, überlegte er angewidert, auch wenn er diese vielfältigen Gerüche herrlich fand. Koumei seufzte. Wie sollte er diesen Tag überstehen? Alles erschien im so hoffnungslos übertrieben. Warum diese Mühen? Er war ohnehin nur eine Enttäuschung für seinen Vater, im Gegensatz zu Kouen, der in seinem Alter bereits zwei Metallgefäße und ebenso viele Dschinns sein Eigen nannte. Sein Bruder war aktiv und stark, dabei auch noch klug und genauso wissbegierig, wie Koumei. Zeigte sich nie müde oder schwach. Neben ihm erschien Koumei mit seiner Schläfrigkeit und Schwäche, wie eine Strafe Gottes. Weshalb betrieben sie einen derartigen Aufwand für ihn? Er war nur das schwarze Schaf der Familie, dass nichts konnte, außer Wissen in sich aufzunehmen. Wieso wollten sie seinen Geburtstag mit all diesem verschwenderischen Aufwand feiern, wo er sich ohnehin nichts daraus machte? Er wollte nur bei Hakuren sein und neben ihm im Garten auf der weichen Wiese liegen. Aber wo war er bloß? Er konnte noch nicht abgereist sein. Viel Zeit, um nach seinem Freund zu suchen, nach welchem er sich bereits schrecklich sehnte, vergönnte man ihm nicht. Nachdem sich alle Versammelten um die fürstliche Tafel niedergelassen hatten, folgten die traditionellen Reden von gefühlt mindestens der Hälfte aller Anwesenden. Als erstes sprach sein Vater. Die dröhnenden, pompösen Sätze zogen an seinen Ohren vorbei wie Nebelschwaden, während sich einzelne Wörter in seinen Geist drängten: Erwachsen, intelligent, hohe Erwartungen, vielversprechend, verantwortungsbewusst, was gab es nicht sonst noch alles. Diese elende Heuchelei. Nun es käme ja nicht in Frage, den Gästen irgendetwas Negatives über den eigenen Sohn zu erzählen, von dem Koutoku schwer enttäuscht war. Nach ihm kamen irgendwelche Staatsgäste, die wohl meinten sich bei seinem Vater einschmeicheln zu müssen, denn ihre Worte hatten weder angemessen viel mit Koumei, noch mit Geburtstagswünschen zu tun. Zwar nahmen sie sein Älterwerden als Anlass für ihr widerliches Geschwafel, aber wirklich behandeln taten sie dieses dann nicht. Stattdessen priesen sie die Macht Kous, die Gastfreundschaft seines Vaters, sowie die Schönheit ihres Hauses und beteuerten ihre Freude über das Wohlergehen des Landes. Natürlich wünschten sie sich alle von ganzem Herzen, dass es Kou auch in Zukunft derart gut gehen würde. Sicherlich, sie wollten ganz bestimmt keine Macht für ihre eigenen Staaten. Wie verlogen. Koumei konnte die Augen kaum mehr offenhalten und gähnte unauffällig hinter vorgehaltener Hand. Diese ekelerregende Heuchelei ermüdete ihn. Es hätte ihn auch überrascht, wenn so viele Menschen alleine für ihn eine Rede halten würden. Doch eigentlich störte es ihn nicht besonders, denn so konnte er immerhin still und heimlich in angenehmeren Tagträumen von Büchern, Tauben und Hakuren versinken. Als sein Vater schließlich das Festmahl eröffnete, schreckte er auf. Mit derart vielen Menschen zu speisen erforderte einigen Aufwand für die Dienerschaft. Überall wuselten Sklaven herum, um Wein nachzuschenken, Dinge nachzureichen oder Platten aufzufüllen. Der Alkohol sorgte für einen sehr hohen Geräuschpegel und fallende Hemmungen. Von einem streng formellen Festmahl, ließ sich nichts mehr bemerken. Folglich glich das Essen für den jungen Mann mehr einer Qual, als einem Vergnügen, auch wenn die meisten der Anwesenden es als ebendieses ansahen. Koumei rührte kaum etwas an, war ihm über der unnötigen Völlerei der Gäste schnell der Appetit vergangen. Außerdem setzte ihm der Trubel arg zu. Dabei hatte sein Magen vorhin lautstark seinen Hunger verkündet, doch nun schien es, als könnte er einfach nichts mehr zu sich nehmen. Es tat ihm Leid um die köstlichen Speisen, doch das Einzige, was er aß, waren ein paar Gemüsestückchen, etwas Reis und Tintenfisch. Den herrlichen Geschmack nahm er kaum zur Kenntnis, für gewöhnlich wäre er verzückt gewesen. Von den exotischen Früchten oder Gebäckstücken brachte er nichts herunter, erst recht keinen Nachtisch mehr. Von Kouha ließ er sich lediglich dazu überreden, ein Stück Geflügel zu probieren. Es schmeckte recht gut, doch er hätte wissen müssen, dass sein kleiner Bruder wieder etwas im Schilde führte, so sehr wie er bei seinem Biss in das saftige Fleisch kicherte. Für einen Achtjährigen konnte Kouha sehr grausam sein. „Es ist Taube, Mei und du hast sie gegessen!“, sprudelte es schließlich aus seinem verrückten Bruder hervor. Entsetzt schob Koumei seinen Teller von sich. Die verzierten Essstäbchen fielen klappernd aus seinem, plötzlich erschlafften, Griff. Das zarte Fleisch, von dem er nur einen winzigen Bissen gekostet hatte, schien ihm plötzlich wie ein Stein im Magen zu liegen. Tränen stiegen ihm in die Augen. Seine geliebten Tauben! Was, wenn jemand seine zahmen Brieftauben geschlachtet und zubereitet hatte? Nein, das würden sie nicht wagen, oder? Aber vollkommen sicher war er nicht und Taube war Taube, die konnte er unmöglich essen, egal ob er die Tiere gekannt hatte oder nicht. Es schnürte ihm die Kehle zu. Wütend funkelte er Kouha an, wagte jedoch nicht, ihn zu Recht zu weisen, denn sein Vater schaute scheinbar zufällig zu ihnen hinüber und runzelte missbilligend die Stirn. Ohnehin hatte er viel zu viel Mühe damit, die Tränen zurückzuhalten. Nicht nur wegen dem Taubenfleisch, sondern weil dieser Tag ihm einfach zu wider war. Die heuchelnden Gäste, sein höllisch unbequemer Aufzug und all dieser pompöse Quatsch. Schnell starrte er auf seinen leeren Teller. So entging ihm tragischer Weise Kouhas reuevoller Blick, der eine wahre Seltenheit darstellte. Doch Koumei wünschte sich lediglich, dass dieses Bankett endlich enden möge. Sein Wunsch brauchte lange, bis er erfüllt wurde. Als endlich alle Anwesenden mit vollem Bauch und bereits angeheitert auf ihren Plätzen saßen, träumte Koumei schon längere Zeit von seinem Bett. Schlaf konnte er gut gebrauchen. Äußerlich hatte er sich die geistige Abwesenheit allerdings nicht anmerken lassen. Hoffentlich, so kritisch wie Kouen zu ihm herüber schaute, konnte er sich da nicht vollkommen sicher sein. Schließlich erhob sich die Gesellschaft und Koutoku rief seinen Sohn zu sich, da er nun die Geschenke überreicht bekommen sollte. Die Gäste stellten sich ordentlich auf und Koumei wurde gezwungen, von jedem persönlich die Gaben entgegenzunehmen. Sicherlich ärgerten die Staatsgäste sich, dass sie zu dem ungünstigen Zeitpunkt seines Geburtstags in Kou weilten, so mussten auch sie, obwohl Koumei noch nicht einmal die Namen von allen kannte, ihm etwas darbringen. Andererseits fanden sie es wahrscheinlich hochinteressant, zu sehen, was er alles geschenkt bekam. Oh nein, das halte ich nicht durch…, dachte er gequält, als er die endlose Reihe erblickte. Ja, auch diese Prozedur stellte sich in ihrer Langwierigkeit als außerordentliche Folter heraus. Zuerst überreichte ihm sein Vater etwas oder besser gesagt, er ließ es hereinbringen. Da waren etliche wertvolle Bücher und Schriftrollen, viele mit Blattgold verziert und in dickes Ochsenleder eingebunden. Einige davon mussten sehr alt sein, wieder andere wirkten vollkommen neu. Natürlich waren es keine Sagen, Legenden oder vergnügliche Geschichten, sondern informative Sachtexte über Militärstrategie, Regierungsgeschäfte und womit sich Koumei nicht noch alles herumplagen musste. Nicht, dass es ihm keinen Spaß gemacht hätte, aber immer nur zum Lernen ermutigt zu werden, gefiel nicht einmal ihm. Lieber hätte er auch ein wenig seichtere Lektüre bekommen, um sich ab und an einmal damit im Bett zu entspannen, denn das war ihm noch heiliger, als alte Schriften zu studieren. Auch der edle Pferdezaum, den Koutoku ihm selbstzufrieden zeigte, erschien Koumei nicht sonderlich verlockend. Er hatte nichts gegen die Tiere, doch reiten mochte er nicht allzu gerne, musste er sich dafür doch in die freie Natur begeben. Außerdem taten ihm die Pferde leid, da sie ihre schweren Reiter unermüdlich auf ihrem Rücken dulden mussten. Er besaß selbst eine graue Stute namens Rai, sie war ein früheres Geburtstagsgeschenk gewesen, ein temperamentvolles Warmblut mit einem freundlichen Wesen, doch er besuchte sie bei weitem nicht so oft wie die possierlichen Tauben, die Koumeis träger Art eher entsprachen, als das aufgeweckte Pferd, welches viel zu gerne galoppierte. Folglich ritt er kaum jemals mit ihr aus, es sei denn Hakuren begleitete ihn. Nein, es war einfach nicht sein Ding, gefiel ihm nicht, fürchtete er bei derartigen Geschwindigkeiten immer einen schmerzhaften Sturz. Danach hatte sein Vater nichts mehr für ihn und wechselte den Platz mit Kouen, der ihm eine wunderschöne Schriftrolle mit uralten Mythen, die er selbst gerne studierte, schenkte. Koumei freute sich deutlich mehr darüber, als über die Geschenke seines Vaters, selbst als Kouha ihm einen schlecht geflochtenen Blumenkranz in die Hand drückte, fand er diesen besser. Seine Schwestern schenkten ihm das übliche, das er niemals anrühren würde. Schönheitstinkturen, Tiegel mit angeblichen Wundermittelchen, wohltuende Salben, duftendes Körperöl und Sandelholz-Räucherstäbchen. Für letztere würde er vielleicht Verwendung finden, empfand er ihren Geruch manchmal als recht angenehm. Als letztes kam Kougyoku an die Reihe und hielt ihm nervös ein Fläschchen selbstgemachtes Duftwasser hin. Mit ihren acht Jahren dachte sie natürlich, dass alle möglichen Blätter und Blüten aus dem Garten, vermengt und in Wasser getaucht, eine herrliche Komposition abgaben. Koumei hatte bereits allerhand üble Erfahrungen hinsichtlich des unangenehmen Geruchs dieser Mischungen gemacht, rang sich bei seiner schüchternsten Schwester jedoch ein müdes Lächeln ab. Auf die Verwandtschaft folgten die Gäste. Zum Beispiel die Gesandten aus Reim, welche einen merkwürdig benommenen Eindruck machten. Seltsam, bei ihrer Ankunft vor ein paar Tagen hatten sie noch völlig normal gewirkt. Der eine hustete unterdrückt, sobald er sein Geschenk übergeben hatte und der andere zitterte leicht, als fiele ihm das lange Stehen schwer. Es waren winzige Zeichen der Schwäche, aber Koumei jagten sie einen unerklärlichen Schauder über den Rücken. Für einen unbedeutenden Moment verspürte er den Wunsch, sich die Hände zu waschen, was für ihn doch eher ungewöhnlich war. Allerdings konnte er nicht lange darüber nachdenken, denn es gab noch viele andere fremdländische Leute, die seine Aufmerksamkeit forderten. Koumei konnte ihre schiere Menge kaum ertragen. Sie schenkten kostbare Seidenroben, andere Kleidungsstücke, erlesene Feinkost aus ihrer Heimat, Schmuck aus Elfenbein, Gold oder anderen teuren Materialien und was es nicht sonst noch alles gab, um den Reichtum des eigenen Landes oder der Familie zur Schau zu stellen. Einige überreichten ihm sogar seltene Rassetauben, worüber sich Koumei dann doch ernstlich freute. Schließlich hatte er die Qualen überstanden. Die Menge zerstreute sich wieder und Gespräche entwickelten sich. Einige Leute suchten Koumeis Nähe und wollten mit ihm reden, doch die Konversationen dauerten kaum länger an, als ein paar knappe, distanzierte Sätze. Kouha kam zu ihm gekrochen und bettelte um Aufmerksamkeit, weshalb er sogleich von ein paar Dienerinnen bei Seite gezerrt wurde. Kourin, eine seiner Schwestern wechselte einige freundliche Worte mit ihm, doch selbst mit einigermaßen vertrauten Geschwistern wollte Koumei heute nicht reden. Kouen strafte ihn lediglich mit bösen Blicken wegen dem morgendlichen Theater. So zog sich der junge Mann erschöpft in eine etwas weniger belebte Ecke des Saals zurück, während die Stimmung um ihn herum immer ausgelassener wurde. Koumei jedoch konnte sich nicht an dem Lachen der Menge beteiligen. Er fühlte sich nicht als Teil dieser heiteren Gesellschaft, die unter den freundlichen Worten lediglich versteckten Groll und Neid auf andere verbarg. Zudem schmerzte sein Kopf mittlerweile höllisch. Aber sein größtes Problem waren nicht länger die Anwesenden: Dass Hakuren bis jetzt einfach nicht erschienen war, nagte an ihm. Was, bei allen Rukh dieser Welt, konnte nur der Grund dafür sein?   *   *~* Kapitel 16: Dämonin -------------------   *~*   *   Am Nachmittag nahm sein Vater Koumei bei Seite. Die Gesellschaft befand sich mittlerweile bereits in einer äußerst angeheiterten Stimmung, was nur an dem in Strömen fließenden Alkohol liegen konnte. Koumei, der mit seinem einzigen Becher Pflaumenwein nicht grade dem Rausch verfallen war, hatte sich etwas abseits auf eine Bank zurückgezogen und beobachtete das wilde Treiben unwillig. Er wollte das nicht. Diese Menschenmenge! Unangenehm. Wie gerne läge er jetzt neben Hakuren hinter den Brombeeren, wo es still und friedlich war und kein überzogenes Gelächter, schreckliche Musik und Geklirr von herunterfallendem Gedeck die Luft erfüllte. Gedankenverloren starrte er ins Leere, bis auf einmal eine grobe Hand auf seine Schulter fiel. Erschrocken schreckte er auf und erblickte Koutoku Ren, dessen mächtige Figur bedrohlich über ihm aufragte. Oh, bei allen Rukh in dieser Welt, er hätte seinem Vater gegenüber niemals solch ein Desinteresse an dieser Feier zeigen dürfen! Unwillkürlich zog er den Kopf ein, in Erwartung eines harten Schlages, doch dieser blieb aus. Noch nicht einmal erzürnte Worte bekam er zu hören. Stattdessen befahl ihm sein Vater mit der gefürchteten, polternden Stimme: „Komm mit Sohn, es gibt da noch etwas, dass ich dir schenken möchte.“ Erstaunt hielt der Rothaarige inne. Noch ein Geschenk? Aber er wollte keine Geschenke mehr, das alles genügte ihm völlig, viel lieber wäre ihm das Erscheinen Hakurens oder eine Woche Ruhe. Wünsche, die sie ihm wohl nie erfüllen würden. Außerdem, weshalb überreichte Koutoku es ihm dann nicht in der Öffentlichkeit? Vor den anderen Gästen? Die fanden so etwas meist ungeheuer spannend. Nun, ihm sollte es recht sein, aber es machte ihn misstrauisch, da er die Gaben ansonsten immer vor allen Versammelten annehmen musste, schließlich war es eben genauso vonstattengegangen.   Mit sich überschlagenden Gedanken trottete er unterwürfig hinter dem hünenhaften Mann her. In seiner Gegenwart wagte er kaum zu atmen. Vielleicht rührte das auch daher, dass sie für gewöhnlich kaum Kontakt zueinander hatten und wenn doch, war dieser meist mit wütendem Toben und Schmerzen verbunden. Unbehaglich lauschte er dem angespannten Schweigen zwischen ihnen, unwissend, ob von ihm erwartet wurde, es zu durchbrechen. Sie durchquerten zahlreiche Gänge, bis sie hinaus in den Garten traten. Die warme Luft beruhigte ihn ein wenig, doch dies hielt nur kurz an und wandelte sich schlagartig in Panik, als sein Vater mit ihm auf ein großzügiges Nebengebäude zuschritt, welches vom Stil her dem Haupthaus wie ein Ei dem anderen glich, von dem sich jedoch die meisten Leute bei Hofe unter Strafe fernzuhalten hatten. Bereits bevor sie den Schatten der pagodenförmigen Dächer betraten, schwante ihm böses. Sehr böses. Lediglich einige ausgewählte Personen durften dieses Haus betreten, darunter sein Vater und Kouen. Ebenso wie einige seiner Schwestern und der kleine Kouha. Koumei wusste es nicht so genau. Er wollte es auch gar nicht wissen. Genauso wenig, wie er selbst dieses Haus betreten wollte. Er war schon öfter dort gewesen, als Kouha noch unerkannt bei seiner Mutter gewohnt hatte. Auch heute schlief der Junge noch häufig dort, um auf sie acht zu geben und wenn Koumei ihm etwas zu sagen hatte, musste er eben dort hinein. An sich nichts schlimmes, wenn man nur zu Kouha wollte. Doch irgendetwas sagte ihm, dass ihr gemeinsamer Besuch einen gänzlich anderen Zweck hatte, zumal Kouha sich grade in Kouens Obhut auf Koumeis Fest befand. Dort wäre er jetzt auch lieber gewesen, welch ein Wunder. „Beweg dich endlich“, schnauzte sein Vater und stieß ihn böse schnaufend an. „V-verzeihung, Herr.“, stotterte er und bemerkte erst nun, dass er wie angewurzelt stehen geblieben war. Nur mühsam konnte er seine Beine dazu überreden, Koutoku zu folgen. Sie durchquerten die schweren Eingangstore, ebenso gut bewacht, wie die ihres Hauses und Koumei wünschte sich, einfach in Ohnmacht zu fallen, als sie sich mit einem lauten Knall hinter ihnen schlossen.   Die spitzen Schuhe sanken in dicke, rote-goldene Teppichfransen. Das Parkett knarzte sanft unter Koutokus schweren Schritten. Die geschnitzte Decke hing schwer über ihnen. Ein süßer Duft nach Parfüm und Pfirsichen lag in der warmen Luft. Nicht aufdringlich, aber immerhin so stark, dass Koumeis Abneigung noch größer wurde. Doch ihm blieb nichts anderes übrig, als dem Bruder des Kaisers durch den graden Gang, von dem auf beiden Seiten zahlreiche Flure und Türen abzweigten, zu folgen. Er wusste ganz genau, was ihn erwartete und diese Gewissheit machte es nur noch schlimmer. Sein Vater durchbrach das verkrampfte Schweigen mit seiner donnernden Stimme: „Nun, Sohn, du bist jetzt in einem Alter, indem es an der Zeit ist, Interesse an Frauen zu entwickeln. Bisher konnte man bei dir zwar nichts dergleichen feststellen, aber du wirst sehen, das ändert sich. Immerhin bist du nun offiziell im Mannesalter und kannst bald heiraten, das heißt wenn es eine passende Frau für dich oder deinen Bruder gäbe. Leider scheint es so, als würden nur eure Schwestern ihrem Land in nächster Zeit nützlich sein. Es nützt nichts, sich darüber zu ärgern, kommen wir zur Sache. Ich habe Kouen in deinem Alter das gleiche Geschenk gemacht und wie du siehst hat es ihm äußerst gut getan.“ Nein, mir wird das ganz sicher nicht gut tun! Hilfe!, dachte Koumei verzweifelt und sah sich hektisch nach einer Fluchtmöglichkeit um. Die natürlich nicht existierte. Verdammt. Das war der schlimmste Tag seines Lebens.   Sie bogen in einen schmalen Korridor ein. Der Rothaarige schauderte angstvoll. Doch sein Vater warf ihm lediglich einen verächtlichen Blick zu. „Ihr Name ist Kali. Eine ausgezeichnete junge Frau. Sie wird dir gefallen. Bei dir hielt ich es für geschickter, eine selbstbewusstere Persönlichkeit auszuwählen. Sie steht dir zu deiner freien Verfügung und du kannst sie jederzeit aufsuchen oder zu dir kommen lassen. Schicke in Zukunft einfach nach ihr. Verstanden?“ Koumei zögerte erstarrt. „Ob du verstanden hast, Junge?“, knurrte Koutoku und rüttelte ihn gewaltsam am Arm. Er zuckte erschrocken zusammen. Es tat weh. „J-ja, Herr“, keuchte er verschüchtert und betete, er würde ihn rasch wieder loslassen. Sein Arm fühlte sich an, als würde er gleich brechen. „Du bist wirklich ein erbärmlicher Nichtsnutz. Verweichlicht obendrein! Es wird Zeit, dass du lernst, dich wie ein potentieller Thronfolger zu verhalten und nicht wie eine zeternde Jungfer! Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder!“ Das Schütteln wurde immer stärker. Koumei winselte unter dem brutalen Griff und den grausamen Worten. Auf einmal lösten sich die gewaltigen Pranken und er taumelte zitternd zurück. „Noch nicht mal ordentlich stehen kannst du! Stell dich grade, wie es deinem Stand gebührt! Du bist eine Schande für das Hause Ren, Junge. Und so ein Abschaum will mein zweiter rechtmäßiger Sohn sein? Deine Mutter wäre entsetzt.“ Koumei fiel auf die Knie und drückte die Stirn tief in den edlen Teppich, der den Boden bedeckte. Ein dumpfer Schmerz durchzuckte seine Beule. „I-ich bitte euch um Verzeihung, werter Vater…“ Seine Stimme bebte voller Angst. Aber es folgten wieder keine Schläge. Nur ein scharfes: „Steh sofort auf! Du sollst nicht einfach vor anderen im Staub kriechen, wenn es unangemessen ist.“ Mit diesen Worten stieß er seinen Sohn in Richtung der Tür. „Worauf wartest du noch? Bist du etwa undankbar? Du solltest den Aufwand, der wegen dir betrieben wird, mehr zu schätzen wissen, Junge!“ Mit diesen Worten donnerten die mächtigen Schritte seines Vaters davon. Bevor er aus dem Sichtfeld seines immer noch eingefrorenen Sohnes verschwand dröhnte er: „Lass dich vor heute Abend ja nicht mehr blicken. Und glaub mir, ich bekomme Bericht erstattet, wenn du ungehorsam bist, also versuch gar nicht erst, dich aus dieser Situation herauszuwinden. Jeder andere hätte seine reine Freude daran!“   Schon stand er alleine in dem schummrigen Gang. Stöhnend ließ er den angehaltenen Atem frei. Sobald die erdrückende Präsenz seines grausamen Vaters verschwunden war, fühlte er sich deutlich erleichterter. Doch seinen Befehl hatte er nicht vergessen. Ihn zu verweigern kam nicht in Frage. Aber ihn zu befolgen… ebenso wenig. Alleine schon wegen Hakuren. Nervös riss er den Kopf hin und her, als plötzlich von der anderen Seite der Tür eine scharfe Stimme ertönte: „Was stehst du da draußen rum? Ich habe keine Lust ewig zu warten, Jungchen!“ Koumei schluckte. Das klang nicht gut. Gar nicht gut. Schlimmer noch, als er es sich vorgestellt hatte. „Denk ja nicht, ich wüsste nicht, dass du noch da bist, Prinzlein. Ich bin nicht dumm! Also komm endlich rein und reiß dich zusammen!“ Gerade das fiel ihm zunehmend schwerer. Noch nie hatte er eine weibliche Stimme vernommen, die derart respektlos mit ihm redete. Alleine schon dieser Tonfall. Als wäre er der Untergebene und nicht anders herum. Koumei schauderte wieder. „Na wird’s bald?“ Ihm blieb keine Wahl. Zitternd öffnete er die Tür und hielt prompt den Atem an.   Weißer Nebel waberte ihm entgegen. Süßlich nach seltsamen Kräutern riechend und furchtbar aufdringlich. Er machte ihn ganz wirr im Kopf. Ließ seine Gedanken verwischen. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und stieß ihn mitten in den verhangenen Raum hinein. Was um alles in der Welt, ging hier vor? „Na komm schon, nicht so schüchtern“, kicherte die Stimme, nun ein wenig freundlicher, dennoch nicht weniger beängstigend. Er konnte noch nicht einmal ausmachen, woher die angriffslustige Stimme kam. Dieser…Rauch… etwas anderes konnte es nicht sein, verschleierte alles, das weiter als eine Fingerlänge entfernt war. Also eigentlich jedes Objekt, welches sich wohlmöglich in diesem Raum befand. Unbehagen stieg in ihm auf. Plötzlich schnellte er herum. Da war etwas. Ein winziger Lufthauch, der den Qualm aufwirbelte. Aber er konnte niemanden sehen. Koumei schrie auf und versteifte sich. Auf einmal schlangen sich lange, dünne Arme um seine Brust. Mit einer Kraft, die gelinde gesagt… überwältigend war. Nicht das, was er erwartet hatte. „Na, da haben wir aber jemand ganz schön schreckhaftes erwischt“, zischte es höhnisch in sein Ohr. „Und mager noch dazu. Nicht grade verlockend. Wie bemitleidenswert…“ Koumei blinzelte panisch gegen den Nebel an. Es war sinnlos. Stattdessen fuhr eine kleine Hand zwischen die Stoffschichten, in die man ihn heute Morgen hineingezwängt hatte. Etwas Scharfes kratzte schmerzhaft über seine Haut. Spitze Fingernägel. Plötzlich kam wieder Leben in den jungen Mann. Mit einem gellenden Schrei wich er zurück. Eingehüllt von weißem Rauch. Spürte, wie ihm die Gewänder dabei halb von der Schulter glitten, was ihn noch mehr in Panik versetzte und ihn noch weiter zurück taumeln ließ. Dabei stolperte er über etwas Hartes. Verblüfft ruderte er mit den Armen. Kippte nach hinten. Landete erstaunlich weich. Vorsichtig strich er mit der Hand über den nachgiebigen Untergrund. Es fühlte sich an wie eine Art… breiter Sessel? Mit bequemen Kissen? Plötzlich nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Sofort schnellte sein Fuß in die Luft und stieß irgendetwas zurück. Ein entrüstetes Keuchen, ein Poltern und ein dumpfer Aufprall. „Ah,  verdammte Scheiße! Wie kannst du es wagen?!“, keifte die Stimme erzürnt. Schritte entfernten sich hastig und mit einem Mal lichtete sich der Nebel.   Koumei konnte endlich wieder sehen! Wie gut das tat! Verwirrt ließ er seinen Blick ihn dem fremden Raum umherschweifen. Bunte Gardinen verdeckten die Fenster, erlaubten weder die Sicht hinein, noch hinaus. Mit der Vermutung, in einen Sessel gefallen zu sein, schien er gar nicht so falsch zu liegen, soweit er das beurteilen konnte. Tatsächlich saß oder lag er auf einem sesselähnlichen Möbelstück, mit feinem rotem Bezug. Aber wo um alles in dieser Welt steckte dieses unheimliche Wesen? Koumei musste nicht lange suchen. Kaum hatte er den Kopf erhoben und über den kleinen Beistelltisch mit einer kleinen Zwischenmahlzeit, sowie flackernden Kerzen darauf, der vor seinem Sessel stand, hinweggeschaut, erblickte er sie. Die schrecklichste Frau, die er je kennen sollte, nun zumindest dachte er das damals.   Misstrauisch und mit einem Hauch von widerwilliger Bewunderung starrte er die junge Dame an, die sich genüsslich auf einem Diwan räkelte und einen tiefen Zug aus einer langen, stark qualmenden Pfeife nahm. Üppiges, gewelltes, schwarzes Haar fiel bis auf den Boden herab. Rotangemalte Lippen zeigten einen verführerischen Ausdruck, sowie reinen Hohn, als sie den Rauch in seine Richtung blies. Hatte sie eben damit den ganzen Raum vernebelt?! Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Tiefbraune Augen, noch dunkler, aber durchaus geschmackvoll geschminkt schienen ihn regelrecht herauszufordern. Schwarzer und Violetter Lidschatten ließen ihren Blick regelrecht tiefgründig wirken,  was ihm eher bedrohlich vorkam. Flüchtig bemerkte er eine längst verheilte, kreuzförmige Brandnarbe unter ihrem rechten Auge. Eine verurteilte Verbrecherin?! Nervös verdrängte er diese Sorge, er wollte sich erst einen Gesamteindruck verschaffen, bevor er selbst über sie urteilte, auch wenn das ihm nahezu unmöglich erschien, da in seinem Kopf bereits ein klares, nicht sonderlich schmeichelhaftes Bild von ihr existierte, das von der Wirklichkeit nur bestätigt wurde: Ein, nach Koumeis Ansicht viel zu kurzes, schwarzes Oberteil enthüllte einen flachen Bauch, wohingegen die schlanken Beine beinahe vollständig von einem langen, goldbestickten Rock verhüllt blieben, zumindest würde es so sein, wenn der Stoff nicht so stark nach oben gerutscht wäre. Schwerer Goldschmuck klimperte dazu passend, aufreizend um ihren schlanken Hals, sowie den elegant ausgestreckten Armen. Der Rothaarige wusste nicht genau, ob es klug war, sie derartig zu mustern, aber er konnte nicht anders. „Na, gefällt dir was du siehst, mein Kleiner?“, gurrte sie und lächelte mit spitzen, blendendweißen Zähnen auf eine Art und Weise, die ihm Angstschauer über den Rücken schickte, während sie sich vorwurfsvoll den Bauch rieb, wo er sie wahrscheinlich mit seinem Tritt erwischt hatte. Nein, es gefiel ihm ganz und gar nicht, aber das konnte er ja schlecht sagen, oder? Verzweifelt suchte er in seinem wie leer gefegten Geist nach Worten, die in dieser Situation angemessen wären, aber sie waren fort.   Krampfhaft besann er sich auf die einfachste Konversationsregel, welche man ihm je eingebläut hatte und die er trotzdem nicht beherrschte: Immer freundlich lächeln und zuvorkommend sein. Nutze die Dinge, die du über dein Gegenüber weist und binde sie in das Gespräch mit ein, um Interesse zu zeigen. Ob es schlau war, bei dieser Dame Interesse zu zeigen? Wohl kaum. Aber was sollte er sonst tun? Bevor er jedoch zu einem zittrigen Satz ansetzen konnte, zerschnitt die harsche Stimme die Stille, wie ein Peitschenhieb: „Klapp dein Maul zu, Prinzlein, sonst sabberst du auf meine Kissen.“ „I-ich bin kein Prinz…“, murmelte Koumei verschreckt. Immerhin hatte er auch mal etwas gesagt. Die Haremsdame lachte rau. „Ja, wie recht du hast, du bist eher ein kleines Prinzesschen. Bist du sicher, dass du schon sechzehn Sommer erlebt hast? Hat man dich vielleicht mit deinem älteren Bruder verwechselt, Süße? Wenn ja fände ich es gut, wenn ihr schleunigst die Plätze tauscht, ich habe nämlich nichts für Frauen übrig.“ Was redet sie da? Wie beleidigend. Er wusste, dass er vielleicht nicht grade kraftvoll, imposant oder außerordentlich männlich wirkte, aber als Prinzesschen hatte ihn noch nie jemand bezeichnet. Niemand würde es wagen einen Angehörigen der kaiserlichen Familie in seiner eigenen Residenz derart zu kränken, konnte dieses unvorsichtige Verhalten manchmal sogar Kriege provozieren. Für gewöhnlich konnte er mit Unverschämtheiten umgehen, schließlich hatte er einen Bruder namens Kouha, aber nicht wenn diese Worte aus dem Mund einer einfachen Haremsdame kamen.   Überrumpelt starrte Koumei auf die respektlose Frau, die genüsslich den Rauch inhalierte. Er roch so seltsam, vielleicht nach Rauschmitteln oder dergleichen? Opium? Dafür wirkte sie allerdings noch beängstigend wach und kontrolliert. Die Dame deutete mit einem Mal auf den kleinen Beistelltisch. Darauf standen zahlreiche kleine Schälchen mit verschiedenen Obstsorten und ihm unbekannten Süßigkeiten, zusätzlich noch zwei Karaffen, die eine mit einer weißen, dicken, die andere mit einer rot-braunen Flüssigkeit gefüllt. Daneben eine dampfende Teekanne. Fremdartige Getränke. „Darf ich dir etwas anbieten? Lassi mit Mangostückchen, Chai Tee oder Arrak [1]? Wenn ich dich so ansehe, wäre letzterer mit Sicherheit gut für dich. Alkohol entspannt schließlich die Nerven und so verschreckt, wie du mich die ganze Zeit anstarrst, kleine Prinzessin, würde dir das bestens bekommen. Oder lieber ein paar Früchte oder Barfi-Süßigkeiten [2]? Wobei, so wie du aussiehst, würde ich sagen, du hast heute schon mehr als genug zu dir genommen. Also, meine Liebe, kann ich dir mit diesem Angebot dennoch eine Freude machen?“ Zu schockiert von ihrer Unverschämtheit, um irgendetwas zu entgegnen, schüttelte Koumei den Kopf. Sie schnurrte: „Dann eben nicht. Meine Schuld ist es nicht, wenn du nichts anrührst. Hast ja sicherlich bereits eben tüchtig zugelangt. Wunderst du dich, warum du hier diese fremdländischen Spezialitäten angeboten bekommst?“ Ja, das tat er in der Tat, aber eigentlich wollte er nur fort von hier und nicht noch mehr gehässige Worte hören. Ein aufreizendes Kichern. „Die Antwort lautet Koutoku Ren. Dein Vater hegt eine Vorliebe für exotische Schönheiten, wusstest du das nicht? Deshalb bin ich schließlich hier und natürlich brauche ich ein paar Speisen aus meiner Heimat, um mich wohl zu fühlen in diesem traurigen Land. Vielleicht verwundert dich auch meine Kleidung, solch luftige Röcke gibt es bei euch Kou-Leuten ja erbärmlicher Weise nicht. Manche Sindrianer tragen so etwas und es ist das Beste, was man im Sommer anziehen kann.“ Wie um ihre Ansicht zu bestätigen, lüpfte sie den langen Rock, sodass noch mehr nackte Haut aufblitzte. Koumei stöhnte angeekelt. Welch ein schamloser Aufzug. Konnte dieser Alptraum nicht gleich zu Ende sein?   Die Frau grinste unverschämt und strich sich das lange Haar über die Schulter. Dann schien ihr etwas aufzufallen: „Ach, ich habe ganz vergessen mich vorzustellen. Wie unhöflich. Mein Name ist Kali. Willst du auch, kleine Prinzessin?“ Mit einer eleganten Bewegung hielt sie ihm ihre Pfeife hin. „N-nein danke“, stammelte er, immer noch schockiert. Nun, immerhin besaß sie den Anstand, sich vorzustellen, auch wenn er ihren Namen bereits von Koutoku erfahren hatte. „Wie heißt du? Nicht dass ich es nicht wüsste, aber es gehört sich, dass du es jetzt ebenfalls sagst, Süße.“ Diese elende Frau! Wie oft wollte sie ihn noch derart verspotten? Zu seiner Angst gesellte sich leiser Zorn, der ihn mit den Zähnen knirschen ließ. „Koumei Ren, ich bin weder Prinz noch Prinzessin, mein Vater ist lediglich der Bruder des Kaisers“, presste er erstaunlich flüssig hervor. Kali schnurrte anzüglich: „Sehr gut. Aber ja mein Kleiner, natürlich bist du weder das eine, noch das andere. Dachtest du wirklich, ich hielte dich für ein Mädchen? Glaub mir, dann hätte ich dich nie hereingerufen.“ „Ähm…nein das dachte ich nicht“, entgegnete Koumei verwirrt. „Dann ist ja gut, du scheinst schlauer zu sein, als du aussiehst. Allerdings… ich gebe zu, dass ich ein wenig enttäuscht von deiner Erscheinung bin, schließlich ist dein älterer Bruder so ein stattlicher Mann. Du bist… nun ja… ein niedliches Prinzesschen!“ Ihr undamenhaftes Grinsen ließ ihn innerlich grollen. Nie hatte jemand ihn derart unverschämt behandelt. Doch er war viel zu eingeschüchtert, um etwas Schlagfertiges zu entgegnen, was ihm ohnehin nicht lag. Unsicher wiegte er sich hin und her. Vielleicht sollte er gehen und seinem Vater berichten, was für eine schreckliche Dämonin er ihm da aufgehalst hatte. Sicherlich hatte dieser nicht gewusst, dass diese wunderschöne Frau in Wahrheit eine vulgäre Hexe darstellte. Aber dann würde Koutoku wieder ausrasten und ihn bestrafen…   Kali funkelte ihn aus ihren dunklen Augen an. „Du willst doch nicht etwa schon gehen, mein Koumei?“, säuselte sie leise. Schlagartig erfasste ihn eine unbehagliche Gänsehaut. Hatte sie seine Gedanken gelesen? Diese zarte Stimme klang viel gefährlicher, als der raue, pöbelhafte Ausdruck. „Was machen wir denn nun?“, erkundigte sie sich unverfänglich. Koumei antwortete nicht, er wollte nur noch weg von hier! „Soll ich dir ein paar Geschichten von mir und Kouen erzählen? Seine Gesellschaft ist immer sehr vergnüglich gewesen. Du könntest noch viel von ihm lernen, glaub mir“, schnarrte sie heimtückisch. Heiße Röte machte sich auf Koumeis Wangen breit. „N-nein danke“, wehrte er angewidert ab. Er wollte auf gar keinen Fall wissen, was sein älterer Bruder für Frauengeschichten am Laufen hatte, das war zu verstörend. Zudem konnte er nicht glauben, dass sich sein Bruder mit jemandem wie dieser Hexe abgab, da Kouen sich mehr für Geschichte, als für das weibliche Geschlecht zu interessieren schien. Sicher wollte sie ihn nur noch weiter reizen. Kali verzog ihre geschminkten Lippen zu einem Schmollmund und meinte: „Wie schade, Jungchen. Dann musst du mir wenigstens etwas über dich erzählen. Das einzige, was ich über dich in Erfahrung bringen konnte, waren winzige Details, sehr unglaubwürdige noch dazu, wenn ich dich jetzt so zitternd hier sitzen sehe. Diese hier hingegen sind sicherlich war: Man trug mir zu, du seist zu schwach und ungeschickt, um ein Schwert zu halten? Und von schwächlicher Konstitution, kaum aus dem Bett zu kriegen? Schläfst fast im Stehen ein? Ach mein Süßer, du musst eine wahre Enttäuschung für deine hochwohlgeborene Familie sein. Allerdings gibt es da etwas, das ich einfach nicht glauben kann, das musst du mir vielleicht erklären…“   Koumei versteifte sich automatisch. Nie würde er dieser Hexe auch nur irgendetwas erzählen! Aber sie hörte sich offensichtlich selbst am liebsten reden, denn sie gurrte beinahe sanft: „Man sagte mir oft, du sollst ungewöhnlich gut zu Vögeln sein, ist das wahr, mein Koumei? Ich kann es mir kaum vorstellen…“  „Ja, das stimmt“, entgegnete er sofort, froh ein unverfängliches Thema vor sich liegen zu haben. Über Vögel, besonders über Tauben, konnte er sich gut unterhalten. Doch als er Kalis boshaftes Kichern vernahm, weiteten sich seine Augen vor Schreck. Dann brach sie in heilloses Gelächter aus, welches ihren gesamten Körper schüttelte. Dieses schadenfrohe Grinsen kannte er doch irgendwoher… Bloß von wem? Egal, für solche Gedanken blieb ihm nun keine Zeit. Wie konnte er nur auf diesen alten, jämmerlichen Trick hereinfallen? Die Frau hatte sichtlich ihren Spaß an seiner Antwort. „Das ist überraschend. Wollen wir es einmal versuchen? Wenn ich es nicht selbst erlebt habe, kann ich es einfach nicht glauben“, zwitscherte sie genießerisch. Die Dame legte ihre Pfeife beiseite und erhob sich unter rasselnden Schmucksteinen, wobei sie so bedrohlich lächelte, wie eine Rachegöttin.    „N-nein danke“, stammelte er und wollte aufspringen, doch sein „Geschenk“ ließ sich bereits auf seinen Schoß fallen und sah ihm brennend ins Gesicht. Das lange schwarze Haar hing bis auf den Boden herab. Sie war überraschend klein und zierlich, er musste größer als sie sein. Trotzdem fühlte er sich eingeengt und angegriffen durch diese unfreiwillige Nähe. Und eine Frau konnte er auch nicht einfach von sich fortstoßen, das wäre unhöflich. Allerdings war das hier eine Ausnahme. Alleine schon ihr penetranter Geruch nach dem Zeug, das sie fortwährend rauchte und nach exotischen Gewürzen, die er nicht bestimmen konnte, vielleicht Kreuzkümmel und Jasmin, ließen ihn furchtsam erzittern. „Du musst nicht gleich zu Väterchen laufen, entspann dich, Jungchen“, befahl Kali herrisch und Koumei spürte ihre kühlen Hände an seinen Wangen. Er war wie erstarrt, während in seinem Geist die Gedanken miteinander rangen, einer panischer, als der andere. Das durfte doch nicht sein. Sie sollte von ihm herunter gehen, sofort! Ihn loslassen! Die Panik wurde immer schlimmer. Kali krallte ihre langen Nägel in seine unreine Haut. Es war unangenehm. „Mh, näherbetrachtet bist du wirklich hässlich, deine Nase sieht aus wie aufgesprungener Wüstenboden, da täuscht auch die Schminke nicht drüber hinweg. Und was ist mit deiner Stirn passiert? Bist du gegen eine Wand gelaufen?“ Wenn sie mich so hässlich findet, soll sie endlich verschwinden!, dachte Koumei verzweifelt. „Aber… du hast schöne Augen. Schöne Farbe, schöne Form, schöne Wimpern, die hätte ich ebenfalls gerne, auch wenn ich auf den erbärmlichen Rest dankend verzichten würde. Aber was ist, wollen wir einmal schauen, ob du nicht vielleicht doch ein Prinzesschen bist?“, fuhr sie ungehobelt fort. Wie konnten aus dem Mund einer einzigen Person in so kurzen Abständen so viele dreckige Sätze dringen? Koumei schluckte hilflos. Aus dieser Situation schien es kein Entrinnen zu geben.   „Nur nicht so schüchtern“, säuselte die Frau mit vorgetäuschtem Verständnis. Er brachte keinen einzigen Ton hervor. Kali schien sich königlich über seine Verklemmtheit zu amüsieren. Auch wenn sie nun nicht mehr derart teuflisch grinste, lag ununterbrochen dieses scharfe Lächeln auf ihren Lippen. Wie ein Messer, an dem man sich böse schneiden konnte. Sie hatte mehr von einem Dämon oder einem Dschinn an sich, als von einem Menschen. Scheinbar erahnte sie seinen Gedankengang, denn sie meinte: „Keine Sorge, ich bin keine übernatürliche Erscheinung oder gar eine Hexe, sondern lediglich eine ehemalige Spionin für einen gewissen Staat namens Sindria samt seinem putzigen kleinen König Sindbad. Sag, mein Süßer, hast du bereits von diesem kleinen Reich gehört?“ Entsetzt starrte Koumei sie an. Das erklärte ihre exotische Kleidung nun wirklich, auch wenn sie bereits eben auf Sindria angespielt hatte, realisierte er das erst jetzt. Aber das konnte doch nicht ihr Ernst sein! In der Tat hatte er in den vergangenen Jahren ein paar Geschichten über das noch sehr junge, machtvoll aufstrebende Land und seinen Herrscher zu Ohren bekommen. Aber wie konnte sein Vater eine Spionin eines fremden Staates in seiner Nähe dulden? Wollte sich diese selbstverliebte Frau lediglich aufspielen oder sprach Wahrheit aus ihren Worten? „Jetzt fall nicht gleich in Ohnmacht, wie gesagt, das gehört längst der Vergangenheit an. Bedauerlicherweise haben eure Wachen mich nämlich eines Tages bei einem meiner Aufträge in Kou erwischt. Nun, statt mich dem Tod zu übergeben, hat man mich hier aufgenommen, da dein Vater wohl Gefallen an mir gefunden hat. Außerdem konnte ich ihm viele Dinge über so einige andere Länder verraten, die euch in ein paar Schlachten bereits zu Gute gekommen sind. Frag deinen Onkel Kaiser. Und nun ja, falls jemand Interesse an ein paar neuen Informationen, zum Beispiel aus Sindria hätte…“, sie lächelte ihm verschwörerisch zu, „würde ich selbstverständlich meine Fähigkeiten in eure Dienste stellen, als Dank für mein Leben. Du könntest mir Befehle erteilen, hättest du nicht Freude daran, mein Koumei? Ich könnte auch jeden Menschen beobachten, den du mir nennst. Ganz egal, wen du beschatten lassen möchtest, ich werde ihn so unauffällig verfolgen, dass ich dir seine dunkelsten Geheimnisse verraten könnte! Falls du jemanden unauffällig loswerden musst, könnte ich dir da auch behilflich sein. Du kannst dich auch bei deinem Bruder erkundigen, ob ich meine Aufträge zufriedenstellend ausführe…“   Koumei konnte immer noch nicht glauben, dass das, was sie ihm da auf die Nase band, stimmte. Selbst, dass sein Vater Gefallen an solch einem losen Mundwerk finden könnte, wirkte auf ihn wie eine dreiste Lüge. Sicherlich war Koutoku nicht sonderlich wählerisch, doch er hasste Widerworte sowie Unverschämtheiten. Und Kouen würde ganz sicher nicht irgendwelche Leute beschatten lassen, oder täuschte er sich in seinem Bruder? Immerhin zog dieser bereits mit Hakutoku und seinen Cousins in den Krieg. Falls es allerdings die Wahrheit war, würde es bedeuten, dass Kali wirklich so gefährlich war, wie sie ihm erschien. Dann durfte er ihr noch weniger trauen, als er es ohnehin schon tat. Vor allem durfte er ihr nichts erzählen, was ihn später in Schwierigkeiten bringen konnte, nicht dass er gesprächig wäre oder plante, mit ihr eine längere Diskussion zu führen, wo sie ihn doch durch ihre bloße Anwesenheit einschüchterte. Nein, ihre Dienste, ganz egal welcher Art, wollte er nicht annehmen, wahrscheinlich wartete sie nur auf eine Gelegenheit, für immer aus Kou zu verschwinden, um ihrem König die brisantesten Neuigkeiten mitzuteilen. Diese Dämonin war sich wohl für nichts zu schade. Mit solchen Menschen wollte er nichts zu tun haben. Schließlich hatte er es nicht nötig, irgendjemandem nachzuspionieren. Oder?   Plötzlich drückte Kali sich an ihn. Ihr drahtiger Körper schien nur aus sehnigen Muskeln zu bestehen. „Brauchst du noch ein wenig Bedenkzeit, bevor du auf mein reizvolles Angebot eingehst?“, fragte sie. „Ähm… ich möchte gar nichts von…“ „Ja ja, mein Kleiner, dir fällt bestimmt bald etwas ein, wofür du mich einspannen kannst, nicht wahr?“ Ihr Blick wurde noch drohender als zuvor. Braune Augen, wie schlammige Tümpel, die keinen Grund besaßen und ihn verschlingen würden. Was sollte er nun sagen? „Mh… vielleicht?“, entgegnete er zaghaft. Die Haremsdame nickte zustimmend und tätschelte ihm die Wangen. Mit einem Mal schienen ihre Fingerspitzen zu glühen, ebenso ihr unbedeckter Bauch. Wenn er das durch seine Gewänder spürte, musste es wirklich so sein. „Ach mein Süßer, du brauchst nicht gleich rot zu werden, nur weil ich dir ein wenig näher gekommen bin. Ein erwachsener Mann sollte mit so etwas leicht fertig werden“, tadelte Kali. Dann schnalzte sie skeptisch: „Auch wenn du immer noch aussiehst, wie ein dreizehnjähriges Mädchen. Mich würde interessieren, ob deine Haut auch außerhalb deines Gesichtes so kaputt ist. Wollen wir einmal nachschauen?“ Koumei verengte die Augen. Er wusste mit aller Sicherheit, dass dem nicht so war, weder die Sache mit dem kleinmädchenhaften Aussehen, noch mit seiner Haut. Er musste ganz sicher nicht nachschauen. Diese elende… Auf einmal glitt ihre Hand zwischen seine Gewänder. Er versteinerte. Kali fand durch die zahlreichen Stoffschichten, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan, als irgendwelchen Männern die festlichen Kleider vom Leib zu reißen. Vielleicht stimmte ihre Geschichte mit der Spioninnensache tatsächlich. Wer konnte schon sagen, was sie nicht alles für Dinge getan hatte, um an Informationen zu gelangen? Ihm wurde schlecht bei dem bloßen Gedanken. So zupfte sie auch flink an den Bändern, die das ganze Ensemble zusammenhielten und kicherte dämonisch, als Koumei hektisch versuchte, sie daran zu hindern. „Meine Güte, stell dich nicht so an. Du darfst dich lieber über meine Anwesenheit freuen.“ „Hör auf“, murmelte er zaudernd. Doch statt zu gehorchen, kratzten ihre langen Nägel provozierend über seine Brust. Erschrocken packte er die viel zu frechen Handgelenke. „Fass mich nicht an!“, fauchte er und warf den letzten Rest seiner Selbstbeherrschung, sowie seiner Scheu vor lauten Worten fort. Nur leider nutzte selbst das nichts. Die Dämonin stemmte die Hände in die Hüften. „Was ist so schwer daran, dich einfach zu entspannen und mich machen zu lassen? Jeder andere, würde es kaum abwarten können“, nörgelte Kali offensichtlich beleidigt. Ihre Augen funkelten wie schlammiges Wasser. Dann blitzte etwas Finsteres in ihrem Gesicht auf. Koumei schauderte bang. Sie ähnelte wirklich einem Dämon. Wieder suchte sie nach einem Weg, den Stoff zu umgehen, doch dieses Mal sollte sie gar nicht erst damit in Kontakt kommen.   Koumei stieß sie mit aller Macht von sich. Rasselnder Schmuck und scheppernde Teller begleiteten ihren Sturz mitten auf den kleinen Tisch. Es gab einen unschönen Laut, als sie zuerst mit dem Rücken, dann mit dem Hinterkopf auf der Platte aufschlug. Das Essen, welches sich darauf befunden hatte, flog ungehindert durch den Raum. Eine Kerze fiel herunter und wäre sie nicht genau vor Koumeis Füßen zum Liegen gekommen, hätte es wohl einen Großbrand gegeben. Hektisch trat er die schnell heraufzüngelnden Flammen aus und schaute nervös zu Kali. Trauben und Kirschen rollten wild umher, während hilflose Erdbeeren, sowie feines Gebäck unter ihrem Gewicht zerquetscht wurden. Heißer Tee spitzte aus der zerbrochenen Kanne, löschte die verbliebenen Kerzen und vermischte sich schlierenartig mit dem weißen Lassi. „Ah! Heiß! Das brennt!“, kreischte Kali und schoss in die Höhe. Koumei sprang angstvoll auf. Verstört von seiner eigenen Handlung, betrachtete er die zeternde Frau. Hoffentlich hatte sie sich nicht an dem Tee verbrüht, den Schädel gebrochen oder an den Scherben geschnitten, das konnte gefährlich sein. In böser Erwartung beobachtete er ihre zappelnden Bewegungen. Dann hielt sie plötzlich still und er atmete erleichtert aus. Immerhin, bis auf ein paar Kratzer, eine Abschürfung am Rücken, sowie zahlreiche Erdbeer- und Lassiflecken schien sie unversehrt. Grollend krümmte sie ihren lädierten Rücken und presste die Hände gegen den Kopf. „Mein Steißbein… au… mein Schädel“, stöhnte sie. Koumei horchte alarmiert auf. „I-ist dir etwas passiert? Ist dir vielleicht schlecht?“, verlangte er zu wissen. „Das fragst du noch? Mein verfluchter Arsch schmerzt, als würde er gleich abfallen! Und in meinem Schädel dreht sich alles! Wenn du nicht der Neffe des Kaisers wärst, würde ich dich jetzt umbringen, Junge!“, keifte sie, entfernte sich jedoch sicherheitshalber einige Schritte von ihm. Die langen Haare schleiften durch das zermatschte Obst und brachten sie beinahe erneut zu Fall. Humpelnd stützte sie die Hände in die Seiten. „Ah… was hast du dir nur dabei gedacht, du Vollidiot!“ „Ich habe dich gewarnt“, verteidigte sich Koumei kleinlaut. „Erzähl das irgendeiner anderen Dirne, hässlicher Zottel!“, spie sie aus, ehe sie sich unter gequälten Lauten auf den Diwan fallen ließ, wo sie sich zu einer traurigen Gestalt zusammenkrümmte. Trotzdem verlor sie nichts von ihrer Bedrohlichkeit. „Das wird ein Nachspiel haben! Ich werde deinem Vater alles erzählen und dann hast du ein Problem, du weibischer, kleiner Mistkerl!“, drohte sie zähneknirschend. „Erst dieser Tritt und jetzt das hier! Sei froh, dass mein Kopf nicht aufgeplatzt ist! Wie kannst du es nur wagen, mich derart respektlos zu behandeln? Und warum stehst du eigentlich so dämlich hier rum?“ Das mit dem ‚respektlos‘ hätte sie lieber sich selbst fragen sollen. Doch der Rothaarige zwang sich die Beleidigungen zu ignorieren. „B-Brauchst du irgendetwas? Es t-tut mir leid…“, stammelte er befangen. „RAUS!“, blaffte Kali da. „Aber…“ „VERSCHWINDE! Oder ich bring dich doch noch um!“, brüllte sie in derartiger Lautstärke, dass unterdessen mit Sicherheit jede Bewohnerin dieses Hauses bemerkt hatte, dass hier irgendetwas gehörig schief gelaufen war.   Beklommen schlich Koumei zur Tür hinaus. Eigentlich war das genau das, was er wollte, doch dieses Gekeife beschämte ihn. Außerdem würde sein Vater sehr wütend auf ihn sein. Sehr, sehr, sehr, sehr wütend. Er würde sich nicht auf zorniges Brüllen beschränken, sondern in beängstigende Raserei verfallen. Die Haremsdame würde seinem Vater gewiss von seiner groben Verteidigungsmaßnahme erzählen. Koumei zitterte alleine bei der Vorstellung daran. Ob er ihm nach Kalis, mit Sicherheit maßlos übertriebenen Bericht, erzählen sollte, wie sehr sie ihn gekränkt hatte? Eine derartige Hexe gehörte nicht hierher, sie ähnelte keiner Frau, die er kannte. Nein, seine Schwestern mochten mal mehr, mal weniger speziell sein, - schließlich zeigten auch seine Brüder einige absonderliche Verhaltensweisen - aber sie verhielten sich kein bisschen anzüglich, unverschämt oder vulgär. Seine kleine, elfjährige Cousine Hakuei mochte er sogar wirklich gerne, sie verfügte über ein angenehmes Wesen und neben Hakuren und seinen Brüdern konnte er sich am besten mit ihr unterhalten. Auch wenn sie noch sehr jung war, zeigte sich bereits jetzt, dass sie ihrem Land zukünftig großen Nutzen bringen würde. Auch mit den Dienerinnen arrangierte er sich. Aber diese Kali war einfach nur furchtbar, doch wenn Koutoku sie dermaßen schätzte, würde er nicht leicht von ihrer Schrecklichkeit zu überzeugen sein... Nicht, dass Koumei generell große Überzeugungskraft besaß… Er hatte ein Problem. Ein riesiges, unermessliches Problem. Er hätte in Tränen ausbrechen können. Dieser Tag war so unerträglich, dass er am liebsten im Boden versunken wäre. Da dies wohl nicht funktionieren würde, eilte er so zügig wie möglich dem Ausgang entgegen. Seine Schritte wurden vom dicken Teppichboden verschluckt. Auf dem Flur bemerkte er die neugierigen Blicke der anderen Frauen und hörte bereits emsiges Getuschel. Krampfhaft umklammerte er die viel zu lockeren und zerknitterten Gewänder. Es wollte ihm einfach nicht gelingen, die kompliziert geschnürte Robe wieder ordentlich anzuziehen. Was mochten sie nun von ihm denken? Schnell wankte er an ihnen vorbei und war maßlos erleichtert, als hinter ihm die hohen Torflügel mit einem lauten Knall ins Schloss fielen.   *   *~* Kapitel 17: Überraschung ------------------------   *~*   * Vollkommen erschöpft stolperte Koumei durch die unendlich langen, nächtlichen Gänge der Residenz in seine Gemächer. Dieser schreckliche Tag… endlich vorbei. Sein Rücken schmerzte wie bei einem alten Greis, da er die letzten beiden Stunden zusammengekrümmt in einer engen Wandnische verbracht hatte. Wann immer Schritte sich genähert hatten, war er zusammengezuckt, in ängstlicher Erwartung entdeckt zu werden. Aber nun musste seine Zeit bei der Haremsdame abgeleistet sein und er konnte ohne schlechtes Gewissen in seine eigenen Räumlichkeiten zurückkehren. Vorerst würde niemand seinen Ungehorsam bemerken. Welch ein furchtbarer Geburtstag. Stöhnend ließ er sich auf sein Bett fallen. Die herrlich weichen Kissen trösteten ihn ein wenig. Am liebsten wäre er nun an Ort und Stelle eingeschlafen und hätte alles vergessen. Doch er trug immer noch diesen furchtbaren Haarknoten, der seine Kopfhaut höllisch brennen ließ. Angestrengt versuchte er, die Nadeln zu entfernen. Erfolglos. Diese schrecklichen Folterinstrumente saßen viel zu fest. Verdammt, er hätte den Dienerinnen, die ihn vorhin verzweifelt gesucht hatten, nicht entfliehen sollen. Alleine kam er aus dem ganzen Zeug nie wieder heraus. Er jammerte unterdrückt, so unangenehm ziepte seine Haut. Dieser Geburtstag war der schlimmste von allen gewesen. Alleine schon wegen dieser dämonischen Kali, die ihm bestimmt noch Schwierigkeiten bereiten würde. Außerdem all dieser festliche Quatsch am Mittag. Wieso mussten sie nur immer eine solche Feier veranstalten? Dabei war der einzige, dessen Glückwunsch ihm heute wirklich etwas bedeutet hätte, wie vom Erdboden verschluckt. Unauffindbar. Ob er plötzlich zurück nach Rakushou hatte reisen müssen? Er vermisste Hakuren jetzt schon. Dabei hatten sie sich zum letzten Mal gestern, bei ihrem Treffen unter den Dornenbüschen, gesehen. Ach, er fühlte sich so elend. Seine Armbänder klirrten zustimmend. Vielleicht hatte der Prinz einfach keine Lust ihm zu gratulieren. Wohlmöglich hatte er endlich gemerkt, dass Koumei nur ein verlotterter, hässlicher Zottel war. Der Zuneigung eines Kaiserssohns nicht würdig. Oh, wie sehr diese Gedanken schmerzten. Ja, am liebsten hätte er sich in seinem Bett verkrochen und wäre nie wieder aufgestanden. Eine vereinzelte Träne rann aus seinem Augenwinkel. Leises Wimmern drang aus seiner Kehle. Er fühlte sich so einsam und verlassen. Plötzlich ertönte ein kaum vernehmbares Klopfen an der Tür. Ein irrationaler Gedanke schoss durch seinen Geist: Ist das Vater? Erschrocken fuhr der Rothaarige auf. Stieg fahrig aus dem Bett und schlich mit hängendem Kopf hinüber zur Tür. Als er sie öffnete und auf den schwach beleuchteten Flur spähte, erstarrte er überrascht. „Alles Gute zum Geburtstag, Mei.“ Dann verwandelte sich seine ungläubige Miene in ein vorsichtiges Lächeln. Eine zarte Berührung ihrer Lippen und schon schlüpfte der zweite Prinz an ihm vorbei in das nächtliche Zimmer. „H-Hakuren?“, murmelte Koumei verwirrt und sein Herz hüpfte auf und ab vor Freude. Sogleich fand er sich in einer warmen Umarmung wieder. „Ist alles in Ordnung mit dir? Du klingst so aufgewühlt“, flüsterte eine besorgte Stimme in sein Ohr. „Mmh…“, war die einzige Antwort. Normalerweise hätte sich der andere an dieser vagen Entgegnung gestört, doch nun schien er sie kaum zu registrieren. Hakuren wirkte seltsam angespannt und gehetzt, wie er sich immer wieder hektisch umschaute. Als ob er einen unsichtbaren Verfolger suchte. Ein wenig außer Atem begann er, sich schließlich etwas zu entspannen. „Es tut mir so leid, dass ich heute nicht da war, Mutter hat mich kurzfristig nach Hause beordert. Eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein, aber ich musste dir auf jeden Fall noch gratulieren!“, meinte er aufgebracht. Er hatte nur wegen ihm den ganzen Weg aus dem Palast in der Hauptstadt bis hierher auf sich genommen? Dabei lag das Anwesen, welches damals ein Zweitwohnsitz der kaiserlichen Familie gewesen war, nun allerdings dem jüngeren Bruder gehörte, doch auf dem Land und ein wenig abgelegen. Wie ungewöhnlich. Koumei errötete. Aber in dem sternenlichtdurchfluteten Raum, ließ sich dies nicht erkennen. Dann jedoch stürzte er in ein bodenloses Loch. Taumelte. Als hätte ihm jemand ins Gesicht geschlagen. Er hatte gewusst, dass sich ihre Wege bald für ungewisse Zeit trennen würden, aber jetzt schon? So früh? Er hatte gedacht, dass ihnen wenigstens noch ein paar Tage vergönnt wären. Angstvoll blickte er zu dem anderen auf. Dieser bemerkte es nicht einmal, wirkte aufgewühlt und unruhig. „Wann genau ist deine Hochzeit?“, stieß er heiser hervor. „In drei Wochen“, erwiderte Hakuren. Koumei blickte ihn entsetzt an. So bald schon? „N-nein…“, flüsterte er. Doch sein Freund kümmerte sich nicht darum. „Komm, wir gehen raus, drinnen ist es viel zu warm“, beschloss der Ältere und zog ihn hinter sich her. Er ergriff eine kleine Kerze, die schlafend auf Koumeis Nachttischchen wachte, stieß die Türen, welche auf die Terrasse führten, so sachte wie möglich auf und geleitete seinen Cousin ins Freie. Draußen herrschte eine erfrischende Temperatur. Wie für einen Spätsommer im Kou Reich üblich. Wirklich besser, als in dem stickigen Schlafzimmer. Abertausende Sterne funkelten am tiefschwarzen Firmament. Sogleich verbanden sich die einzelnen Lichtpunkte vor Koumeis Augen zu vollständigen Sternbildern. Begeistert fixierte er den Himmel und hörte in seinem Kopf die fremdartigen Namen der magisch erscheinenden Gebilde. Erst Hakurens sanfte Worte holten ihn in die Gegenwart und auf die Erde zurück: „Du siehst nicht sehr glücklich aus, dafür dass heute dein Geburtstag ist. Was ist denn passiert?“ Die Unruhe verschwand aus seiner Körperhaltung und wandelte sich in leise Besorgnis. Der Jüngere wollte nicht antworten, aber Hakuren ließ nicht locker. Entzündete die Kerze. Schweigend. Er konnte warten. Koumei druckste ein wenig herum. Das Antlitz erhellt vom flackernden Flammenschein. „Ach…ich mag diese großen Feste nicht. Vor allem wenn ich im Mittelpunkt der Feierlichkeiten stehe. Das ist so…unangenehm. Diese Augen, die einen aus allen Richtungen anstarren…“ „Ist das wirklich der Grund?“, fragte Hakuren ein wenig erstaunt. Ihm behagte es sehr, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Auch wenn er wusste, dass es nicht allen Leuten so ging, konnte er das nicht besonders gut nachvollziehen, schließlich wollte er eines Tages Kaiser werden, auch wenn sein älterer Bruder das Amt erben würde. Koumei zögerte verbissen. Sollte er es ihm sagen? Dass sein furchtbarer Geburtstag nicht den einzigen Grund für seinen aufgelösten Zustand darstellte? Dass er sich nun vor dem nächsten Morgen fürchtete, an dem er ohne hin hier zurückbleiben und in den erstickenden Papierbergen versinken würde? Ihm gestehen, dass er ihn, wirklich nur ihn, den ganzen Tag so verzweifelt herbeigewünscht hatte? Ihn anflehen, für immer bei ihm zu bleiben oder zumindest mit in den kaiserlichen Palast ziehen zu dürfen? Nein, das wäre nicht gerecht. Hakuren hatte eine unermesslich wichtige Pflicht zu erfüllen. Wichtiger als irgendwelche lächerlichen Gefühle. Koumeis eigene Wünsche spielten da keine Rolle. Sie würden nur das Leben seines Freundes zerstören. Also sagte er gar nichts. Stattdessen krallte er verzweifelt die Finger in die Kleidung des anderen, wie um ihn für immer fest zu halten. „Koumei…“, murmelte dieser bekümmert. Dann erst bemerkte er die strenge formelle Kleidung des Jüngeren, in der dieser sich sichtlich unwohl fühlte. „Setz dich doch mal hin, dann löse ich dir die Haare“, schlug er fürsorglich vor. Koumei tat wie geheißen. Erschöpft ließ er sich auf die knarzenden Holzdielen fallen und lehnte sich seufzend gegen die Oberschenkel Hakurens, als dieser sich hinter ihn kniete. „Ich warne dich vor, danach hast du kein einzelnes Haar mehr auf dem Kopf“, scherzte der Prinz. Schon begann er behutsam, aber ziemlich ungeschickt, die feinen Nadeln, eine nach der anderen, aus den roten Zotteln zu ziehen. So hochkonzentriert, dass er nicht einmal mehr über alles Mögliche schwatzte. Koumei schloss müde die Augen. Es tat dermaßen gut, endlich mit seinem geliebten Hakuren zusammen zu sein. Das war alles, was er sich die ganze Zeit über gewünscht hatte. Auch wenn selbst dessen vorsichtige Finger ihn nicht vor den höllischen Schmerzen in seiner Kopfhaut bewahren konnten, als die gewaltsam hochgesteckten Haare nach und nach zurück in ihre natürliche Position fielen. Er konnte ein paar Tränen nicht unterdrücken, doch in dieser Nacht erkannte es niemand. Trotzdem genoss er es, an Hakuren gelehnt dazusitzen und die Sterne zu beobachten. Irgendwann begann er, ihm die Namen aller Sternbilder, die er kannte aufzuzählen. Darüber vergaß er das unangenehme Ziepen und schien den anderen durch sein Wissen schwer zu beeindrucken. Schließlich rutschte die letzte Strähne vor seine Augen und er spürte einen langen Kuss in seinem Nacken. „Fertig. Fühlst du dich besser? Du siehst auf jeden Fall wieder so aus, wie du“, befand Hakuren und strich ihm sanft über den Rücken. „Danke“, erwiderte Koumei nur. Doch es kam aus vollem Herzen. Auch wenn sich seine Kopfhaut noch immer anfühlte, als hätte Kouha sie mit seinem kleinen Messer bearbeitet. Hakuren streckte sich gähnend. „Wieso erzählst du mir nicht ein bisschen von deinem Tag, Mei? Das könnte ich echt gut gebrauchen. Meiner war nicht grade großartig, wie du dir sicher vorstellen kannst.“ Der Kleinere überlegte angestrengt, was er dem anderen schönes von der Feier berichten konnte, doch ihm fiel überhaupt nichts Positives ein. Nach einer Weile des Schweigens meinte Hakuren: „Du bist heute noch stiller als sonst. Irgendetwas betrübt dich, ich wünschte, du würdest mir verraten, was. Es ist wirklich deprimierend, dich so zu sehen.“ Keine Antwort. Also zog der Schwarzhaarige Koumei fester in seine so behaglichen Arme und griff zur Bestechung: „ Du kannst mir für den Anfang aber auch nur erzählen, was du alles geschenkt bekommen hast. Dann gebe ich dir auch etwas! Sechzehn ist ein guter Geburtstag für schöne Geschenke. Du bist noch jung genug, dass sie dir viel hinterherwerfen aber auch so erwachsen, um  wirklich tolle Sachen zu bekommen. War zumindest bei mir so. Jetzt bekomme ich nur noch eine Hochzeit…“ Bei seinem letzten Wort verzog er angewidert das Gesicht. Koumei zuckte bei ihrer Erwähnung zusammen. Beinahe hatte er sie verdrängt und nun spukte ihr drohender Schatten wieder wie wild in seinem Geist herum. „Tut mir leid, Mei. Wir wollen heute Abend an etwas Schöneres denken, also los!“ Der Angesprochene errötete wieder. Eigentlich wollte er jetzt erst recht nicht über seine Geschenke reden, die ihm überhaupt nicht zusagten, sondern den Tag abschließen und vergessen. Eine weitere überstandene Unannehmlichkeit. Doch wenn Hakuren, den er heute wahrscheinlich das letzte Mal so nahe bei sich haben würde, so versessen darauf war… „Nun… sie haben mir schöne Kleidung geschenkt. Viel zu viel unnützes Zeug. Schmuck, ein paar neue Tauben, einen edlen Zaum für mein Pferd, natürlich schlaue Bücher in Hülle und Fülle…“, er verstummte peinlich berührt. „Klingt doch gut?“ „ … und eine Frau …“, kam es kläglich hinterher. „Ach?“ Hakuren grinste: „Da war dein Vater aber wirklich sehr großzügig. Nun ja, Frauen hat er schließlich auch genug. Ich wundere mich immer wieder, weshalb mein Vater nur Mutter und keinerlei Nebenfrauen hat. Das ist unüblich für einen Kaiser.“ Koumei hatte sich eine andere Reaktion von ihm erhofft. Kümmerte es ihn denn gar nicht? War er nicht eifersüchtig? Er selbst wäre es gewesen. „Ich will sie aber nicht!“, stieß er verstört hervor und klammerte sich beinahe ängstlich an Hakurens Ärmel, wobei er immer tiefer rutschte. „Ich weiß überhaupt nicht, was ich mit ihr anfangen soll und ich will sie auch überhaupt niemals wiedersehen, ich bin ja schon froh, dass sie mich nicht angerührt hat!“ Zumindest hat sie es nicht mehr geschafft. Der Prinz konnte ein belustigtes Schnauben nicht unterdrücken. „Du bist wirklich ein seltsamer Kerl, Mei. Wenn du sie erst einmal nur besuchst, wird dir schon nichts Schlimmes geschehen. Vielleicht findest du sie dann später sogar recht anziehend, wer weiß vielleicht hat sie mehr Angst vor dir, als du vor ihr?“, versuchte er ihn dann zu beruhigen. Koumei erschauderte angewidert. Kali? Sie war eine Dämonin, das bedrohlichste Wesen, welches er neben seinem Vater je in diesem Palast antreffen konnte. Vulgär, anzüglich, respektlos. Vollkommen unbeeindruckt von ihm, ganz anders als man es von einer liebenswerten Frau erwartete. Und sie hatte ihn tobend aus ihren Gemächern verbannt. Wieso duldete Koutoku solch eine Hexe in seinem Harem? Und wieso kümmerte es Hakuren nicht? Wollte er ihn loswerden? „Ich will aber nicht irgendeine Haremsdame von meinem Vater, die ich gar nicht kenne oder sonst irgendjemanden, Ren, ich will dich!“, jaulte er entsetzt. Überrascht von diesem plötzlichen Ausbruch, starrte der andere ihn an. „Nun ja… ich weiß.“ Koumei, dessen Kopf nun in seinem Schoß ruhte, blickte verlegen zu ihm auf. „Ist das schlecht? Gefällt dir das nicht mehr? Denkst du eigentlich, ich sehe meinen Schwestern zu ähnlich?“ Nun war ausnahmsweise der Prinz überfordert. Vorsichtig strich er ihm die roten Zotteln aus dem Gesicht. „Ach…weißt du, Mei… das kommt immer auf den Betrachter an. Unsere Väter fänden das sicher schlecht. Ich allerdings… habe natürlich kein Problem damit. Im Gegenteil.  Und natürlich siehst du deinen Schwestern ähnlich.“ „Oh…“, murmelte Koumei geknickt, sah er in Hakurens letztem Satz die beleidigenden Worte Kalis bestätigt. Der Prinz grinste plötzlich schalkhaft. „Das heißt nicht, dass du wie ein Mädchen anmutest, aber die familiäre Ähnlichkeit ist unverkennbar.“ Dieser Satz erleichterte den Rothaarigen ungemein. Angesteckt von Hakurens Grimasse kicherte er, wie er es das letzte Mal als kleiner Junge getan hatte, wofür er einen überraschten Seitenblick seines Geliebten erntete. Sollte er sich damit abfinden, dass er auch einmal über etwas lachen wollte. „So, nun kommt mein Geschenk!“, beschloss Hakuren und zauberte aus heiterem Himmel ein recht großes Päckchen hervor, das er auf Koumeis Brust fallen ließ. Dabei verlangte es diesen nicht nach noch einer unnötigen Gabe. Die Anwesenheit seines Geliebten reichte ihm vollkommen aus. Dann landete das Paket auf seinem Bauch. Überrascht verstummte er. Es war ziemlich schwer. „Was ist das, Ren?“, fragte er, schlagartig neugierig. Was sollte sein Cousin ihm schon schenken? Er besaß sicher kaum etwas passendes, über das er frei verfügen konnte. „Mach es schon auf!“, drängte dieser. Gespannt löste der Rothaarige das grobe Packpapier. Heraus schälte sich etwas Glänzendes. Goldenes. Dann berührten seine Hände etwas herrlich Weiches. Federn! Verblüfft zog er einen schwarzgefiederten Fächer aus dem Päckchen hervor. Der Griff bestand aus purem Gold mit einem eingelassenen Rubin in der Mitte. Das Funkeln des Edelmetalls ließ die Federn umso dunkler wirken. Sie schienen das Licht zu verschlucken.  „Oh… danke schön…“, wisperte er so angetan, wie möglich. Was sollte er denn mit einem Fächer anfangen? Sicher, er sah wirklich teuer, wertvoll und wunderschön aus, aber der Sinn dahinter offenbarte sich ihm nicht. Der Ältere ließ sich allerdings nicht lange um eine Erklärung bitten: „Ich dachte, ich schenke dir einen Fächer, weil Hakuei auch immer einen benutzt, wenn ihr zu warm ist. Du beklagst dich doch im Sommer immer darüber, dass du geröstet wirst. Außerdem war er so teuer, dass Mutter ausrasten wird, wenn sie es herausfindet, dass ich ihn dir geschenkt habe. Das allein freut mich schon. Egal, ich fand, er passt zu dir, schließlich hängst du so sehr an deinen Vögeln. Ach und der Edelstein hat die gleiche Farbe, wie dein Haar. Und wie gesagt, du kannst Hitze nicht leiden. Jetzt wird sie dir nicht mehr so viele Probleme bereiten. Glaub mir, dieses Ding funktioniert bestens!“ Mit diesen Worten nahm er dem verwirrten Koumei den Fächer ab und wedelte ihm damit etwas Luft zu. Tatsächlich, er tat, was seine Aufgabe war. Unglaublich… Eigentlich mochte Koumei es lieber, wenn man die Federn der Vögel an ihren Flügeln beließ. Aber immerhin hübsch, dieses Ding. Also passte es eigentlich nicht zu ihm, aber das war ihm egal. Er gab sich Mühe, ein wenig Begeisterung zum Ausdruck zu bringen, aber Emotionen zu zeigen, besonders falsche, fiel ihm oftmals so schrecklich schwer. Egal. Für ihn zählte heute Abend ohnehin nur Hakurens, alles andere betäubende, Anwesenheit. Dieser legte den Fächer beiseite. Natürlich vorsichtig auf das Packpapier, auf welchem unterdessen auch die Haarnadeln einen Platz gefunden hatten. Auch er erkannte, dass der andere mehr an ihm, als an seinem Geschenk interessiert war. Eigentlich erfreulich. Auch wenn es ihn ein wenig wurmte, dass das teure Teil derart unbeeindruckt angenommen worden war. Koumei schien sich nicht sonderlich über den Fächer zu freuen. Aber egal, es war viel wichtiger, jetzt bei ihm zu sein. Der Jüngere blinzelte vertrauensvoll zu ihm hinauf. Er fühlte sich so sicher, dass er ewig die kühle Nacht in den Armen des anderen verbringen könnte. Hakuren lächelte. Vergrub seine Nase in den unordentlichen Zotteln des Kleineren. „Du riechst so gut, heute Nacht“, bemerkte er beiläufig. Koumei errötete. Kein Wunder, nachdem, was die Dienerinnen ihm an diesem Morgen angetan hatten… Hakuren lächelte über seine Schüchternheit. Immer noch, nach all den Wochen. Dann zog er ihn in einen ungestümen Kuss hinein. Koumei erbebte am ganzen Körper. Vergaß schlagartig seine Sterne. Alles um sie herum. Krallte seine Finger noch tiefer in Hakurens Arme. Ließ sich von ihm in eine aufrechtere Position ziehen. Es gab nur noch sie beide. Er spürte das vertraute Lodern in seinen Adern. Das Verlangen, dass dieser Moment niemals enden würde. Bewegte seine Lippen voller Genuss gegen die des Älteren. So weich… Öffnete sie bereitwillig. Warm. Es fühlte sich so gut, so richtig an, mit ihm beisammen zu sein und ihn immer und immer wieder zu küssen. Auch nach all den Tagen, wurde er dessen einfach nicht müde. Koumei liebte den Geschmack dieser Zärtlichkeiten. So süß und doch unbeschreiblich. Sie verliehen ihm die trügerische Sicherheit, für immer bei seinem Hakuren bleiben zu dürfen. Seine sanften Hände, die ihn so vorsichtig hielten, als wäre er etwas unsagbar Wertvolles. Es gab ihm so viel… Geborgenheit und das Gefühl, von jemandem wahrhaft geschätzt zu werden. Und das war noch lange nicht alles. Der Prinz seufzte schwer. Als sie sich widerwillig voneinander lösten, verband sie lediglich ein dünner Speichelfaden. Doch sie kümmerten sich nicht darum. Koumei wischte ihn nachlässig beiseite. Früher hätte er es rational betrachtet als ekelerregend bezeichnet, irgendjemanden zu küssen, am aller meisten wohl seinen besten Freund, schließlich konnte er es immer noch kaum begreifen, aber nun… Seit wenigen Wochen hatte er begonnen, sich manchmal zu wünschen, eine seiner Schwestern zu sein. Nicht weil er gerne so wie sie gewesen wäre, sondern weil ohnehin einmal die Möglichkeit bestanden hatte, dass eine von ihnen Hakuren heiraten würde. Ehen zwischen Cousin und Cousine waren besonders in Adelskreisen üblich und wenn nicht grade ein wichtiges Bündnis geschlossen werden musste, die bevorzugte Verbindung in ihrer Familie. Es gab einige Persönlichkeiten unter ihnen, für die reines, kaiserliches Blut die allerwichtigste Voraussetzung für einen künftigen Herrscher darstellte. Es wäre so unendlich viel einfacher gewesen. Niemand hätte sich groß an ihrem viel zu engen Verhältnis gestört, man hätte vielleicht etwas schneller als gewöhnlich eine Hochzeit arrangiert und gut. Er hätte sich gefreut jemanden heiraten zu können, den er schätzte, sogar liebte. Damals, vor ihrer langen gemeinsamen Zeit, hätte er vielleicht die Vernunft und Selbstbeherrschung besessen, derartige Gefühle bereits im Keim zu ersticken, doch mittlerweile… verabschiedete sich sein Denken beängstigend schnell. Benebelt lag sein Kopf an Hakurens Brust und versuchte vergeblich die Eindrücke zu verarbeiten. Es ging nicht. Schon seit viel zu langer Zeit nicht mehr. Warmer, keuchender Atem  verdrängte die leichte Gänsehaut auf seiner Wange. Ließ die Röte wieder auf sie treten und ihn sich fühlen, wie im Fieber. „Findest du dieses Geschenk etwa besser?“, neckte Hakuren ihn liebevoll und tätschelte beruhigend seinen Rücken. „Vielleicht“, nuschelte Koumei zaghaft, während er nervös an seinem Armband herumspielte. Wenn es nach ihm ginge, könnte er jetzt hier draußen in der lauen Nacht einschlafen. Sich in Hakurens angenehmer Gegenwart niederlegen und bei den ersten Sonnenstrahlen neben ihm erwachen. So, wie es ihm schon mehrere Male unter den Dornen passiert war, wenn sie alle Vorsicht vergessen hatten und nicht ins Haus zurückgekehrt waren. Zu schön, um wahr zu sein. Morgen wäre er fort und sie würden nie wieder gemeinsam den Himmel zu dieser Tageszeit betrachten. Wohlig seufzend schmiegte er sich dichter an Hakurens Brust. Dieser Augenblick war vollkommen. Einfach alles an ihm. Die Anwesenheit des jungen Mannes neben ihm, die Zeit, die Sterne, die nur noch schwach herüberklingenden Geräusche seiner Feier, die ohne ihn scheinbar noch viel spaßiger zu sein schien, was er nicht im mindesten Bedauerte. Heute Nacht konnte er die Pleiten des Tages endlich vergessen. Plötzlich murmelte es an seiner Schulter: „Was ist, sollen wir einen kleinen Spaziergang durch den Garten unternehmen?“ Erstaunt  drehte der Kleinere sich um. Sonst war doch immer Hakuren derjenige, der meinte, sie dürften sich anderen gegenüber nicht so verbunden zeigen. „Meinst du, das ist eine gute Idee? Was ist, wenn sie uns sehen?“ Der Schwarzhaarige zuckte unternehmungslustig die Achseln. „Dann denken sie, ich bin wieder hergekommen, um mich mit meinem besten Freund zu unterhalten und natürlich um ihm mein Geschenk zu überreichen und alles Gute zu wünschen. Du solltest allerdings ein bisschen mehr Abstand von mir halten, Mei, sonst ist es wohl zu offensichtlich“, scherzte er. „Mh…“, grübelte Koumei, ließ sich aber widerstandslos auf die Beine ziehen. Zu sehr vertraute er dem anderen. Außerdem schlug er ihm nur ungern einen Wunsch ab. So liefen sie hinaus in den finsteren Garten, trotz Hakurens angeblicher Sorglosigkeit, stets darauf bedacht, dass sie sich im Schatten der hellerleuchteten Fenster des Hauses hielten. Der Rothaarige drückte sich unsicher an den Älteren und überließ ihm die Führung. Atmete scharf ein: Kies knirschte verräterisch unter ihren Schritten, doch bald hatten sie endlich das weiche Gras erreicht, welches die Töne verschluckte. Dann schlängelten sie sich auf kleinen Trampelpfaden durch die Sträucher, immer weiter von der ausgelassenen Gesellschaft fort. Verspäteter Blütenduft drang in ihre Nasen. Plötzlich blieb der Prinz wie angewurzelt stehen. Schlagartig verkrampfte sich Koumei. War da jemand? Dann atmete er erleichtert aus, als er bemerkte, dass Hakuren lediglich begeistert vor einer schönen Pflanze haltgemacht hatte. „Schau mal, Mei! Ein Tränendes Herz! Es blüht, obwohl der Frühling längst vorbei ist!“, rief er verzückt. Noch immer voller Adrenalin, nickte der Angesprochene matt. Er verstand nicht, was daran so bezaubernd sein sollte. Die herzförmigen Blüten der Pflanze gefielen ihm zwar, aber wenn man sie jeden Tag betrachtete, waren sie nichts Besonderes mehr. Nichts, was derartige Ergriffenheit rechtfertigen konnte. „Es ist wie dein Haar!“, seufzte Hakuren schwärmerisch und knipste eine, bei Tageslicht kräftig rosa gefärbte, Blüte von einem Stiel ab. Dieser seltsame Kerl ist heute Abend vollkommen durchgedreht. „Das stimmt gar nicht. Meine Haare sind rot, nicht pink wie Kouhas“, verteidigte sich Koumei beleidigt. „Du hast Recht, es passt besser zu deinen Augen“, berichtigte sich sein Cousin schnell. Unwillig drückte Koumei die Hand des anderen von seinem Gesicht fort, der die Farbe des Herzens unbedingt mit der seiner Augen abgleichen wollte. Unmöglich in der Dunkelheit. „Ren, hör auf dam-!“ Ein lauter Knall zerriss die ruhige Abendluft. Koumei stieß einen leisen Angstschrei aus und klammerte sich an Hakuren, der nach einer Schreckenssekunde bereits prustend seinen Kopf tätschelte. Was war das? Es klang verdächtig nach einem Katapult oder sonstigen Waffen mit hoher Durchschlagskraft! Griff jemand ihre Heimat an? Aber warum? Und wieso lachte der zweite Prinz ihn aus? „Sieh mal nach oben“, drängte ihn der Ältere gefesselt. Koumei folgte seinem Blick in den düsteren Nachthimmel. Dort oben strahlten nur noch ein paar einsame Sterne und der Mond. Dann schoss ein rotes Leuchten in die Luft und explodierte mit lautem Schall in einer funkelnden Fontäne aus Grün, Violett und Gelb. „Oh…“ Wie peinlich. Dem vereinzelten Feuerwerkskörper folgten sogleich unzählige andere. Sie erfüllten den Himmel mit einem bunten Farbenspiel. Goldene Flammen, rote Lichter, silberne Funken, blauer Glanz, violette, grüne, gelbe Schimmer. Einmal erschufen sie sogar die lodernde Silhouette eines gewaltigen Drachen. „Ist das nicht herrlich?“, raunte Hakuren, kaum verständlich zwischen all dem Lärm der zischenden Raketen. Koumei schüttelte nur überwältigt den Kopf. „Wieso veranstalten sie so ein aufwändiges Theater?“, fragte er sich laut. Hakuren schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Vielleicht weil sie dich wertschätzen? Weißt du noch, wie es bei Hakuyuu, Kouen und mir gewesen ist? Da haben sie auch alles gezeigt, was sie aufbringen konnten.“ Koumei verzog das Gesicht. Seine Mundwinkel hingen tief nach  unten, als er schnaubte: „Das glaubst du wohl selbst nicht. Immerhin habe ich das Fest längst verlassen. Sie brauchen einfach nur einen Grund zum Feiern und sich betrinken.“ Der Blick seines geliebten Freundes wurde mit einem Mal unendlich traurig. „Mei, lächle doch mal. Sieh nicht immer in allem nur das schlechteste. Dein Vater schätzt dich wirklich, wenn er dir zu Liebe ein Feuerwerk zünden lässt.“ Der Rothaarige wusste es besser, hatte Koutoku es ihm heute nur zu deutlich ins Gesicht gesagt. Seine Stimme klang bitter, als er antwortete: „Natürlich schätzt er mich, seinen nutzlosen Sohn, der nicht einmal den Schwertkampf beherrscht. Und noch viel mehr schätzen würde er mich, sollte er irgendwann erfahren, dass sein erbärmlicher Sprössling sich alleine mit dem hochwohlgeborenen Sohn seines Bruders davonstiehlt. Wie sehr würde er sich wohl freuen, wenn er wüsste, dass ich anstatt dieser schrecklichen Kali, meinen Cousin küsse?“ Der Sarkasmus half nicht. Es schmerzte trotzdem viel zu sehr, diese Wahrheit auszusprechen. Diese Gefühle zwischen ihnen waren falsch, egal wie richtig sie sich anfühlen mochten. „Aber Koumei…“ „Er wird uns umbringen, alle beide“, stellte er trocken fest. „Das würde Onkel Koutoku niemals tun! Außerdem werde ich jedem erzählen, dass es alleine meine Idee war“, protestierte Hakuren heftig. „Niemand würde dir das abnehmen. Vielleicht würde Vater nicht so weit gehen zu töten, aber es käme dem sicherlich nahe“, beharrte der andere. Der Schwarzhaarige verzog das Gesicht. „Ich verstehe das nicht. Weshalb hätte dein Vater dieses riesige Problem mit uns beiden? Unser Verhältnis ist vielleicht nicht derart üblich, aber auch nicht sonderlich selten. Eigentlich wird derartiges weder verboten, noch sonderlich geschätzt.“ Das konnte Koumei sich allerdings nicht vorstellen. Woher sollte Hakuren das schon erfahren haben? War er nicht immer derjenige gewesen, der um jeden Preis verheimlichen wollte, was zwischen ihnen beiden vor sich ging? Koutoku hatte eindeutig ein Problem damit, das wusste er einfach. Sein Vater berief sich dabei auf ihre Religion und meinte, dass nur Mann und Frau für einander bestimmt seien, alles andere würde das fragile Gleichgewicht von Yin und Yang stören. Das durfte schließlich nicht geschehen. Und wenn sein Vater etwas missbilligte, sollte man es nicht tun, falls einem seine Gesundheit oder sein Leben am Herzen lag. Selbst wenn er eine seiner Schwestern gewesen wäre, vielleicht hätte Koutoku ihre Gefühle für einander alleine deswegen verurteilt, weil Hakuren ein wichtiger Prinz und Koumei lediglich ein unwichtiger Adelssohn war. Außerdem hatten sie Hakuren ja bereits einer Prinzessin versprochen. In jedem Fall durfte sein Vater nichts von ihnen erfahren. „Ren, selbst deine Eltern wären erbost. Koutoku hält nichts davon, das weiß ich als sein Sohn. Und glaube ja nicht, dass er nicht in der Lage wäre, harte Strafen zu verhängen. Du hast doch seine Schläge selbst gespürt? Wegen diesem nichtigen ‚Vergehen‘? Was denkst du, wird er tun, wenn er einen richtigen Grund zur Bestrafung findet?“, meinte er ernst. Plötzlich ertönte hinter ihnen ein Rascheln. Wieder schraken sie zusammen, doch auch dieses Mal, drohte keine Gefahr. Nur ein Wildkaninchen hüpfte neugierig unter einem Busch hervor. Trotzdem, hier fühlten sie sich nicht mehr sicher. „Komm, lass uns weitergehen, hier ist es zu ungeschützt“, drängte Hakuren, wohl auch, um ihn auf andere Gedanken zu bringen und zog ihn in raschem Lauf tiefer zwischen die Blätter und Äste der umliegenden Stauden.   *   *~* Kapitel 18: Täuschung ---------------------   *~*   * „Alles in Ordnung?“, neckte Hakuren, sobald sie sich zwischen den Stämmen der hohen Bäume in einem Teil der Anlage befanden, wo sie niemand zufällig entdecken würde. Hoffentlich. Noch immer stiegen vereinzelte Feuerwerkskörper krachend in den Himmel und tauchten ihn in ein Meer aus Farben, doch die beiden ignorierten sie nun. Koumei stieß erleichtert die Luft aus und hechelte ein wenig von dem schnellen Lauf. Seine Kondition war so erbärmlich… Es war ihm peinlich, dass der andere, dessen Puls immer noch vollkommen ruhig war, während sein Herz raste, als wolle es davon stürmen, ihn so erschöpft sah. Nach diesem winzigen, wenn auch zügigen, Marsch. Er starrte geknickt zu Boden und unterdrückte ein Seufzen. Dieser Tag wollte ihn wohl persönlich angreifen, so furchtbar wie er bis jetzt gewesen war. Aber Hakuren strahlte ihn nur an. „Du gefällst mir, wenn du so außer Atem bist. Das lässt dich richtig gesund aussehen!“, rief er aus und drückte ihm, bevor er sich verlegen abwenden konnte, schnell einen Kuss auf die Stirn. Typisch. Manchmal fragte er sich ernsthaft, ob der andere blind war. Was sollte an einem angestrengt röchelnden Menschen schon gesund wirken? Und was war daran so bemerkenswert? Wirkte er ansonsten kränklich? Egal. Koumei lächelte, als eine tiefe Zufriedenheit durch ihn hindurch strömte, hervorgerufen durch diese Zärtlichkeit. Doch dieses Behagen wandelte sich schnell wieder in ängstliches Bedauern. Jeder, außer Hakuren, hätte ihn wegen dieser Schwäche verachtet. Er war eben viel dürrer und kraftloser als jeglicher Heranwachsende in seinem Alter, konnte lediglich seinen Kopf anstrengen, was allerdings niemandem einen Vorteil zu bringen schien. Nutzlos. Mehr eine Belastung. Der zweite kaiserliche Prinz war der einzige, der gut und vorbehaltlos von ihm dachte. Aber morgen schon wäre er wieder alleine. Und dann würde er wieder auf Vater und Kouen hören müssen. Seine Arbeit erledigen. Lernen. Lesen. Aufzeichnungen anfertigen. Alleine. Verlassen. Herrje… Die dumpfe Traurigkeit, die ihn nie losgelassen hatte und bei der Betrachtung der Lichtspiele wieder über ihn gekommen war, überfiel ihn abermals. Bald würde er mitansehen müssen, wie sein Geliebter eine Frau ehelichte, die er nicht einmal wirklich kannte. Schon jetzt wusste Koumei, dass er diese nicht mögen würde. Gleichgültig, ob das nun begründet oder einfach nur kindisch war. Schließlich war er auch noch ein halbes Kind. Zumindest seine kleine Statur ließ ihn das hoffen, auch wenn er mit diesem Tag offiziell erwachsen geworden war, dabei fühlte er sich nicht groß oder überlegen. Nein, er konnte nur noch seltsam niederträchtige Dinge denken, die sich nicht aus seinem Geist verbannen ließen. Diese Prinzessin aus einem unbedeutenden Königreich würde ihm seinen Hakuren stehlen. Dann konnte er nur noch zusehen, wie der Prinz sein eigenes Leben lebte, in die Regierungsangelegenheiten Kous verwickelt wurde, sich um seine Gattin kümmerte und früher oder später vielleicht Vater von einigen neuen Prinzen werden würde. Schließlich schien dem älteren Hakuyuu noch keine Heirat bevor zu stehen und von sonstigen Söhnen oder Töchtern hatte man noch nichts gehört, dabei kam er langsam in das passende Alter, wenn er sich die Geschichten über ihre Väter anhörte. Also würden ihm wohl die Kinder seines Bruders auf den Thron folgen müssen. Unter den langen Ärmeln des Festgewandes ballte Koumei die Hände zu Fäusten. Es war so ungerecht. Wieso konnte er nicht anstelle dieser Prinzessin sein? Wie sehr er sie beneidete! Dabei war es so beschämend, Hass und Abneigung gegen eine Person zu empfinden, die er noch nie gesehen hatte. Wie schlimm musste es erst Hakuren gehen? „Koumei? Was ist denn heute nur los mit dir? Du wirkst die ganze Zeit so… na ja, einfach traurig.“ Er hatte Recht. Unglaublich Recht. Aber er sollte es nicht erfahren. „Mmh…“ Es wäre so eigennützig und egoistisch es ihm zu sagen, vor allem wenn er es  nach all den versteckten Anzeichen immer noch nicht begriff. Oder sollte er doch? Nein, er konnte es ihm nicht sagen! Warme Hände umschlossen ihn behutsam und die blauen Augen forschten mühsam in seinem Gesicht nach einer Antwort. Weshalb musste Hakuren es ihm nur so schwer machen? Sein Entschluss geriet bedenklich ins Wanken. Plötzlich umklammerte Koumei die Arme des anderen. Ehe er darüber nachdenken konnte stieß er hastig hervor: „Du darfst nicht wieder in den Palast gehen!“ Verdammt, dabei hatte er das niemals gestehen wollen. Er hätte sich schlagen können. Hakuren nickte betrübt. Dann brach ein ganzer Schwall an Worten aus ihm hervor: „Ich weiß … Mir graut es auch schon davor. Es ist wirklich traurig. Ich fühle mich auch elend, bei dem Gedanken an Morgen. Ich wünschte, ich könnte für immer hier bleiben. Mit dir fortgehen. Oder dich mitnehmen. Für immer. Wenn du nur eine Frau wärst, ich hätte Vater sicherlich davon überzeugen können, dich für mich auszuwählen. Aber so… das wird er niemals dulden. Und dein Vater Koutoku… er würde dich bestrafen, da bin ich mir sicher, nachdem was du eben alles erzählt hast. Und eigentlich… weiß ich es ja selbst genauso gut, wie du. Ich finde es nur verrückt, dass sie alle nicht mit ein wenig Andersartigkeit zurechtkommen. Es tut mir so leid. Die einzige Möglichkeit, dich dauerhaft mit in den Palast zu bekommen, wäre, dass Yuu dich als seinen Berater auswählt, sobald er die Thronfolge antritt. Aber das wird ewig dauern. Und er bevorzugt Kouen. Nur weil dein Bruder diese beiden Metallgefäße besitzt. Eigentlich sollte mein Bruder über diese Kraft verfügen, aber angeblich haben sich diese Dschinns für Kouen entschieden. Nun denkt Hakuyuu sicher, dass er einen guten Unterstützer abgibt. Lächerlich! Wenn ich nur der erstgeborene Sohn wäre, würde ich dich sofort an meine Seite berufen. Es gibt niemand besseren, den ich mir als Berater wünschen könnte.“ Koumei schniefte bedrückt. Hakuren wollte ihn wirklich bei sich haben, er war ihm wichtig, doch auch er sah die unüberwindlichen Hindernisse ein. Genau das, was der Schwarzhaarige an Möglichkeiten aufgezählt hatte, hatte er sich so sehr gewünscht, doch auch der Ältere hielt es für vollkommen lächerlich. Dabei war Koumei es selbst schuld, hatte er ihm eben noch einreden müssen, dass niemand ihr Verhältnis tolerieren würde. Es war die reine Wahrheit. Trotzdem ungeheuer schmerzlich. „A-aber du bist ein Prinz“, brachte er mit bebender Stimme hervor, „du kannst alles befehlen, was du willst!“ Wie verzweifelt er war, wenn er schon versuchte, seine eigenen Argumente außer Kraft zu setzen. Koumei wollte sich am liebsten in Luft auflösen. Sein unverschämtes Verhalten ließ sich nicht tolerieren. Es beleidigte den Prinzen und seine eigene Familie. „Du doch auch irgendwo“, stritt Hakuren ab. Koumei schluckte. So sehr wie ihn sein eigenes Betteln auch anwiderte, er konnte es nicht lassen. „Nein, ich bin kein Prinz, Ren. Vielleicht gehöre ich zum Adel, aber ich bin wertlos, gegen euch. Nicht annähernd so wichtig. Nicht so machtvoll. Nicht so stark. Wenn du etwas möchtest, dann gibt man sich alle Mühe, dir diesen Wunsch zu erfüllen. Ich kann nicht mal bestimmen, was ich jeden Tag esse. Bleib hier oder nimm mich mit! Bist du vielleicht froh, wenn du dich nicht mehr mit mir herumschlagen musst?“, jaulte er niedergeschmettert und blickte verloren zu ihm auf. „Koumei…“ Hakuren schüttelte gequält den Kopf. Seine Stimme versagte und er presste den anderen hastig an sich, als er den hoffnungslosen Schimmer in den roséfarbenen Augen erkannte. „Denkst du wirklich, dass es so ist?“, fragte er entsetzt. Keine Antwort. Hakuren schluckte schwer. Dann wisperte er leise: „Du bist mir wichtiger als alles andere, Mei. Glaub mir das doch endlich. Wie oft habe ich dir das in den letzten Wochen gesagt? Immer wieder. Ich liebe dich. Es ist vollkommen krank und widernatürlich, aber ich liebe dich mehr, als ich diese Prinzessin je lieben könnte. Verdammt, ich habe sie nur ein einziges Mal in meinem Leben gesehen! Sie wirkte so verbittert und kalt, ich interessiere mich doch überhaupt nicht für sie. Was soll ich mit dieser verhärmten Prinzessin anfangen? Ich glaube, sie hasst mich. Ist genauso abgeneigt, wie ich. Ich will diese Frau nicht heiraten. Aber mir bleibt nun einmal keine andere Wahl! Bitte glaub mir doch! Das, was ich fühle, wenn ich dich auch nur flüchtig ansehe, ist etwas völlig anderes, so viel stärkeres, als ich es jemals bei jemand anderem gefühlt habe! Wie kannst du mir nur unterstellen, dass du mir egal bist und ich dich loswerden möchte?“ Seine Stimme klang immer lauter und wütender durch die tiefe Nacht. Koumei bekam es mit der Angst zu tun. Die Umklammerung um seine Seiten wurde beinahe schmerzhaft. Er wollte am liebsten im Erdboden versinken vor Scham, den Prinzen so sehr gekränkt zu haben. Natürlich, er vertraute ihm blind. Eigentlich. Aber irgendetwas in seinem Inneren erfüllte ihn mit Zorn über diese himmelschreiende Ungerechtigkeit. Verlieh ihm das eigenartige Gefühl, dass Hakuren viel mehr mit seinem eigenen Schicksal haderte, als sich tatsächlich um ihn zu sorgen. Natürlich, es war nur zu verständlich, schließlich durfte selbst der zweite kaiserliche Prinz sich kaum über gesellschaftliche Normen hinweg setzen. Und irgendwann wäre er sicherlich glücklich mit dieser Entscheidung. Hakuren war ein Mann, sie war eine Frau. Koumei fühlte sich momentan weder wie ein erwachsener Mann noch wie ein kleiner Junge, sondern irgendetwas dazwischen. Weder Kind noch Erwachsener, nein, etwas Unbestimmtes, Erbärmliches. Schließlich war er nur ein enttäuschender Sohn von Koutoku Ren, dem jüngeren Bruder des Kaisers. Eigentlich hätte er das niemals bedauert, aber nun… Er war unnütz. Wieso sollte sich sein ehemals bester Freund auch für ihn entscheiden? Er war nur schwach, klein und es nicht wert, liebenswert genannt zu werden. Dabei brauchte er Hakuren doch so sehr. Er konnte ihn nicht mehr als Freund betrachten. Es ging einfach nicht mehr. Immer wenn er an ihn dachte, wurde er von diesem brennenden Gefühl heimgesucht, dass ihr altes, so herrlich unkompliziertes Verhältnis zerstört hatte. Sehnte sich mit jeder Faser nach seiner Nähe. Und jetzt wollte Hakuren ihn verlassen. Nein, er musste. Wie konnte er nur ohne ihn weiterleben? Hakuren hatte ihm doch versprochen, für immer zu bleiben. Aber nun schien der Prinz sich mit einem Mal seinem Schicksal zu fügen. Vergaß darüber alles andere. Am Anfang war er so viel aufmerksamer gewesen. Koumei zwang mit aller Macht ein trockenes Schluchzen zurück. Wieder wollten die Tränen fließen. Nein. Er durfte nicht weinen. Hatte solange, etliche Jahre, nicht mehr geheult weil ihm etwas nicht gefiel, wie er es als kleiner, schüchterner Junge getan hatte. Es ziemte sich schließlich nicht für einen Mann, also konnte er damit nicht plötzlich wieder anfangen, nur weil er schrecklich deprimiert war. Was sollte denn Hakuren denken? Er weinte niemals und wenn Koumei seinem inneren Drängen nachgäbe, würde er ihn sicherlich für kindisch halten und ihn nie wieder auch nur ansehen. Ihn noch schneller für sein neues Leben aufgeben. Also sträubte er sich lediglich gegen dessen zu festen Griff. Überrascht lösten sich die Arme von seinem Körper und ließen ihn gehen. „Koumei? Was machst du?“ Er konnte nichts erwidern. Sonst wäre der Kloß aus seinem Hals herausgebrochen und hätte ihn in ein Meer aus Tränen gestürzt. Er musste es verdrängen, bis er sich beruhigt hatte. So taumelte er zitternd den kleinen Pfad zurück. So einsam. Achtete nicht mal auf den Weg. Wasser stieg in seine Augen. Schwindel ließ ihn beinahe stürzen. Die teuren Gewänder verfingen sich in den hervorstechenden Zweigen, doch er lief einfach weiter. Fort. Kümmerte sich nicht um das reißende Geräusch, wenn Dornen die edle Seide zerfetzten. Brombeerranken zogen an seinen Beinen, aber er war wie taub und blind. Lief stur gradeaus, lediglich noch in der Lage, dem Pfad zu folgen. Doch plötzlich drang das Geräusch von hastigen Schritten in sein Bewusstsein. „Mei! Warte, du tust dir noch weh!“, flehte Hakuren, doch der Gerufene drehte sich nicht um. Nur weg. Er konnte ihm nicht länger unter die Augen treten. Nicht so erbärmlich. Doch die Fußtritte kamen immer näher. Eine Hand packte ihn an der Schulter. Riss dabei versehentlich an seinen Haaren und brachte ihn zum Winseln. „Mei, jetzt reicht es aber, du kannst doch nicht einfach blindlings durch den dunklen Garten stürmen!“, rief Hakuren aufgebracht. Panisch. Er war gerannt? Koumei schnappte nach Luft. Das hatte er nicht bemerkt. Es musste stimmen, so gierig, wie seine Lungen den Sauerstoff einsogen. Wie auf ein geheimes Zeichen wurden seine Knie weich und schwach. Die Finger auf seiner Schulter erfüllten ihn mit einer unstillbaren Sehnsucht und nahmen ihm all seine Kraft. Er wollte doch nur, dass Hakuren ihn wieder so ansah, wie er ihn vorher betrachtet hatte. Wirklich sah, nicht unbeteiligt schaute. Sich um ihn sorgte. Ein leidendes Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Er stolperte nach hinten. Wie von selbst gaben die Beine unter ihm nach. Er stürzte. Direkt in die Arme des Prinzen, dessen Gesicht mit einem Mal reine Furcht ausdrückte. Die Wärme und der Duft seines Gefährten hüllten ihn unendlich wohltuend ein. Koumei blinzelte hilflos zwischen flatternden Augenlidern hervor. Traf das tiefe Blau und erkannte es an dem verzweifelten Blick: Er hatte ihn. Wie immer. „K-Koumei!“ „Ah…“, stieß er gequält hervor und ließ sich mit seinem ganzen Gewicht gegen Hakuren sinken. Überrumpelt wankte der unter dieser zusätzlichen Last, ehe er ihn wieder auffing. „Mei! Sag doch was! Geht es dir nicht gut? Was hast du?!“ Unüberhörbare Panik. Der Rothaarige stieß hervor: „Kümmere dich… um das Land… und… hilf deinem Bruder…“ Der Ältere rief seinen Namen, aber Koumei stöhnte nur.  Hakuren wirkte mit einem Mal so herrlich angespannt. „Sag, hast du heute irgendetwas gegessen, dass merkwürdig geschmeckt oder gerochen hat? Etwas Seltsames getrunken? Etwas, das niemand sonst getrunken hat? Hast du deinen Kelch irgendwo stehen lassen und ihn dann weiter benutzt?“ Koumei lächelte innerlich. Genau richtig. Hakuren stiegen schon die schrecklichsten Szenarien zu Kopf. Weshalb jemand ihn vergiften sollte, leuchtete ihm zwar nicht ein, aber wenn der Schwarzhaarige das befürchtete, gefiel es ihm. Diesen Verdacht konnte er leicht unterstützen. Der Jüngere atmete immer angestrengter. Ließ ein wenig Speichel aus seinem Mundwinkel tropfen, was den anderen in bodenlose Verzweiflung stürzte. „Hey! Atme! Verdammt! Hilfe!“ Koumei lallte irgendetwas Unverständliches in seine Zotteln. Sollte Hakuren doch überlegen, was er ihm scheinbar trotz seiner Qualen so dringend sagen wollte. „Was? Mei, ich kann dich nicht verstehen!“, heulte es. Nun gut, vielleicht sollte er etwas deutlicher reden, nur einen Hauch verständlicher. „Müde“, nuschelte er matt und ließ seine Hände ein wenig zittern. „Sooo müde…“ „I-Ich weiß. Aber du darfst jetzt nicht schlafen, bitte!“ „Aber… der Mond… kommt so nah… und… zerbricht…“ „Was redest du da?“, flüsterte Hakuren entsetzt. Aber Koumeis Kopf fiel ohne Antwort nach hinten. Die schmalen Augen geschlossen. Schon spürte er ein hektisches Rütteln. „Mei! Wach auf! Bitte, ich tue auch alles, was du willst! Aber wir müssen dringend zurück ins Haus! Du brauchst sofort Hilfe!“ Interessant. Langsam wurde es ein wenig gemein. Der Rothaarige linste hilflos unter den langen Wimpern hervor. Hauchte entkräftet: „Du musst mich tragen…“ Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, wurde er auch schon in die Höhe gehoben und spürte, wie Hakuren keuchend zwischen den Büschen hindurch raste. Während er allem Anschein nach sterbend, zumindest dachte das Hakuren, unter Aufbietung von dessen letzten Kräften, nach Hause getragen wurde, begann ein wenig Reue an seinem Triumph zu nagen. Wie hinterhältig ihn wieder auf diese Weise zu betrügen. Hakuren litt sicherlich seelische Qualen. Vielleicht sollte er ihn beruhigen, sonst konnte dieser Abend böse enden. Außerdem sollte er ihn nicht zu einem der Heiler bringen, das wäre wirklich ungünstig.  Hoffentlich hatte er sie mit diesem Trick nicht in Schwierigkeiten gebracht. Hakuren nahm die Angelegenheit sehr ernst. Koumei konnte gut lügen, aber für einen begnadeten Schauspieler hielt er sich auch wieder nicht. Doch der Blauäugige fiel natürlich auf ihn herein. Wie immer. Er legte die Strecke, für die sie vorher mindestens fünf Minuten gebraucht hatten, in lediglich zwei davon zurück. Stürmte durch die geöffnete Terrassentür in Koumeis Zimmer und legte ihn röchelnd, aber bewundernswert sanft auf das Bett. Dann schnellte er wieder hoch. Mist. Koumei erwischte ihn im letzten Moment an seinem Ärmel und zog einmal kräftig daran. Verwundert hielt der andere inne. Starrte auf ihn hinab. Ihre Blicke trafen sich. Dann weiteten sich Hakurens Augen. „Mei? Geht es noch?“, fragte er angstvoll. Man merkte ihm an, dass vor seinem inneren Auge bereits Todesszenarien abliefen. „Ja“, murmelte Koumei und das Nuscheln verschwand. Überrascht starrte Hakuren ihn an, als er sich langsam regte und aufsetzte. „Was geht hier vor? Ging es dir gar nicht schlecht?“, hakte er streng nach. „Na ja… wie gesagt… ich bin müde“, erwiderte Koumei leise und fing den nun aufgebrachten Blick des Prinzen auf. Blau, wie die tosende See. Ein Schaudern erfasste ihn. „War das… nur eines deiner Spielchen?“, brachte der Prinz schließlich außer Atem hervor. Der junge Mann zögerte betreten. „Na ja… nein… vielleicht… Bist du jetzt wütend?“, entgegnete er beschämt. Der Schwarzhaarige zögerte erschöpft. Die Erleichterung lag wie ein Schleier über seinem Gesicht. Dann stöhnte er: „Nein. Ich habe mir nur schreckliche Sorgen gemacht. Ich dachte wirklich, jemand hätte dich vergiftet oder so. Jetzt bin ich froh, dass ich mal wieder zu dumm war, um dich zu durchschauen. Du spielst deine Rolle zu überzeugend.“ Koumei seufzte gelöst. Er hätte etwas anderes erwartet. Umso mehr freute er sich über die ruhige Reaktion. „Aber du willst nicht ernsthaft mit den Schuhen im Bett liegen bleiben, oder?“, fragte Hakuren plötzlich. Verwirrt wackelte Koumei mit den Füßen. Ach ja, daran hatte er gar nicht gedacht. An den Sohlen klebten noch feuchte Erde und zerrissene Blätter, welche das weiße Laken beschmutzten. „Nein, eigentlich nicht. Aber genau genommen kann ich auch nichts dafür, dass ich sie noch trage“, meinte er vorsichtig und warf dem Älteren einen bedeutungsvollen Seitenblick zu. Dieser verdrehte die Augen. „Ohne Diener wärst du ziemlich aufgeschmissen, Mei!“ „Ich weiß, aber ich bin zu ungeschickt dafür…“ Bittend sah er zu Hakuren auf. „Na schön Prinzessin, dann kümmere ich mich eben darum“, gab dieser nach. „Manchmal frage ich mich, wer von uns beiden der Kaiserssohn ist“, brummte er. Koumei lächelte triumphierend in sich hinein. Fürsorglich beugte sich der Prinz über ihn und zog ihm sanft die schmutzigen Schuhe von den Füßen, bevor er sie säuberlich neben dem Bett aufstellte, wobei er es sich nicht nehmen ließ, zärtlich über seine Beine zu streichen. Es fühlte sich so angenehm an. „Danke…“, schnurrte Koumei und drückte sein Gesicht schläfrig in die Kissen. Jetzt konnte er zufrieden einschlafen. Seine Lider schlossen sich müde. „Soll ich dich vielleicht auch noch zudecken?“, schnaubte es da neben seinem Ohr. „Das wäre großartig, Ren. Du bist einfach zu liebenswürdig…“, gähnte er, die Finger bereits in den weichen Troddeln der Kissen vergraben. „Ach ja…“, seufzte er, bereits den lange ersehnten Träumen nahe.  „Vergiss es“, entgegnete Hakuren mit einem Mal lachend und zog ihm eines der Kissen über den Kopf. Ungehalten schlug der Rothaarige die Augen wieder auf. Hatte ihm nicht eben jemand versprochen, alles zu tun, wonach Koumei der Wille stand? Wieso schlug er ihn dann ohne Vorwarnung? Na ja, vielleicht hatte Hakuren recht. Heute früh zu schlafen wäre eine Verschwendung. Aber er war so erschöpft. Andererseits hatte der Prinz nur für ihn die Mühe auf sich genommen, hierherzukommen. Er konnte wirklich noch nicht schlafen, das wäre zu undankbar. Jedoch war ans Aufstehen auch nicht zu denken. Also klopfte er lediglich einladend auf die freie Fläche neben sich. Platz gab es in diesem Bett schließlich genug. Natürlich sagte Hakuren da nicht nein. Nach der ganzen Aufregung wollte er nicht all die verbleibende Zeit steif herumstehen. Schnell streifte er seine verdreckten, schwarzen Stiefel ab und legte sich mit etwas Abstand neben Koumei.   *   *~* Kapitel 19: Nähe ----------------   *~*     * Flackernder Kerzenschein erhellte das nächtliche Zimmer. Hakuren hatte schließlich ein Licht entzündet, um Koumei am Einschlafen zu hindern. Immerhin verlockte dieses weiche Himmelbett regelrecht dazu. Die flauschige Decke sah, mit ihren edlen Blumenornamenten und den Vögeln darauf, wirklich betörend aus. Und diese herrlichen Kissen erst. Allerdings war der Ältere vorsichtshalber noch einmal aufgestanden, um die Tür zu verriegeln. Der junge Kouha kam scheinbar des Öfteren vorbei, um sich eine Gutenachtgeschichte vorlesen zu lassen, dabei war er eigentlich fast zu alt dafür. In jedem Fall war es besser, wenn die Tür verschlossen blieb. Nicht, dass noch ungebetener Besuch hereinplatzte. Einige Zeit lang verbrachten sie in einträchtigem Schweigen und blickten einander belustigt an: Hakuren, weil sein Vetter einfach zu verschlafen und seiner Meinung nach einfach herrlich aussah und Koumei, weil der Cousin schon wieder auf seine Täuschungen hereingefallen war. Der Rothaarige betrachtete die gefällige Gestalt des anderen, wohlwissend, dass er selber auf die gleiche intensive Weise gemustert wurde. Schaute fasziniert in die aufgeweckten blauen Augen und das fröhliche Gesicht. Wie man zu dieser Zeit noch so wach sein und zugleich so gut aussehen konnte, erstaunte ihn. Plötzlich klopfte Hakuren nachdenklich seine Gewänder ab. „Mist, ich hatte doch irgendwo noch was für dich, hab es ganz vergessen…“, überlegte er und zupfte überall an seinen Roben. Nach einigem Herumgesuche zog er endlich ein zerknicktes Blumenbündel aus seinem Kragen. „Oh… tut mir Leid. Es ist ganz zerquetscht, dabei habe ich es doch extra für dich gepflückt“, sagte er bedauernd. Koumei musste lächeln. Die roten Blüten einer unbekannten Blume, vielleicht Hibiskus, sowie die darum herum drapierten Ahornästchen mit roten Blättern und die kleinen Schilfgraswedel boten in der Tat einen bedauernswerten Anblick. Genaugenommen passten die beiden Rottöne ohnehin schon nicht zusammen, kein Wunder, wenn Hakuren sich selbst darum gekümmert hatte. Wie kam er nur auf die Idee, Pflanzen unter seiner Kleidung zu transportieren, stachen die spitzen Zweige nicht? Aber der Jüngere fand es trotzdem sehr aufmerksam von ihm. „Es ist doch nicht schlimm, Ren. Die Geste gefällt mir“, beteuerte er erfreut. Der Prinz strahlte erleichtert und legte das zerfledderte Sträußchen, welches wohl nicht mehr zu retten war, auf den Nachttisch. Wieder lagen sie schweigend da und starrten sich herausfordernd an. Keiner wollte der erste sein, der schwach wurde, es ähnelte einem kindischen Spiel, wer länger ohne zu lachen den Blick des anderen erwidern konnte, nur ohne Grimassen ziehen und keiner von beiden lächelte auch nur ansatzweise. Koumei seufzte entnervt. Schließlich konnte er sich nicht länger zusammenreißen und kroch zu Hakuren hinüber. Krabbelte scheinbar auf äußerst erheiternde Weise über ihn und ließ sich auf seinen Bauch fallen. Das Bett knarzte bedrohlich, woraufhin der Schwarzhaarige hörbar die Luft ausstieß und gespielt nach Luft schnappte. „Du bist ganz schön schwer! Kein Wunder nach dem heutigen Festmahl. Iss lieber nicht so viel, sonst wirst du noch fett wie ein alter Mann.“ Auf diese scherzhafte Neckerei folgte keinerlei Reaktion. Hakurens Verwirrung war ihm anzusehen. „Warum findest du mich eigentlich so interessant?“, fragte Koumei unverblümt, als hätte er die spaßige Beleidigung nie gehört. Hakuren hielt kurz inne, dann lachte er liebevoll. „Weil du der schlauste Mensch bist, den ich kenne.“ Koumei runzelte skeptisch die Stirn. „Letztes Mal hast du noch etwas anderes gesagt. Ich bin nicht schlau. Ich habe keine Ahnung von irgendetwas, außer von Büchern und Tauben. Du hingegen bist bewundernswert tapfer und folgst deinem Vater und deinem Bruder auf die Schlachtfelder, wo du nur kannst. Ich kann nicht mal ein Schwert schwingen.“ Hakuren schüttelte den Kopf. „Es mag sein, dass ich ein recht guter Kämpfer bin, aber in den Krieg zu ziehen ist nichts, worauf man stolz sein sollte. Wenn ich nicht fest daran glauben würde, dass die Armee meines Vaters für eine gerechte Sache kämpft und er die Welt auf diese Weise verbessern will, würde ich ihm nicht folgen. Versprich mir eins, Koumei: Du darfst nie in die Schlacht ziehen. Es ist furchtbar, wir alle träumen nachts von dem ganzen Blut, Leid und Tod. Schlimm genug, dass Kouen unwiderruflich mit darin verwickelt ist. Dabei ist es richtig, diesen Krieg zu führen, uns bleibt nichts anderes übrig. Aber du… dir darf das auf keinen Fall ebenfalls passieren. Du bist viel zu gutherzig für den Krieg. Du würdest ein Gefecht nicht überstehen und das könnte ich nicht ertragen, weil ich für immer mir die Schuld dafür geben würde“, erklärte er ernsthaft. Schweigen. Koumei fand es schön, dass sich Hakuren so sehr um sein Wohlergehen kümmerte, doch selbst das konnte ihn nicht aufheitern. Er hatte das Gefühl, wertlos zu sein. Vielleicht, weil sein Vater heute Nachmittag so grob mit ihm umgesprungen war. Irgendetwas an diesem Tag hatte ihm jegliches Selbstbewusstsein ausgesogen und nun fühlte er sich wirklich seltsam. Offenbar trieb ihn das zu ebenso merkwürdigem Benehmen, wie sein vorgetäuschter Vergiftungsanfall bestätigte. Er murmelte leise: „Keine Sorge, das werde ich ohnehin nie schaffen. Es ist mir viel zu anstrengend. Ich bin einfach zu nichts nütze…“ Der Kaiserssohn schnaubte vor Lachen: „Ja ja, Mei. Rede dir das nur ein. Oder willst du etwa, dass ich dir ellenlang vorbete, was für ein großartiger Mensch du bist? Aber es beruhigt mich ungemein, dass du so friedliebend bist, so kann ich dich nicht so einfach auf dem Schlachtfeld verlieren.“ „Nein, ich meine das ernst. Ich kann nichts! Außerdem finde ich es seltsam, dass du jedes Mal andere Gründe aufzählst, warum du mich magst“, protestierte der Jüngere eingeschnappt. Hakuren konnte so schrecklich oberflächlich sein. „Ich weiß, es gibt einfach zu viel, was ich an dir sehr mag. Oh doch du kannst viel, du bist intelligent, listig, manipulativ und dabei doch immer zurückhaltend, was eine Kunst für sich darstellt. Wenn mein Vater dich bereits seit Kindertagen zu sich ruft und dich an seinen Forschungen teilhaben lässt, muss da etwas dran sein! Und du verabscheust Gewalt. Zumindest unnötige. Bestimmt wirst du ein hohes Alter erreichen, so ruhig und friedlich wie du bist. Soll ich noch mehr erwähnen?“, fragte Hakuren begeistert und funkelte ihn neckisch an. Koumei fühlte sich hingegen ernüchtert. Wie konnte man nur solch gute Laune haben? Jetzt, nach diesem Tag? Musste man dafür einfach endlos optimistisch oder schlicht und ergreifend strohdumm sein? Und wie konnte man derartigen Quatsch aussprechen? „Das meiste klingt nicht sonderlich positiv“, bemängelte er. Hakuren rang die Hände. „Mei! Natürlich ist das positiv! Du könntest mit diesen Eigenschaften einmal ein sehr guter Kaiser werden. Deine Untertanen würden freudig zu dir aufschauen und du könntest lange regieren, da du nicht in einer sinnlosen Schlacht fallen würdest.“ Nie im Leben. Diese haltlosen Lobpreisungen. Das traurige war, dass Hakuren diese furchtbaren Worte mit vollem Ernst aussprach. Diese Seite hasste Koumei an ihm. So kindisch, dabei war Hakuren drei Jahre älter als er. So ein naiver Trottel. Der Rothaarige murmelte verunsichert: „Ich werde nie Kaiser. Vor mir kommen dein Bruder Hakuyuu, du, Hakuryuu, vielleicht sogar noch Hakuei, mein Vater, Kouen und dann erst ich. Das hieße, dass ihr alle sterben müsstet bevor ich es tue. Und das ist mehr als unwahrscheinlich.“  Sein Cousin zögerte kurz und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Na ja… es könnte trotzdem passieren. Wer weiß, was die Zukunft noch für dich bereithält. Sicher eine große Aufgabe, so schlau wie du bist.“ Koumei zitterte schon bei dem bloßen Gedanken daran. Kalte Furcht erfasste ihn. Er protestierte verstört: „Das will ich aber nicht! Ihr sollt nicht sterben! Du darfst nicht sterben. Besonders du nicht, hörst du?“ Der Schwarzhaarige nickte verständnisvoll. Dann blickte er ihm tief in die Augen. „Natürlich möchtest du das nicht. Aber manchmal können wir das Schicksal eben nicht vorausahnen. Wer weiß, vielleicht überlassen wir dir ja einfach den Vortritt? Ach übrigens, was ich letztens zu deinem Aussehen gesagt habe, ich finde dich immer noch wunderschön.“ Koumei verschränkte unwillig die Arme vor der Brust. So ein erbärmliches Ablenkungsmanöver! Hakuren wusste doch, dass er das abgrundtief hasste. „Ich bin nicht schön, bist du eigentlich blind? Sag so etwas nicht mehr, es ist eine einzige Lüge!“, brauste er ungewohnt heftig auf. Der andere hatte seine Freude daran, ihn aus der Reserve zu locken. Koumei so empört zu sehen, kam einem kleinen Wunder gleich. „Oho, nur weil da jemand nicht in den Spiegel schaut und das Selbstwertgefühl einer Maus besitzt. Oder habt ihr keine Spiegel? Glaub mir, was ich sage stimmt, ich muss es wissen, wenn ich dich jeden Tag anschauen darf. Besonders dein Haar ist noch schöner als von deinen Geschwistern. Es lodert wie ein Sonnenuntergang.“ Koumei verzog angewidert das Gesicht. Schmeicheleien waren jämmerlich, lächerlich und schrecklich unwahr. Sein Haar mochte keine übermäßig hässliche Farbe besitzen, jedoch konnte er diesen ungepflegten Zotteln rein gar nichts abgewinnen. Mit diesem Haarnest auf dem Kopf wirkte er manchmal regelrecht beängstigend, wie ein Dämon, was sollte daran schön sein? Irgendwie freute ihn dieses Kompliment allerdings doch. „Wie kannst du so etwas sagen… ohne rot zu werden oder zu lachen?“, nuschelte er in seine Zotteln hinein und errötete selber. Der Ältere erwiderte hartnäckig: „Weil ich es ernst meine?“ Es war hoffnungslos. Koumei ging nicht länger auf Hakuren ein, sondern stützte seine Hände auf dessen Brust ab. Diese sinnlose Diskussion! Dieser dumme Kerl würde niemals zugeben, dass seine Äußerungen grauenerregend falsch waren. „Willst du mich jetzt aus Wut ersticken, Mei?“, neckte er.  „Vielleicht…“, entgegnete Koumei leise. Heute hatte Hakuren es möglicherweise sogar verdient. Er führte sich auf wie ein Irrer. „Das kann ich nicht zulassen!“, beschloss der Prinz plötzlich. Eine kräftige Hand drückte den Kleineren zur Seite und eine andere umschloss fest sein Handgelenk. Ehe Koumei blinzeln konnte, rutschte er von ihm herunter und fand sich dicht an Hakuren geschmiegt wieder. Gemütlich. Sofort umhüllte ihn der Geruch nach Leder und Heidelbeeren. Es würde ihn nicht wundern, wenn er im Garten eben unauffällig ein paar von den wild wachsenden Sträuchern genascht hätte. Ein Arm schlang sich um seinen Rücken und zog ihn noch näher, bis er sich kaum noch bewegen konnte. Dafür spürte er Hakurens stetigen Herzschlag durch ihre schweren Gewänder hindurch. Dieses wunderbare Gefühl… Wenn ihm diese Nähe nicht das Atmen erschweren würde, hätte er nichts dagegen gehabt, die ganze Nacht so zu verbringen und sogleich einzuschlafen. Wieder gähnte er und vergrub sein Gesicht an Hakurens Brust. Sein vertrauter Duft umfing ihn mit aller Macht. Ließ ihn versonnen blinzeln. Er fühlte sich angenehm sicher und geborgen.   Irgendwann begann Hakuren, sanft über seinen Rücken zu streichen. Koumei seufzte behaglich. Unverzüglich richteten sich die winzigen Härchen an seinem Körper auf. Noch immer hatte er sich nicht vollends an solche Zärtlichkeiten gewöhnt, auch wenn er sie genoss. Verträumt schloss er die Augen und spürte einzig und allein den liebevollen Berührungen nach. Hakurens Hände in seinem Haar, an seinem Hals, seiner Wange, seinen Lippen. Jeder Kontakt mit seiner bloßen Haut verstärkte seine Gänsehaut. Koumei versuchte seine Arme zu befreien, aber der andere hielt sie immer noch fest. Als der Rothaarige sich jedoch mehr und mehr dagegen sträubte, gab er sie endlich frei. Koumei spürte mit einem Mal einen seltsamen Groll in sich aufsteigen. Gegen seine boshafte Tante Gyokuen, weil sie seinen geliebten Hakuren zu sich gerufen hatte und gegen seinen dummen Cousin, weil er ohne Widerspruch gehorcht hatte und ihn allzu bald verlassen würde. Dabei gehörte er doch ihm! Ohne ihn konnte er sich ein Leben nicht mehr vorstellen. Unsanft umschlang er Hakurens Nacken und zog seinen Kopf zu sich hinunter, in einen begehrlichen Kuss. Seine Augen loderten seltsam zornig, als sich ihre Lippen vereinten und für einander öffneten. Gieriger als sonst, fast ein Kampf. Hakuren wirkte überrascht von Koumeis plötzlicher Initiative, schien allerdings nicht bereit, ihm die Führung zu überlassen. Seine Hände packten ihn beinahe grob und hielten ihn unerbittlich fest. Auch er war wegen dem, was ihm bald bevorstehen würde, frustriert. Er benimmt sich, wie ein kleines Kind, das immer gewinnen muss! Der Rothaarige hingegen wirkte regelrecht verbittert. Brach den Kuss und schnappte wütend nach Hakuren. Zornig trat er nach ihm, aber der andere keilte ihn als Antwort lediglich unter sich ein. Verdammt! Gegen dieses Gewicht konnte Koumei nichts ausrichten. Knurrend grub er seine Fingernägel in den Rücken des Schwarzhaarigen. „Du willst es heute aber wissen! Willst du kämpfen?“, grinste dieser verdorben. Koumei wollte etwas Beleidigendes entgegnen, aber er brachte kein Wort heraus. Diese Nähe war mehr, als er ertragen konnte. Hitze schoss durch seine Adern und ließ ihn erbeben, als er grollend vor Verzweiflung nach Luft schnappte. „Mei, alles in Ordnung?“, fragte Hakuren erstaunt und rollte von ihm herunter. Ja so einen Ausbruch war er von dem einst so schüchternen, kleinen Jungen, der sein bester Freund gewesen war, nicht gewohnt. Noch immer gab es Dinge, die sie aneinander entdecken mussten. Ihr keuchender Atem schien in dem düsteren Raum widerzuhallen. „Ren…“, flüsterte Koumei kleinlaut, weil er sich bereits für diesen unkontrollierten Ausbruch schämte, „…es tut mir Leid…“ Doch dieser schnaubte nur wegwerfend: „Das muss es doch nicht!“ Koumei nahm dies argwöhnisch zur Kenntnis, entspannte sich jedoch wieder. Es war falsch, Hakuren die Schuld für ihre baldige Trennung zu geben, redete er sich ein, auch wenn es nicht gelingen wollte. Er sollte nicht so überreagieren, sicherlich würden sie sich auch nach der Heirat noch oft genug zu Gesicht bekommen, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Allerdings war er sich nicht sicher, ob sein Aufbegehren Hakuren nicht ziemlich gefallen hatte, so wie er gegrinst hatte. Egal, er musste diese Verbitterung hinunterschlucken, der Prinz hatte sie nicht verdient. Entschuldigend schmiegte er sich wieder an ihn und ließ zu, dass der andere ihm die störenden Armbänder abnahm, bevor er sie auf den Nachttisch neben die flackernde Kerze legte. Die klappernden Perlen und klirrenden Anhänger erleichterten ihn. Ein gutes Gefühl, ihr Gewicht los zu sein. Eine regelrechte Befreiung. Vertrauensvoll strich er mit den Fingerspitzen über Hakurens Wangen und spielte mit dem Muttermal an seinem Kinn, bis der andere dies unterband. „Pass auf, das ist empfindlich, es kann schnell anfangen zu bluten wie ein geschlachtetes Schwein und das möchtest du jetzt nicht sehen“, begründete er seine Handlung lachend. Koumei gehorchte natürlich, schließlich wollte er ihm keine Schmerzen bereiten; zumindest jetzt nicht mehr. Stattdessen tat Hakuren nun dasselbe mit seinem Gesicht. Er küsste seine narbigen Wangen und zum ersten Mal empfand er die Furchen in seiner Haut nicht als unansehnlich. Der Jüngere genoss diese angenehme Zuwendung, musste er selbst doch nichts weiter tun, als sich zu entspannen, was genau nach seinem Geschmack war. Gähnend schob er die Füße unter die warme Decke und starrte an den mit Schnitzereien verzierten Himmel des Bettes. Auf einmal machten sich Hakurens Finger an seinem breiten Gürtel zu schaffen. Erschrocken zuckte Koumei zurück. Was hatte er vor? Die blau glänzenden Stoffbänder glitten schneller auseinander, als erwartet. „Hakuren?“, fragte er warnend.  „Du willst doch nicht in diesen teuren Kleidern schlafen, Mei? Seide ist empfindlich!“, tadelte der Prinz und brachte ihn mit einem süßen Kuss zum Schweigen. Koumei spürte, wie seine Gewänder schlagartig verrutschten und seinen Oberkörper entblößten, sobald sie nichts mehr zusammenhielt. Eigentlich schlief er immer in Seidenstoffen, meist in seinen gewöhnlichen Anziehsachen, weil er zu faul zum Umziehen war. Aber wenn Hakuren das missfiel… Jedenfalls fuhren dessen Hände bereits unter die losen Gewänder und hinterließen brennende Spuren auf seiner Haut. Berührten seine Schultern, seine Brust, den Bauch. Bestimmt und ruhig. Natürlich, der ach so rechtschaffene Prinz wollte nur die kostbaren Seidengewänder vor Schaden schützen. Koumei fiel nicht darauf hinein. Wenn dieser Idiot etwas wollte, konnte er plötzlich überaus charmant und listig werden. Trotzdem ließ er sich die Berührungen gefallen. Er mochte sie, auch wenn sie ihn hier ein wenig verunsicherten. Obwohl er dieses Gefühl bereits kannte, war es merkwürdigerweise etwas völlig anderes, es hier in seinen Gemächern zu erleben, als im Schatten der Brombeerbüsche. Scheinbar weniger riskant und viel intensiver. Auch wenn ersteres ein gefährlicher Trugschluss war. Jeder Zeit konnte jemand an der Tür lauschen und sie reden hören, was sicherlich Grund zur Sorge bot. Hakuren schob den schweren Stoff zurück, zog ihn an Koumeis Schultern beiseite, küsste die dünne Haut und streifte ihn von seinen blassen Armen. Seine Hände glitten tiefer, drehten ihn auf den Rücken. Koumei schloss die Augen. Es fühlte sich so gut an. Warme Lippen berührten seinen Bauch. Bedeckten ihn mit zahllosen Küssen und ließen ihm ein unterschwelliges Stöhnen entweichen. Er konnte Hakurens Zähne spüren, die ab und an leicht an seiner Haut zupften und ein anregendes Kribbeln verursachten. Die Hitze in seinem Körper verstärkte sich blitzartig. Er riss die Augen auf, packte den Ärmel des anderen und vergrub die Finger krampfhaft darin. Hakuren stieß einen seltsamen Laut aus, halb Schnurren, halb Lachen, fuhr aber fort. Sein Blick trug etwas Zärtliches und zugleich Schalkhaftes in sich. Wie immer seltsam übermütig, obwohl er doch bereits lange erwachsen war, anscheinend verzögerte sich dieser Prozess bei ihm noch ziemlich. Wenngleich dieser funkelnde Blick bei Hakuren immer unüberlegte Taten ankündigte, entspannte sich Koumei nach ein paar Augenblicken und ließ die Lider wieder sinken. Es gab keinerlei Grund, aufgeregt zu sein, schließlich hatte er an diesem Tag bereits genug Aufregung gehabt, weitaus schlimmer als das hier. Hakuren war derjenige, bei dem er sich geschützt fühlen konnte. Der Prinz musterte ihn einen Augenblick lang erwartungsvoll, als erwartete er irgendeine Gegenwehr, die nicht kam. Seine vom Schwertkampf gezeichneten Hände zogen den offenen Gürtel fort und schlugen den feinen Stoff seiner Kleidung vollends zur Seite. Die lauwarme Luft kroch unverzüglich herbei und kühlte Koumeis erhitzte Haut. Wie angenehm… Hakuren streichelte seinen Bauch an immer tieferen Stellen, aber Koumei registrierte es kaum, glitt in einen nebligen Wachtraum. Sein Atem ging tiefer und langsamer. Müde… Gähnend rückte er näher zu Hakuren, der mittlerweile deutlich mehr Kleidung am Leib trug, als er. Wäre es nicht besser, für einen Ausgleich zu sorgen?, dachte er schläfrig, wohlwissend, dass daraus so schnell nichts werden würde. Diese Berührungen lullten ihn regelrecht ein. Plötzlich schob sich eine kräftige Hand zwischen seine Beine. Erschrocken riss er die Augen auf. Seine Muskeln verkrampften sich sofort in Panik, die Entspannung wie weggeblasen. „H-Hakuren! Lass das!“ Die Hitze kehrte unverzüglich zurück, dieses Mal pulsierte sie in seinem ganzen Körper, aber besonders unter Hakurens Hand. Verdammt, das war so falsch! „Hakuren! Hör auf!“, stieß er noch einmal hervor. Warmer Atem streifte seinen Hals. „Mei? Magst du das nicht? Tut mir Leid, ich dachte es wäre in Ordnung…“ Koumei fühlte sich zu geschockt und gleichzeitig zu überwältigt, um irgendetwas zu erwidern. Weshalb sollte das in Ordnung sein? Hakuren hatte ihn nicht einmal gefragt. Ohne sein Zutun schoss sein Bein nach vorne und dieses Mal traf er. Obwohl er nicht sonderlich hart zugetreten hatte, heulte Hakuren erschrocken auf. Es geschah ihm vollkommen recht. „Lass mich los!“, wiederholte er scharf. Endlich befolgte der Prinz den Befehl. Er rieb sich das Schienbein und wirkte seltsam vor den Kopf gestoßen. Warum, war es nicht nachvollziehbar, dass er mit dieser groben Art auf Widerstand stieß? Koumei hasste es, auf diese Weise berührt zu werden. Egal von wem. Wieso kam Hakuren auch grade jetzt, wo es so schön gewesen war, auf eine derart dämliche Idee? Keuchend wich er zurück. „Koumei?“, fragte Hakuren besorgt. Doch der andere schüttelte nur verspannt den Kopf. Seine Haare standen wie wild in alle Richtungen ab. „Was ist denn?“, hakte Hakuren behutsam nach. „Bilde dir nicht ein, dass du mit mir machen kannst, was du willst!“, zischte er zitternd. Der andere legte den Kopf schief. Sein Bein schien immer noch zu schmerzen. „Na ja…ich dachte es würde dir gefallen…“, meinte er und sah bedeutsam herab.  Der Rothaarige folgte seinem Blick und errötete verschämt. Wie peinlich, warum musste sein Körper sich auch noch gegen ihn wenden? Er wollte seine Gewänder zurück. Sofort. Hektisch griff er nach den zerknitterten Stoffen, hielt aber inne, als er eine beruhigende Stimme vernahm. „Mei, du musst dich nicht dafür schämen, das ist doch völlig normal“, sagte Hakuren schnell und ergriff ihn sachter als zuvor beim Arm. Koumeis erster Impuls war, die Finger fort zu schlagen. Er war sauer, aber noch mehr schämte er sich. In der Vergangenheit hatte er bereits ein paar Mal versucht, ihn dort zu berühren, doch Koumei hatte es bis jetzt immer geschafft, die Hände unauffällig abzuwehren. Jetzt hatte er zu spät reagiert. Eigentlich konnte Hakuren ja nicht ahnen, dass er das nicht mochte. Trotzdem, er hätte ihn wenigstens vorwarnen sollen und vielleicht hätte er es mittlerweile auch selbst merken können, dass derartige Berührungen vollkommen unerwünscht waren. Koumei kratzte sich nervös am Hinterkopf. Andererseits hätte er selbst auch einfach abwarten können, vielleicht wäre es nicht so schlimm, wie er sich das vorstellte, schließlich war Hakuren immer vorsichtig mit ihm gewesen. Langsam, aber mit einigem Misstrauen, ließ er sich wieder auf das weiche Laken zurück sinken und behielt den anderen immer im Blick. Hakuren beobachtete ihn ratlos. „Verzeih mir, keine Ahnung, was da mit mir durchgegangen ist“, murmelte er besänftigend und knautschte unbehaglich die beiseite geschlagene Bettdecke zusammen. Was mochte er wohl denken? Verfluchte er sich für diese unbedachte Handlung? Offenbar wusste er nicht, wie er sich nun am besten verhalten sollte, was Koumei ein wenig erleichterter stimmte. „Ist schon in Ordnung. Ich mag das einfach nicht, konntest du ja nicht ahnen“, sagte er leise. „Nein, daran habe ich wirklich nicht gedacht. Ich wollte nur… Ach, eigentlich habe ich gar nichts gedacht“, gestand Hakuren betreten. Er wirkte fast wie ein geprügelter Hund. Jetzt waren sie beide rot und schämten sich, wie erbärmlich. Dabei kannten sie sich schon so lange, weshalb gab es zwischen ihnen immer noch unüberwindbare Hindernisse? Koumei nickte angespannt. Eigentlich fühlte er sich immer noch nicht sicher, aber Hakuren wäre sicher nicht so dumm, ihn noch einmal dort zu berühren und er tat ihm irgendwie leid, wie er so kleinlaut auf ihn herab sah, als hätte er Angst, ihn verletzt zu haben. Also log er: „Es ist gut. Schon vergessen. Du brauchst dich jetzt nicht von mir fernzuhalten, Hakuren.“ „Mh…ja. Wenn du meinst. Wegen mir musst du das nicht sagen, denk lieber daran, was du gerne möchtest. Wenn du mich jetzt nicht mehr hier haben willst, dann verschwinde ich einfach wieder. Schließlich bin ich noch jung und agil! Deine Tritte würden wohl jeden in die Flucht schlagen“, murmelte er, schon wieder zu Scherzen aufgelegt. Ein schlechter Scherz, aber was wollte man von ihm erwarten. Ein Prinz, der vergnügte Witze riss, oder es zumindest versuchte, konnte  nicht allzu schlimm beleidigt sein. „Es ist in Ordnung“, beharrte Koumei und rückte vorsichtig wieder näher an Hakuren heran, wofür er ein erleichtertes Seufzen erhielt: „Mein Koumei, du bist das schönste Etwas, das mir je begegnet ist“, erklärte er überzeugt. Für einen Moment blickten sie sich tief in die Augen. Wie sehr er dieses herrliche Blau, welches nun von einem fiebrigen Schimmer durchzogen war, liebte. Doch dann fiel ihm auf, dass er von Hakurens blumigen Worten nicht angetan war. „Lass endlich diese erbärmlichen Schmeicheleien, oder du kannst dich von deinem Bein verabschieden“, knurrte er und zog  grob an den weichen, schwarzen Haaren des anderen, sodass sich der Haarknoten am Hinterkopf löste. Die beiden dünnen Strähnen, die viel länger gewachsen waren, als der Rest, konnten äußerst praktisch sein. „Au! Jetzt nicht auch noch mein Kopf! Du bist doch nicht Kouha! Warum so gewalttätig heute Nacht, Mei?“ Hakuren kniff vor Schmerz die Augen zusammen. Der Jüngere hatte wirklich mit aller Macht an den Strähnen gerissen. „Du sollst nicht immer so beschämend daherreden!“, verlangte Koumei verstimmt und ignorierte das Jammern gekonnt. Wer in einer Schlacht kämpfen konnte, würde mit einem blauen Schienbein und ein paar ausgerissenen Haaren schon fertig werden. Koumei mochte es einfach nicht, wenn Hakuren ihn so sehr lobte. Er war doch kein kleines Prinzesschen, das man mit lieblichen Komplimenten umschmeicheln und so sein Herz gewinnen konnte. Wenn Hakuren das versuchte, kam er ihm so blind und dumm vor. So, als wollte er um jeden Preis Koumeis Selbstwertgefühl steigern. Dabei erreichte er damit genau das Gegenteil: Niemand würde Koumeis knochigen, übermüdeten, vernarbten Anblick als sehenswert oder gar schön betiteln. „Aber es ist doch wahr!“, protestierte der Prinz vehement. „Sei leise…!“, zischte Koumei erschrocken über die Lautstärke dieser Worte. Draußen patrouillierten Wachen und Bedienstete umher, sicher konnten sie Hakurens laute Stimme von dort hören. Die Diener durften keinerlei Verdacht schöpfen, ansonsten würden sie beide in ernsthafte Schwierigkeiten geraten. Angespannt horchte er auf mögliche Schritte, die herbeigeeilt kommen könnten, doch vor der Tür blieb es still. Also entgegnete er wieder verärgert: „Du bist ein lausiger Lügner, Ren! Du solltest selbst einmal hören, was für einen lächerlichen Quatsch du erz- mh!“ Hakuren erstickte die wütenden Worte mit seinen Lippen. Dieser Mistkerl! Koumeis Blut brodelte gefährlich, aber nicht nur vor Zorn, den er ungewöhnlicher Weise verspürte. Nein, Hakurens Gegenwart ließ ihn sich halb wahnsinnig fühlen und trieb ihm kalten Schweiß auf die Stirn. Wieso gewöhnte er sich einfach nicht an diese Nähe, er hatte doch schon Monate, vielleicht sein ganzes Leben dazu Zeit gehabt? Alles war so schwierig, seit sie ihre Freundschaft hinter sich gelassen hatten. Andererseits mochte er es nicht mehr missen. Die letzten Wochen waren so unsagbar herrlich gewesen, dass er sie gegen nichts auf der Welt eintauschen würde. Er konnte sich nicht vorstellen jemals jemand anderem so nahe zu kommen. Wollte es nicht. Eigentlich brauchte er auch keine derartige Nähe von Hakuren, reines Beisammensein wäre bereits mehr, als er sich nach ihrer Bekanntschaft damals je erhofft hätte, selbst nachdem der Prinz vor ihm sein Geständnis abgelegt hatte. Aber Hakuren schien nicht mehr viel von bloßem Beisammensein zu halten. Seine kräftige Hand legte sich bestimmend auf Koumeis Hüfte. Sein Kuss war vorsichtig, aber gleichzeitig drängend, sein Mund so unerträglich warm. Eine schlecht verhohlene Gier lag darin. Koumei seufzte schwer, konnte kaum noch denken. Es schmeckte so angenehm, dass es ihn fast vergessen ließ, was er vorher hatte sagen wollen. Also drehte er den Kopf zur Seite, um Hakuren auszuweichen. Mit Erfolg. „Heuchler“, keuchte Koumei erschöpft, was ihm nur mühsam über die Lippen kam. Diese Küsse brachten ihn um den Verstand. Der Ältere ließ von ihm ab und schnaubte entrüstet: „Ich bin realistisch!“ „Bist du nicht“, gab der andere zurück und krallte seine Finger in den Gürtel, der Hakurens Gewänder beisammenhielt. Warum sah er immer noch so ordentlich aus, das konnte doch nicht angehen?! „Oh doch, das bin ich. Aber wenn ich dir mal die Gegenfrage zu eben stellen dürfte, was magst du an mir?“, hakte Hakuren nach, während auch seine schlichten schwarz-weißen Roben verrutschten. Koumei lief wieder rot an. Zögerte. Überlegte. Die Wut verflog schlagartig. Es fiel ihm nie leicht, Gefühle zu Worten werden zu lassen. Seine Gedanken schienen sich dieser Aufgabe zu widersetzen. „Dein Wesen?“, versuchte er es zaghaft. „Das ist sehr aussagekräftig“, neckte der Prinz und kniff ihn spielerisch in die Wange. Wie ein unartiges Kind… das war so unangemessen. Koumei errötete immer mehr. „Ach, du weißt schon. Du bist so anders als ich. So aufgeschlossen und voller Tatendrang“, murmelte er matt, immer noch das prickelnde Gefühl auf den Lippen. Es benebelte seinen Geist. Sorgte dafür, dass er sich so unendlich dumm vorkam. Hakuren nickte zufrieden. „Das hört man gerne. Aber liebst du das auch an mir?“ „Idiot“, maulte Koumei, der andere wusste doch genau, wie ungern er über Gefühle oder generell sprach. Er hatte gute Lust, Hakuren dieses Mal mit einem Schlag in die Magengrube zu drohen, auch wenn er Gewalt eigentlich nicht mochte, manchmal konnte sie bei dem Prinzen nützlich sein, wie er eben gemerkt hatte. Aber dieser ließ sich nicht erweichen, stattdessen ergriff er seine Schreibhand und küsste die kleinen Schwielen, die die Feder darauf hinterlassen hatte. Das einzige an seinem Körper, das von Arbeit zeugte. „Stimmt doch, Mei, mögen und lieben ist nicht dasselbe!“, behauptete der Ältere felsenfest. „Ach ich weiß doch gar nicht was das ist... ich kann das mit nichts anderem vergleichen. Ich habe keine Erfahrung was das angeht...“, verteidigte sich der Rothaarige, dessen Gesichtsfarbe sich mittlerweile kaum mehr von seinen Zotteln abhob. Hakuren schnalzte tadelnd mit der Zunge: „Nun ja, so viel mehr als du weiß ich auch wieder nicht. Du musst es auch nicht mit irgendetwas vergleichen. Ich kann zwar nicht in dich hineinschauen, aber ich denke das, was du fühlst, kommt Liebe zumindest ziemlich nahe.“ „Meinst du wirklich?“, nuschelte er kleinlaut. Der andere tätschelte ihm lediglich bekräftigend den zotteligen Kopf. „Ich merke doch, wie du mich ansiehst.“ Koumei seufzte schwer. Scheinbar konnte er keine Argumente hervorbringen, die gegen die seines Cousins bestanden. So spielte er verlegen mit Hakurens Robe herum. „Was wird das?“, schmunzelte dieser mit hochgezogenen Augenbrauen. „Ich verstehe diese Schnürung nicht“, gestand Koumei peinlich berührt, dass er anscheinend sogar zu dumm war, jemandem seine einfachen Gewänder auszuziehen. „Zupf einmal hier dran“, schlug Hakuren vor und hielt ihm das Ende eines vorwitzigen Bandes unter die Nase. Kaum befolgte er diesen Ratschlag, rutschten die Kleidungsschichten auseinander. „Na toll“, brummte er missmutig. Ungeschickt und zu nichts zu gebrauchen, wie wahr. „Du denkst zu viel, außerdem hast du es nie selbst gemacht“, besänftigte ihn der andere und wand sich aus den lockeren Ärmeln, sowie den darunterliegenden Stoffschichten. Doch seine aufmunternden Worte wurden nicht länger beachtet. Koumei hörte nicht, sondern musterte ihn fasziniert. Wie gebannt starrte er den Prinzen an, unfähig, den Blick abzuwenden. Hakuren erschien ihm ohne die störenden Kleider noch viel verlockender, als gedacht. Im Gegensatz zu dem Rothaarigen schien er in bester körperlicher Verfassung zu sein. Er wirkte nicht ganz so kräftig wie Kouen, aber dennoch deutlich muskulöser als Koumei. Sein Bauch fühlte sich erstaunlich hart an, als er zaghaft über die glatte Haut strich. Nicht, dass er ihn niemals zuvor dort berührt oder nackt gesehen hätte aber, wenn man mit ihm alleine war und ungehinderte Sicht hatte, wirkte alles noch ein wenig anders. Der Ältere stieß einen betörten Laut aus. Schien sich seinen Berührungen regelrecht entgegen zu drängen. Er liebte solche Zuwendungen ganz besonders. Koumei musste widerwillig schmunzeln. Plötzlich bemerkte er, wie viel Macht er über ihn besaß. Über diesen naiven, wunderbaren, aufopferungsvollen, tapferen Prinzen. Ja, man sah dem anderen seine Tätigkeit als wichtiger Soldat und Unterstützer seines Vaters schon auf den ersten Blick an, auch an den kleinen Narben, die er sich wohl größtenteils auf dem Schlachtfeld zugezogen hatte. Sie waren so herrlich rau. Interessant, dieser Kontrast. Die wulstige, neue Haut schimmerte beinahe silbrig. Immerhin dabei konnte Koumei mithalten, auch wenn seine Narbe eher ein Zeugnis seiner Schwäche, als seines Mutes darstellte. Hakuren schien seine aufkeimenden Selbstzweifel zu bemerken, denn er nahm ihn fest in die Arme. Seine Haut war so warm, dass sie ihn zittern ließ, wie auch immer Wärme einen zittern lassen konnte. Sein Körper benahm sich heute wirklich komisch, angefangen bei der heftigen Reaktion gegen Kali und dieser beschämenden Erregung, die ihn eben durchströmt hatte. Trotzdem… eigentlich fühlte es sich gut an, Hakuren so direkt zu spüren. Er liebte die Stärke, die in dieser Umarmung lag, ebenso wie den kräftigen Rücken, über den er viel zu gerne streichelte. Aber die Situation war ungewohnt, im Garten hatten sie nie gewagt, die Kleider vollends abzustreifen. Zu groß die Angst entdeckt zu werden. Und die Dornen… die Dornen waren hinterhältig gewesen. Trotzdem, es gefiel ihnen beiden. Koumei seufzte gelöst. Hakuren kraulte zufrieden seinen Nacken. „Weißt du was, mein Schatz? Sei nicht immer so negativ.“ Diese viel zu euphorische, immer gut gelaunte Stimme! Sie klang bewundernswert. Wo nahm sie nur die nötige Energie dafür her, so aufgeweckt zu klingen? „Mmh...“ Koumei fühlte sich nicht in der Lage, positiver zu denken, als er es tat. Aber ihm blieb auch keinerlei Zeit, es zu versuchen, denn Hakuren wechselte schlagartig das Thema: „Mei?“ „Ja?“, fragte er verhalten. „Vertraust du mir?“ Koumei zögerte und rückte ein wenig von ihm ab. Etwas an Hakurens Stimme gefiel ihm nicht und ließ ihn plötzlich eigentümlich vorsichtig werden. „Ich denke...“, erwiderte er nach kurzem Stocken. Sein Prinz lächelte erfreut und streichelte seine Wange. „Sag mein Liebster, hast du zufällig etwas Öl da?“     *     *~*   Kapitel 20: Bedenken -------------------- *~*   *     „Mei?“ „Ja?“, fragte er verhalten. „Vertraust du mir?“ Koumei zögerte und rückte ein wenig von ihm ab. Etwas an Hakurens Stimme gefiel ihm nicht und ließ ihn eigentümlich vorsichtig werden. „Ich denke...“, erwiderte er nach kurzem Stocken. Da war etwas, das er nicht benennen konnte. Sein Prinz lächelte erfreut und streichelte seine Wange. „Sag mein Liebster, hast du zufällig etwas Öl da?“ Koumei starrte ihn verwirrt an. Wie um alles in der Welt kam Hakuren von seinen seltsamen, aufbauenden Sprüchen zum Thema Öl? Hatte er das, was er wollte überhaupt hier im Zimmer? Vermutlich, aber wozu brauchte er denn mitten in der Nacht Öl? Endlich hakte er nach: „W-was? Wie kommst du denn jetzt darauf? Ja, bestimmt habe ich das, in dem Schrank dahinten steht allerlei so unwichtiges Zeug. Vielleicht irre ich mich auch und es ist nur selbstgemachtes Duftwasser von Kougyoku. Das ist eine Zumutung, sie hat mir heute mal wieder eine ihrer Giftmischungen geschenkt. Brauchst du Lampen- oder Körperöl? Ist deine Haut vielleicht rissig geworden, weil du eben durch den kalten Wind geritten bist? Dann würde ich dir lieber eine Salbe empfehlen.“ Wie seltsam seine eigene Stimme klang. Dieser untypische Wortschwall, regelrecht aufgekratzt. Irritiert fingerte er an der Bettdecke herum, wobei er verwirrt überlegte, was Hakuren im Schilde führte. „Oder hast du eher Hunger? Ich könnte dir etwas vom Fest holen, wenn du willst“, schob er hinterher, schließlich gab es da bestimmt etwas, das in Öl eingelegt war. Vielleicht ein paar Pflaumen, die mochte Hakuren recht gerne, aber wollte er die wirklich mitten in der Nacht essen? Ja, was er vorhatte, blieb ihm wirklich ein Rätsel. Besonders bei dieser Antwort: „Hm, so könnte man es auch sagen“, lachte sein Cousin. Er schien sich über irgendetwas königlich zu amüsieren. Hätte Koumei wissen müssen, worum es ging? Eine seltsame Spannung machte sich in seiner Brust breit. „Sag, wie kommst du jetzt darauf und warum fängst du an, so komisch zu grinsen? Was hast du damit vor?“ Er legte nervös den Kopf schief. Irgendwie hatte er ein ungutes Gefühl bei der Sache. Plötzlich schlang Hakuren seine Arme um ihn und vergrub das Gesicht in seinem Haar. Koumei seufzte in Ekstase. Die winzigen Härchen in seinem Nacken richteten sich schlagartig auf. Tiefe Zuneigung durchflutete ihn mit einer Macht, die kaum zu ertragen war. Löste ein seltsames Ziehen in seinem Bauch aus. Sein Herz klopfte immer schneller. Es fühlte sich wirklich noch fremd an, Hakurens bloße Haut auf der seinen zu spüren, aber er mochte es, ihm so nahe zu sein, ohne störende Stoffschichten dazwischen. „Koumei?“, hauchte es an seinem Ohr. Hakurens Stimme klang merkwürdig rau. Der Rothaarige erschauderte. „Mh? Was ist?“, flüsterte er. Fragend blickte er den anderen an und konnte die Antwort beinahe schon in diesem erdrückenden blauen Blick lesen, der ihm den Boden unter den Füßen fortriss, wie eine tosende Welle. „Ich würde gerne mit dir schlafen.“ Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Worte zu ihm durchdrangen. Bis ihm ihre Bedeutung bewusst wurde. Dann schoss er in die Höhe. Eine Woge der Erkenntnis brach über ihm zusammen. Dafür also das Öl. Panik erfasste ihn. „D-du willst mit mir – jetzt? Hier?“ All die Wochen. Die ganze Zeit. Und jetzt fällt es ihm ein? Wie kann man nur so dumm sein? Das musste ja so kommen! An diesem verfluchten Abend?!  „Aber ich bin doch keine Frau!“, protestierte er empört. Als ob Hakuren das ernst gemeint hatte! Doch sein alter Kindheitsfreund schnaubte lediglich wegwerfend, während er sich noch enger an ihn schmiegte. Koumei mochte es noch immer, dennoch kam es ihm beinahe aufdringlich vor. „Sag mir nicht, du hast noch nie darüber nachgedacht. Wann sonst? Mir ist vollkommen bewusst, dass du keine Frau bist und ich finde es gut so, denn darauf kommt es ja auch nicht an. Ich liebe dich, das ist die Hauptsache“, murmelte es in seinem Rücken. Eine Antwort blieb aus. Wie Recht er doch hatte. Koumei hatte allerdings kaum jemals daran gedacht, das Bett mit seinem Geliebten zu teilen. Nun wusste er nicht, was er tun sollte, fühlte sich wie gelähmt. Er wollte Ren nahe sein, sehr nahe. Aber so nahe? Allerdings stellte dies hier wahrscheinlich die letzte Möglichkeit dar und er konnte sich nicht vorstellen, jemals mit jemand anderem derart weit zu gehen. Außerdem… wenn Hakuren es so gerne wollte… er würde sich sicherlich freuen. Zögerlich meinte er: „Mhm… na gut? Wenn es sein muss…?“ Sofort lockerte sich der Griff um seine Brust und er blickte in empört blitzende blaue Augen. „Koumei! Was ist mit dir heute nur falsch? Du jammerst die ganze Zeit und legst mich herein. Sag nicht einfach ja, nur weil du denkst, mir einen Gefallen tun zu müssen, denn das ist wirklich schlecht. Überleg es dir gut und sag mir, was du möchtest.“ Koumei blinzelte erstaunt. Hakuren gelang es so selten, ihn zu durchschauen, normalerweise glaubte er ihm beinahe alles, was er so daher sagte. Nun musste er ihm seine Unsicherheit jedoch deutlich angesehen haben. Dabei hatte der Ältere eben noch so dringlich argumentiert. „Aber hast du nicht grade versucht, mich zu überreden?“ Der Prinz lächelte verlegen. „Na ja, vielleicht. Das liegt mir eben im Blut“, gestand er und grinste das strahlende Grinsen, das Koumei so sehr liebte. Oh ja, wenn Hakuren etwas wollte, wurde er wahrhaft charmant. Nun vollkommen verunsichert, zögerte er lange. Er fühlte sich, wie ein vom Jäger in die Ecke getriebenes Tier. Ja, er liebte Hakuren wirklich, da war er sich mittlerweile sicher. Aber mit ihm zu schlafen war noch einmal etwas völlig anderes. Etwas Verbotenes. Nicht, dass ihre Küsse und Berührungen weniger verboten wären, dennoch erschien es ihm zumindest in den Augen seines Vaters als deutlich verwerflicher, noch weiter zu gehen. Er hatte im Gegensatz zu dem älteren Prinzen noch keinerlei Erfahrungen dieser Art gemacht, schließlich war er noch recht jung und hatte sich nie sonderlich für die körperliche Liebe interessiert. Er verspürte einfach kein gesteigertes Verlangen danach. Allein der Gedanke daran, einer Frau näher zu kommen, erfüllte ihn mit irrationaler Furcht und widerte ihn an, das hatte seine Begegnung mit Kali heute einmal mehr gezeigt. Allerdings war Hakuren keine dämonische, gehässige Haremsdame, sondern ein junger, zuvorkommender, fürsorglicher Mann. Letztere Tatsache stimmte ihn allerdings umso nachdenklicher, egal welch begehrenswerte Eigenschaften der Prinz besaß, er gehörte in den kaiserlichen Palast zusammen mit einer Ehefrau und Kindern, nicht zu ihm. Trotzdem konnte Koumei nicht anders, als verträumt in sein vertrautes Gesicht zu schauen und an all die unübertrefflichen Vorzüge seines Geliebten zu denken. Natürlich, der zweite Prinz von Kou besaß ebenso viele schlechte Seiten, war gedankenlos, kindisch und manchmal aufbrausend, damals hatte er Koumei in einem unnötigen Streit einmal grün und blau geschlagen, aber dennoch… er liebte ihn. Sie kannten sich bereits seit frühesten Kindertagen. Der Ältere hatte sich immer herzergreifend um ihn gekümmert, wenn sie beisammen gewesen waren. Sie hatten sich stets gut verstanden. Waren immer vertraut gewesen. Sie teilten gerne ihre Gedanken miteinander, zumindest ließ sich Koumei gerne Hakurens Sorgen und Nöte erzählen. Nun, jetzt teilten sie noch mehr als das. Ob es nicht sogar interessant sein könnte, ihm auch körperlich noch näher zu kommen? Koumei wusste es einfach nicht. Vielleicht machte er sich zu viele Sorgen. Jedoch… er hatte gehört, dass es schmerzhaft wäre, sich einem Mann hinzugeben, als er in der Vergangenheit unfreiwillig einer Unterhaltung von zwei Konkubinen seines Vaters gelauscht hatte. Genau das würde auch er unweigerlich tun müssen, sobald er zustimmte. Vielleicht konnte er sich nicht mit den Frauen vergleichen, das wusste er nicht, aber wenn es eventuell doch keinen Unterschied machte… Er mochte Schmerzen ganz und gar nicht. Zwar war sein Vater ein grober Mann, der sich sicher wenig um das Wohlbefinden seiner vielen Ehefrauen sorgte, wenn er schon Gewalt gegen seine Söhne einsetzte, würde er seine zahlreichen Frauen sicher nicht besser behandeln. Hakuren verhielt sich ganz anders, so liebevoll, aber… Was, wenn er es später bereuen würde? Wenn es jemand herausfände? Schließlich galt Liebe zwischen Männern in ihrem Land nicht grade als selbstverständlich, sicherlich auch als unschicklich, wenn man seinem Vater und nicht Hakuren Glauben schenkte. Ja, es war auch unnatürlich, fand er. Nicht auszudenken. Sein Vater würde sie beide umbringen, sollte ihre Beziehung, die nun von der geduldeten Freundschaft viel weiter entfernt schien, als die Sonne von der Erde, ans Licht kommen. Ein angstvolles Zittern durchlief seinen gesamten Körper. Hakuren schien seine Furcht wahrzunehmen. „Keine Sorge, ich passe auf dich auf“, beteuerte er. „I-Ich weiß doch gar nicht, was ich tun muss!“, erwiderte er scharf. In Hakurens Stimme schwang neben bemerkenswerter Geduld eine beruhigende Wärme mit: „Mei, du musst gar nichts tun. Außerdem bist du hier nicht der einzige, der keine Ahnung hat. Ich habe nur Erfahrungen mit Frauen. Nur mit zweien, um genau zu sein und falls es dich beruhigt. Frauen sind schon toll, ich mochte sie beide wirklich gerne, aber sie sind kein Vergleich zu dir. Mach dir keine Sorgen, so schwer wird es schon nicht sein, wenn auch wesentlich dümmere Menschen als du es geschafft haben. Hey, jetzt schau mich doch nicht so verzweifelt an, alles ist gut.“ Koumei wich seinem brennenden Blick aus. Seine wirren Gedanken eigneten sich nicht sonderlich gut dazu, sie jemandem zu offenbaren. Ja Ren, viel zu viele dumme Menschen haben es geschafft und deshalb wimmelt unsere Welt heute nur so vor Idioten. Wenn du diese Frauen so großartig findest, dann geh doch zu ihnen oder lass sie rufen, sie werden sich sicherlich geehrt fühlen, dass der Sohn des Kaisers Interesse an ihnen bekundet und voller Begeisterung herbeieilen. Warum nimmst du sie nach deiner Hochzeit nicht gleich als Nebenfrauen? Du kannst schließlich alles haben, was du willst, egal was du immer für einen Blödsinn von Wegen ‚Meine Verpflichtungen binden mich‘ faselst! Gar nichts ist gut, du Trottel! Ich habe keine Ahnung, was du mit mir anstellen willst. Ich habe Angst, was du mal wieder für eine Dummheit planst, dabei will ich keine Angst vor dir haben. Und dann willst du morgen einfach wieder verschwinden, als wäre nichts gewesen, das sieht dir ähnlich! Natürlich verließ keines dieser niederträchtigen Worte seinen Mund, er wusste, dass diese Anschuldigungen haltlos und ungerecht waren. Das einzige, was aus ihm heraus platzte war ein ersticktes „Ich kann das nicht.“ Die Worte standen wie eine steinerne Mauer im Raum. Schon von Geburt an besaß er ein Talent dafür, anderen vorzugaukeln, er sei schwächlich, klein und bemitleidenswert. Zu schwach, um irgendetwas anderes zu tun, außer dösend im Bett zu liegen. Allerdings hatte er sich mittlerweile vielleicht sogar selbst von dieser Unwahrheit überzeugt. Hakuren seufzte: „Du musst auch nichts können. Aber du bist nun im besten Alter für ein paar neue Erfahrungen, weder zu jung, noch zu alt, findest du nicht?“ Koumei zögerte unbehaglich. Hakuren versuchte tatsächlich, ihn zu überreden. Mit bedauernswerten Argumenten. Es erinnerte ihn an einen verhängnisvollen Tag vor zehn Jahren, an dem der noch neunjährige Prinz ihn hartnäckig angespornt hatte, mit ihm gemeinsam kostbarste Diamanten aus der Schatzkammer des Kaisers zu stehlen. Nach Stunden der Überredungskunst hatte Koumei trotz arger Bedenken und Widerworte klein beigegeben. Sie hatten einige Diamanten entwendet, man hatte sie sofort entlarvt und Koumei war anschließend von seinem eigenen Vater zu einer demütigenden Entschuldigung beim Kaiser gezwungen und so lange geschlagen worden, bis er besinnungslos auf dem harten Boden des Thronsaals lag und die folgende Woche keinen Schritt mehr tun konnte. Währenddessen war der Prinz mit einer strengen Verwarnung davon gekommen. Koutoku hasste ungehorsame Söhne, während Hakutoku den kindlichen Unsinn lediglich belächelte. Ungerecht. Koumei erschauderte bei dem bloßen Gedanken daran. Andererseits klangen Hakurens Worte paradoxerweise auch so verstörend nach seinem Vater, als er ihn heute Nachmittag bei Seite genommen hatte. Diese Situation war ihm überaus unangenehm. Natürlich, Hakuren hatte ihn damals schon oft zu seinem eigenen Glück überredet, da er von sich aus einsam in seiner Kammer versauert wäre, aber heute schien es ausnahmsweise wieder eine Überredung der gefährlichen Sorte zu sein. Dabei hätte dieser Verrückte sich seine Argumente doch sparen können! Wenn er es unbedingt wollte, wieso hatte er dann nicht einfach Koumeis wankelmütige Entscheidung vorhin angenommen, sondern führte mit ihm diese beschämende Diskussion? Koumei wusste keinen Ausweg. Eigentlich fühlte er sich noch nicht bereit für diesen Schritt. Andererseits würde er wahrscheinlich nie bereit sein. Er liebte Hakuren wirklich und so wie dieser ihn immerzu ansah, konnte es wohl nur auf Gegenseitigkeit beruhen. Auch wenn ihn der neue Ausdruck in dessen Augen verunsicherte. So verhangen und doch intensiv, dass ihn eine Gänsehaut überfiel. Hakuren küsste seine bebende Schulter. „Kann es sein, dass du ein bisschen verklemmt bist, Mei? Du erinnerst mich heute Nacht an zwei ganz bestimmte Personen“,  zog er ihn auf. „Ein bisschen? Das solltest du doch mittlerweile gemerkt haben! Was redest du für einen Mist?“, wehrte er sich, während seine Wangen so sehr brannten, dass es kaum auszuhalten war. „Du benimmst dich wie eine Mischung aus Hakuryuu und Kougyoku“, spöttelte Hakuren. „W-Was? D-das ist doch lächerlich! Ich dachte du hängst regelrecht an deinem kleinen Bruder und nun beleidigst du ihn! Und was bist du? Ein unverschämter Straßenjunge? So einen Quatsch hast du schon lange nicht mehr von dir geben. Du verdammter Dreckskerl!“, zischte Koumei erzürnt. Wie konnte er es nur wagen, ihn mit einem weinerlichen, sechsjährigen Jungen und einer achtjährigen Verrückten zu vergleichen, nur weil er verunsicherte Überlegungen anstellte? Zwischen ihnen bestand ein himmelweiter Unterschied! Der andere feixte: „Na also, da ist ja doch etwas Energie vorhanden. Der Straßenjunge klingt gut. So gefällst du mir schon besser.“ Wütend wollte Koumei sich abwenden und knurrend verkünden, dass er nach dieser Beleidigung ganz sicher nichts mehr mit Hakuren tun würde, ganz egal welcher Art. Doch die harsche Erwiderung blieb ihm im Halse stecken. Ein angetaner Laut entwich ihm. Hakurens Lippen streiften seine Kehle, Koumei liebte es, wenn er diese Stelle berührte. Der Schwarzhaarige wusste das nur zu gut. „Ach Mei, du bist so sü-, ähm, ich meinte anziehend!“, berichtigte er sich schnell, als er einen tödlichen Blick auffing. „Schon gut , schon gut, ich nehme es ja zurück. Ach je, dass du dich auch immer so anstellen musst, nur weil ich dir ein Kompliment machen möchte... Aber Meichen, du solltest dich mal sehen“, hauchte er schwärmerisch. Dieser verrückte Kaiserssohn! Irgendwie bezweifelte der Jüngere, dass er das wollte. Nein, er würde sich wahrscheinlich zu Tode schämen, wenn er beobachten könnte, wie er selbst unbekleidet unter seinem alten Kindheitsfreund lag, unter seinen Berührungen regelrecht  dahinschmolz und jegliche Würde stöhnend fortwarf. Er musste vollkommen weggetreten wirken, zumindest fühlte es sich so an. Hakuren schnurrte genüsslich. Er tastete sich zu Koumeis Schlüsselbeinen vor, dann zu seiner Brust. Ein Prickeln. Seltsames Gefühl. Wie demütigend. Nein, wie angenehm… Hakurens Zunge leckte zärtlich über seine Haut. Spielte auf einmal mit seiner Brustwarze und er merkte, dass es ihm gefiel. Sehr sogar. Dennoch stimmte da etwas nicht mit ihm. Koumei keuchte erschrocken. Plötzlich schoss wieder diese Hitze durch seinen Körper und konzentrierte sich pochend in seinem Unterleib. „Oh, nicht schon wieder!“, stöhnte er peinlich berührt. Der Ältere seufzte: „Warum hast du nur so ein Problem damit, Mei? Du bist jetzt ein Mann und ehrlichgesagt wäre ich enttäuscht, wenn du überhaupt keine Lust empfindest, wenn ich dir so nahe bin.“ „Lust? Nichts läge mir ferner, als Lust zu empfinden!“, stieß er entrüstet hervor. Dieser anstrengende, widerwärtige Dreckskerl! Hakuren schmunzelte wissend. „Was ist es sonst? Sag es mir.“ Koumei schauderte. Tatsächlich konnte er nicht sagen, was dieses Gefühl anderes bedeuten sollte. „Wenn du meinst… es fühlt sich aber so unangenehm an“, ächzte er. Hakuren strich ihm beruhigend über den nackten Rücken. „Gleich nicht mehr, das geht vorüber, Mei.“ „Es wird eher schlimmer“, jammerte dieser, während er unter der Berührung erzitterte. „Ich könnte dir helfen, es loszuwerden“, bot Hakuren ernsthaft an. „Vergiss es!“, fauchte Koumei entgeistert. Dieser dämliche Kerl. Er konnte es einfach nicht lassen. „Schau mich nicht an“, stöhnte er befangen. Am liebsten hätte er die Flucht ergriffen. Hakuren schüttelte ratlos den Kopf. „Ich finde es ein wenig seltsam, dass du dich so sehr darüber aufregst. Du musst dich für nichts hier schämen, niemand wird irgendetwas davon merken.“ „Du schon!“, gab Koumei zurück. Er wollte sich keine weitere Blöße vor Hakuren geben. „Zwangsläufig, ja. Wäre merkwürdig wenn nicht, oder?“ Koumei schwieg. Der Schwarzhaarige hatte vollkommen Recht. Hakuren kümmerte es nicht, ob das, was er tat peinlich oder beschämend war. Er schien es hinzunehmen, vielleicht sogar zu schätzen. Sonst hätte er ihn wohl kaum seiner Kleidung entledigt. Koumei ließ sich wieder in seine tröstliche Umarmung ziehen. Der Geruch nach Leder und leichtem Schweiß drang in seine Nase. Da wurde ihm etwas klar: Hakuren ging es kein bisschen anders, als ihm. Das Flackern in seinen großen Augen verriet ihn. Er musste ebenfalls verunsichert sein, vor allem von Koumeis verrücktem Verhalten, welches ihm zu Beginn dieses Abends solch einen Schrecken eingejagt hatte und ihn nun zu entnervenden Wortgefechten trieb. Frustrierend für sie beide. Dabei verblieben ihnen nur noch ein paar Stunden. Der Mond schien durch die Fenster herein. Er spürte Hakurens erwartungsvollen Blick auf sich ruhen. Seinen unendlich vertrauten, langsamen Herzschlag an seiner Brust. Und plötzlich kümmerte er sich nicht mehr um all die Bedenken, wenn auch nur für einen winzigen Moment. „Hakuren?“, murmelte er, während sein Herz bereits bis zum Halse schlug. Wie eine zappelnde Taube in den Fängen eines Tigers. Der andere schaute ihn überrascht an. Selbst ihm entging der veränderte Unterton nicht. „Mei?“ „Ich glaube ich würde auch gerne mit dir schlafen. Aber nur, wenn du weißt, was du da tust.“ Er klang so dumm. Viel zu jung und unerfahren, nicht im Mindesten erwachsen. Nicht wie sechzehn Sommer, eher wie… zwölf? Er wusste es nicht. Konnte nicht klar denken, wenn er derart aufgewühlt war. Hakuren schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln. Kein sorgloses Grinsen, dass er vielen Menschen zuteilwerden ließ, sondern ein liebevoller Ausdruck, der alleine ihm vorbehalten blieb. Es musste ihn einiges an Beherrschung kosten, wo er ansonsten immer impulsiv und unbedacht handelte, was sich in seiner stets heiteren Mimik wiederspiegelte. Tatsächlich wirkte Hakuren erfreut über sein Vertrauen. „Das ist die Antwort, die ich hören wollte. Du meinst es ernst, oder? Keine Sorge, ich gebe wirklich auf dich Acht.“ Was wollte er hören? Dass ich mit ihm schlafen will, oder dass ich eine klare Meinung nenne? Vielleicht beides? Was immer er auch meinte, Koumei brachte lediglich ein nervöses Nicken zustande. Dabei wünschte er sich bereits, er hätte nichts gesagt. Er konnte einen gewissen Funken der Neugierde nicht leugnen, doch die Furcht vor dem Ungewissen wog stärker. Er hätte es Hakuren verraten können, sagen, dass er es doch nicht wollte, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Der Prinz bemerkte nichts von seinen Zweifeln. Stattdessen drückte er ihn liebevoll. Koumei wand sich innerlich. Plötzlich kamen überaus merkwürdige Worte über seine Lippen: „Ren, irgendwie wäre ich jetzt gerne im Garten. Da ist es sicherer.“ Verdutzt löste der Schwarzhaarige sich von ihm und nahm sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. „Unter den Brombeeren? Geht es dir gut? Wahrscheinlich Mei, da kannst du dir die Dornen morgen überall rausziehen.“ „Nun ja… da ist es einfach… vertrauter?“, versuchte er es zu erklären und kam sich dabei so schwächlich vor, dass er am liebsten im Erdboden versunken wäre. Hakuren lächelte gutmütig: „Keine Sorge, hier ist es genauso sicher, dafür dornenfrei und ich bin trotzdem da.“ Wenn er nur begreifen würde, dass in diesem Fall genau er das Problem war! Doch Hakuren kümmerte sich nicht länger um Koumeis seltsame Anwandlungen, welcher sich bereits verzweifelt fragte, wie er diese Dummheit hatte aussprechen können. Der Prinz erhob sich. Unter verräterischem Knarzen tappte er über den Holzboden, bis hin zu dem mächtigen Sandelholzschrank, in welchem die Dienerinnen immer allerhand wichtige Dinge verstauten. Koumei gefiel es nicht, plötzlich alleine, ohne die vertraute Wärme eines anderen Körpers neben sich, einfach herum zu liegen. Unruhig setzte er sich auf. Beobachtete den anderen mit unstetem Atem. Alles an Hakuren wirkte in dem schummrigen Licht so wohlproportioniert, dass es ernüchternd war. Arme und Beine kräftig, aber nicht dick. Die Schultern breit, aber nicht zu mächtig, der Rücken grade, aber nicht angespannt. Dabei musste er innerlich sicherlich genauso mit sich kämpfen wie Koumei. Wie konnte er dennoch so beherrscht und gelassen erscheinen? Welch eine Ungerechtigkeit, Koumei war seine Anspannung am ganzen Leib anzusehen. Weshalb interessierte sich jemand wie Hakuren nur für ihn? Anfangs, vor etlichen Jahren, hatte er sich schon über ihre enge Freundschaft gewundert. Heute konnte er noch immer nicht glauben, dass daraus Liebe geworden war. Es glich einem Wunder, Hakuren hatte keinerlei Grund, jemand so armseligen und lethargischen, wie ihn, zu lieben. Vor allen Dingen, wenn er ihn mal wieder hinters Licht führte. Außerdem war der Schwarzhaarige früher immer den Mädchen hinterher gejagt, als gäbe es nichts spannenderes. Koumei fühlte sich merkwürdig. Unerwartete Kälte biss in seine bloße Haut und ließ ihn schlottern. Die Gänsehaut war nicht zu übersehen. Schnell hüllte er sich in die weiche Decke. Erfolglos. Selbst seine Zähne begannen zu klappern, so eisig war die Luft, doch bald stellte er fest, dass eigentlich recht angenehme Temperaturen in seinem Zimmer herrschten. Trotzdem, das Bibbern wurde immer stärker. Schließlich legte er sich einfach auf den Bauch, die Decke fest um sich geschlungen, und schielte wachsam zu Hakuren hinüber, der unterdessen verwundert an den schwergängigen Schranktüren rüttelte, bis sie aufsprangen. Suchend spähte er hinein, kniete sich hin, zog zwei weiße Handtücher aus einem Regal, reckte sich und fand schließlich die seltsame Sammlung von Tinkturen, Duftwässern und Körperölen, die mit der Zeit in Koumeis Zimmer gelangt waren. Da er sie kaum benutzte, seine Schwestern jedoch der festen Überzeugung waren, dass auch ihre Brüder gepflegt aussehen mussten, wuchs das Durcheinander immer weiter. Es dauerte eine Weile, bis Hakuren einen Überblick über die ganzen Fläschchen bekam. Erstaunt nahm er hin und wieder einen Flakon heraus und rief Dinge wie: „Oh, das Zeug hast du ja schon seit zehn Jahren!“, „Sieh mal dieses glitschige Ding da drin!“ oder „Das sieht nicht aus, als könnte man es gefahrlos benutzen.“ Kurzum, Hakuren war begeistert von den alten Lotionen. Dabei entging ihm, dass er seinen Freund mit diesem Entzücken regelrecht folterte. Ohne sich auch nur nach ihm umzuschauen durchwühlte er die Vorräte an angeblichen Wundermittelchen. Einige hatten bereits Schimmel angesetzt und wurden von ihm begeistert bewundert. Freundlicher Weise stellte er die verdorbenen Substanzen beiseite und ordnete sie nicht wieder in das Chaos ein. Dabei fiel ihm nicht auf, dass Koumei  immer unruhiger wurde. Der Rothaarige grub panisch die Finger in das Bettzeug und zappelte rastlos. Dann presste er sich eng gegen das Laken, aber selbst das brachte seine zuckenden Muskeln nicht zum Erlahmen. Sein ganzer Körper brannte unangenehm. Er war so schrecklich aufgeregt. In ängstlicher Erwartung, was gleich geschehen mochte. Wie es sich anfühlen würde. Ruhelos beobachtete er, wie Hakuren endlich fündig wurde. Das Öl, welches wohl für eine weiche Haut sorgen sollte, hatte er heute erst von einer seiner Schwestern geschenkt bekommen, zumindest sah es genauso aus. Diener mussten es bereits auf sein Zimmer gebracht haben. Schließlich kehrte der Schwarzhaarige zu ihm zurück. Endlich und doch viel zu früh. Hastig atmete er ein und aus. Sein Herz ziepte voller Anspannung. Mit jedem Schritt wuchs seine Unruhe nur noch mehr. Dann war Hakuren wieder neben ihm. Legte das eine Handtuch auf das Bett, das andere auf den Nachttisch mit der flackernden Kerze. Stellte das Öl daneben. Das Geräusch klang hart und kalt in Koumeis Ohren. Entlockte ihm ein Schaudern. „Keine Angst, entspann dich“, meinte die tiefe Stimme. „Mhm…“ Selbst Hakurens Lächeln konnte ihn nicht beruhigen. Vielleicht weil es dessen eigene Unsicherheit verriet. Und etwas Verlangendes, das in benommen machte. „Würdest du ein Stück zur Seite rücken, Mei?“ Er tat wie geheißen, die Decke fiel von seinen Schultern. Ließ ihn klein, frierend und verunsichert zurück, während Hakuren das blütenweiße Handtuch über dem Bettlaken ausbreitete.  „Warum-?“, krächzte der Rothaarige irritiert. Der andere entgegnete sanft: „Weil deine Dienerinnen nicht alles über dich, beziehungsweise uns, wissen müssen. Außerdem kannst du dann gleich sofort schlafen, wenn du möchtest.“ Koumei verstand. Leider. Warum sprach Hakuren die Tatsachen nicht aus? Um ihn nicht noch nervöser zu machen? Damit erreichte er genau das Gegenteil. Obwohl Hakuren ihm selbst vorgehalten hatte, dass er nun erwachsen war, redete der Prinz mit ihm, als wäre er dumm und beschränkt wie ein kleines Kind. Dabei war er das schon lange nicht mehr. Nein, bereits vor seinem Geburtstag hatte er es abgelegt, auch wenn er sich ab und an so fühlte, sie alle hatten zu viele Kriege und Schlachten erlebt, um noch an das Gute in der Welt zu glauben und Kinder zu sein. Wie falsch es war, so von ihm zu denken! Er konnte mit klaren Worten umgehen. Ein paar deutliche, verständliche Erklärungen hätten ihm geholfen. Schließlich verbrachte er sein ganzes Leben damit Erklärungen zu verarbeiten und in seinem Gedächtnis zu speichern. Wahrscheinlich hätten auch in dieser Situation einige Offenbarungen geholfen, sich sicherer zu fühlen. Er hatte keinen blassen Schimmer, wie zwei Männer miteinander schlafen sollten. Gut, er hatte eine leise Ahnung, aber diese war ebenso vage wie verstörend. Zitternd starrte er den Prinzen an. „Möchtest du näher kommen?“, fragte Hakuren behutsam, als wüsste er genau, wie vorsichtig er ihn jetzt behandeln musste. Koumei zögerte. So lange, dass er bemerkte, wie Hakuren ebenfalls unwohl wurde. Dann rutschte er neben ihn auf das Handtuch. Verlegen schaute er zu ihm auf. Mit einem Mal wusste er nicht mehr, wie er sich ihm gegenüber verhalten sollte. Doch Hakuren ließ sich keine Verunsicherung mehr anmerken, sondern zog ihn mit sich hinunter. Es kam überraschend, aber nicht unwillkommen. Fahrig schlang Koumei die Arme um Hakurens nackten Rücken. Dessen Brust hob und senkte sich heftig, als sie einen kurzen Kuss tauschten. Hakurens Blick jagte ihm unzählige Schauer durch die Adern. Er konnte ihrer beider Herzschlag spüren. Viel zu schnell und stotternd. Hörte das Beben in ihren Atemzügen, das ihm verriet, wie sehr diese Nähe sie beide beeinflusste. Aber diese übertriebene Furcht empfand Hakuren ganz sicher nicht. Nein, wohl kaum. Er nahm sich nie die Zeit, viele Zweifel zu zulassen. Fröstelnd presste er sich an ihn. Konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Viel zu viele Emotionen schienen in seinem Geist durcheinander zu wirbeln wie eisiges Flusswasser. Wieder trafen sich ihre Lippen. Das war gut. Etwas, das er kannte. Etwas, das er genoss. Läge da nicht dieses leuchtende Verlangen in Hakurens blauen Augen. Koumei senkte die Lider, um diesem verschlingenden Blick zu entgehen. Gab sich stattdessen dem vertrauten Geschmack nach Heidelbeeren und Hakuren hin. Ihn zu küssen war so angenehm. Die Hände des anderen tasteten sich über seinen Rücken nach unten. Er registrierte es kaum. Diese Küsse waren herrlich. Und eine kluge Ablenkung. Doch schließlich nutzte selbst das nichts mehr. Als Hakuren beinahe zufällig seinen Hintern berührte, zuckte er unweigerlich zusammen. Scham brachte sein Gesicht zum Brennen. Er hatte sich fürchterlich erschrocken. Eigentlich hatte er das nicht gewollt, aber er konnte nicht anders. Er war solch ein Feigling! Verkrampft schaute er zu Hakuren. Ob er ihm jetzt böse war?     *     *~* Kapitel 21: Nacht ----------------- *~*   *   „Koumei, du musst wenigstens versuchen, dich zu entspannen!“, drängte Hakuren besorgt, als er endlich dessen allesbeherrschende Aufregung wahrnahm. „Ich kann nicht! I-ich glaube ich mag d-das auch nicht“, winselte er zitternd. Dabei passierte noch gar nichts. Am liebsten hätte er sich selbst geschlagen. Für die Reaktionen, die er nicht kontrollieren konnte und seine schwache Stimme. Vater hatte Recht. Du zeterst wegen nichts! Hör mit dem Stottern auf, das ist ja nicht zum Aushalten! Stell dich nicht so an! Wie konnte man nur derart kläglich sein? Hakurens Blick hingegen wurde weich und verständnisvoll. „Oh, na gut, wenn du noch nicht bereit bist. Du musst entscheiden, ob du es willst oder nicht, auch wenn es mich schon ein bisschen wundert, dass du plötzlich so wenig Entgegenkommen zeigst“, meinte er und ließ von ihm ab. Setzte sich auf und streckte sich. Er wirkte nicht einmal gekränkt, höchstens ein wenig enttäuscht. Was für eine Erleichterung! Nur fühlte es sich merkwürdigerweise an, wie eine lächerliche Ausflucht. Jämmerlich und irgendwie falsch. Koumei konnte nicht leugnen, dass er sich zu ihm hingezogen fühlte und dass da irgendwo durchaus etwas wie ein leises Begehren schlummerte, aber so stark, dass er darüber seine Vorsicht und Bedenken vergessen konnte, war es definitiv nicht. Trotzdem, behinderten sie ihn nicht eigentlich nur auf überflüssige Weise? Wie auch immer seine Entscheidung ausfallen würde, wahrscheinlich war sie ohnehin falsch. Er zögerte lange, dann murmelte er niedergeschlagen: „Mh…ist schon gut. Es geht schon…“ Doch der andere schien sich darüber regelrecht aufzuregen: „Mei, wenn du so verkrampft, ohnehin schon verwirrt bist und nicht weißt, was du willst, ist es vielleicht keine gute Idee… Irgendwie gefällst du mir heute einfach nicht, du wirkst schon den ganzen Abend über erschöpft und benimmst dich merkwürdig. Ist irgendetwas? Wenn du von diesem Tag zu erledigt bist und deine Ruhe haben willst, musst du es mir nur sagen, dann gehe ich sofort. Es macht mir nichts aus, ich kann damit leben. Ich weiß ja, dass dieser Tag hart für dich war. “ Koumei schüttelte panisch den Kopf. Gehen für immer dann? Wie furchtbar! Also beteuerte er schwach: „N-nein, ich bin nur noch ein bisschen mitgenommen von diesem Tag, wie du schon vermutet hast. Es ist schon gut, Ren. Es macht mir nichts aus“, log er. Der Prinz seufzte tief. „Ich kann dich gut verstehen, so viel Trubel wie heute magst du ja überhaupt nicht. Aber meine Güte, Koumei! Es soll dir nicht nur nichts ausmachen, sondern es soll dir gefallen und sich gut anfühlen! Was ist heute nur los mit dir? Dein Wille ist ungefähr so stark wie ein Blatt Pergament. Du sagst die ganze Zeit Dinge, die du nicht sagen willst und dann bereust du es“, wies Hakuren ihn scharf zurecht. Ja, seinen Willen und seine Selbstbeherrschung hatte er heute Morgen irgendwo zwischen Baderaum und Speisesaal verloren. Zudem konnte Koumei nicht wirklich glauben, was sein Freund ihm da erzählte. „G-gut?“, wiederholte er nur ungläubig. Hakuren kratzte sich verlegen am Hinterkopf, diese Geste hatte er sich wohl bei ihm abgeschaut. „Tja, deshalb tut man es, oder? Nun ja, es ist vor allem beim ersten Mal nicht unbedingt leicht, aber so wäre es wünschenswert. Ich versuche es. Du wirst sehen, es ist halb so aufregend.“ Oh ja, der Schwarzhaarige zeigte es nicht so stark, aber aufgeregt war er auch. „Wenn du meinst…“, erwiderte der Rothaarige zweifelnd, da er diesen verschwindend kleinen, nervösen Unterton in Hakurens Stimme sofort registriert hatte. Seine Augen flackerten beinahe unsicher. Doch das winzige Schwanken verschwand sofort. Ein vertrauenerweckendes Lächeln: „Komm nur her.“ Koumei zwang sich, nicht weiter mit sich selbst zu hadern. Trotz seiner Bedenken stemmte er sich hoch. Ergriff die ausgestreckten Hände und flüchtete sich in die warme Umarmung. „Ist das nicht unangenehm für dich, wenn ich d-die ganze Zeit auf deinem Schoß sitze?“ Wie konnte man sich nur gleichzeitig so geborgen und verletzlich fühlen? „Nein, nein. Ist es für dich denn in Ordnung?“, murmelte Hakuren. Seine Stimme klang seltsam dumpf. Ja, auch er musste beunruhigt sein. Nein… eher erregt. Koumei spürte es. Dennoch bejahte er nur. Legte seinen Kopf auf Hakurens Schulter und verlor sich in seinem Geruch nach erhitzter Haut. Nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie er sich ein wenig zur Seite lehnte und nach dem Ölfläschchen griff. Zwang seinen Atem, sich zu verlangsamen, erfolglos. Beobachtete, wie Hakuren etwas von der goldenen Flüssigkeit zwischen seinen Handflächen verteilte und erwärmte. Berührungen an seinem Oberschenkel. „Darf ich?“ Diese trügerisch vorsichtigen Worte in seinem Haar, kurz bevor er sich keuchend vor Schreck zusammenkrümmte. „Geht es?“ Koumei grub die kurzgeschnittenen Nägel in Hakurens Schultern. Dieses Gefühl war befremdlich. Nicht schmerzhaft, schließlich übte Hakuren keinerlei Druck aus. Aber unangenehm. Sehr unangenehm. Beinahe erniedrigend. Sein ganzer Körper verspannte sich. Genau das, was er nicht tun sollte. Unbehagliche Laute drangen aus seinem Mund, schienen jemand anderem zu entweichen. Er wollte fort, doch Hakuren hielt ihn fest. „Warte, Mei, pass auf, sonst tust du dir noch weh!“, rief er erschrocken. Koumei gehorchte. Hakuren fragte behutsam, ob er sich anders entschieden hätte, aber der Rothaarige schnaubte nur verärgert. Er hatte es so satt, sich von dieser unnötigen Furcht beherrschen zu lassen! Aber er konnte nichts dagegen tun, außer Hakurens schweren  Geruch einzuatmen und sich keuchend an ihm fest zu halten. Er gewann den flüchtigen Eindruck, dass sein Prinz selbst nicht mit völliger Sicherheit wusste, wie genau er sich verhalten musste. Seltsamerweise beunruhigte es ihn nicht zusätzlich. Vielleicht hatte er bereits die Grenze der möglichen Anspannung erreicht, so sehr, wie sich seine Muskeln versteiften und zitterten. Hakurens freie Hand lag beschwichtigend in seinem Nacken, vollkommen sinnlos. Seine Stimme voller Verständnis. „Es ist nicht schlimm, Mei. Warte einfach nur ab.“ Doch, es ist schrecklich. Er wollte nicht abwarten. Es beschämte ihn und dennoch wollte er nichts sagen. Er wusste nicht einmal warum, aber irgendwie hatte er das Gefühl, sich wenigstens soweit beherrschen zu müssen. Bereute Hakuren seinen Wunsch jetzt? Eine gefühlte Stunde verging. Statt sich aufzulösen, wirbelten seine Gedanken wirr umher. Er fühlte sich wie im Fieber. Hitze. Sein Blut war glühend heiß. Immer, wenn Hakuren sich auch nur ein winziges Stück bewegte, sandte es beinahe unangenehme Schauer durch seinen Leib. Was mochte er wohl denken? Wahrscheinlich nicht sonderlich viel, aber es war ein schlechter Trost: Koumei kam sich abscheulich vor. Nicht wert, auf diese Weise berührt zu werden. Er verhielt sich wahrlich abstoßend. Schaffte es nicht, sich zusammenzureißen. Kein Wunder, dass er nie in einer Schlacht kämpfen würde, wenn ihn bereits dies hier vollkommen an den Rand eines Nervenzusammenbruchs trieb. Wie konnte Hakuren ihn nur derart begehrenswert finden? Doch der küsste nur gelassen seine Schulter. „Alles in Ordnung?“ Koumei nickte halbherzig. Hakuren streichelte seinen Rücken. Wie ruhig er auf einmal sein konnte. Noch ruhiger als er sich bei Koumei für gewöhnlich verhielt. Bewundernswert. Langsam spürte er, wie die furchtbare Last von ihm abfiel. Der Rothaarige vergrub das Gesicht an Hakurens Hals. Sein geliebter Hakuren. Wie konnte er ihn nur so sehr wollen, dass er ihn mit dieser fürsorglichen Geduld behandelte und gleichzeitig so sehr beschämte? Er war es nicht wert. Weshalb wollte der Prinz ausgerechnet mit ihm das Bett teilen, wo er doch derart unerfahren und verängstigt war? Wo er bereits jetzt kaum mehr atmen konnte, weil diese tiefen Berührungen verstörende Gefühle und Emotionen in ihm hervorriefen? Unfähig seine Furcht auch nur für einen Moment loszulassen? Es dauerte viel zu lange. Die folgenden Minuten zogen sich ins unendliche. Waren es vielleicht sogar Stunden? Eine quälende Ewigkeit? Schweiß erschien auf seiner Stirn. Perlte sein Gesicht hinab und vermischte sich mit dem des Älteren. Dann war da ein neues Gefühl, seltsam drückend und heiß. Es lief durch all seine Adern, durch seinen gesamten Körper und irgendwie fühlte es sich verboten gut an. Wie viel er von Hakuren spürte. Koumei stöhnte und bebte unterdrückt. Unter seinen stumpfen Nägeln riss Haut. Dieses Ziehen im Unterleib ließ ihn leise wimmern. Warum hatte er dem hier nur zugestimmt? Es fühlte sich weder angenehm, noch romantisch an. Ganz anders als ihr vertrautes Beisammensein. Keine verklärte Liebe aus einer der alten Sagen. Das hatte er auch nie erwartet. Viel mehr erfüllten Scham und ein seltsam stechendes Gefühl sein Herz und seinen Körper. Er brauchte mehr Zeit, dabei wollte er diese quälend lange Prozedur endlich hinter sich bringen. Hakuren ging langsam vor. Behutsam. Achtete genau auf seine Reaktionen und fragte unendlich oft, ob alles in Ordnung sei und beteuerte,  dass er sich für nichts schämen musste. Aber es war immer noch zu übereilt. Er konnte ihn noch so vorsichtig behandeln, es ging einfach zu schnell. Seine Muskeln zogen sich viel zu kräftig zusammen. Vielleicht war er zu sensibel, aber er konnte es nur schwer ertragen. Wie herabwürdigend. Beinahe hätte er den anderen doch noch gebeten, endlich aufzuhören. Nein, er hätte ihn angeschrien. Doch irgendwann nahm der unangenehme Druck nicht weiter zu und er hockte zitternd auf Hakurens Schoß. Das Ziehen ließ ein wenig nach. Für einen Moment tanzten schwarze Punkte vor seinen Augen. Die viel zu starke Anspannung, gepaart mit der Angst und der Aufregung, die mittlerweile endlich etwas gelindert waren, raubte ihm all seine Kraft. „Hakuren…“, flüsterte er. Seine Stimme klang so dünn. „Mei? Was ist los?!“ Die Hand stützte ihn, während er erschöpft nach Luft schnappte. „I-Ich muss mich hinlegen.“ „Warte.“ Hakuren klang schlagartig besorgt. Vorsichtig zog er seine Finger zurück und bettete Koumei auf das Handtuch. Kaum berührte sein Rücken den weichen Stoff, durchströmte Erleichterung seine Adern. Sofort ging es ihm wieder besser. Das Blut floss wieder in seinen Kopf und verdrängte das flaue Gefühl. Nur das Ziehen blieb. Benommen schweifte sein Blick durch den Raum, bis er an Hakurens tiefblauen Augen hängen blieb. „Möchtest du nicht mehr?“, fragte dieser rücksichtsvoll und Koumei spürte plötzlich, wie sehr er ihn liebte. Wie hatte er nur jemals daran zweifeln können? Hakuren war doch überaus zärtlich und verständnisvoll und es ging ihm genauso wie Koumei, denn er war ebenfalls unsicher. Er musste sich nicht vor ihm schämen. Warum tat er es dennoch? Diese wohltuende, liebevolle Wärme, die ihn jetzt umgab, war etwas vollkommen anderes als diese unangenehme, verzehrende Hitze. Doch sie kehrte viel zu schnell zurück. Ein heftiges Beben in seiner Brust, vermischt mit dem jähen Verlangen, wieder diese makellose Haut auf der seinen zu fühlen. Dabei fürchtete er ebendies. Unvorstellbar. Wohlmöglich hatte dieser Tag ihn jeglicher Vernunft und Rationalität beraubt. Im einen Moment dachte er dies, im anderen das. Wollte Dinge, die er gleich darauf verfluchte. Er verstand die Welt nicht mehr, doch am wenigsten sich selbst. Hasste den jämmerlichen Ton seiner Stimme. Die Schwäche, die er zeigte und nicht verhindern konnte. Die Tränen, die den ganzen Tag über bereits ungeweint in seinen Augen brannten. Er hatte die Kontrolle verloren und das verunsicherte ihn am aller meisten. Sein Vater hatte ihn durchschaut. Er war eine Schande für die Familie Ren, wenn er schon in Hakurens Armen haltlos wimmerte. Was war nur mit seiner strengen Erziehung geschehen? Verflogen in nur einer einzigen Nacht? Nein, sie hatte bei ihm wohl nie gewirkt. Ein Mann sollte stark sein. Sich nicht von seinen Gefühlen beeinflussen lassen. Er kam sich vor, wie eine heulende Witwe, nur, dass er das Weinen noch unterbinden konnte. Hätte er damals schon gewusst, dass es durchaus Witwen gab, die mit ihrem „Schicksal“ äußerst glücklich waren, er hätte sterben wollen. Nun versank er lediglich in tiefer Reue. Sie drohte ihn zu verschlingen. Was war er nur für eine verachtenswerte Kreatur? So schäbig. Nicht besser als Kali, aber noch dazu bereit sich einem anderen Mann hinzugeben, aus dem reinen Affekt heraus, obwohl er vor Angst schlotterte. Viel schlimmer. Wie unbedacht sie sich verhielten. Wie dumm. Koutoku täte nur Recht damit, sie zu bestrafen. Nein, das durfte er nicht. Sie beide verband doch so viel mehr als wankelmütige Launen. Hakuren liebte ihn auf eine unvernünftige, unerschütterliche, unbeugsame Art und Weise. Sorgte sich um ihn. Schützte ihn. War blind für jeden anderen und sah nur ihn. Schon so lange. Und Koumei liebte ihn ebenso, auch wenn er sich dessen viel zu lange nicht bewusst gewesen war. Diese viel zu kurze Zeit mit ihm. So schön, nahezu berauschend. Allzu bald würde alles enden. Er würde in einen finsteren Abgrund stürzen und alleine zurückbleiben, während Hakuren dort oben im Licht eine falsche Maske des Lächelns aufsetzen würde, umschwärmt von seiner zukünftigen Gemahlin. Niemand könnte je ahnen, dass hinter dieser sorgenlosen Miene Abneigung gegen sein Schicksal und Verzweiflung steckten. Koumei blinzelte die Tränen fort. Verschränkte seine Hand mit der seines Geliebten. Ergeben. Ermattet. Ja, dieses Schicksal war so grausam. Wie sehr er es hasste. Doch sie waren wehrlos. Konnten nichts dagegen tun. Sanftes Streicheln an seiner Stirn. „Was ist mit dir? Habe ich dir wehgetan?“ Diese übertriebene Panik. Es gab nicht viel, dass seinen Gefährten so in Aufregung versetzen konnte. Er schüttelte nur den Kopf. „Alles in Ordnung“, log er und rang sich ein falsches Lächeln ab. Hakuren seufzte erleichtert. „Du könntest weitermachen“, schlug Koumei vor. Habe ich das grade wirklich gesagt?, dachte er erschrocken. Eigentlich war er jetzt schon vollkommen von diesem ungewohnten Gefühl überfordert. „Ich weiß nicht ob das klug ist, wenn du so angespannt bist, Mei…“, gestand auch Hakuren. Dabei wusste der Rothaarige ganz genau, was der andere wollte. Dieser intensive Blick sprach Bände, sagte mehr als tausend Worte. Der Ältere mochte versuchen, fürsorglich zu handeln, allerdings konnte er sein offenkundiges Verlangen nicht länger überspielen, wenngleich er es ihm zu Liebe versuchte. Koumei sah es überall an ihm. Offensichtlich und versteckt. Immer noch fürchtete er sich davor. Dennoch… da war immer noch Neugier, auf einmal sogar erstaunlich viel Neugier. Irgendetwas erfüllte ihn daneben auch mit verbitterter Gleichgültigkeit. Egal, was soll dir schon passieren? Reiß dich zusammen! Dieses Gezauder ist armselig, du weißt das. Wenn er merkt, dass du dich schämst, wird er denken, dass du ihn nicht liebst und dann wird er noch schneller fortgehen. Wenn er dir wirklich weh tut, ist es eben das erste und letzte Mal gewesen. Wenn er sich nicht damit abfinden kann, ist es sein Problem, nicht deins! Also werde dir endlich darüber klar, was du willst und benimm dich nicht wie eine lächerliche Prinzessin! Aber auch Hakuren hatte inzwischen Bedenken: „Ich weiß aber nicht, ob ich nicht nochmal – “ „Dann versuch es“, erwiderte Koumei tonlos. „Ist es nicht das, was du die ganze Zeit wolltest?“ Die Verbitterung ließ sich nicht völlig verbergen. Er war so hinterhältig. Wie konnte er sich nur anmaßen, derartig boshafte Dinge zu sagen? Hakuren hätte ihm niemals all diese Zuneigung und Liebe vorgespielt, nur um sich ihm für eine Nacht anzunähern. Wäre niemals in der Lage dazu gewesen. Oder? Oh, was dachte er da nur? Wie kam er auf solch gehässige Ideen, die so unendlich weit von der Wahrheit entfernt waren? Aber jetzt verspürte er eine seltsame Wut. Der Prinz zögerte kaum merklich, obgleich die Unschlüssigkeit ihn nicht überrollte. Koumei funkelte ihn an, vielleicht passten seine rauen Worte ja doch. Weshalb versuchte Hakuren nur immer wieder, alles hinauszuzögern, obwohl deutlich war, womit es enden würde? Das war alles andere als rücksichtsvoll. „Worauf wartest du“, knurrte er verbissen, „ich werde schon schreien, wenn du mir zu sehr wehtust.“ „Bist du verrückt? Ich möchte dir überhaupt nicht wehtun!“, beteuerte Hakuren heftig. „Zu spät“, schnaubte Koumei. Nicht, dass ich das nicht ertragen könnte, aber das musst du ja nicht wissen… Der Prinz senkte betreten den Blick. „Na schön. Aber versprich mir, dass du irgendetwas sagst, wenn-“ „Gut, wenn dich das glücklich macht“, spottete er. Irgendwie trug er plötzlich einen irrationalen Zorn in sich, der natürlich tief in seinem Inneren weitgehend unbemerkt verrauchen würde, nachdem er sich grade für einen winzigen Moment an die Oberfläche gekämpft hatte. Hakuren rang ihn mit seinem empörten Blick zu Boden, ehe er erstaunlich leise bat: „Setz dich auf, Mei.“ Während er sich aus der liegenden Position in die Höhe kämpfte, bemerkte er, wie der andere nochmals zum Öl griff. War dieses Theater wirklich klug gewesen?   ~ Koumei umklammerte Hakurens Arm, welcher sich begehrlich um seine Hüften geschlungen hatte. Hinterließ tiefe Kratzer auf seinen Händen. Der letzte Halt. Dieses Gefühl… noch nie hatte er etwas dergleichen gespürt. Etwas zwischen Schmerz und Schweben. Es beraubte ihn jeglicher Besinnung, war so überraschend und plötzlich gekommen, dass es beinahe unerträglich schien. Entzündete einen fiebrigen Glanz in seinen Augen. Hakuren stöhnte gegen seine Schulter. „Mei…“ Es machte ihn Wahnsinnig, nein, sie beide. Ja, im wahrsten Sinne des Wortes. Heftige Wellen durchliefen seine Adern. Trugen ihn fort. Schwer lehnte er sich zurück, drängte sich gegen Hakuren und Flammen loderten durch sein Blut. Die Haut des anderen brannte auf der seinen wie Feuer. Schien so gut an die seine zu passen, dass er sich fragte, wie er ohne diese Nähe jemals hatte leben können. Dann verschwand der Gedanke in einem verschlingenden Strudel. Er konnte kaum Atmen. Wollte irgendetwas sagen, wusste nicht einmal was. Doch er brachte nichts heraus, konnte nicht klar denken. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Nur ein Ächzen stahl sich, beinahe gequält, über seine Lippen. Was war das? Diese Reaktion ängstigte ihn. Koumei wimmerte. Es fühlte sich so falsch an und erfüllte ihn zugleich mit einem unbeschreiblichen Verlangen nach mehr davon. Wie konnte es sich nur gut anfühlen? Es übertraf alles Verbotene, was sie bisher getan hatten. Er wollte das nicht, es war so demütigend. Endlich ein Vorwand, die angestauten Tränen über ihren letzten gemeinsamen Tag, ihre letzten Stunden, zu weinen. Er konnte es nicht länger zurückhalten, obwohl er die Lider schloss. Salzige Tropfen rannen über sein Gesicht. Perlten auf das weiße Laken. Hakuren bemerkte sie nicht. Lediglich ein Kuss auf den Nacken. Der Rothaarige stöhnte auf. Er fühlte Hakurens Hände, so fest um seine Brust gewunden. Sie würden ihn nie wieder gehen lassen. Hielten ihn gefangen. Kochender Schweiß gesellte sich zu den Tränen. Konnte seinen protestierenden Gliedern keine Linderung verschaffen: Sein Körper war so heiß, als würde er verbrennen. Glühend. Dieses Feuer in seinem Inneren fachte sich selbst immer weiter an. Versengte ihn von innen heraus. Nahm kein Ende. Immer schlimmer. Leise Angst pochte in seinem Herzen. Die Tränen ein nicht enden wollender Strom. Aber kein Wort verließ seinen Mund. Er fühlte nur noch Hakuren. Ein scharfer Schmerz. Ein Keuchen. Seine Finger krallten sich verzweifelt in die weichen Kissen. Das war falsch. Seine Muskeln verkrampften sich. Zum Zerreißen gespannt. Ließen seine Oberschenkel zittern. Der Druck in seinem Inneren wurde unerträglich. Sandte Wellen des Schmerzes durch seinen ganzen Leib. Bahnte sich mit unaufhaltsamer Macht seinen Weg. Ein letztes Aufbäumen. Dann riss etwas in ihm. Zumindest fühlte es sich so an und ließ ihn erbeben. Da wusste er, dass es um seine Selbstbeherrschung vollends geschehen war und er nichts mehr vor Hakuren verbergen konnte. Etwas drängte aus ihm heraus. Bahnte sich seinen Weg hervor, ohne das er es aufhalten könnte, obwohl er es mit aller Macht versuchte: Koumei schluchzte auf. Sein zitternder Atem ging stoßweise und er wusste, dass all seine Mühen umsonst gewesen waren. Selbst Hakuren würde jetzt merken, wie erbärmlich er wirklich war. Die Tränen, die er die ganze Zeit so erfolgreich unterdrückt hatte, schienen ihn zu verhöhnen und nur noch stärker hervor zu quellen. Das durfte nicht sein! Dennoch, er konnte es immer noch nicht vergessen: Morgen, der neue Tag der bevorstand und drohend auf das Ende dieser Nacht wartete. Koumei keuchte schweißgebadet. Ermattet brach er auf dem durchnässten Laken zusammen. Gleichgültig. Bebend. Am Ende seiner Kräfte. Seltsam erleichtert. Verstört, verbittert. Und doch merkwürdig befreit. Hakuren sank vollkommen erschöpft auf seinen Rücken. So schwer. Seine Knochen protestierten. Er bekam keine Luft mehr. Es stach. Erst sein erschrockener Schmerzensschrei brachte den anderen zur Besinnung. Viel zu langsam verschwand das niederdrückende Gewicht von seinem Körper, als der Ältere sich behutsam und dennoch hektisch von ihm löste. Koumei fühlte sich vollkommen ausgelaugt. Nur der abebbende Schmerz blieb zurück. Entsetzt keuchte Hakuren: „Mei! Alles in Ordnung? Es tut mir so leid!“ Er klang ebenso schockiert, wie er sich selbst noch immer fühlte. Hatte Angst, etwas Unverzeihliches getan zu haben. Fast, als erwartete er einen Schlag oder verletzende Worte. Doch Koumei warf sich ihm regelrecht an den Hals. Ignorierte die Erschöpfung und das Unwohlsein, sondern drückte sich an ihn, als wollte er mit ihm verschmelzen. Bald würde er diesen Geruch nach Heidelbeeren und Leder für immer vermissen. Gesplitterte Fingernägel gruben sich unkontrolliert in Hakurens Rücken. Koumeis rotes Haar wippte auf und ab. Der magere Körper geschüttelt von heftigen Schluchzern. „Oh Mei… es tut mir so leid, ehrlich. Wolltest du es doch nicht? Habe ich dir wehgetan? Ich Idiot hätte einfach die Klappe halten und dich entscheiden lassen sollen! Es hat dir überhaupt nicht gefallen, oder? Sag mir doch, was los ist“, flüsterte er beunruhigt, bekam aber nur ein tränenfeuchtes Kopfschütteln. Dass Hakuren im Nachhinein Dinge bereute, auf die er vorher ganz wild gewesen war, war nichts Ungewöhnliches. „Was ist mit dir? Ich schwöre, dass ich dich nie wieder anrühren und nie wieder etwas tun werde, was du nicht willst, aber bitte, rede doch endlich!“, flehte er. Da gruben sich die schlanken Hände haltsuchend in sein dunkles Haar. „G-geh nicht“, wimmerte es herzzerreißend. Zögern. Dann ein ungläubiger Blick. Hakurens Stimme schwankte: „Ich muss. Spätestens wenn die Sonne aufgeht.“ Koumei zitterte vollkommen ermattet. Die hellen Augen verschleiert vor Erschöpfung. Eigentlich war es ein einziges Wunder, dass er nicht längst in tiefer Bewusstlosigkeit schwebte, aber mit einem Mal machten sich all die verdrängten Gefühle bemerkbar und drängten aus ihm heraus. „B-bleib hier. Bitte.“ Hakurens Augen weiteten sich vor Schreck. Überraschung zeichnete sich auf seiner Miene ab. „Du hast die ganze Zeit über nur daran gedacht? Den ganzen Tag über? Das ist der einzige Grund, der dich derartig quält?“ Koumei nickte schwach. Der Schwarzhaarige brachte keinen Ton mehr heraus. Er wusste zwar, dass es ihn traurig machte, aber so sehr? Koumei heulte leise, jetzt passierte genau das, was nicht geschehen sollte. Er ärgerte sich so unendlich über sich selbst. Nervenzusammenbrüche waren so erbärmlich. „Ren, es tut so weh“, klagte er erstickt. In diesem Moment hätte er nicht einmal sagen können, welchen Schmerz er meinte. Was war nur mit ihm los? Seine Gefühle lasteten so dunkel und schwer auf seiner Seele. Was war heute Nacht nur mit seiner Selbstbeherrschung geschehen? Nun lag sie in Trümmern vor ihm. Ließ sich nicht mehr retten. Verwandelte ihn in ein klägliches, bedauernswertes Etwas. Ein abstoßendes Wesen, welches nur noch schmerzerfüllt schluchzte und sich an seinem liebsten Hakuren festkrallte, wie an einem rettenden Seil. Dabei war es doch alles dessen Schuld. „Also hast du doch Schmerzen?“, hakte Hakuren angstvoll nach. Der Kleinere presste das nasse Gesicht an dessen Hals. „Mhmh…“ „Oh bei den Rukh, warum hast du denn nichts gesagt?! Glaubst du, du brauchst einen Arzt?“, hauchte Hakuren entsetzt. Koumei schüttelte den Kopf. „Es ist nicht schlimm“, stritt er wimmernd ab, denn jetzt war es die Wahrheit und kümmerte ihn nicht mehr. Aber der Prinz sah so bestürzt aus, dass Koumeis Herz alleine bei dessen verstörtem Anblick brach. Etwas Feuchtes tropfte auf seine Wange. Erstaunt starrte Koumei auf die salzigen Tränen, die nun auch seine Hände benetzten, aber sie kamen nicht mehr nur von ihm. Sie bahnten sich unaufhaltsam ihren traurigen Weg nach unten. Hakuren weinte. Und das war das schlimmste, was er hätte tun können, wo er doch sonst immer so heiter und fröhlich gestimmt war. Wenn der Prinz diese Schwäche zeigte, bedeutete es etwas Schreckliches. Koumeis Herz zitterte vernichtend und ließ ihn aufheulen. „Oh Ren, wärst du doch niemals zurückgekehrt…“, stieß er hervor. „Aber … Mei … ich …“ „Du hast es alles noch viel schlimmer gemacht“, weinte er bitter. Diese schreckliche Wut… Hakuren schaute ihn durch den Tränenschleier hindurch an. Wie jämmerlich, jetzt lagen sie sich beide in den Armen und heulten. Alleine deshalb würde sein Vater, ja sogar Kouen, ihn blutig schlagen. „Verzweifle nicht. Wir werden uns wiedersehen.“ Dieser lächerliche, auswendig gelernte Spruch. Wie überzeugend, wenn man selbst nur noch schluchzte. Koumei widersprach ernüchtert: „Aber es wird nicht das gleiche sein. Keine Nähe. Wir können einander nur noch aus der Ferne beobachten. Und dann wirst du mich vergessen.“ Er schniefte, doch die Tränen wollten kein Ende nehmen. „Wie kannst du mir so etwas unterstellen? Nein, ich werde einen Weg finden, zu dir zu kommen“, beteuerte Hakuren. Er war wirklich überzeugt davon. Wie bald würde er dieses Versprechen vergessen haben, wenn er erst einmal verheiratet war? Hakuren mochte Frauen, hatte sich früher kaum vor einem ganzen Schwarm von ihnen retten können. Weshalb sollte er dieses Mal so furchtbar abgeneigt sein, eine zu heiraten? Nein, wenn die Ehe erst einmal vollzogen wäre, würde er sich nicht mehr um ihn scheren. Koumei konnte nicht glauben, wie blind dieser vielbewunderte junge Mann sein konnte. Es war so unverzeihlich. Trostlos. Er ertrug es nicht länger. Entsetzlich langsam hob er den Kopf und hauchte entkräftet: „Diese Möglichkeit suchst du vergebens. Wie kannst du nur dem Willen deiner Eltern zustimmen? Wieso hast du gesagt, dass du mich liebst? Wenn es stimmte, würdest du nicht einfach fortgehen, ohne mir auch nur eine einzige Nachricht zu hinterlassen! Wie konntest du nur? Für dich mag das alles nur ein ablenkungsreicher Zeitvertreib sein, aber ich, ich habe mich wirklich in dich verliebt und weißt du wie weh das tut, wenn du einfach so gleichgültig davon gehst? Ohne ein einziges Wort? Nur um dann wieder hierher zu kommen, um alles noch viel furchtbarer zu machen?“ Er konnte nicht weitersprechen. Seine eigenen ungewöhnlich lauten Worte machten ihm Angst. Er erkannte sich selbst nicht mehr wieder. Verwirrt presste er sich gegen Hakuren. Er hatte ihm noch nie so heftig seine Liebe gestanden. Und nun war es zu spät. Sein ganzer Körper bestand nur noch aus Verbitterung. Die salzigen Tropfen brannten auf seiner Haut wie Säure. Wieso konnte nicht alles beim Alten bleiben? Weshalb musste Hakuren für ihn wichtiger werden, als alles andere, nur um ihm so bald schon wieder genommen zu werden? So ungerecht. „Ich habe Angst“, flüsterte es da plötzlich an seinem Ohr. „Und ich weiß genau, wie du dich fühlst, weil es mir nicht anders geht.“ Nein, das weißt du nicht. Doch Hakuren fuhr fort und drückte ihn an sich: „Ich habe es dir unendlich oft gesagt. Ich will diese Heirat nicht. Nicht diese unbekannte Prinzessin, nicht dieses Bündnis. Ihr geht es sicher ebenso. Ich will sie nicht! Da bist immer nur du und es wird nie anders sein. Wieso verstehst du das nicht? Am liebsten würde ich das alles vergessen und nie jemanden wie sie zur Frau nehmen. Ich fürchte mich vor all den Pflichten und Hoffnungen der Leute. Ich weiß nicht, was von mir erwartet wird. Was ist mit Hakuyuu, ist er mir nicht böse, wenn ich ihm zuvor komme? Dabei ist diese Prinzessin so vollkommen reizlos. Aber weißt du, was geschieht, wenn ich ablehne? Es wird unserem Reich schaden und das kann ich nicht zulassen. Es wäre unverzeihlich, wenn deshalb ein Krieg zwischen ihrem und unserem Land ausbräche.“ Der Ältere wandte sich ab und wischte sich Tränen aus dem Gesicht. Der Rothaarige schluchzte leise, woraufhin der Prinz ihn so besorgt anstarrte, als ob er gleich sterben würde. Dennoch, an seinen Worten gab es nichts zu Widersprechen. Oh, wie Recht er doch hatte. Koumei wusste das selbst am allerbesten. Ihm erschien es, als verginge mit Hakurens Worten auch das letzte bisschen Glück, das bereits zu Beginn dieses scheußlichen Tages zerbrochen war. So lange und doch viel zu kurz hatten sie es miteinander geteilt. Bald war es endgültig vorbei. Nur ein paar Stunden noch. Eine lächerlich kurze Zeit. Herzschläge, Atemzüge. Flüchtige Küsse. Bald würde all das in schrecklich weiter Ferne liegen. Ebenso verging jedoch auch der Schmerz. Wurde zu einer dumpfen Erinnerung. Ballte sich zu einem kleinen, harten Knoten zusammen und enthüllte eine ungeahnte Kälte, die ihn nach der unerträglichen Hitze frieren ließ. Was sollten sie nur machen? Diese haltlosen Anschuldigungen gegen Hakuren würden seinem zersplitterten Herzen auch nicht mehr helfen. Das einzige, was er jetzt noch tun konnte, war eng an ihn geschmiegt die letzten Stunden zu verbringen. Würde der Morgen doch niemals anbrechen! Seufzend rutschte er wieder näher. Unwohlsein überkam ihn. Mit einem Mal brachen die Anstrengungen des Tages wieder mit aller Macht über ihn herein. „Es tut mir Leid, dass ich das alles gesagt habe“, winselte er und sank kraftlos in Hakurens Armen zusammen. Seine tränenroten Augen fielen immer wieder zu. „Das muss es nicht“, erwiderte der Prinz unvermutet sanft, während in einem fort die Verzweiflung in seinem Blick loderte. Aber in dieser Nacht konnten sie nichts mehr ändern. Koumei gähnte schwach und der Prinz stimmte ebenso niedergeschlagen mit ein. Koumei bemerkte kaum noch, wie er ihn achtsam zwischen die Kissen gleiten ließ und behutsam seine Stirn küsste. Die weichen Stoffe empfingen ihn behutsam, umhüllten seinen ermatteten Körper und machten ihn noch schläfriger. Auch, dass Hakuren ihn vorsichtig mit dem sauberen Handtuch abrieb und das alte unter ihnen hervorzog, entging ihm. „Möchtest du dich waschen?“, fragte er leise, doch Koumei murmelte nur etwas Unverständliches und schmiegte sich behaglich an ihn, um seine Wärme zu spüren, da es kühl geworden war. Der Prinz klang bei jedem seiner Worte seltsam erleichtert. Wahrscheinlich hatte er befürchtet, dass der Rothaarige sich verstört von ihm abwenden würde und dass er seine Nähe trotzdem duldete, sie sogar suchte, schien ihn beinahe zu erstaunen. „Na schön, es ist ja auch sehr spät. Dann tu das morgenfrüh, ja?“ Er erhielt lediglich ein müdes Seufzen. So lagen sie dicht an dicht, bis Koumeis Atem tief und regelmäßig ging. Endlich kam der Schlaf über ihn und zerrte die elendigen Sorgen mit sich fort.    ~~~ Ein Rascheln durchdrang seine Träume wie ein seidiger Nebel. Dämmerlicht. Er blinzelte. Zu langsam, um etwas zu sehen. Seine Lider flatterten träge auf und schlossen sich wieder, kamen nicht vom Schlaf los. Weicher Stoff streifte flüchtig über seine Haut. Dann eine warme Berührung an seiner Stirn. „Auf Wiedersehen, Mei…“ Ein diffuses Schemen über ihm. „Ren…“, murmelte er. Haschte vergeblich nach den kräftigen Fingern, die ein letztes Mal durch sein Haar glitten. Er wusste nicht, dass dies wirklich das letzte Mal sein sollte, denn dann hätte er noch viel verzweifelter gegen den eisigen Griff des Schlafes angekämpft. Doch er schaffte es nicht, sich aus den Traumschwaden zu befreien. Egal, wie sehr er es wünschte. Aber er musste Hakuren noch einmal ins Gesicht sehen… Unmöglich. Es fiel ihm so schwer, jeder Gedanke… „Bleib…“ Sachtes Knarzen, dann ein Schaben. Der Raum war leer. Seine Hand fiel machtlos auf das Laken. Der übermächtige Schlaf zog ihn mit sich hinab.     *     *~* Kapitel 22: Fieber ------------------ *~* * Zaghaftes Sonnenlicht durchdrang schwächlich den dichten Nebel. Die wabernden Schwaden verschleierten die Bäume und Sträucher des Gartens, hüllten das schlafende Anwesen in ungewisses Schweigen. Nur hie und da hätte ein wachsamer Betrachter die einsamen Wipfel der Kiefern erahnen können, die schwächlich um Beachtung rangen. Tautropfen hingen an den Gräsern und hätten den Saum jedes Gewandes, das über sie gestrichen wäre in wenigen Momenten durchnässt. Doch niemand regte sich an diesem stillen Tagesbeginn, mit Ausnahme einiger Wildtauben, deren sanftes Gurren nur ab und an erklang, als wären die Tiere noch schlaftrunken. Der kühle Morgendunst erstrahlte unter den gedämpften Sonnenstrahlen, zarte Vorboten des bald bevorstehenden Herbstes. Sie schienen sanft durch die papiernen Fenster, umgingen die geschnitzten Holzgitter und zeichneten ein verschlungenes Muster auf die unberührten Holzdielen am Boden des Zimmers. Schließlich wanderten sie durch den Raum, bis sie warm das mächtige Bett, in dessen Mitte eine einsame kleine Gestalt lag, beschienen. Koumei schlug träge die Augen auf, sobald die vorsichtige Sonne sein Gesicht erwärmte. Er hüstelte trocken und blinzelte schwach gegen die plötzliche Helligkeit an. Der Schlaf hielt ihn noch flüchtig umfangen. Verträumt starrte er durch eine zerrissene Papierbahn auf den dicken Nebel, der bald gänzlich von der Sommerhitze getilgt werden würde. Doch noch trübten die Schleier die Luft und nahmen ihr die Schärfe. Es musste noch sehr früh sein, für gewöhnlich bekam er einen derartig friedlichen Anblick nicht zu Gesicht. Wie schön es wäre, wenn die ganze Welt für immer in dieser gedämpften Stimmung verharren würde. Diese himmlische Ruhe… zu schön, um wahr zu sein. Irgendwann stahl sich ein leises Gähnen über seine Lippen. Er fühlte sich merkwürdig gut. Beinahe ausgeruht. Seine Glieder waren unerwartet leicht, als würde er schweben. Die Bettlaken schmiegten sich angenehm um seinen überraschend nackten Körper. Wie zufällig strich er sich mit der linken Hand eine vorwitzige Strähne aus der Stirn. Verwundert zog er sie zurück. Seine Armbänder klirrten nicht mehr um seine Handgelenkte, sondern lagen auf dem Nachttisch, zusammen mit einem Bündel vertrockneter Blüten und Blätter. Nur sein Ohrring, den er später verlieren sollte und dennoch viel später erst ersetzen würde, pendelte unschuldig an dem vorgesehenen Ort. Plötzlich blitzte eine drängende Erinnerung im hintersten Winkel seines Geistes auf. Schob sich unbarmherzig vor seine Augen und schlagartig verschwand die angenehme Täuschung. Er fühlte sich alles andere als gut oder gar zufrieden: Ein einziger, schwerer Gedanke verdrängte das sedierte Gefühl der Schwerelosigkeit. Hakuren. Er war fort. Gegangen, ohne sich zu verabschieden. Der Prinz hatte ihn still und heimlich verlassen, ebenso verstohlen wie er gekommen war. An seiner Stelle blieb nur eine nichtzufüllende Leere. Dabei brauchte er ihn so dringend. Warum? Sein Herz pochte schmerzhaft in seiner Brust. Bereits jetzt, wo sie grade einmal ein paar Stunden voneinander getrennt waren, kam es ihm wie eine unerträgliche Ewigkeit vor. Dabei erinnerte sich sein Körper noch mit allen Sinnen an ihn. Hörte seine liebevolle raue Stimme, das freudige Grinsen. Schmeckte ihn auf der Zunge, roch seinen vertrauten, lederartigen Duft auf der Haut, sah die vereinzelten, bläulich verfärbten Male, die zu ekstatische Berührungen darauf hinterlassen hatten. Und natürlich spürte er, wenn er sich daran erinnerte, den leicht ziehenden Schmerz, der nach der letzten Nacht noch nicht völlig verschwunden war. Aber vor allem dachte er unaufhörlich an Hakuren. Konnte seinen Geist keinen Augenblick von dieser schrecklichen Sehnsucht, in seiner Nähe sein zu wollen, befreien. Wahrscheinlich hätte er ihm böse sein müssen, weil er ihm gestern entgegen seinem Versprechen diese Schmerzen bereitet hatte, die immer noch nachwirkten. Doch es ging einfach nicht. Gott, er bereute es nicht einmal. Schämte sich plötzlich kein bisschen mehr, obwohl er verbotenerweise statt mit dieser hinterhältigen Haremsdame mit dem zweiten Prinzen geschlafen hatte und in der Nacht solche Zweifel gehegt hatte. Nun war diese Angst nicht viel mehr als eine lächerliche Erinnerung. Es war so viel wertvoller gewesen, Hakuren so überwältigend nahe zu sein, als ihn zurück im Palast zu wissen, da vergaß er bereitwillig, wie unangenehm es sich anfangs und vor allem am Ende angefühlt hatte. Ja, er liebte ihn viel zu sehr. Hatte sich davon hinreißen lassen und das Denken aufgegeben, nur für den Älteren, der nun bereits im kaiserlichen Palast angelangt sein musste. Plötzlich besann er sich auf das, was Hakuren ihm geraten hatte. Er sollte sich waschen gehen. Am besten gleich, sonst würde er nur den Dienerinnen über den Weg laufen. Wenn sie ihm beim Baden behilflich wären, würden sie alles sehen, dachte er unbehaglich. Das durfte nicht geschehen. Sie mochten ja nur verwunderte Blicke tauschen, aber über kurz oder lang würde sein Vater es erfahren. Vielleicht würde er zufrieden sein und annehmen, dass er und Kali sich bestens verstanden hatten, aber sobald diese Dämonin irgendein falsches Wort aussprach, wäre Koutoku außer sich vor Zorn. Koumei erschauderte vor Angst. Er musste schleunigst aufstehen und diese verräterischen Spuren so gut es ging abwaschen. Aber er wollte nicht. Ohnehin richteten Wasser und Seife nichts gegen Blutergüsse aus. Obwohl er selbst bemerkte, dass ein Bad dringend nötig war, graute es ihm davor. Hakurens Geruch hing überall an ihm, wie eine zweite Haut. Haftete auch an seinem Haar, dass der Prinz so sehr mochte. Diesen Duft konnte er nicht einfach abspülen. Er war sich sicher, dass damit auch ein Teil seiner Erinnerungen verloren gehen würde. Vor allem aber würde er damit ihren Abschied endgültig besiegeln und sich damit abfinden, Hakuren künftig nur noch aus der Ferne oder zu streng formellen Anlässen zu sehen, wo sie höchstens einen flüchtigen Blick tauschen konnten. Dabei fühlte er sich derart schmutzig und verklebt, dass er es um ehrlich zu sein kaum abwarten konnte, in einen Badezuber zu steigen. Eine traurige Seltenheit. Er wünschte, er könnte diese Erinnerung an ihr inniges Verhältnis noch einige Zeit mit sich herumtragen. Doch ihm blieb keine Wahl. Er musste fürchterlich aussehen. Als er sich aufsetzte, schoss ein scharfes Ziehen durch seinen gesamten Leib. Sein Rücken protestierte. Sofort bemerkte er wieder, dass dieses gute Gefühl nach dem Aufwachen ein einziger Trugschluss war, doch er schlug die raschelnde Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante. Wenn er jetzt weiter faulenzte, würde er heute nie mehr irgendetwas schaffen. Jedoch: Kaum war er regelrecht aufgesprungen, knickten seine Knie wieder ein. Jedes einzelne Glied wurde plötzlich unerträglich schwer. Erschrocken sog er die Luft ein und sie rasselte erstaunlich rau in seiner Lunge. Mit einem Mal begann sein Hals höllisch zu kratzen, doch ein röchelndes Husten konnte es nicht vertreiben. Ein heftiges Pochen gellte in seinem Schädel. Rasender Schwindel warf ihn regelrecht zu Boden. Sein Magen krampfte sich zusammen. Wieder und wieder. Er würgte. Erstickte beinahe unter den Krämpfen. Doch das einzige, was herauskam, war bittere Galle, die ihm beinahe den schmerzenden Hals verätzte. Kein Wunder, er hatte gestern kaum gegessen. Alles an ihm schien auf einmal so schwach und kraftlos. Zitternd kauerte er sich neben dem Bett zusammen, die Hände gegen die berstenden Schläfen gepresst. Sie waren so heiß. Panik wallte in ihm auf. Der widerliche Geschmack in seinem Mund zwang ihn zu erneutem Würgen, obwohl es nun erst recht nichts mehr gab, das er hätte erbrechen können. Wieder ergoss sich grünliche Flüssigkeit auf den Boden. Durch den beißenden Gestank wurde ihm noch schlechter. Tränen rannen über sein verschwitztes Gesicht. Die Bodendielen verschwammen vor seinen Augen und schon lag er röchelnd auf der Seite. Geschwächt zog er sich von dem Erbrochenen fort. Was war mit ihm los? Wieso fühlte er sich von jetzt auf gleich derart schlecht? Hatte ihm gestern vielleicht wirklich jemand Gift in den Pflaumenwein gemischt? Nein, unmöglich, dann hätte er die Nacht vermutlich nicht einmal mehr erlebt. Noch einmal krümmte sich sein Körper zusammen, doch dieses Mal erbrach er nichts mehr. Erleichtert rieb er sich über die nassen Augen. Er musste schleunigst baden, besonders jetzt, wo er sich derart widerwärtig fühlte. Aber wie sollte er in diesem Zustand den Weg über die langen Korridore schaffen, geschweige denn Wasser herbei schleppen? Koumei graute es bei diesem unmöglichen Gedanken. Ihm blieb keine andere Wahl, als es zu versuchen, wenn er nicht wollte, dass sein Vater ihn in der Luft zerfetzte. Quälend langsam tastete er nach der zerknitterten Festrobe und zog sie sich über den Kopf. Wischte sich mit dem teuren Ärmel Speichel und Erbrochenes aus den Mundwinkeln, doch er kümmerte sich nicht darum, hatte schlimmere Sorgen als ein bisschen Seide. Er musste ein abstoßendes Bild liefern, doch er konnte es nicht ändern. Alleine der Weg zur Schiebetür zwang ihn bereits wieder auf die Knie. Bei jedem Schritt hämmerte es in seinem Kopf und der Schwindel machte ihn fast blind. So kroch er mehr aus seinen Gemächern heraus, als zu gehen und zog sich mit rasselndem Atem auf den menschenleeren Flur. Später konnte er nicht sagen, wie er überhaupt den Weg zum Baderaum gefunden hatte. Jedenfalls hatte er unheimliches Glück, dass die Wanne noch gefüllt war. Im ganzen Stress, den die Feier verursacht hatte, hatten die Dienerinnen wohl vergessen, sie auszuleeren. Das schmutzige Wasser, das noch von seinem gestrigen Bad übrig geblieben sein musste, glänzte zwar vor Seifenresten, doch für seine Zwecke würde es ausreichen müssen. Schwerfällig schob er die verunstaltete Robe beiseite und schaffte es irgendwie, sich in den Zuber hineinzuhieven. Abgezehrt schlug sein Kopf gegen den Wannenrand, doch er spürte es kaum. Sofort überfiel ihn eisiger Schüttelfrost. Das lauwarme Nass leckte an seinem nackten Körper, als wolle es ihn verschlingen. Wie leicht es jetzt wäre, sich in das verlockende Wasser zu legen, bis er einatmen musste und dann die schmutzige Flüssigkeit in die Lunge strömen zu lassen… Der verstörende Gedanke erschreckte ihn kaum, zu traurig war er über Hakurens Weggang. Außerdem konnte er sich kaum mehr auf irgendetwas besinnen mit diesen heftigen Migräneanfällen. Nur mit größter Selbstbeherrschung schaffte er es, ein Stück abgebrochene Kernseife vom Boden aufzuheben und sich mehr schlecht als recht damit einzureiben. Dann jedoch schrubbte er seine Haut mit einem Mal so verbissen, als wollte er sie abreißen, obwohl seine zitternden Arme protestierten. Tauchte den Kopf unter und versuchte, sein zerwühltes Haar zu waschen. Dann hielt er es nicht mehr aus. Er fühlte sich nicht mehr lebendig und das hatte nichts mit der langen Nacht zu tun. Die gestrigen Schmerzen hatte sein Körper noch lange nicht vergessen, aber das schwache Ziehen war nichts im Gegensatz zu diesem tödlichen Pochen in seinem Kopf, welches ihn schließlich aus dem Zuber trieb. Frierend und schwitzend zugleich hüllte er sich in das schmutzige Festgewand. Er konnte nicht mehr. Schaffte es nicht einmal mehr, sich abzutrocknen. Egal, der Spätsommer würde sich spätestens zur Mittagstunde in seiner ganzen warmstrahlenden Pracht offenbaren und diese Arbeit für ihn erledigen. Tropfend schob Koumei sich Stück für Stück auf die hohe Tür zu. Dann langsam, Schritt für Schritt über den Gang. Abbiegen. Ein paar Schritte noch. Links. Rechts. Nächster Flur, nur noch zwei Korridore. Zwei zu viel. Er brach ohne Vorwarnung zusammen. Der rote Teppich war erstaunlich hart. Seine nassen Haare klebten an seinem Gesicht, seinem Nacken, seinem Rücken wie rote Algen. So kalt. Der Stoff um seinen bloßen Körper war viel zu dünn. Es musste bereits heiß draußen sein, doch das einzige, das sich wirklich warm anfühlte, war seine Stirn. Bellender Husten schüttelte ihn. Sein Hals brannte, nicht nur von der Gallenflüssigkeit und der Magensäure. Er musste sich eine Krankheit eingefangen haben, eine andere Erklärung gab es nicht. Woher auch immer sie stammte… Es erklärte, zusätzlich zu all der Aufregung, warum er gestern so verunsichert und erschöpft gewesen war. Ach ja, und warum er geheult hatte wie ein Schlosshund. Egal, du kannst es ohnehin nicht ändern… Schließlich rollte er sich zu einem leblosen Bündel zusammen. Oh Ren, dachte er, geht es dir jetzt ebenso miserabel? Hoffentlich nicht. Wärst du doch noch hier gewesen, als ich erwacht bin! Komm zurück… So verbrachte er einige Zeit schlotternd und fiebernd an die Wand gepresst in dem Korridor. Vielleicht nur ein paar Minuten, vielleicht mehrere Stunden. Es kümmerte ihn nicht mehr. Seine Gedanken wurden wirr und trösteten seine verletzten Gefühle auf eine merkwürdige, betäubende Weise. Sollte ihn doch jemand hier finden, egal. Nun konnten sie sich gerne wundern, weshalb er ohne die Hilfe seiner Dienerinnen gebadet hatte. Seine Glieder versteiften sich. Vor sich hin dämmernd stierte er mit blutunterlaufenen Augen an die gegenüberliegende Wand, ab und zu von krächzendem Husten abgelenkt. Bald schmerzten seine Brust und seine Lunge. Was kümmerte es ihn? Er fühlte sich viel zu schlecht, um jetzt noch aufzustehen. Mit leerem Blick lag er da und hoffte auf den rettenden Schlaf. Bis harte Schritte den Boden zum Singen brachten. „Koumei! Wo steckst du?!“, polterte die mächtige Stimme seines großen Bruders durch das Anwesen. Zorn schwang in ihr mit, doch es ließ den Kleineren kalt. Was ging es ihn an? Leises Klirren begleitete die bebenden Dielen, als Kouen um die Ecke bog, wo er erstaunt verharrte. Eine Gestalt wie eine purpurrote Flamme, beinahe furchteinflößend. Selbst im Haus trug er einen Teil seiner Rüstung, lebte dort sein Dschinn Agares. Natürlich hing auch das Schwert, Gefäß von Astaroth, welches er einst von Hakuyuu erhalten hatte, an seinem Gürtel. Dementsprechend vernahm man sein Herannahen schon von weitem, erkannte ihn am Klirren des Metalls. Niemand hätte bei diesem kriegerischen Anblick vermutet, dass Kouen sich seit seinem fünften Lebensjahr mit fanatischem Eifer auf jegliche Überlieferung über die Geschichte ihrer Welt stürzte, als gäbe es kein Morgen mehr. Koumei hustete. Nur verschwommen nahm er wahr, wie der Mann sich aus seiner Starre befreite und auf ihn zu schritt. „Ist das dein Ernst?!“, brüllte es, wie Koumei die donnernde Stimme allzu oft gehört hatte. In Rage, genervt und bitterböse, auch wenn es einfach die spezielle Art seines großen Bruders war. Spitze gelbe Schuhe machten vor ihm Halt und stießen ihn ungehalten an. Koumei rührte sich nicht. Für gewöhnlich hätte er aufgeschrien oder empört gejammert, denn Kouen besaß viel Kraft und verhielt sich ebenso erbarmungslos. Vielleicht hätte er sich sogar zu einem seltenen Gegenangriff durchgerungen. Nun allerdings schwieg er ermattet. „Deine Lügen und dein erbärmliches Schauspiel sind sinnlos. Erhebe dich!“, schnaubte sein Bruder. „Was ist das für ein unwürdiges Verhalten? Du kannst hier nicht ewig herumliegen und schlafen! Als vollwertiger Mann musst du bestimmte Pflichten erfüllen! Vater erwartet dich!“ Normalerweise wäre ihm sofort eine gequälte Ausrede entgegengesprungen, doch sie blieb aus, man hörte nur angestrengtes Ein- und Ausatmen. Plötzlich schien Kouen zu begreifen, dass Koumei ihm nichts vorspielte. Die untypischen Reaktionen verrieten ihm, dass etwas nicht stimmte. Seufzend, aber nun ehrlich besorgt, ließ er sich neben seinem Bruder auf die Knie sinken. „Koumei, geht es dir wirklich nicht gut?“, fragte er, wobei man ihm anhören konnte, dass er für gewöhnlich keinen Nerv dafür besaß, Fürsorge walten zu lassen. Mochte er auch noch so angestrengt versuchen freundlich und verständnisvoll zu klingen, er musste erst einmal sein bedrohliches Knurren ablegen. Der kleine Bruder wollte antworten, doch die heiseren Worte erstickten in einem vernichtenden Hustenanfall. „Wie lästig“, seufzte Kouen. Koumei blickte schwach zu ihm hinauf. Eine tiefe Falte erschien auf der Stirn des Größeren. Offenbar gefiel es ihm gar nicht, ihn in dieser wehrlosen Lage vorzufinden. „Kannst du laufen?“, fragte Kouen streng. Der Jüngere verneinte kaum merklich. Sofort wurde er am Arm gepackt und auf die Beine gezogen. Augenblicklich kehrte der Schwindel zurück. Seine Beine brachen unter ihm weg. „En… ich schaffe das nicht…“, ächzte er entkräftet. Der ältere Bruder schwieg. Seine roten Augen flackerten nun tatsächlich besorgt, schließlich war sein einziger richtiger Bruder überaus wichtig für ihn, auch wenn er ihm oftmals mehr Mühe als Nutzen bereitet hatte, bestand eine überaus feste Bindung zwischen ihnen. Nur ließ sich diese eher selten erahnen, wenn man das Wesen des Älteren nicht kannte oder den Jüngeren wahrlich für schwach und hilfsbedürftig hielt. Kouen war eben ein Raubein, aber nun wollte er nur noch seinem kleinen Bruder helfen, das erkannte Koumei sofort und es erfüllte ihn mit tiefer Ergebenheit. Vorsichtig legte sich Kouen Koumeis linken Arm über die Schultern und stützte ihn mit der freien Hand. Sein schwerer Kopf ruhte nun matt an dessen Schlüsselbein. Es erinnerte ihn verschwommen an ferne Kindheitstage, wo er sich im Stoff der Robe seines großen Bruders festgeklammert oder das Gesicht an seiner Brust vergraben hatte, im Glauben die Gäste ihres Vaters würden ihn nicht sehen, wenn er selbst nur Schwärze erblickte. Lange war er Kouen nicht mehr derart nahe gewesen. Ein seltsames Gefühl. Vertraut und fremd zugleich, dessen altersbedingte Stärke und die gestählten Muskeln zu spüren, wo früher nur Haut und Knochen gewesen waren. Er roch nach poliertem Metall und scharfen Kräutern, nach Stärke, Macht und Kompromisslosigkeit. Ganz anders als damals, wo sein Geruch noch ein Zeichen von Geborgenheit gewesen war. Nun erinnerte er Koumei eher an dessen hohe Position und an die eigene Pflicht seinen älteren Bruder ein Leben lang zu unterstützen. „Na komm schon, so schwer ist das doch gar nicht“, brummte Kouen versöhnlich und schob ihn ungewohnt behutsam nach vorne. Sehr langsam bewegten sie sich über den Gang. So anstrengend. Keuchend lehnte Koumei sich noch mehr gegen ihn und war unendlich erleichtert, dass Kouen ihm anbot, sich vollkommen von ihm führen zu lassen. Endlich schob der Ältere die Tür zu Koumeis Gemächern auf. Der Gestank von Erbrochenen hing noch immer ungemindert in der Luft. Kouen ignorierte ihn, auf dem Schlachtfeld hatten sie alle bereits Übelkeit erregendere Dinge gerochen. Erstaunlich vorsichtig half er seinem Bruder, die Kleidung abzustreifen und sie gegen Saubere auszutauschen, wobei Koumei müde befürchtete, dass er irgendetwas bemerken würde, was er anscheinend nicht tat und wenn, dann verlor er kein Wort darüber. Kouen drängte ihn sanft, sich in das Bett zu legen, rückte die Kissen zurecht und zog ihm die Decke bis zum Kinn hoch. Dann schritt er zu einem kleinen Beistelltischchen und schenkte ihm einen Becher Wasser aus einer stets bereitstehenden Karaffe ein. Auch wenn das Schlucken schmerzte, das kühle Nass half. Nur seinem pochenden Schädel nicht. Er fühlte sich an, als würden die Rukh, die angebliche allen Dingen innewohnten, darin nur so umher toben. Trotzdem linderte es den Schwindel ein wenig. Dankbar zwang Koumei ein trübes Lächeln auf seine Züge. Wie merkwürdig, den sonst so rauen Bruder derart fürsorglich zu sehen. Der Rothaarige fühlte sich seltsam. Geborgen und verloren zugleich. Alleine und behütet. „Was hast du denn?“, erkundigte sich Kouen pflichtbewusst. Als er Koumeis heiseren Bericht hörte verzog er sorgenvoll das Gesicht. Eine große Hand legte sich prüfend auf seine glühende Stirn. „Das klingt, als hättest du noch lange etwas davon. Am besten bleibst du für die nächste Zeit in deinem Zimmer. Du musst dich erst einmal auskurieren. Verwunderlich ist es nicht, du bist nicht der einzige, der fiebert. Die drei Gesandten aus Reim sind ebenfalls unpässlich. Hattest du gestern oder davor Kontakt zu ihnen?“ Wenig überrascht überlegte Koumei. Auch ihre Gäste kränkelten? Dann war es klar, dass jemand aus ihrer Familie sich angesteckt hatte. Besonders sein Vater und er schienen keinerlei Abwehrkräfte, was fremdländische Krankheiten anging, zu besitzen. „Ein paar Mal. Sie haben mir reimanischen Wein geschenkt. Möchtest du ihn haben, Bruder?“, keuchte er, doch Kouen machte eine wegwerfende Handbewegung. Da die Ursache nun scheinbar geklärt war, interessierte er sich wenig dafür. Stattdessen meinte er verstörend unverblümt: „Koumei. Ich muss dich etwas fragen. War unser Cousin Hakuren gestern Nacht bei dir?“ Der Jüngere erstarrte. Vor Schreck vergaß er beinahe die Schwäche. Fieberhaft jagten die Gedanken durch seinen eben noch trägen Geist. Wie bei allen Rukh dieser Welt hatte Kouen Hakuren entdeckt? Wusste er noch mehr? Verdammt, Koumei durfte sich jetzt auf keinen Fall etwas anmerken lassen. So neutral und wahrheitsgemäß wie möglich antworten. „Ja… er hat mir sein Geschenk vorbeigebracht“, nuschelte er und deutete nach draußen. Stirnrunzelnd folgte Kouen seinem Fingerzeig und begab sich ins Freie. Das, was Koumei sagte, stimmte sogar. Der Fächer musste immer noch auf der Terrasse liegen. Nun, wo sein Bruder für einen Moment beschäftigt war, überlegte er fieberhaft, wie er weiterhin reagieren sollte. Zum Glück klang seine Stimme wegen diesen Halsschmerzen ohnehin heiser, da fiel sein Zögern kaum auf, aber sicher fühlte Koumei sich nicht. Kouen wird einen vollkommen harmlosen Grund für seine Frage haben, beruhige dich! Nein, er weiß mehr. Schließlich liegt es ihm im Blut, Geheimnisse aufzuspüren. Plötzlich ging Koumei mit aller Deutlichkeit auf, wie unbedacht und gefährlich sie sich letzte Nacht verhalten hatten. Warum hatte er sich überhaupt auf diese Dummheit eingelassen? Weshalb musste Hakuren auch so unvorsichtig gewesen sein, wahrscheinlich hätte er ihn sogar verletzen können. Wie dämlich sie gewesen waren, denn wenn sein Bruder irgendetwas merken würde, würde er Hakuren mit Sicherheit umbringen, egal ob zwischen ihnen Freundschaft und Familienbande bestanden, vor allem weil er jetzt sah, wie schlecht es Koumei ging. Hoffentlich konnte er sich irgendwie aus dieser unangenehmen Situation herauswinden. Dann erschien Kouen tatsächlich mit dem Fächer in der Hand, legte ihn auf dem Beistelltisch ab und überlegte wohl, wie jemand auf die dumme Idee kommen konnte, einem jungen Mann wie Koumei, der sich nicht sonderlich um Prunk scherte, einen goldenen Fächer zu überreichen. Der Ältere verzog nachdenklich das Gesicht. „Seltsam, ich hätte erwartet, dass er dir etwas anderes schenkt.“ Der rote Blick durchdrang ihn prüfend. Jeder, der Kouen nicht kannte, wäre furchtsam erzittert. Koumei hingegen zwang sich mit letzter Kraft zu einem müden Lächeln. Dabei fürchtete er, dass ihr verbotenes Geheimnis jeden Moment ans Licht käme. „Wirklich Bruder? Woher weißt du überhaupt von seiner gestrigen Anwesenheit?“, hauchte er. Kouen knurrte einschüchternd: „Das mit dem Geschenk ist nicht von Belang. Heute früh wurde ich plötzlich wach und beschloss an die kühle Luft zu gehen, bevor die Hitze unerträglich wird. Als ich meine Gemächer verließ, stieß ich mit dem zweiten Prinzen zusammen, der verdächtig gehetzt wirkte. Darüber hinaus hat er, wie du weißt, gestern Morgen unser Anwesen verlassen. Nun fragen sich die Wachmänner auf welchem Wege er ungesehen hinein gelangt ist. Gibt es da vielleicht noch etwas, das du mir anvertrauen möchtest, Koumei?“ Erschrocken blinzelte der Angesprochene. Das durfte nicht wahr sein! Hakuren hatte es allen Ernstes geschafft, Kouen in die Arme zu laufen? Dann auch noch so eindeutig? Wie konnte er seinen Bruder nach dieser Begegnung nur in Sicherheit wiegen, ohne allzu offensichtlich zu lügen? Es gab da nichts, dass er ihm sagen könnte. „Nein“, stieß er also hervor und blickte in die skeptisch verengten Augen seines Bruders, die irritiert zu Hakurens verkrümmtem Blumendurcheinander hinüber huschten. Weshalb lagen sie bloß immer noch derart offensichtlich da? Wie gelähmt wartete er auf Kouens Entgegnung. „Bist du dir sicher? Hakuren erschien die letzten Tage beim Schwertkampf so abwesend. Er ist seit jeher vernarrt in dich, kein Wunder, dass er unbedingt zu deinem Geburtstag kommen wollte. Ich habe das untrügliche Gefühl, dass deine Verfassung nicht nur des Fiebers wegen schlecht ist.“ Verdammt… Seine Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten, Kouen war nicht blöd. „E-Es ist alles bestens, Bruder Kouen“, wehrte er ab. Lange hielt er dieses Verhör nicht mehr durch. Sein Kopf flirrte vor Schmerzen und seine Glieder schrien nach heilendem Schlaf. Bitte, glaub mir nur ein einziges Mal! Kouen schnaubte: „Alles ist bestens? Offensichtlich ist dem nicht so, aber das wird bald der Vergangenheit angehören. Ich lasse nach einem Arzt und einigen Dienern schicken, die den Boden reinigen. Außerdem werde ich Vater wohl oder übel ausrichten müssen, dass du nicht in der Lage bist, an deiner ersten Militärbesprechung als vollwertiger Erwachsener teilzunehmen. Bedauerlich, aber nicht zu ändern.“ Koumei seufzte erleichtert und müde. Gut, das Ergebnis des kurzen Verhörs war mehr als erträglich: Kouen ging nicht weiter auf Hakuren ein und Koumei würde nicht an Lagebesprechungen teilnehmen dürfen. Der kleine Bruder fand diesen Umstand alles andere als bedauerlich. Auch wenn sein Vater tollwütig herumbrüllen würde. Die meisten Militärbesprechungen fingen planlos an und endeten ebenso. Falls er eine wohldurchdachte Anmerkung oder Verbesserungsvorschläge vorbrachte, wurden diese meist ignoriert. Manchmal fragte er sich, worin dann der Sinn seines Studiums bestand. Wollte man sich damit etwa keinen guten Militärstrategen großziehen, sondern ihn lediglich beschäftigen? Kouen runzelte die Stirn: „Du wirkst nicht sonderlich traurig darüber, dich nicht beteiligen zu können. Bald wirst du eine neue Gelegenheit dafür erhalten. Nun gut, ich muss meinen täglichen Aufgaben nachgehen. Koumei, brauchst du noch etwas? Dann werde ich den Dienern darüber Bescheid geben.“ Der Jüngere schüttelte den Kopf, was erneute Schmerzen durch seinen Schädel schickte. Kouen nickte zufrieden, ehe ihm noch etwas einfiel. „Bevor ich es vergesse, übermorgen werde ich für ungefähr drei Tage zu unserem ehrenwerten Onkel ziehen. Hakutoku hat zwar nach uns beiden verlangt, aber du bist offensichtlich zu schwach, um diesen Weg zu bewältigen.“ Diese Worte schlugen bei seinem kleinen Bruder ein wie ein Brandpfeil. „W-Was?!“, krächzte Koumei entsetzt. Kouen würde in den kaiserlichen Palast gehen und ihren Onkel und die restliche Verwandtschaft besuchen? Würde Hakuren sehen, bevor er heiratete? Koumei hörte das Blut aufgebracht durch seine Adern rauschen. Neid kochte in ihm hoch. Brennend und erschreckend, er hatte Kouen noch nie um irgendetwas beneidet, zumindest nicht so vehement und heftig. Nicht um seine Stellung als Erstgeborener und Erbe des Kaiserbruders, seine Macht, seine Dschinns, sein Alter, seine Kraft und Klugheit. Er schien mit dem Leben immer problemlos zu Recht zu kommen und war ein Sohn, wie ihn sich jeder Vater wünschte, was eigentlich beneidenswert war, doch Koumei kümmerte das wenig, er sehnte sich höchstens manchmal danach, stärker und geschickter zu sein. Aber nun loderte der Neid brennend in seiner Brust. Kouen würde in die Hauptstadt reisen! Das wollte er auch! Um jeden Preis! Verzweiflung umfing ihn. Wie furchtbar ungerecht, dass ausgerechnet jetzt diese verfluchte Krankheit von ihm Besitz ergriffen hatte! Das durfte einfach nicht sein. Kouen betrachtete ihn mitleidig. „Keine Sorge, ich werde dich entschuldigen“, versprach er und wandte sich bereits zum Gehen um. Koumei richtete sich mühevoll auf und rief entsetzt: „Nimm mich mit!“ Sofort wurde er mit einem bösartigen Pochen hinter den Schläfen bestraft, welches ihn stöhnen ließ. Kouen trat wieder ungehalten neben ihn. „Das ist in deinem Zustand unmöglich. Sorge dich nicht. Für dich wird dadurch keinerlei Nachteil entstehen, Hakutoku besitzt ein gnädiges Gemüt. Er wird sich nicht an deinem Fehlen stören, sobald er die Ursache dafür kennt.“ Koumei schüttelte verzweifelt den Kopf. Sicherlich, jeder würde es verstehen, aber darum ging es doch gar nicht! Er wollte Hakuren wiedersehen! Unbedingt. Wie sehr sehnte er sich nach dieser aufgeweckten Stimme und seinem Lachen, nach dem Anblick dieser blauen Augen, so offenherzig und zweifellos naiv, nach dem Kitzeln der kurzen schwarzen Haare an seinem Hals, wenn Hakuren den Kopf gegen seine Schulter legte oder das Gesicht in seiner Halsbeuge vergrub. Es gab noch so viel mehr, was er an ihm vermisste, dabei waren seit der Nacht lediglich ein paar Stunden vergangen. Koumei erschienen sie wie Jahre. Sogar ein Streit käme ihm jetzt Recht, Hauptsache mit Hakuren. „Mein werter Bruder, lass mich mit dir gehen. Bitte“, flehte er schwach. Aber Kouen drückte ihn lediglich zurück in die Kissen. „Koumei! Lass dieses Theater! Es wird noch unzählige Gelegenheiten für einen Besuch am Kaiserhof geben. In der Zukunft wirst du dir sicherlich wünschen, dass sie dich seltener herbei befehlen. Ich werde dich nicht mitnehmen, ganz gleich, was du sagst. Du brauchst Ruhe und die wirst du auch einhalten. Wenn du mich brauchst, schicke nach Seishuu Ri. Mein Vasall wird sich mit mir in Verbindung setzen, falls du einen ernsthaften Grund für dein Anliegen hast, verstanden?“, knurrte er. „Glaube ich nicht… Ich will jetzt mit… “, murmelte Koumei matt und spürte, wie ihm bald wieder die Tränen kommen würden. Seit gestern konnte er sie einfach nicht mehr zurückhalten. „Quatsch hier nicht schon wieder so ein wirres Zeug, sondern schlaf ein wenig“, seufzte Kouen, schwer um Selbstbeherrschung bemüht. Er konnte es nicht haben, wenn sein kleiner Bruder sich derart anstellte. Schlagen wollte er ihn heute allerdings nicht, schließlich war er ernsthaft krank. Koumei blickte ihn aus wässrigen Augen an. „Ich kann nicht schlafen. Ich wäre auch gerne unserem Onkel nützlich, das ist meine Pfli-“ Ein heftiger Hustenanfall brachte ihn zum Verstummen und handelte ihm einen beinahe betrübten Blick ein. Oh das alles schmerzte so sehr… Der Ältere ballte die Fäuste. „Du lügst, schau dich mal an! Du kannst immer schlafen, also treib es nicht zu weit!“, warnte er. Bedrückt wandte Koumei das Gesicht ab, wischte sich eine vereinzelte Träne von der Wange. Kouen war der beste Bruder, den er sich wünschen konnte, aber er konnte so unbarmherzig und grausam sein! Es machte ja tatsächlich keinen Sinn, in diesem Zustand eine Reise, egal wie kurz, zu wagen. Dennoch ärgerte es ihn maßlos, dass ausgerechnet morgen nach ihnen beiden verlangt worden war. Weshalb nicht ein klein wenig später, wenn er sich erholt hätte? Wäre er doch nur gesund gewesen, dann hätte er Hakuren gesehen. Nur noch ein einziges Mal alleine und vertraut. Plötzlich erhob Kouen wieder die Stimme, dieses Mal ein wenig versöhnlicher: „Ich werde dir alles berichten, was geschehen ist, Mei. Bis dahin kurier dich gefälligst aus und denk heute ja nicht daran, zu arbeiten. Wie gesagt, ich schicke dir gleich einen Arzt und ein paar Dienerinnen.“ Wieder schritt er Richtung Tür. „Also, bis dann!“ Das Schaben der Schiebetür verkündete Koumei, dass er wieder alleine war. Alleine mit dem aufzehrenden Fieber, seinen schmerzenden Gliedern, dem brennenden Hals und den furchtbaren Migränestichen. Aber all das wurde von der Sehnsucht nach Hakuren noch überschattet. Koumei starrte an den Himmel des Bettes. Geschnitzte Drachen jagten einander in den Wolken, Pferde stürmten über freie Felder, Schlangen und Tiger strichen durch hölzerne Wälder. Ach, selbst die lebendig erscheinenden Kunstwerke konnten ihn nicht ablenken. Wahrscheinlich würde er Hakuren das nächste Mal bei dessen Hochzeit widersehen. Herrje. Nach einer Weile gähnte er. Trotz seiner verbitterten Traurigkeit fielen ihm irgendwann die Augen zu. * Koumei schloss gepeinigt die Augen. Seine Knochen fühlten sich steif an, scheinbar saß er bereits viel zu lange auf dieser Terrasse, voll mit Körnern des Taubenfutters. Balbadd war solch ein unwirtliches Land… Die eisige Kälte der Nacht umfing ihn wie eine schwarze Umarmung. Die Sterne verschwanden langsam und würden bald dem Morgenrot weichen. Seine Zähne schlugen klappernd auf einander, doch es kümmerte ihn nicht. Ebenso wenig wie das Gefühl, das langsam aus seinen Gliedern schwand. Etwas Feuchtes tropfte zaghaft auf seinen Handrücken. Eine stillgeweinte Träne war das einzige, was er Hakuren noch zu geben hatte. Klein war er wahrlich nicht mehr, nur noch schwach. Dann versank er in den sanften Wogen des Halbschlafs, gefangen in den viel zu deutlichen Erinnerungen. ~ Irgendwann störte ein erbostes Fauchen sein vor sich hin Dämmern. „Hey, Zottel! Was treibst du hier draußen?“ Heftiges Rütteln an seinen Schultern. „Sag mal, pennst du etwa hier? Und was ist das?“ Ein grobes Zerren an seinen Haaren. „Heulst du etwa?!“ *~* Kapitel 23: Ablehnung --------------------- ~*~ Judar erwachte mitten in der Nacht. Zumindest erschien es ihm so, da die Dunkelheit nach wie vor das fremde Zimmer erfüllte. Einen Moment brauchte der schwarze Magi, bis ihm bewusst wurde, wo er sich befand. Er warf einen Blick neben sich und registrierte, dass das Bett seines Königskandidaten leer war. Prüfend tastete er über das Laken, doch sein Verdacht bestätigte sich nur. Der Zottel hatte sich wohl davon gestohlen. „Verdammt, dämlicher Penner!“, fluchte er zornig. Wie konnte er es nur wagen, ihn zuerst mit sich in dieses Bett zu ziehen, sein Schlüsselbein beinahe zu zertrümmern und dann einfach abhauen, während er nichtsahnend schlief? Grollend sprang er auf und streifte sich ungeschickt sein Oberteil über, welches er zum Glück trotz des Mangels an Licht schnell gefunden hatte. Dabei stolperte er beinahe über Koumeis Gewänder, die achtlos fortgeworfen auf dem Boden lagen. So ein unordentlicher Trottel! Beiläufig bemerkte er, wie derangiert er selbst wohl wirkte. Was für ein Mist, selbst seine Haare musste er jetzt neu zusammen binden! Egal, er beschloss, dass dafür nachher genug Zeit blieb. Einen Augenblick später, erspähte er etwas silbern Glänzendes. Sein Zauberstab! Triumphierend fischte er das kostbare Stück von den Dielen und grinste erfreut. Den hatte er bereits vermisst, denn ohne ihn konnte er zwar ebenfalls zaubern, doch nur mit einem Stab konnte er die Kraft der Rukh vollends lenken. Judar überlegte, was er nun mit sich anfangen sollte. Wo er nun wieder soweit hergestellt war, konnte er tun, was er wollte. Aber was wollte er denn? Ratlos verschränkte er die Arme vor der Brust. Um ehrlich zu sein, hatte er keine Ahnung, was er mitten in der Nacht mit sich anfangen sollte. Mit einem Mal ließ ihn ein kühler Luftzug erzittern. Sein Blick wurde schlagartig von der offenstehenden Terrassentür angezogen. Bei den schwarzen Rukh, war das kalt! War diese Tür gestern auch schon speerangelweit geöffnet gewesen? Ratlos flitzte er hinüber, um die beißende Brise auszusperren, doch kaum hatte er sie erreicht, fesselte etwas Neues seine Aufmerksamkeit: Eine zusammengesunkene, wenn auch bestens bekannte Silhouette, die sich kein Stück bewegte. Eine Regung zeigte sich auch nicht, als Judar auf die knarzenden Holzplanken trat und laut fluchte, sobald sich spitze Körner in seine nackten Füße bohrten. Diese verdammten Tauben, die sein Königsgefäß immer fütterte, waren wohl zu dumm, um alles ordentlich aufzufressen. Wie er diese dreckigen Viecher hasste! Zähneknirschend und aufgebracht marschierte er weiter. Eine Windböe fuhr unter seine Kleidung und ließ ihn schlottern. Das wurde ja immer nerviger. Verdammtes Land! Verdammtes Wetter! Wie konnte es nach dieser ätzenden Hitze so durchdringend kalt sein? Sein nackter Bauch fühlte sich an, wie ein Eisklotz! Aber Koumei ließ sich von dem Wind nicht beeindrucken. Still verharrte sein Umriss und zeigte nicht, ob er schlief oder ihn vielleicht heimlich beobachtete. Judar hätte toben können vor Wut. Aber irgendetwas an der Situation war seltsam, es kam ihm eindeutig zu kalt vor, um so unbeteiligt dazusitzen. Wie hielt man es nur hier draußen aus? Koumei brachte ihm nur Unannehmlichkeiten. Unsicher trat Judar näher, auch wenn er sein Unwohlsein nie zugegeben hätte. Sein Königskandidat lehnte mit bloßem Oberkörper an der Wand. Blaue Lippen, unmerkliches Zittern, Gänsehaut. Die hellen Augen starrten, halb hinter den gesenkten Lidern versteckt, regungslos ins Leere, als sähen sie dort etwas, das jedem anderen verborgen blieb. Fast wie die eines Toten. Etwas Silbriges rann seine Wange hinab. Tränen? Was für ein zerzauster Spinner, schoss es ihm wieder durch den Kopf. Erst brachte er ihn mit brennenden Berührungen beinahe um den Verstand, dann schlief er plötzlich ein, zertrümmerte dabei fast sein Schlüsselbein und erdrückte ihn unter seinem Gewicht. Und jetzt saß er hier in der Nacht, weder schlafend, noch wachend, sondern heulend. Obwohl hing wäre der passendere Ausdruck gewesen. Koumei besaß einfach keinen Sinn für Eleganz. Judar hätte ihn erwürgen können. Mit vor Zorn triefender Stimme bellte er: „Hey, Zottel! Was treibst du hier draußen?“ Dann packte er ihn bei den Schultern und schüttelte ihn ungnädig. „Sag mal, pennst du etwa hier? Und was ist das?“ Als er immer noch keine Antwort erhielt, ging er auf die Knie, krallte die Finger tief in dessen Haar und keifte: „Heulst du etwa?!“ Plötzlich hoben sich die Augenlider träge. Koumei regte sich schwach und fixierte mit einem Mal den schwarzen Magi, der ihn erbost musterte, wobei die Dunkelheit nicht grade viel preisgab. Erstaunt, dass es ihm offenbar gelungen war, sein verschlafenes Königsgefäß zu wecken, wich Judar einen Schritt zurück. Die Rukh stoben ebenso überrascht auf. Dieser verschattete Blick wirkte unheimlich, ging gradewegs durch ihn hindurch, als ob nicht er, sondern jemand anders an seiner Stelle stehen würde. Wie aus heiterem Himmel beugte sich der Zottel vor. Judar wunderte sich einen Moment zu lange, was der Zweck dieser schläfrigen Bewegungen sein mochte, dann umklammerte Koumei seinen Oberkörper und vergrub das nasse Gesicht in seiner Halsbeuge. Wie kalt er sich anfühlte, er musste halb erfroren sein. „Scheiße!“, zischte Judar gequält, denn der alte Zausel war schwer! Außerdem roch er nach der Hitze des Tages nicht mehr sonderlich verlockend. „Was fällt dir ein!“, keifte er und riss grob an den roten Zotteln, an denen zusätzlich ein seltsam frostiger Geruch haftete. Die einzige Antwort bestand aus verwaschenem Murmeln, als hätte der zweite Prinz heute Nacht noch kräftig Pflaumenwein konsumiert. Auf die verrückte Idee, dass Koumei keineswegs zu tief ins Glas geschaut hatte, sondern schwer in Erinnerungen versunken und auch noch halb am schlafen war, kam der schwarze Magi selbstverständlich nicht. Die eisigen Lippen an seinem Hals ließen ihn schaudern. Der Kerl musste massenhaft getrunken haben. War er deswegen immer so müde? Es wäre endlich eine vernünftige Erklärung, auch für dieses krankhafte Nuscheln, welches er heute allerdings zum ersten Mal vernahm. Judar konnte nur einzelne Wortfetzen verstehen, deren Sinn ihm völlig verborgen blieb. Für ihn klang es ziemlich jämmerlich und in etwa wie „En… Mh… Haku-“ also nicht sehr aufschlussreich. „Red‘ endlich ordentlich, das ist ja nicht zum Aushalten!“, meckerte der Magi. Auf einmal zuckte Koumei zusammen. Orientierungslos drehte er den Kopf. „Judar?“, krächzte er zitternd. „Wen hast du denn erwartet, widerlicher Zottel?!“, fauchte dieser böse. Der andere zögerte, hielt ihn immer noch in dieser erdrückenden Umschlingung und presste den Kopf noch fester gegen ihn, als suchte er nach einem Halt. Diese eisigen Hände an seinem Bauch waren zu viel, obwohl er sich mittlerweile an die Kälte gewöhnt haben sollte, außerdem liebte er ja die Eismagie. Doch das hier ließ sich nicht mit seiner rukhgegebenen Kraft vergleichen, sondern verunsicherte ihn nur. „Du erwürgst mich!“, knurrte Judar deshalb angriffslustig. Nach einer halben Ewigkeit schienen seine Worte auf fruchtbaren Boden zu treffen. Fahrig löste sich der Prinz von ihm und hockte beinahe erfroren auf dem Boden. Judar hätte ihn am liebsten ausgelacht. Wie erbärmlich er aussah! So kannte er ihn mittlerweile wirklich gut. Dennoch, er würde das berechnende Funkeln in den Augen seines Königskandidaten niemals vergessen und fortan immer auf der Hut vor ihm bleiben. „Lass uns endlich rein gehen!“, blaffte der Magi und stieß ihn in die Seite. Daraufhin sackte der ungepflegte Zottel einfach in sich zusammen. „Vollidiot, willst du erfrieren?!“, herrschte Judar ihn an. Er erntete lediglich ein schläfriges Blinzeln, welches ihn noch aggressiver stimmte. „Bist du vollkommen bescheuert?“, zischte er und zerrte erfolglos an den schlaff herabhängenden Armen des älteren Mannes. „Aber Priester…“, murrte Koumei plötzlich widerspenstig und sträubte sich nur noch mehr gegen seinen Griff. Verdammt! Judar wäre ihm am liebsten an die Gurgel gegangen. „Willst du hier draußen abkratzen?“, keifte er und riss stattdessen heftig an dem roten Pferdeschwanz. Der Prinz heulte empört auf, kam wie durch ein Wunder auf die Füße und stieß ihn beiseite, sodass Judar nur mit viel Glück das Gleichgewicht behielt. Verdammt, sogar dieser jämmerliche, ausgemergelte Kerl besaß mehr Kraft als er! Außerdem schien etwas an Koumei anders als zuvor: Selbst im Dunkeln konnte Judar die Kälte und Ablehnung in seinem müden Blick lesen. Verwundert hielt er inne. Gestern Abend hatte Koumei ihn noch überaus interessiert gemustert, war regelrecht über ihn hergefallen. Judar hatte sich mehr wie ein Stück Beute, als wie ein mächtiger Magi gefühlt. Jetzt allerdings schien sein bloßer Anblick Abneigung bei seinem Königsgefäß auszulösen. Wie kam das? Es war beleidigend. Seine Königskandidaten sollten ihn anbeten und ehrfürchtig vor ihm niederknien, und wenn sie das schon nicht taten, mussten sie ihm wenigstens ein wenig Bewunderung entgegenbringen. Solch eine finstere Miene zeigte der Zottel zwar oft, aber das rührte meist von der Müdigkeit her, nicht von persönlicher Abneigung! Anfangs, als sie beide noch jünger gewesen waren, hatte er einen abwertenden Blick von ihm für selbstverständlich gehalten, doch schon lange herrschten andere Zustände und sie tolerierten sich. Nein, Judar war zu wichtig, um es sich mit ihm zu verscherzen! Schließlich war er der Magi von Kou und sie brauchten ihn, wären nichts ohne seine Unterstützung. Ehe er dem Zottel eine wüste Beschimpfung an den Kopf werfen konnte, schritt Koumei hoheitsvoll an ihm vorbei. Überrascht, dass er sich so schnell wieder gefangen hatte, wirbelte Judar herum und schwebte ihm schleunigst hinterher, ehe die Türen zur Terrasse geräuschvoll zugestoßen wurden. Zurück im Haus entzündete der Prinz eine Kerze und wandte sich mit umschattetem Blick seiner Kleidung zu. Offenbar fror er, denn er zitterte die ganze Zeit über. Noch schlimmer erging es hingegen Judar. Er hasste diese nächtliche Kälte weitaus mehr als die tägliche Hitze. Er schlotterte die ganze Zeit, als wäre er in einem Eismeer geschwommen, dabei hatte er nur einige Minuten an der frostigen Nachtluft verbracht. Vielleicht konnte ihm die dicke Bettdecke helfen. Schon wollte er wieder zwischen die wärmenden Stoffschichten kriechen, als Koumei ihm überraschend sanft eine Hand auf die Schulter legte. „Ich glaube, du gehst jetzt besser“, sagte er nüchtern, sodass sich aus seinem Tonfall keinerlei Emotionen heraushören ließen. Judar blieb der Mund offen stehen. Dieser dumme Zottel wollte ihn rausschmeißen? Auf einmal? Wie unverschämt, erst zwang er ihn regelrecht in sein Bett und dann durfte er sich plötzlich nicht mal mehr hineinlegen?! „Mir ist echt kalt, du kannst mich jetzt nicht einfach wegschicken! Wo soll ich denn dann hin? Ich habe hier nicht mal ein eigenes Zimmer, du Idiot!“, stieß er mit verengten Augen hervor. Koumei zeigte keine Regung. Selbst die Beschimpfung ließ ihn kalt, wahrscheinlich hatte er in seinem Leben bereits genug böse Worte ertragen. „Musst du nicht ohnehin noch zu Gyokuen, um ihr Bericht zu erstatten? Der Morgen graut bald. Du könntest dich jetzt auf die Reise machen“, schlug sein Königskandidat ungerührt vor. Auf die Reise machen? Was redet er da für einen Mist?, dachte er spöttisch. Offenbar lähmte die Kälte den sonst so klugen Kopf des Zottels. Obwohl, vielleicht war er auch einfach verrückt, wer hockte schon halbnackt in der Nacht und heulte still und heimlich vor sich hin? Von dem Prinz war so eine Dummheit eigentlich nicht zu erwarten… Jedenfalls würde Judar für einen Gang zu Gyokuens Gemächern oder zum Audienzsaal bei den geringen Ausmaßen dieses Stützpunktes vielleicht ein paar Minuten brauchen. Koumei schien seine Gedanken gelesen zu haben, denn er seufzte unterdrückt: „Herrje, Priester! Dachtest du wirklich, die ehrenwerte Kaiserin hielte sich hier in Balbadd auf? Weshalb sollte sie das tun, immerhin verfügt sie über ihre Westexpedition und Prinz Kouen, die sich momentan um dieses Land hier sorgen.“ Wie dumm du doch bist, schien seine düstere Miene noch hinzuzufügen. „Es geht dich einen Dreck an, was ich denke!“, blaffte Judar grob, ohne sich für seine Unwissenheit sonderlich zu schämen, schließlich konnte man nie so richtig durchschauen, was am Kaiserhof grade ablief. Die schwarzen Rukh flatterten erzürnt mit den Flügeln. Dieser Zottel dachte, er sei etwas Besseres als er! „Wie recht du hast“, gab Koumei ruhig zurück, fast als würde er immer noch auf Judars zornigen Gedankengang antworten. „Halt die Klappe, du scheinheiliger Mistkerl!“ Wütend trat der Magi gegen das Bett. Sofort schoss ein pochender Schmerz durch seinen Knöchel. „VERDAMMT!“, keifte der Schwarzhaarige und hüpfte mit verzerrtem Gesicht auf der Stelle. „Judar! Du weckst noch das halbe Anwesen auf“, tadelte der Ältere vorwurfsvoll. „Was juckt dich das, Zottel? Das einzige was du tust, ist über unschuldige Leute herzufallen und rum zu flennen!“ Er erntete nur einen müden Blick. Das war ja nicht zum Aushalten. Der Prinz hatte wirklich rein gar nichts Kaiserliches, Machtvolles an sich. Gestern war er wenigstens furchteinflößend scharfsinnig gewesen und ja… die Zuwendungen waren auch nicht so übel gewesen. Nun erinnerte sein Zustand allerding eher an den eines Verreckenden. Weshalb sollte er sich noch länger mit ihm abgeben, wo er doch wichtigeres zu tun hatte? „Ich gehe jetzt übrigens wirklich“, spie Judar beleidigt aus, „aber du musst mir schon behilflich sein.“ Koumei legte abwartend den Kopf schief. „Teleportier mich gefälligst nach Hause!“, befahl der schwarze Magi herrisch und warf dem anderen sein gefiedertes Metallgefäß vor die Füße. „Wie du wünschst, mein teurer Priester“, erwiderte der Angesprochene gehorsam, wobei Judar der leise Spott in seiner Stimme glücklicherweise entging. Neckereien erwartete man von dem Prinzen eigentlich nicht. „Dantalion!“, gähnte er und der Fächer erglühte. Keinen Wimpernschlag später schwebte sein Königsgefäß in der Dschinnausstattung vor ihm. Während seine anderen Königskandidaten zumindest in dieser Form eine gewisse Macht und Pracht ausstrahlten, erschien Koumei ihm ebenso schäbig wie gewohnt. Zwar trug er eine golden glänzende Rüstung, doch sein Umhang wirkte verwaschen und grau, nur die Innenseite war bemerkenswert, aber ohne Wind, welcher im Inneren eines Hauses selten wild wehte, blieb sie neugierigen Blicken verborgen. Die gewundenen Hörner, die seitlich aus seinem Schädel sprossen, harmonierten auf scheußliche Weise mit dem zotteligen Haar und ließen ihn wie ein Monster wirken. Verstörend. Die schartige Haut verbesserte den Anblick auch nicht grade. Dennoch fand Judar die Fähigkeiten seines Königsgefäßes zu nützlich, um seinen Anblick zu scheuen. „Worauf wartest du noch?“, keifte er, als er sich des musternden Blickes des anderen bewusst wurde. Dieser kratze sich ungerührt am Hinterkopf und entgegnete gähnend: „Willst du dich nicht verabschieden?“ Ach, natürlich, wie konnte er das nur vergessen? „Auf nimmer Widersehen, gieriger Zottel! Bring mich endlich nach Hause!“, schnaubte Judar unflätig. Er hatte Glück, dass er nicht Kouen gegenüberstand, sondern lediglich dessen gleichmütigen kleinen Bruder. Der erste Prinz hätte ihn für eine solche Beleidigung zweifellos in Grund und Boden gestampft. Koumei hingegen sagte nur nüchtern: „Wie du wünschst. Dante Al-Thais!“ Dabei zeichnete er irgendeine komische, leuchtende Form in die Luft. Albern! Kouha, der seinen älteren Bruder in gewisser Weise bewunderte, meinte immer, es sollte ein Sternenbild darstellen, doch dem Magi erschien es wie ein willkürliches Herumgefuchtel, welches dem Zauber einen wichtigeren Anschein verleihen sollte. Der Kerl war einfach zu lahm. Judars Eismagie war da viel schneller einsatzfähig. „Beeil dich!“ Und schon wurde der Magi von einem Kreis aus Sternenlicht verschluckt und verließ dieses unselige Land samt dem unleidlichen zweiten Prinzen, der seine Hände einfach nicht bei sich behalten konnte. ~*~ Kapitel 24: Vasall ------------------ *~* Sobald Judar unter nervtötendem Gekeife verschwunden war, löste Koumei ermattet die Dschinnausstattung auf und ließ sich mitsamt seiner Gewänder ins Bett fallen. Die Dunkelheit verlor stetig an Macht und ließ sanftes Morgengrauen heraufziehen, das nicht weiter beachtet wurde. Der zweite Prinz fühlte sich furchtbar. Er war müde, eingesteift und halb erfroren, weil er den Großteil der Nacht im Freien verbracht hatte. Vor allem machten ihm aber die Erinnerungen an Hakuren zu schaffen. Sie waren so ungewöhnlich klar und deutlich gewesen, dass sie ihn regelrecht gefesselt hatten. Nach all der vergangenen Zeit jagten ihm ihre Schärfe und Eindringlichkeit beinahe Angst ein, auch wenn das bei weitem noch nicht die schlimmsten gewesen waren. Wie konnte es sein, dass er nach zehn Jahren, einer ganzen Dekade, noch immer so verzweifelt an seinem Geliebten hing und sich nach ihm sehnte, wie ein Hund nach seinem gefallenen Herrn, obwohl er ihn so rücksichtslos verlassen und ihn nie wieder auch nur für einen winzigen Augenblick besucht hatte? Noch nicht einmal eine Brieftaube hatte er ihm gesandt, obwohl Koumei vermutete, dass Hakuren es versucht haben musste. Der junge Prinz war eigentlich nicht der Typ für plötzliche Abschiede, sowie für das Abbrechen jeglichen Kontaktes zu seinem ehemals besten Freund gewesen. Koumei hegte deshalb seit Jahren einen bösen Verdacht, doch er konnte ihn einfach nicht beweisen. Ach herrje, er sollte es einfach vergessen, nach all den Jahren konnte es nicht angehen, so deprimiert zu sein, nur weil man einer längst vergangenen Existenz hinterher trauerte. Ja, das Vergessen wäre die beste Möglichkeit. Doch er konnte nicht, wollte nicht. Und noch viel wichtiger: Die Erinnerungen hatten ihm die Augen für seine eigene Vermessenheit geöffnet. Wie konnte er sich nur einbilden in dem aggressiven Hohepriester jemanden gefunden zu haben, dem er sich gefahrlos annähern konnte, noch dazu derart überstürzt? Judar besaß keinerlei Ähnlichkeiten mit dem verstorbenen Kaiserssohn, war schon immer boshaft und kindisch gewesen. Nun, kindisch hatte Hakuren sich auch viel zu oft benommen, aber das hatte Koumei stets irgendwo missbilligt und es stellte die einzige Gemeinsamkeit zwischen den beiden dar. Na schön, die Haarfarbe stimmte ebenfalls grob überein, wenngleich Judars pechschwarzer Zopf nicht diesen sanften bläulichen Schimmer aufwies, den er von Hakuren kannte und liebte. Wie gerne er selbst jetzt noch das Gesicht in den kurzen, weichen Haaren vergraben hätte... Aber Koumei glaubte kaum, dass eine jämmerliche Farbe für irgendeines seiner Gefühle ausschlaggebend war, zudem ihr Aussehen sich ansonsten nicht sonderlich ähnelte. Genau genommen hatte er nach dieser trostlosen Vergangenheit nicht einmal mehr angenommen, noch zu derartigen Gefühlen fähig zu sein. Vor allem nicht für diesen Wahnsinnigen! Hakuren war unvorstellbar mutig, stark, fürsorglich, freundlich und fast immer gutgelaunt gewesen. Der schwarze Magi konnte in keiner dieser Eigenschaften mithalten, er zeigte immer nur seine herrische, wütende, beleidigende Seite. Was bei Hakuren Mut gewesen war, offenbarte sich bei Judar als Vermessenheit. Außerdem hatte Koumei es ohne jegliche Probleme geschafft, ihn festzuhalten, dabei war er selbst doch eher schwächlich. So war ihm in dieser Nacht eines deutlich geworden: Es war eine Beleidigung für Hakuren, den lächerlichen Priester auch nur eines Blickes zu würdigen, geschweige denn, ihn zu berühren oder zu küssen. Wenn er ihm in die wirren, roten Augen schaute, fragte ein Teil seiner Selbst sich plötzlich, wie er gestern Abend und in der Nacht im vorherigen Jahr dieses seltsame Verlangen nach Judars Nähe hatte wünschen können. Dennoch, ein anderer Teil verspürte noch immer den Wunsch, den jungen Mann an sich zu ziehen und festzuhalten, egal wie selbstverräterisch dieses Verhalten wäre. Dabei wollte er keinen Ersatz für Hakuren. Und weshalb konnte es statt Judar nicht eher Kali sein, die ohnehin zu ihm gehörte und nur auf seine Interessensbekundungen zu warten schien? Sie lebte immer noch in seiner Nähe, auch wenn sie sie daheim in Rakushou gelassen hatten. Mit den Jahren hatte sich ihr unangenehmes, dämonisches Wesen etwas gebessert. Sie hatten sich sogar ein wenig mit einander arrangiert, sie jagte ihm keine Angst mehr ein und versuchte nicht länger, ihm selbstständig näher zu kommen. Sie benahm sich recht erträglich und niemanden würde es stören, sie an seiner Seite zu wissen. Oder gab es da nicht irgendeine liebreizende Prinzessin, Dienerin oder wenigstens eine vergessene Nebenfrau seines alternden Vaters, welche sich zugleich auf das erledigen von häuslichen Arbeiten verstand? Hakuren hätte sich darüber vielleicht gefreut, so begeistert wie er immer von den Frauen geschwärmt hatte, wohingegen er Judar immer mit Misstrauen und Abscheu begegnet war. Aber nicht nur er hätte ein Problem mit seiner Annäherung an den schwarzen Magi von Kou gehabt, schließlich gehört es sich im Allgemeinen nicht. Koumei vergrub stöhnend das Gesicht in der Bettdecke. Ein Glück, dass der Schlaf ihn gestern Abend vor weiteren, noch verheerenderen Dummheiten bewahrt hatte. Plötzlich klopfte es an der Tür. Überrascht schielte der zweite Prinz zwischen den Kissen vorbei nach draußen. Die grausame Sonne ging bereits hinter den Dächern Baldbadds auf und versprach einen weiteren, unerträglich heißen Tag. Furchtbar. Wieder pochte es, heftiger jetzt. „Mein Herr?“ Koumei stöhnte gepeinigt. Hatte er nicht befohlen, dass er nicht gestört werden sollte? Er wollte wenigstens noch ein kleines bisschen schlafen, bevor er sich daran machte, die wegen Judar verpasste Arbeit nachzuholen. Ein drittes Klopfen. „Prinz Koumei? Darf ich eintreten?“ Er verneinte. Doch kaum hatte er die Worte ausgesprochen, wurde die dünne Schiebetür regelrecht aufgerissen. Das Übelkeit erregende Schaben konnte einem eine Gänsehaut bereiten. Die massiven Türen im heimatlichen Palast, welche aufschwingen konnten, wären viel angenehmer gewesen, aber dieses Haus hatte schnell erbaut werden müssen und übermäßiger Luxus kam dafür nicht in Frage. Dann war er nicht länger alleine im Raum: „Verzeiht, mein Herr. Ich wollte euch nicht stören und erst recht keine Befehle missachten, aber ich habe schon seit Tagen kein Lebenszeichen mehr von euch vernommen.“ „Und da dachtest du zweifellos: ,Mein unfähiger Herr liegt im Sterben‘ nicht wahr, mein Chuu’un?“, gähnte Koumei und setzte sich mühsam auf. Er hatte den Diener über die letzten Tage fast vergessen, was ihm beinahe Leid tat. Die kou-typischen Schuhe knallten hart auf den Boden, als der Bedienstete mit geneigtem Haupt eintrat. Chuu’un war ein schlanker, großgewachsener Mann, beinahe so groß wie Kouen und der goldverzierte Helm mit dem wolkenähnlichen Federbusch, den er sogar im Haus oft trug, verstärkte diesen Eindruck von Größe noch. Wie Koumei besaß er zu viel zotteliges Haar, nur in einem merkwürdigem Braunton, welcher ab und an ins Violette zu changieren schien. Die Mähne verdeckte seine Augen zusätzlich zu dem unpraktischen Helm. Immerhin wirkte sein ebenfalls violettes Gewand deutlich gepflegter als das des Prinzen. Zwischen den beiden Männern herrschte das gewohnte Schweigen. Nicht, weil sie Abneigungen gegeneinander hegten, sondern weil sie beide nicht gerne unnötige Worte machten. Allerdings schien Chuu'un etwas auf der Seele zu liegen, auch wenn seine starre Haltung dies gekonnt verschleierte. Der Vasall hielt sich immer kerzengrade und ließ mit keiner Regung erkennen, was ihm durch den Kopf ging. Doch Koumei hatte über die Jahre hinweg gelernt, seine verhaltene Mimik zu lesen. So konnte er sich bereits denken, mit welchem Anliegen der Mann zu ihm kam. Und tatsächlich, schließlich hielt Chuu'un es nicht länger aus und brach die Stille. „Verzeiht die unsensible Frage, aber solltet ihr nicht längst auf den Beinen sein?“, tastete er sich nach kurzem Zögern vor. Koumei stöhnte innerlich. Wieso musste sein Vasall ausgerechnet heute hereinplatzen und warum redete er nach all den gemeinsamen Jahren immerzu in diesem formellen Tonfall? „Hast du nicht etwas vergessen?“, konterte er die unangemessene Erkundigung mit einer ausweichenden Gegenfrage. Chuu’uns Schultern fielen in sich zusammen. Er musste sich in höchstem Maße unwohl fühlen. „Verzeiht, ich meinte natürlich nicht Herr, sondern Koumei, ich staune immer wieder darüber, wie gütig ihr Prinzen eure Vasallen behandelt!“, meinte er dann doch wieder gefasster. Der Rothaarige merkte, wie sich zum ersten Mal an diesem Morgen ein Lächeln auf seine Züge stahl. Chuu'uns Verhalten ist mal wieder herzerwärmend. Dabei ist es gar nicht seine Art, an allem herum zu schmeicheln. Er mochte Chuu'un, auch wenn es manchmal anstrengend mit ihm und seiner Unterwürfigkeit war. Er sollte eigentlich nicht über seine Unzulänglichkeiten nörgeln, schließlich hatte er ihn sich selbst ausgesucht und jegliche Unannehmlichkeiten selbst eingebrockt. Dafür erhielt er allerdings auch die bedingungslose Treue und Ergebenheit seines Untergebenen zurück. Falls man einmal einen Blick auf seine verdeckten Augen erhaschen konnte, zeigten sie eine tiefe Verehrung für seinen Herrn. Nur leider verbarg der Bogenschütze ein kleines Geheimnis, was seine Augen betraf und so erblickten die meisten Menschen lediglich braune, das Gesicht verdeckende Zotteln. Wie gesagt, die Männer ähnelten sich äußerlich nicht unwesentlich. Koumei mochte Chuu'un trotz dessen übersteigerter Ergebenheit und Zurückhaltung sehr. Möglicherweise grade deshalb. Vielleicht ein wenig zu sehr, aber bis jetzt hatte sich niemand daran gestört, schließlich pflegte auch Kouha ein sehr inniges Verhältnis zu gleich dreien seiner Gefolgsleute. Auch Kouen ging mit seinen Vasallen beinahe gelassen um und wenn sein Bruder dies tat, konnte es nicht allzu verwerflich sein. Der zweite Prinz konnte sich an Zeiten erinnern, wo er Chuu'un stets sein Herz ausgeschüttet hatte und immer auf ein offenes Ohr hatte hoffen dürfen. Mittlerweile allerdings hütete sich Koumei davor, seinem Vasallen jede Sorge anzuvertrauen. Es war einfach zu gefährlich. Und so herrschte zwischen ihnen viel zu oft nur noch eine gestelzte Freundlichkeit, die wahre Verbundenheit erschwerte. Tiefgründige Gespräche kamen so gut wie gar nicht zustande und an Tagen wie diesen freute sich der zweite Prinz ausnahmsweise einmal darüber. Doch was sein treuer Gefährte dann von sich gab, umging Koumeis Bemühung um Verschwiegenheit auf schändliche Art und Weise: Zuerst druckste Chuu'un nur ein wenig herum, aber dann meinte er ganz unverblümt, wie er es nur noch manchmal wagte, wenn sie ganz unter sich waren: „Hat der Hohepriester etwa die Nacht bei euch im Bett verbracht?“ „Was?!“ Koumei musste sich am Bettpfosten festhalten, um nicht krachend auf dem Boden aufzuschlagen, doch bevor er den Halt verlieren konnte, griff Chuu’un unter seine Achseln und zog ihn in die Höhe. „Also ja?“, schlug er leicht pikiert vor und warf seinem Herrn unter den Zotteln einen vorwurfsvollen Blick zu. Das glaubte der Prinz jedenfalls, da er keine Augen sah. „Du solltest nicht anmaßend werden, mein Lieber“, schnaubte er verärgert, um seine Überraschung zu verbergen. Der andere Mann blieb vollkommen ernst. „Ich habe gesehen, wie er euch besucht hat und seitdem nicht fortgegangen ist. Befindet er sich wohlmöglich noch hier? Falls ja werde ich mich sofort wieder zurückziehen…“ Wie konnte dieser Kerl nur so nüchtern sprechen, obwohl er innerlich vollkommen toben musste? Wahrscheinlich überlegte er bereits hektisch, was er anstellen sollte, falls seine Vermutung zutraf und die Ehre seines Herrn in Gefahr war. Koumei sollte ihn schnellstens beruhigen. „Chuu'un! Unser Priester befindet sich inzwischen sicher in Rakushou an der Seite der ehrenwerten Kaiserin und meines Vaters, mögen sie gesegnet sein.“ Die beißende Ironie in seiner Stimme sollte er dringend wieder hinunterschlucken, sie passte nicht zu ihm. Judar musste wahrhaft einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen haben. Kopfschüttelnd schritt der Prinz zu seinem Schreibtisch hinüber und besah sich die übriggebliebenen Dokumente. „Oh, dann habt ihr den Priester lediglich in die Hauptstadt befördert?“, mutmaßte der Bogenschütze. Koumei gähnte schwach. So viel Arbeit… Der Vasall war ihm gefolgt und klaubte die gestern verstreuten Papiere vom Boden auf. Er klang zu hoffnungsvoll, um ihn in dem Irrglauben zu belassen. Der Prinz erklärte erschöpft: „Zuerst einmal, du kannst mich jederzeit duzen, solange wir unter uns sind! Wie oft haben wir das schon besprochen? Und der Priester war tatsächlich bis vor kurzem hier. Judar hat vielleicht in diesem Bett geschlafen aber nicht bei mir.“ Vielleicht hätte er, um den anderen vollständig zu beruhigen, lieber "nicht MIT mir" sagen sollen, aber das fiel ihm zu spät ein. Wahrscheinlich hätten diese Worte ohnehin nur bodenloses Entsetzen seitens des älteren Mannes ausgelöst, also beließ er es dabei. Er tunkte die abgenutzte Feder in das beinahe leere Tintenfass und setzte eine krakelige Unterschrift auf ein Schreiben aus einer ihrer Provinzen. Wie um alles in der Welt war es mit nach Balbadd gelangt? „Herr?“ In den Worten lag eine unausgesprochene Frage, wie seine Äußerung zu verstehen sei. Koumei bedachte ihn mit einem finsteren Blick. „Verzeiht, Koumei.“ Chuu'un erntete ein noch düsteres Funkeln. Das mit dem Duzen verstand er nie, man konnte schon froh sein, wenn er sich das „Herr“ sparte. Allerdings war dies auch keine Selbstverständlichkeit. Der Prinz erläuterte ihm seine vorherigen Worte: „Nun gut, zumindest hat er nicht die gesamte Nacht in meiner Nähe verbracht, ich konnte nicht schlafen und saß bis zum Morgengrauen auf der Terrasse. Also mach dir keine unnötigen Sorgen!“, befahl er fest und wandte sich dem nächsten Dokument zu. Doch den letzten Satz hätte er sich sparen können. Normalerweise sprach der Vasall kein unnützes Wort, doch er konnte es nicht ertragen, wenn der Prinz sich gehen ließ oder zu sorglos handelte. Vor allem aber schien er es regelrecht zu hassen, wenn so etwas wie mit Judar geschah, Koumei danach Abstand brauchte und sich in die Nacht hinaus stellte. „Aber Prinz Koumei, wie könnt ihr so etwas Leichtsinniges tun? Es ist eisig kalt dort draußen! Ihr holt euch eines Tages noch den Tod! Und die Sache mit dem Priester… eure kaiserlichen Geschwister werden erzürnt sein und sich übergangen vorkommen, sollte bekannt werden, dass ihr mit ihm eine Beziehung pflegt. Ist er nicht außerdem ein wenig…“, er zögerte befangen, „…zu jung und… aktiv für euch?“ Koumei starrte ihn ungläubig an. Er sollte zu alt und eingerostet für den erbärmlichen Magi sein? Mit Judar wurde er ja wohl grade noch fertig! Wie respektlos! Diese Äußerung klang eher nach dem Vasall seiner jüngsten Schwester, Koubun Ka, der für seine Unverschämtheiten und lächerliche Machtversessenheit bekannt war… „Wir pflegen keinerlei Verhältnis zueinander, welches über die Verbundenheit von Magi und Königskandidat hinausgeht“, erwiderte er trocken und kämpfte müde gegen seine immer wieder zufallenden Augenlider an. War das anstrengend, von einem Untergebenen ausgehorcht zu werden! Er sollte es unterbinden! Warum will er es überhaupt unbedingt wissen? Chuu'un wirkte prompt erleichtert, aber irgendwie nicht vollends überzeugt. Doch ehe er noch etwas anmerken konnte, fiel Koumeis Kopf mit einem dumpfen Laut auf das Blatt vor ihm. „Mein Herr!“, rief der Vasall überrascht und dennoch gefasst. So anders als Hakuren oder Judar… Tadelhaftes Verhalten zeigte er höchstens im Streit mit Seishuu Ri, einem von Kouens Vasallen. Die beiden waren schon seit frühsten Kindertagen befreundet und hatten ursprünglich Hakuyuu und Hakuren zur Seite stehen sollen. Welchen der beiden Diener Hakuren bevorzugt hätte, stand außer Frage. Der lebhafte Prinz hatte nie erkannt, dass der Bogenschütze intelligenter und mindestens ebenso nützlich wie Seishuu sein konnte. Hätte Hakuren Chuu’un zum Beispiel heute gesehen, wäre er wahrscheinlich überrascht gewesen. Doch nun hingegen schien das seltsam aufdringliche Verhalten endlich beendet. Das hier war wieder der Chuu'un, den der Rothaarige kannte und dessen Nützlichkeit er schon als kleiner Junge bemerkt hatte. Nun allerdings würde der Mann ihn eher vom Dösen abhalten und Unannehmlichkeiten bescheren – oder? Große Hände fassten ihn bei den Schultern und drückten sie prüfend. Ein wohliges Seufzen entwich seiner Kehle. Wie gut das tat! Sein ohnehin angeschlagener Rücken musste unter der Kälte und der unglücklichen Position gelitten haben, doch eigentlich hatte er jetzt keinen Nerv für eine Massage. „Mh…lass das…“, brummte Koumei plötzlich unwillig, denn er wollte einfach nur noch seine Ruhe haben und endlich schlafen. Natürlich hatte er keinerlei Chance. „Eure Muskeln sind völlig versteift“, stellte Chuu'un besorgt fest. Diese Erkenntnis schien ihn jedes Mal zu durchfahren, wenn er auch nur in die Nähe von Koumeis Rücken gelangte. „Kein Wunder, die ganze Arbeit zwingt euch wahrlich in eine ungesunde Haltung und hält euch von jeglicher Bewegung fern“, behauptete er beinahe verärgert, während er hinter ihm nieder kniete. Für echte Empörung beherrschte sich der Vasall zu gut. Träge linste der Prinz zwischen seinen Zotteln hervor. „Bewegung ist weder erfreulich, noch gesund“, hielt er müde dagegen und stöhnte auf, als sein Vasall begann, kräftig an seinen Schultern herum zu kneten. „Und ebenso wie körperliche Ertüchtigung ertrage ich grobe Massagen nicht“, ächzte er schmerzerfüllt. Seine Schultern wurden regelrecht zerquetscht. Wie sehr wünschte er sich den behutsamen Druck von eben zurück. Sein Berater grub seine Finger zur Antwort lediglich umso fester in die verhärteten, eigentlich nicht vorhandenen, Muskelstränge. Welch eine Folter! Doch schließlich schien es ihn zu langweilen, seinen Herrn zu quälen. Erleichtert hob Koumei den Kopf und wandte sich dem nächsten Dokument zu, das er überprüfen musste. Es ging um die Selbstverwaltungsrechte Balbadds. Herrje, darum musste er sich dringendst kümmern. Am besten wäre es sicher, mit dem Land zu verfahren, wie Kou es auf seinen Rat hin mit jedem eroberten Gebiet tat. Genau genommen hatten sie Balbadd zwar nicht wirklich erobert, doch es unterstand mittlerweile ihrem Machteinfluss. Die Selbstverwaltungsrechte würden abgeschafft und Gesetze und Sitten denen des Imperiums angeglichen werden. Die Regierung oblag nun ihrer Zentralverwaltung und obwohl das Land als Republik galt, würde diese Staatsform nicht mehr lange andauern. Als Oberbefehlshaber der Westexpedition würde „General“ Kouen sicherlich bald der Gouverneur dieses unerträglich heißen Staates werden… was bedeutete, dass sie ewig hier festsitzen und Rakushou wahrscheinlich nie wiedersehen würden. Es gab hier so viel zu tun! Dabei sehnte sich der zweite Prinz sehr nach seinen Gemächern daheim, denn sie blieben im gemäßigten Klima Kous, außer im Hochsommer, erträglich kühl. Nun gut, für das Wohl von Kou musste jeder sein persönliches Opfer bringen. Je nach Persönlichkeit fiel es kleiner oder größer aus. „Koumei? Darf ich eure Dienerinnen herbeirufen?“, durchbrach auf einmal Chuu'un seine sehnsuchtsvollen Gedanken. Der Prinz verneinte mit der Begründung, jetzt endlich arbeiten zu müssen. „Aber euer Haar ist vollkommen zerzaust“, wandte der andere ein, „es muss dringendst entfilzt werden, sonst müsst ihr es bald abschneiden!“ „Dann kümmere du dich darum“, gähnte Koumei gleichgültig. Was interessierte ihn schon sein Aussehen, wenn es um die Zukunft von Kou ging? „Ich weiß bedauerlicherweise nicht, wie man euch am besten kämmt und sich im Allgemeinen um seinen Herrn sorgt“, widersprach Chuu'un verzweifelt. „Du solltest es eigentlich langsam wissen! Auch wenn du es nicht bei jemandem gelernt hast, sollte es dir durchaus möglich sein, ein paar Haare zu kämmen, mein Lieber“, tadelte Koumei ungehalten. Der Vasall zierte sich manchmal unerträglich, dabei sollte er mittlerweile wirklich genügend Erfahrung mit seinen Zotteln haben, so oft wie der Prinz über Tage hinweg nur seinen vertrauenswürdigsten Untergebenen um sich haben wollte. Schicksalsergeben schritt der braunhaarige Mann schließlich zu einem kleinen Wandschrank und kam mit Bürste und Kamm zurück. Während er umständlich den, von seinem Herrn grade mühsam erneuerten, Pferdeschwanz öffnete, vertiefte sich Koumei in Balbadds republikanische Strukturen. Wenn sich Chuu'un anstelle der Dienerinnen um ihn sorgte, konnte er deutlich besser arbeiten, weil der Mann viel vorsichtiger zu Werke ging und nicht ununterbrochen plapperte: Bevor sein Vasall mit dem Bürsten und Kämmen begann, löste er die gröbsten Knoten mit den Händen und während seine Massage im Schulterbereich mehr einem Knochenbrechen glich, war sie auf seiner Kopfhaut angenehm sanft und entspannend. Wäre er eine Katze, hätte er laut geschnurrt. Dabei hasste er die kratzbürstigen Viecher, weil sie seinen geliebten Tauben nachstellten. Allerdings fühlte er sich grade tatsächlich ziemlich wohl. Ja, Chuu‘un war ein vielseitiger, praktischer Geselle, der zwar selten redete und jedem seiner Befehle folgte, sie aber dennoch ab und an in Frage stellte, sodass Koumei hin und wieder nachdenklich wurde. Auch wenn seine Überlegungen meist von unschlagbarer Raffinesse beseelt waren, konnte es nie schaden, Entscheidungen zu überdenken. Der Prinz konzentrierte sich das erste Mal an diesem Tag vollends auf die Arbeit. Nur selten durch schmerzhaftes Ziepen abgelenkt, konnte er den zerknitterten Stapel in kurzer Zeit beträchtlich abarbeiten. Allerdings riefen die sanften Bürstenstriche auch die Müdigkeit wieder wach. Sollte er vielleicht eine Art Schwindelanfall vortäuschen, um vielleicht doch noch in sein geliebtes Bett zurückkehren zu können? Er könnte sich einfach gegen den Vasallen fallen lassen und ein mitleiderregendes Wimmern von sich geben. Manchmal sprang auch Chuu'un darauf an, nun gut, meistens seufzte der nervige Kerl nur verzweifelt oder er beschwerte sich über seine schlechte Arbeitsmoral… Schließlich jedoch unterbrach der große Mann wieder seine angestrengten Gedankengänge: „Mein Herr, ihr solltet euch besser ein heißes Bad vorbereiten lassen.“ Der Rothaarige verdrehte hilflos die Augen. Was gab es denn nun schon wieder an seinem Äußeren zu bemängeln? „Nun ja… Eure Robe wirkt, als hättet ihr sie tagelang nicht gewechselt mit all den Tintenflecken darauf, euer Haar ist etwas fettig und ihr riecht ein wenig unangenehm, verzeiht mir meine Ehrlichkeit.“ Stöhnend ließ sich Koumei gegen seinen Untergebenen sinken, der ein wenig überrascht reagierte. Zwar beabsichtigte er nicht mehr, irgendeine Schwäche vorzutäuschen, aber seinem Unmut musste er irgendwie Luft machen. Der andere hatte ja Recht, nach drei Tagen ohne Kleiderwechsel und Waschmöglichkeit roch er wohl nicht grade nach blumiger Seife. Chuu'un räusperte sich unbehaglich. „Weswegen ich eigentlich hier bin: Euer kaiserlicher Bruder sucht und schickt nach euch, um gemeinsam das Frühstück einzunehmen“, enthüllte er den Grund für seine Bemühungen. Das Frühstück? Was für ein überflüssiger Befehl. En will mich mal wieder ärgern… Ihm die Anweisung mitzuteilen, fiel Chuu'un ziemlich spät ein. Wenn Kouen ihn derart derangiert zu Gesicht bekam, würde es ein Donnerwetter geben. Nein, nicht vor den Bediensteten und anwesenden Würdenträgern, aber sicher danach, worauf er heute gut verzichten konnte. „Dann bade mich, aber beeil dich“, befahl der Prinz verstimmt. „Sollten das nicht lieber die Frauen übernehmen, mein Herr?“, kam der biedere Widerspruch. „Sie sind zu langsam und außerdem würde ich meine Haut gerne behalten“, schnaubte der Befragte erzürnt, dass man ihm Widerworte gab und er nicht früher von dem Frühstück erfahren hatte, wobei sein ausgehungerter Magen sogleich zu knurren begann. Wenigstens war der Morgen noch jung, so würden sie nicht zu spät an der Tafel erscheinen. Geschlagen verstummte Chuu'un und erhob sich, um das heiße Wasser für das Bad seines Herrn vorzubereiten, wobei Koumei diese Gelegenheit noch für einen winzigen Schlaf nutzte. ~ Schließlich wurde er von einem verzweifelten Chuu'un geweckt und in den Baderaum gezerrt. Sein Vasall hatte Helm und hinderliche Kleidungsstücke abgelegt und stand mit hochgekrempelten Ärmeln nur noch in den weißen Gewändern vor ihm, die man in Kou stets zu unterst trug, wobei er bereits sehr geschafft wirkte. Der Mann hatte großes Glück, dass er seinem Herrn körperlich überlegen war, andernfalls wäre er wohl bei der undankbaren Aufgabe, den Rothaarigen über die Gänge zu schleifen zusammengebrochen. Sobald sie sich dem dampfenden Waschzuber, welcher bis oben hin mit Wasser und Seifenschaum angefüllt war, näherten, leistete der Prinz noch mehr Widerstand. Er mochte Baden einfach nicht. Doch hatte man Chuu'un einmal einen Auftrag erteilt, entschloss dieser sich, ihn um jeden Preis auszuführen. Er war ein tüchtiger Diener. Also streifte er Koumei rasch die Gewänder ab und beförderte ihn kurzer Hand in die Wanne, was diesem überhaupt nicht gefiel. Prompt triefte Chuu’un vor Nässe. Dann befand sich plötzlich duftende Seife in Koumeis Haar und auf seiner Haut. Schweigend und mit höchstem Widerwillen gegen die nasse Prozedur, erschwerte er seinem plötzlich unliebsamen Vasallen das Ausführen des Befehls, indem er sich mehr als unbedingt nötig bewegte, wenn dieser versuchte, ihm den Staub vom Körper zu schrubben. Irgendwann reichte es aber auch dem duldsamen Chuu'un und er seufzte: „Mein Herr, was ist nur heute mit euch los, ihr benehmt euch wie ein kleines Kind… und diese Sache mit dem Priester…“ Es war ihm anzuhören, dass ihm die Worte bereits beim Aussprechen Leid taten und so legte er rasch eine verständnisvolle Note in seine Stimme, die einem Ahnungslosen wohl kaum aufgefallen wäre, bevor er es von neuem versuchte: „Bedrückt euch irgendetwas? Hat der Magi euch vielleicht angegriffen?“ Koumei konnte ein bitteres Schnauben nicht unterdrücken. Irgendetwas lief momentan gehörig falsch mit ihm, wenn Chuu'un von sich aus beschloss, ihn mit Fragen zu löchern. „Oh, wenn es das wäre, würde ich mich beinahe freuen.“ Und wie es sich für einen guten Berater gehörte, verstand Chuu'un sein Problem sofort. „Mh… das ist es also“, murmelte er wissend und trocknete seine schaumbenetzen Hände nachlässig ab, bevor er unbeholfen begann, die Seife aus Koumeis Haar zu spülen. „Wisst ihr… ihr solltet langsam versuchen, mit diesen Erinnerungen zu Recht zu kommen“, erlaubte er sich einen Ratschlag. Der Prinz versteifte sich verärgert und schüttelte die Finger in seinem Haar ab, doch der Vasall gab ihm bereits zu verstehen, dass er nun sauber war. Als Koumei sich anschickte in einem regelrechten Wasserfall aus dem Zuber zusteigen, erwartete ihn bereits ein weiches Handtuch. Mein Chuu'un ist geschickter, als jede Dienerin, dachte er mit widerwilliger Bewunderung, weil der Mann ihn in Rekordzeit gewaschen hatte. Dabei verbreitete er keine Spur von der Aufregung, die den wuselnden Frauen innewohnte und einen oft nervös machte. Einigermaßen zufrieden ließ er sich auf einen Hocker sinken und abtrocknen, als sein Begleiter mit einem Mal wieder besänftigend die Stimme erhob: „Nun, vielleicht ist es verständlich, dass ihr nicht davon los kommt und euch schuldig fühlt. Ihr wart sehr jung damals.“ Das war das einzige, was über seine Lippen kam, doch natürlich verstand sein Herr. „Nicht jung genug, um es nicht zu verstehen und mein Verhalten nicht selbst zu verschulden“, antwortete Koumei achselzuckend. „Ihr meint also, dass ihr keinen Beistand nötig habt? Und dennoch scheint euch die Vergangenheit so sehr zu beeinflussen, dass ihr euren Priester die ganze Nacht in euren Gemächern beherbergt, was auch immer dort geschehen ist?“, stichelte Chuu'un ungewöhnlich boshaft. Koumei blinzelte ihn ungerührt an. Wie falsch Chuu'un mit seiner Vermutung lag. Er würde nicht mehr aus verbitterten Erinnerungen heraus nach Gesellschaft suchen. Nein, erst die angefangene Sache mit Judar hatte bewirkt, dass seine Gedanken mal wieder um Hakuren und die Vergangenheit gekreist waren, nicht anders herum, wie der Vasall gedacht hatte. Danach war es unvermeidlich, dass es ihm schlecht ging. Andererseits könnte sein Unterbewusstsein durchaus einiges zu seiner Übersturzhandlung beigetragen haben, wie Chuu'un vermutete. Aber wer wusste das schon, Menschen konnten einander nie vollends verstehen. Der rettende Schlaf hatte ihn grade so vor Dummheiten bewahrt, auch wenn der andere das nicht recht glaubte. Bist du etwa neidisch, mein Diener? Diese Worte lagen ihm fast auf der Zunge, in einem herrischen, überaus lauten Tonfall, wie bei Kouen, so sehr hatte ihn die allzu lange Anwesenheit Judars gereizt. Nun, sein Vasall verschlimmerte seine schlechte Laune noch mit untypischen Verhaltensweisen. Für gewöhnlich hielt er den Mund und hüllte sich in professionelles Schweigen. Eigentlich sprach er nur, wenn es etwas Dringliches gab, auf welches er seinen Prinzen hinweisen musste oder um ihm auf eine Frage zu antworten. Vielleicht handelte es sich beim Auslöser dieses frevelhaften Verhaltens tatsächlich um Neid, wer konnte das schon sagen? Koubun Ka zum Beispiel wurde immer ungehalten, wenn sich jemand seiner Herrin Kougyoku näherte und seine Vorschläge ihr besser gefielen, als die des machtgierigen Vasallen. Chuu'un musste folglich auch irgendein Problem haben. Dieses vertrauliche Gespräch, welches größtenteils von dem Berater ausging, war für ihn einfach überaus ungewöhnlich. Nicht, dass es etwas Derartiges nie gegeben hätte, damals hatten ihn die intimen Unterhaltungen wohl vor dem Wahnsinn bewahrt, aber früher hatte Chuu'un auch lieber geredet als heute, wo er längst das bei Hofe angemessene Verhalten gelernt hatte. Wie dem auch sei, Koumei strahlte mittlerweile nur so vor Sauberkeit und sobald der als Dienstmädchen missbrauchte Bogenschütze ein paar neue Gewänder aufgetrieben hätte, würden sie endlich das Frühstück mit seinen noch in Balbadd anwesenden Geschwistern hinter sich bringen. Plötzlich erstarrte er. Sein Vasall war erstaunlich nahe an ihn heran getreten, sodass man den gold-gelben Schimmer seiner Augen durch die wilde Haarmähne erahnen konnte. „Prinz Koumei, ihr könnt mir alles erzählen, was euch auf dem Herzen liegt“, sagte er überraschend weich, wie er früher als Kind geklungen hatte, wenn er Koumei manchmal getröstet hatte. Das kam ziemlich überraschend. Ein wenig verwundert über den veränderten Tonfall musterte Koumei den anderen. „Ich möchte lediglich, dass es euch besser geht.“ Schlagartig fühlte er sich beruhigt, begriff, dass Chuu'un nicht auf Ärger aus war, sondern lediglich seinen Herrn schützen wollte, wie immer, weil dies seinen einzigen wirklichen Lebensinhalt darstellte. Zögerlich legten sich zwei entblößte, feuchte Arme um Koumeis nackte Schultern. Der Bogenschütze wusste genau, dass man ihn hier wegen ein wenig Nähe nicht verurteilen würde. Dafür verband die beiden Männer zu viel gegenseitiges Vertrauen: Lebensrettende Hilfeleistungen in der Vergangenheit wurden nicht so leicht vergessen. Dabei hätten sich andere Herren aufgrund dieser unangemessenen Annäherung nun einfach abgewandt oder den Diener scharf zurechtgewiesen und ihm vielleicht sogar eine Strafe angedroht. Aber der zweite Prinz konnte nicht umhin, zu lächeln. Nur ein klein wenig, grade so viel, dass sein Gegenüber es erkannte. Die Anspannung und der Ärger verflüchtigten sich nach und nach. „Es ist nichts, was du nicht schon lange wüsstest“, beschwichtigte er ihn endlich und bemerkte, wie sein Diener aufatmete. Warum er ihm plötzlich glaubte, leuchtete ihm zwar nicht ein, aber die entspanntere Situation erleichterte ihn ebenfalls und so erwiderte er die vertraute Umarmung, die ihm einst wohl das Leben gerettet hatte. „Ich wünschte nur, ihr würdet ein wenig mehr auf euch achtgeben“, meinte Chuu'un leise. „Nun mach dir nicht immer so einen Kopf“, murmelte Koumei kaum hörbar, während er sich der angenehmen Nähe des anderen allzu bewusst war. Nicht gut. Dieser protestierte seufzend: „Das ist leichter gesagt als getan. Ihr saht heute Morgen so schlecht aus, dass ich an diesen einen Tag zurück denken musste…“ Der Vasall verstummte schaudernd. Koumei wusste genau, auf welches vergangene Ereignis er anspielte, obwohl sein Berater offensichtlich nicht wagte, mehr davon zurück ans Licht zu zerren. „Nun, wenn du mich damals retten konntest, wieso sollte es dir ein nächstes Mal nicht gelingen?“, erkundigte er sich unbekümmert. „Ach, ihr seid anstrengend!“, rief der Braunhaarige lediglich aus und erntete ein erheitertes Schmunzeln, woraufhin er seinen Griff um den Rücken des Prinzen löste. Wenn Chuu'un seine demonstrative Gelassenheit aufgab, wurde er beinahe redselig. Dann fiel er auf einmal vor ihm auf die Knie und neigte ergeben Kopf. Waren in diesen Tagen alle Leute von Stimmungsschwankungen geplagt? Die wohltuende Nähe des anderen vermisste Koumei jetzt schon. „Verzeiht, das unangemessene Verhalten von vorhin, mein Herr, es wird nicht wieder vorkommen.“ Na herrlich, sie hatten das ganze Gespräch umsonst geführt. Wobei, er sollte sich freuen, dass der Vasall sich wieder eingekriegt hatte. Offenbar brach nun wieder Chuu’uns wahre Natur hervor, die ihm die strengste Kaisertreue abrang. „Wenn ihr etwas braucht, egal was, sagt es mir einfach, ich gebe es euch. Immer“, beteuerte er. Obwohl seine Miene dabei vollkommen unbewegt blieb, zweifelte der Prinz nicht im Geringsten an diesem Versprechen. Koumei lächelte müde. Herrje, in den letzten zwei Tagen hatte er eindeutig zu viel gelächelt, das entsprach gar nicht seinem schläfrigen Wesen. Das einzige, was er wollte, waren Ruhe und Schlaf, etwas, das er kaum um diese Zeit und erst recht nicht von einem Untergebenen erbitten konnte. Also meinte er: „Deine Ergebenheit ehrt mich, aber es gibt momentan nichts für dich zu tun. Allerdings wird Kouen wütend sein, wenn wir ihn noch länger warten lassen.“ Chuu'un stimmte hastig zu und machte sich daran, ihn anzukleiden, bevor sie sich mit endlich auf den Weg zum Speisesaal begeben konnten. *~* Kapitel 25: Kaiserin -------------------- ~*~ An einem weitentfernten Ort erstrahlte helles Licht und eine kreischende, zappelnde Gestalt fiel vom Himmel. Das erste Zeichen, welches Judar signalisierte, dass sein Königskandidat auf einmal, ohne ersichtlichen Grund, völlig entgegen seinem gelassenen Wesen, wirklich schlecht auf ihn zu sprechen war, stellte ein unheilvolles Knacken dar. Keinen Wimpernschlag später löste ein Schmerz wie von hundert kleinen Nadelstichen das Knirschen ab und Judar fand endlich Halt. Der Schock über den Sturz stand ihm ins Gesicht geschrieben. Mit panisch geweiteten Augen klammerte er sich an den rauen Ästen des Baumes fest, über welchem Koumei ihn aus seinem Teleportationskreis hatte stützen lassen. Diese bogen sich unter seiner Last allerdings bereits bedenklich durch. Knurrend versuchte er, sein Gewicht zu verlagern, um sich Orientierung zu verschaffen, bemerkte allerdings schnell, dass ihm dies nicht so leicht gelingen würde. Das einzige, was er erkannte, war das grüne Gras unter sich und das rote Dach des Palastes von Rakushou. Na, immerhin hatte Koumei die Güte besessen, ihn an den richtigen Ort zu schicken, er befand sich augenscheinlich in einem der begrünten Innenhöfe des herrschaftlichen Anwesens. Wahrscheinlich hatte er Glück im Unglück, dass ihn dieser hinterlistige, schäbige Zottel nicht über dem Krater eines Vulkans hatte erscheinen lassen. Dann wäre er jetzt ein verschmortes Etwas. Trotzdem, toll war es auch nicht, in einem Baum zu hängen. Die Rinde riss seine Handflächen auf und machte ein Umgreifen zwecks besseren Halts schmerzhaft. Judar fühlte sich aufgeschmissen. Wie kam er denn bitteschön von hier auf den Boden zurück? Er litt ja nicht unter Höhenangst, immerhin schwebte er mit größtem Vergnügen in der Weltgeschichte herum. Aber ohne magische Einwirkung seinerseits in der Luft zu hängen, machte ihn nervös. „Was hast du dir dabei gedacht, du Trottel?!“, brüllte er außer sich dem wolkenverhangenen Himmel entgegen. Natürlich bekam er keine Antwort, sein Königskandidat befand sich in weiter Ferne. Dafür steckte Judar nun im Wipfel irgendeines Baumes fest und konnte weder vor noch zurück. Nicht nur, weil jede kleine Bewegung einen Absturz erschreckend real werden lassen konnte, sondern auch, weil die Zweige sich heillos in seiner Kleidung verfangen hatten. Dieser Bastard hatte ihn hier oben festgesetzt, ganz sicher vollkommen absichtlich. Bei Koumei blieb eine Handlung nie undurchdacht. Wahrscheinlich lachte er sich über Judars missliche Lage dort drüben in Balbadd ein Loch in den Bauch. Ach was, bestimmt schlief er bereits wieder und hatte ihm lediglich eine Lektion erteilen wollen, schließlich lachte Koumei so gut wie nie. Außer gestern. Und das war gruselig wie sonst was gewesen! Kein anderer Mensch konnte derart finster dreinblicken, nicht einmal der Kaiser. Dieser Zottel hatte ihn in seine Schranken verweisen wollen, wahrscheinlich weil er immer noch über Judars Alleingang in Sindria empört war. Wie unverschämt! Nun, wenn Judar ihm das nächste Mal begegnete, würde dieser Trottel einen hinterhältigen Angriff wie grade eben nie wieder wagen. Der schwarze Magi sann bereits über heimtückische Rachepläne nach oder genauer gesagt beschloss er, sein Königsgefäß das nächste Mal solange mit Eiszapfen zu bombardieren, bis es um Gnade winselnd am Boden lag. Ja, so könnte er ihn gleich für seine vorgetäuschten Annäherungsversuche mitbestrafen. Dass er Koumei noch nie um Gnade winseln gesehen hatte, was darauf hindeutete, dass sein Vorhaben von vorneherein zum Scheitern verurteilt war, verdrängte er recht erfolgreich, da ihm just in dem Moment aufging, dass er sich schleunigst etwas überlegen musste, um von diesem verdammten Baum herunter zu kommen. Die spitzen Ästchen piekten unangenehm in seinen Bauch, hatten auch sein Oberteil und die Hose aufgerissen und stachen ihn schmerzhaft. Sein langer Zopf hing ausgestreckt in die Höhe, da er sich an einem weiter oben wachsenden Zweig verkeilt hatte. Was musste er für ein lächerliches Bild abgeben. Dafür würde Koumei bezahlen! Wie konnte man nur so bescheuert sein? Einen Magi sollte man lieber nicht reizen! Nicht mit dieser hirnrissigen Racheaktion gegen sich aufbringen! Judar fühlte sich völlig hilflos. Eine Pleite, die er in seinem Leben wohl nicht mehr vergessen würde. Noch nicht mal an seinen Zauberstab gelangte er, denn dafür hätte er einen Ast loslassen müssen, damit er in sein Schultertuch greifen konnte. Doch dann wäre er unweigerlich weiter durch das Geäst gestürzt. Ob ihm in diesem Falle der Zauberstab noch behilflich sein könnte, bezweifelte er. „Scheiße!“, keifte er, rot vor Zorn. Einige Minuten verharrte er im Baumwipfel wie ein eingewickeltes Insekt in einem Spinnennetz. Er konnte nicht mehr. Obwohl, wenn er sich nicht weiter bewegte, ließ es sich hier wohl am besten aushalten. Schicksalsergeben beschloss er, nach Hilfe zu schreien. Tolle Idee. Niemand kam, egal wie sehr er seine Stimmbänder malträtierte. Na großartig! Da machte man sich einmal die Mühe seinen Stolz über den Haufen zu werfen und es juckte keinen einzigen dieser Banausen! Wollten sie etwa den Zorn ihres Magi auf sich ziehen?! Mit einem wütenden Zischen verstärkte er seinen Griff um die Äste. Langsam wurde er wirklich müde. Offenbar hatte er ein extremes Problem. Ungehalten wippte er mit den Füßen, sodass ein leichtes Wackeln durch den Baum ging. Dann spürte er plötzlich erschrocken, wie sich etwas aus seinem Schultertuch schob. Nein, es rutschte. Bei den verfluchten Rukh, das Pfirsich-Haaröl! Dabei hatte Koumei es doch als Letzter in den Händen gehalten? Wie kam es wieder zu ihm, das war unheimlich! War dieser verdammte Flakon etwa verflucht? Wollte ihn jemand für dessen Diebstahl bestrafen? Aber lange konnte er nicht darüber nachgrübeln, denn das Fläschchen drohte, aus dem Tuch zu gleiten. Oh je! Wenn es herunterfiel und im Gras unter ihm zerbrach… Prinzessin Kougyoku würde nie wieder ein einziges Wort mit ihm wechseln. Dabei brauchte er die üblichen Streitereien mit ihr wie die Luft zum Atmen! Doch das Fläschchen wollte ihm offenbar seine Dreistigkeit vom vorherigen Tag heimzahlen und… fiel. Dann ging alles ganz schnell. Aus einem dummen Reflex heraus schnellte seine rechte Hand an sein Schultertuch und fing den Flakon. Im ersten Moment schwankte der Magi zwar, doch dann schien er sich wieder gefangen zu haben. Aber zu früh gefreut: Als Judar erleichtert wieder nach dem Ast greifen wollte, verlor er endgültig das Gleichgewicht, seine Füße zappelten mit einem Male frei in der Luft, die linke Hand konnte sein Gewicht nun auch nicht mehr halten. Er stürzte ab. Verspürte einen unerträglichen Ruck auf der Kopfhaut, als sein Haar riss und sich befreite. Schreiend und fluchend rauschte er durch die Blätter, prallte gegen harte Zweige und Äste, dass es ihm den Atem aus dem Körper trieb. Er glaubte fast, von diesem blöden Baum zermalmt zu werden. Dann schlug er heftig am Boden auf und blieb benommen liegen. Selbst seinen Schwebezauber hatte er nicht mehr verwenden können. Irgendwann begann Judar zu verstehen, dass er noch am Leben war. Auch wenn er sich grade eben problemlos den Hals hätte brechen können. Geschockt und am ganzen Leib zitternd spürte er die zahlreichen Schrammen auf Rücken, Bauch, Armen und Beinen. Sein Körper schmerzte beinahe genauso heftig wie nach dem Kampf mit diesem kopflosen Dschinn damals in Balbadd! Er fühlte sich völlig zerschlagen. Blätter und Zweigstückchen ragten aus seiner zerzausten Mähne, die ihm wild über die Schultern fiel. Jetzt sah er bestimmt genauso verwahrlost aus, wie der alte Zottel. So freute ihn nicht einmal das intakte Glasfläschchen, welches er rasch wieder an seinem Platz verstaute. Er tauschte es gegen seinen Zauberstab, denn irgendwie brauchte er jetzt dessen vertrautes, beruhigend glattes Material zwischen den Fingern. Danach lag er wie gelähmt auf der Wiese. Heute konnte er ausnahmsweise verstehen, weshalb Koumei sich so gerne ausruhte. Nun hatte er es nämlich selber bitter nötig. Dieser Mistkerl hätte ihn umbringen können! „Ach, da ist ja endlich mein treuer, mächtiger Judar“, säuselte aus heiterem Himmel eine liebliche Stimme. Der Magi zuckte erschrocken zusammen. Schwarze Rukh tanzten in der Luft, doch sie gehörten nicht ihm. Fahrig kämpfte er sich in eine sitzende Position und blickte sogleich zu der Sprecherin auf, welche unbemerkt an ihn herangetreten war. Oh nein, war ja klar, dass ich ausgerechnet der Alten als erstes begegnen muss…, dachte Judar entsetzt. Vor ihm stand niemand geringeres als Gyokuen Ren. Die Kaiserin höchstpersönlich nahm seinen Verwahrlosten Anblick in sich auf, wobei ihre klaren, himmelblauen Augen keine ihrer Emotionen verrieten. War sie gelangweilt? Erzürnt über seinen seltsamen Auftritt oder die Verspätung? Nein, so sah sie nicht aus. Ihr trotz des Alters makelloses Gesicht zierte ein Lächeln, welches wohl jeder Außenstehende für echt und hinreißend gehalten hätte. So war es auch dem schwarzen Magi einst ergangen. Erst mit der Zeit hatte er bemerkt, was für eine falsche Hexe er vor sich hatte. Sie gierte nach Macht, das war kein Geheimnis. Jeder, der einer Versammlung mit ihren Priestern beiwohnte, konnte dies erkennen. Die Sekte namens Al-Thamen war ihr treu ergeben und hatte Judar ins Kou Reich gebracht, wo sie ihn zu Gyokuens persönlichem Spielzeug geformt hatten. Anfangs hatte er sich über die Aufmerksamkeit dieser freundlichen Frau gefreut. Schließlich war er nur ein dummer, kleiner Waisenjunge gewesen und diese elegante, ach so gütige Dame, hatte ihn liebevoll im kaiserlichen Palast aufgenommen. Nur ihre hyperaktiven Kinder, welche viel älter als er gewesen waren und ihn nicht grade zuvorkommend aufgenommen hatten, waren ihm sofort nervtötend erschienen. Mit Ausnahme des kleinen Hakuryuu vielleicht, mit ihm hatte er manchmal gespielt, wobei er jünger als Judar und schrecklich schüchtern war. Ob er ihn in der nächsten Zeit noch einmal zu Gesicht bekommen würde? Na gut, Hakuei konnte sich ebenfalls sehen lassen, sie besaß viel Talent für ihr Metallgefäß. Sie waren so anders, viel nützlicher als ihre älteren Geschwister. Besonders Hakuren Ren, dieser Idiot von einem Prinzen, hatte ihn immer verächtlich gemustert. Sein hochnäsiger Bruder Hakuyuu hatte das Waisenkind zwar manchmal mit einem nachsichtigen Lächeln bedacht, doch Judar konnte diese aufgesetzte, verständnisvolle Maske selbst in seiner Erinnerung nicht ab. Nun, jetzt waren sie beide schon ewig tot und ehrlichgesagt bekümmerte dieser Umstand den schwarzen Magi nicht sonderlich. Die misstrauischen Blicke, mit denen sie ihn stets so herablassend durchbohrt hatten, konnte er nicht vergessen. Sie hatten eine Konkurrenz dargestellt. Eine Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der schönen, liebevollen Kaiserin, deren Lächeln so bezaubernd wirkte, dass sämtliche Kinder ihr sofort verfallen waren und den Wunsch verspürten, ihr all ihre Geheimnisse anzuvertrauen. Damals war sie ihm eine gute Mutter gewesen, glaubte er zumindest. Eigentlich hatte seine Kindheit nur aus Züchtigungen und Drill bestanden, weil er sich stets davon stahl, um irgendwelchen Unsinn anzustellen. So hatte er sich ständig mit dem wahnsinnigen Kaiserneffen Kouha geprügelt. Na gut, eigentlich war immer nur er von dem winzigen, mädchenhaften Jungen vermöbelt worden und hatte erfolglos versucht, sich mit Hilfe seiner Magie zu wehren. Judar war körperlich schon immer ein schwaches Kind gewesen, nicht sonderlich praktisch, wenn man eigentlich ein fieser, kleiner Draufgänger war. Jedenfalls hatte er wohl viele der Strafen sogar verdient gehabt, auch wenn sie meist unnötig schwer gewesen waren. Aber die Kaiserin hatte er trotzdem vergöttert. Sogar ihre gewaltsamen Bestrafungen, wenn er sich beim Lernen nicht anstrengte oder böse war, hatte er klaglos ertragen, weil er geglaubt hatte, sie verdient zu haben. Dabei hatte sie sich selten die Hände an ihm schmutzig gemacht, schließlich verfügte sie über genügend willenlose Marionetten. Die Magier von Al-Thamen gehorchten ihr blind. Mittlerweile hatte Judar ihre perfekte Fassade allerdings durchschaut und verabscheute die Alte. Gyokuen schien zu bemerken, dass er abgelenkt war. „Hast du mir denn etwas Interessantes mitzuteilen, Judar?“, erkundigte sie sich süßlich. Widerlich! Dass ihm dieser abschreckende Ton in ihrer Stimme damals nie aufgefallen war! So gerne er sich einfach aufgerappelt hätte und davon geflogen wäre, die Hexe durfte von seinen düsteren Gedanken nichts erfahren, sonst würde sie ihn bestrafen. Das wollte er nicht. Auf keinen Fall. Das letzte Mal spukte immer noch verstörend nah in seinen Gedanken herum. „Du wirkst ungewöhnlich beschäftigt, ist etwas Wichtiges vorgefallen?“, hakte Gyokuen unverbindlich nach. „Nein nein, nichts“, wehrte er grummelnd ab. Die freundlichen blauen Augen verengten sich. Auf diese Weise wollte sie wohl Besorgnis vortäuschen, aber Judar wusste es besser. Die Kaiserin würde sich niemals um irgendetwas oder irgendwen sorgen, egal wie überzeugend sie ihre Rolle spielte. Außer vielleicht um ihren „Vater“ Il-Illah, den sie und ihre Priesterschaar so sehnsüchtig anbeteten. Wahnsinniges Weib! „Dann erzähle mir doch bitte von deinem Aufenthalt in Sindria, ich würde zu gerne ein paar Geschichten von König Sindbad zu hören bekommen!“, rief sie aus, bevor sie sich zu ihm herunter beugte und seine Wange streichelte. „Na gut, sofort“, stöhnte er. Hastig wich er der mütterlichen Berührung aus und stemmte sich mit schmerzenden Gliedern hoch. Bei den schwazen Rukh, tat das weh! Sein widerspenstiger Tonfall wurde nicht weiter beachtet. „Judar, Judar, wie kommt es denn, dass du so zerschmettert im Gras liegst?“, fragte die Kaiserin. Bildete er es sich lediglich ein, oder klang in ihrer mütterlichen Stimme die reine Schadenfreude mit? Man hätte diesen Redensweise problemlos als mitfühlend betiteln können und doch… die Art, wie sich ihr kleiner Mund unmerklich verzerrte gab ihm die Gewissheit: Gyokuen spielte mit ihm. Es machte ihn unvorstellbar zornig! Niemand sollte das tun, er war der schwarze Magi von Kou! Aber im Angesicht der mächtigen Hexe blieb ihm nichts anderes übrig, als zu kuschen. Säuerlich stand er vor ihr, während sie sich erheitert die schwarzen Haare aus dem Gesicht strich. Erst jetzt bemerkte Judar die anderen: Hinter den Säulen des überdachten Wandelgangs lugten verschreckte Diener hervor. Na toll, jetzt hielten ihn alle für einen jämmerlichen Versager, der zum Klettern auf Bäume zu schwach war. Warum hatte ihm denn niemand geholfen, wenn sie eh schon alle dämlich gafften? Prüfend wanderte sein stechender Blick über den gesamten Innenhof. Sobald die Dienstleute von seinen roten Augen erfasst wurden, zuckten sie ertappt zurück und trollten sich. Priester schienen hingegen keine anwesend zu sein. Seltsam, normalerweise wagte sich die Alte nie ohne ein, zwei ekelhafte Dornenkronenmänner ins Freie. Bevor er sich noch weiter darüber wundern konnte, legte ihm seine Ziehmutter die zarten Hände auf die Schultern. Die kleine Frau bedachte ihn mit einem belustigten Mundwinkelzucken. „Was?!“, hätte er sie am liebsten angefaucht, ließ es aber bleiben. Sie wirkte immer so jung und hübsch, aber wehe dem, der sich von ihrer Erscheinung einlullen ließ! Judar hatte dies in seiner Kindheit auf unangenehme Weise erfahren müssen. „Warum gehen wir nicht hinein und du berichtest mir von deiner Reise, mein Kind?“, meinte sie. Judar nickte lediglich. Wie gerne er ihr dieses falsche Lächeln von den angemalten Lippen gewischt hätte! Dass er ihr grade quasi zu Füßen gefallen war, machte die Sache nicht besser. Dennoch gab sich der junge Mann ausnahmsweise Mühe, seine Aggressionen zurückzuhalten. Als er der Kaiserin ins Innere des Palastes folgte, wäre kein Beobachter auf den Gedanken gekommen, dass in seinem Geist Hass und Abneigung gegen diese mächtige, ach so gütige Frau tobten. Gyokuen führte ihn erhobenen Hauptes in ihre Privatgemächer, zu denen ebenfalls ein kleiner Empfangsraum gehörte. Kaum hatten die beiden die Schwelle übertreten, wurden sie bereits von den Priestern von Al-Thamen umschwärmt. Die weißgewandeten Männer geleiteten ihre Herrin zu einem thronähnlichen Stuhl in der Mitte des Zimmers und halfen ihr, sich nieder zu setzen. Ha, als hätte sie das nötig! Während sie ihre pinkfarbenen und weißen Gewänder glättete, kümmerten sich zwei ihrer Untergebenen um ihr eigentlich tadelloses Haar, kämmten sie und banden ihre beiden Zöpfe neu. Obwohl die Priester in einem fort um sie herumstrichen und das Klacken ihrer hölzernen Stäbe einen verrückt machen konnte, nahm Gyokuen niemals den Blick von Judar. Ihre dünnen Augenbrauen zogen sich kaum merklich zusammen und schon stellte man ein Tablett mit Tee und Pfirsichen vor ihm ab und drückte ihn auf ein weiches Seidenkissen. Außerdem begannen ein paar damit, seinen langen Zopf von Ästchen und Blättern zu befreien, während wieder andere ihm die löchrige Kleidung vom Leib rissen. Was soll das denn jetzt werden, altes Weib?! Die Pfirsiche hab ich ja echt vermisst, aber Ich hab keinen Bock, hier mit dir Tee zu trinken, die alten Säcke an mir herumfingern zu lassen und irgendeine Scheiße zu labern! Und schon gar nicht habe ich Lust, nackt hier rum zu hocken!, grollte er innerlich. Nein, er wollte sich nur noch ausruhen. Hätte Koumei ihn nicht eben in diesen blöden Baum teleportiert, hätte er vielleicht den Nerv besessen, gesittet mit seiner Kaiserin zu sprechen, aber so würde es verdammt schwer werden. Gyokuen runzelte die glatte Stirn, als sie seine aufgewühlte Miene bemerkte. Selbst jetzt, wo er unbekleidet vor ihr saß, beobachtete sie ihn unverhohlen. „Du musst in Anbetracht der ganzen Aufregung hungrig sein“, mutmaßte sie. Tatsächlich, die saftigen Pfirsiche aus Kou ließen ihm bereits das Wasser im Munde zusammen laufen. Ihnen konnte er unmöglich widerstehen. Wenige Minuten später lagen einige abgenagte Pfirsichkerne vor ihm auf dem Tablett, sein Zopf glänzte frisch gekämmt, er trug eine dünne Seidenrobe und die Kaiserin sah zufrieden aus. Auf eine herrische Geste hin, versammelten sich die Priester hinter ihr und knieten nieder. Sogleich fühlte Judar ihre erwartungsvollen Augen auf sich ruhen. Wütend packte er einen Pfirsichkern und warf ihn dem erst besten der Männer an den Kopf, was keinerlei Wirkung zeigte. Auch als er den Rest seiner Munition verschoss, erhielt er keine Reaktion, mit Ausnahme eines kalten „das reicht“ von Gyokuen. Sofort straffe er die Schultern und funkelte sie trotzig an. Warum durfte er nicht einmal seinen Spaß haben? Diese starren Witzfiguren mussten doch auch einmal zu einer selbstständigen Regung im Stande sein! Am liebsten wäre er in die Luft gesprungen und hätte mit Eiszapfen um sich geschleudert. Natürlich hätte seine Herrin dies um keinen Preis zugelassen. Nachdem die Männer die abgekauten Pfirsichkerne zusammen geklaubt hatten, ergriff sie abermals das Wort: „Nun Judar, bevor wir uns deiner Geschichte widmen, möchte ich dir gerne etwas mitteilen. Es geht um den ehrenwerten Kaiser Koutoku Ren, meinen geschätzten Ehemann.“ Täuschte er sich, oder hatte sie grade belustigt gekichert? „Vielleicht hast du dich bereits gewundert, weshalb du nicht vor uns beiden im großen Audienzsaal stehst. Bedauerlicherweise ist mein Gemahl an einem unbekannten Leiden erkrankt, welches ihn beängstigend schnell seiner Kräfte beraubt. Es ist möglich, dass er nicht mehr zu retten ist, was eine große Tragödie für unser Reich darstellen würde. Wie dir sicherlich bewusst ist, gibt es viele Länder, die unser Reich bedrohen und ohne Herrscher wären wir in einer großen Bredouille. Deshalb hoffe ich, dass du immer noch unverändert treu an meiner Seite stehst, auch in dieser schwierigen Zeit. Ich danke dir.“ Verwundert starrte Judar sie an. Der Kaiser lag im Sterben? Eigentlich nicht weiter verwunderlich. Wie oft hatten die Heiler bereits befürchtet, dass er einer seiner furchtbaren Krankheiten erliegen würde? Koutoku war immer schon anfällig für jede Art von Schwäche gewesen. Der starke Alkoholkonsum und die Vergnügungssucht kamen seiner Gesundheit wohl ebenfalls nicht zu Gute. Es blieb abzuwarten, ob auf dieses ach so verheerende Leiden nicht eine wundersame Genesung folgte wie gewöhnlich. Und selbst wenn nicht, was würde es ändern? Koutoku besaß mittlerweile einen äußerst starken, fähigen Erben, nein sogar ziemlich viele davon. Judars Königskandidaten. Der erste von ihnen, Kouen würde ein würdiger Nachfolger sein. Vermutlich fähiger als sein Vater. Mit ihm an seiner Seite könnte Judar ein herrliches Leben führen. Voll mit spannenden Kämpfen, Krieg und Chaos. Verdammt, diese Vorstellung war zu schön um wahr zu sein! „Du wirkst nicht sonderlich betroffen, Judar“, stellte die Kaiserin trocken fest. Ob er die Hexe mit seiner nichtvorhandenen Betroffenheit verärgert hatte? Bestimmt würde sie sehr mit einem erneuten Verlust des Ehemannes zu kämpfen haben. Aber was kümmerte es ihn? Diese falsche Schlange konnte man nicht durchschauen und trauen wollte er ihr schon gar nicht mehr. Als hätte sie seine erbosten Gedanken gelesen verdeckte sie ihr schönes Gesicht mit den langen Robenärmeln. Bedauernd seufzte sie: „Ach ja, das Kou Reich musste immer schon mit Höhen und Tiefen zurechtkommen.“ Einer der Priester legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. Gyokuen lächelte plötzlich und fuhr fort: „Aber nun möchte ich, dass du mir alles gründlich berichtest. Sag Judar, wie geht es Hochkönig Sindbad und aus welchem Grund bist du derart aufgelöst hier aufgetaucht?“ Judar knirschte mit den Zähnen. Na toll, diese Erzählrunde konnte ewig dauern! Er verspürte keinerlei Lust nach diesem Sturz Bericht zu erstatten. Außerdem musste er dringend etwas Klarheit in seinen, von Koumei aufgewühlten, Gedanken schaffen. Klar, das Denken lag ihm ohnehin nicht, doch irgendwie fühlte er das Bedürfnis, irgendetwas in sich abzuklären, was auch immer es war. Aber das würde warten müssen. Befehl war Befehl. Widerstrebend begann der Gefallene, von seinen Erlebnissen zu erzählen. ~*~ Kapitel 26: Rauflust -------------------- *~* Während Judar sich mit Kaiserin Gyokuen quälte, litt Koumei ärgerlicher Weise immer noch unter der Fürsorglichkeit seines Vasallen Chuu'un. Mit nicht viel mehr als einem Handtuch um die Hüften gewickelt saß der Prinz auf dem obligatorischen Hocker im Baderaum. Eigentlich hätte er bereits angezogen sein sollen, doch es gab auf einmal ein mächtiges Hindernis: Chuu'un hatte nämlich mit Schrecken erkannt, dass Koumeis vorhin sorgfältig gekämmtes Haar nach dem Bad wieder etliche Verfilzungen aufwies. Das konnte natürlich nicht so bleiben. Verbissen riss er den grobzinkigen Kamm durch die roten Strähnen und fluchte wohl innerlich vor sich hin, genauso wie sein Herr, dem die schmerzhafte Prozedur langsam genügte. „Wir sollten uns endlich auf den Weg in den Speisesaal machen“, bemerkte er. Chuu'un grummelte nur unverständlich vor sich hin und ruckte heftig an dem Kamm, bis der Knoten, an dem er bereits eine halbe Ewigkeit gearbeitet hatte, endlich aufging. Nun gut, eigentlich hing er jetzt eher zwischen den Zinken. Dieser Schmerz… „Kannst du nicht aufpassen? Du bist doch sonst nicht so ungeschickt!“, stöhnte Koumei gereizt. Er konnte dieses Ziepen und Zerren nicht länger ertragen! Das war doch reine Absicht! „Mein Herr, ich bitte aufrichtig um Verzeihung, offenbar lässt sich euer Haar im feuchten Zustand nur schwer bändigen“, rechtfertigte der andere sich gestresst. Der Prinz konnte Chuu'uns blankliegende Nerven beinahe sehen. Dabei ließ er sich so selten aus der Ruhe bringen. Nun gut, das hier lief ganz und gar nicht nach Plan, also durfte er sich wohl aufregen. Wahrscheinlich wünschte er sich jetzt irgendwo anders hin, vielleicht auf die Stadtmauer von Rakushou, wo er früher einmal als einfacher Bogenschütze gearbeitet hatte. Dank seiner hohen Geburt hätte Chuu'un zwar auch den Palast bewachen dürfen, doch als Jugendlicher hatte er sich in den Kopf gesetzt, etwas anderes zu tun als seine anderen Familienmitglieder. Der Wachdienst in der Stadt war unverkennbar hart, auch wenn einem dort nicht die große Verantwortung auf den Schultern lastete, für das Leben der kaiserlichen Sippe verantwortlich zu sein. Manchmal schien sich der Vasall tatsächlich dorthin zurück zu sehnen. Als einfacher Stadtwächter hatte er sich sicherlich mit Dieben oder dergleichen Gesindel herumschlagen müssen, aber immerhin nicht mit einem unwilligen Herrn und dessen zerzausten Haaren. Doch vielleicht vermutete Koumei, was diesen Wunsch betraf, nicht richtig, denn Chuu’un erledigte seine Arbeit im Palast unter seinem Befehl stets peinlich sorgfältig und mit beinahe krankhaftem Pflichtbewusstsein. Wenn man bedachte, welche Schwierigkeiten der Prinz ihm vorwiegend in der Vergangenheit manchmal bereitet hatte, war diese Treue besonders beachtlich. Egal welche Probleme auf ihn zukamen, ob sein Herr traumatisiert, schlampig oder einfach todmüde war, er schaffte es erstaunlich oft, sie zu lösen. Natürlich scheiterte er auch recht häufig, aber niemand hätte es besser machen können, da war sich Koumei sicher. Nur das Haare brüsten, falls Wasser im Spiel war, musste Chuu'un dringendst lernen. Sie benötigten ja eine halbe Ewigkeit! Selbst die Dienerinnen hätten ihm nicht mehr Schmerzen zugefügt! Außerdem hing schon die Hälfte seiner Kopfbehaarung in diesem Folterinstrument von einem Kamm! Was mochte wohl Kouen denken, wenn er bemerkte, dass sein kleiner Bruder sich für Stunden mit seinem einzigen Vasallen im Baderaum einschloss? „Ihr seid fertig“, verkündete Chuu'un endlich. Das ging schneller, als erwartet. Überrascht richtete Koumei sich auf. Keine gute Idee. Die Wände begannen sich plötzlich zu drehen. Sogleich sank er wieder auf den Hocker zurück. Ein unheilverkündendes Pfeifen erklang in seinen Ohren. Schweiß trat aus heiterem Himmel auf seine Haut. Weshalb herrschten in Balbadd nur diese tödlichen Temperaturen? Wie gerufen kamen auch die üblichen schwarzen Punkte und tanzten munter vor seinen Augen herum. Sein Kreislauf war völlig hinüber. Besonders morgens, wenn er ohnehin im Stehen einschlief, konnte das schon mal passieren. Nach dem langen Aufenthalt in der stickigen Luft hier erst recht… Seufzend beförderte sein Diener ihn auf den Boden. Guter Vasall. In Anbetracht seines unkontrollierten Schwankens im Sitzen war das Ausstrecken auf den Dielen die klügste Maßnahme gewesen. Oh ja, das fühlte sich direkt viel besser an. Außerdem durfte er so endlich wieder liegen… Chuu'un schob ihm geistesgegenwärtig ein Handtuch unter den Kopf, damit seine mühevolle Arbeit nicht auf dem nassen Boden zu Grunde ging. Wasser und Haare vertrugen sich eindeutig nicht. Routiniert packte er die Beine seines Herrn und legte sie über den Hocker, damit mehr Blut in seinen Kopf zurück strömen konnte. „Alles in Ordnung? Ihr seht nicht grade hervorragend aus“, meinte er erschöpft. Im Gegensatz zu vorhin benahm er sich wieder angenehm zurückhaltend. „Mh…“, murmelte Koumei mit geschlossenen Augen. Die Schwärze hatte sich noch nicht ganz verzogen. Er wollte einfach nur schlafen. Die Nacht war viel zu kurz und ruhelos gewesen. „Ehrlichgesagt mache ich mir ein wenig Sorgen um euch“, bemerkte Chuu'un, als auf das Nuscheln seines Herrn nichts weiter folgte. Seine hektisch hin und her tappenden Schritte verrieten, dass er tatsächlich beunruhigt war. „Zurecht…“, hauchte der Prinz. Mühsam versuchte er, so viel Schwäche und Heiserkeit wie möglich in das Wort zu legen. Wenn der Vasall ihn für krank erklärte, konnte er sich heute vielleicht noch ein wenig vor der Arbeit drücken, um noch etwas Schlafenszeit zu erhalten. Zwar war ihm bewusst, dass er dringend weiter arbeiten musste, aber er brauchte scheinbar dringendst eine Auszeit. Ob es hier in Balbadd wohl eine einzige Person gab, die ihm in dieser Angelegenheit zustimmen würde? „Geht es euch wirklich nicht gut?“, erkundigte sich der Diener prüfend. „Ich sehe Drachen und Feuervögel…“ Chuu'un räusperte sich verhalten. „Seid ihr euch dessen sicher, mein Herr?“ „Ja… gleich hinter dir. Gib Acht, dass sie dich nicht verschlingen… Ach… ich bin so müde und ausgezehrt, dass ich kaum noch denken kann. Außerdem brauche ich den Schlaf sehr dringend.“ Chuu'un stieß schnaubend die Luft aus. Doch in seiner Stimme klang keinerlei Andeutung von Gereiztheit oder gar Belustigung mit, lediglich eine ernste Feststellung: „Was ihr vor allem nötig habt, ist etwas zu Essen und zu Trinken. Ihr hattet wahrscheinlich tagelang kein frisches Wasser, geschweige denn nahrhafte Speisen in eurer Nähe. Vermutlich habt ihr euch nicht die Mühe gemacht, für Nachschub zu sorgen, wie man euch kennt.“ Wie er es schaffte, die Anschuldigung einigermaßen freundlich klingen zu lassen, wusste Koumei nicht. Dennoch, Kritik war Kritik und störte ihn momentan sehr. Als Antwort darauf drang also lediglich ein leidendes Stöhnen über die ausgetrockneten Lippen des Prinzen. Und dann erklang ein heftiges Magenknurren. Na schön, ihm war tatsächlich flau, weil er seit Judars winzigen Tintenfischröllchen nichts mehr zu sich genommen hatte. Weshalb musste sein Untergebener nur alles über ihn wissen? Er sollte einfach denken, dass er sich eine unwichtige Krankheit eingefangen hatte und für ein, zwei Tage das Bett hüten musste. Aber genau wie Kouen ließ der ältere Mann ihm keine Chance, sich vor seinen Pflichten zu drücken. Wessen Methoden er dabei bevorzugte, war ein offenes Geheimnis. Wer wollte schon von einem kampferfahrenen, unvorstellbar starken Dschinngefäßbändiger geschlagen werden? Genau, niemand. Chuu'un kümmerte sich wenigstens um das Wohlbefinden seines Prinzen. Das war ihm hoch anzurechnen. Behutsam und entschieden zugleich hob er Koumeis Oberkörper an, was diesem abermals den Schwindel durch den Körper jagte. „Nein…“, jammerte er, aber Chuu'un tätschelte ihm nur aufmunternd die Schulter. „Ihr hattet genügend Zeit, euch zu erholen. Jetzt müssen wir uns beeilen. Ihr solltet wirklich mehr essen und vor allem solltet ihr es nicht vergessen, denn dann wird es irgendwann gefährlich für euch. Ihr seid schon ganz abgemagert, vergebt mir meine Ehrlichkeit.“ Wie recht er hatte, Koumeis Knochen stachen vielleicht nicht so scharf und anklagend hervor wie nach Hakurens Tod, aber besonders viel auf den Rippen hatte er nie. Bei seiner unausgewogenen Ernährungsweise nicht verwunderlich. Kouha fragte sich beispielsweise immer, warum er kein Fleisch mochte. Allerdings konnte Koumei ihm schlecht gestehen, dass er bei einem Hauch von Bratenduft an den Geruch von verbrannten Menschenleibern denken musste. Seine Fantasie drehte diesbezüglich selbst heute noch immer wieder durch. Natürlich gab es noch viel mehr andere Nahrungsmittel als Fleisch, aber zuzunehmen war in seiner Situation genauso absurd, wie das Bett mit Kali zu teilen. Essen lag eben nicht am oberen Ende seiner Prioritätenliste. Viel zu anstrengend. Es sei denn, es handelte sich um Tintenfisch oder eventuell auch mal ein paar Gemüsesticks, die man ohne viel Aufwand beim Arbeiten oder Lesen verspeisen konnte. Leider hatten beide Speisen keinen überwältigenden Nährwert und so stellte es sich für die gesamte Dienerschaft als Ding der Unmöglichkeit heraus, ihren Herrn aufzupäppeln oder gar zu mästen. Kein Wunder, dass aus dem zweiten Prinzen nie ein muskulöser Schwertkämpfer geworden war. „Na kommt, zeigt ein wenig mehr Lebenswillen“, brummte Chuu'un resigniert. Dem Rothaarigen blieb keine andere Möglichkeit, als sich zu fügen. Überraschenderweise verschwand der Schwindel danach recht schnell und Chuu'un befand, dass er nun wieder alleine sitzen konnte. Ermattet kauerte er auf dem Hocker, während der Vasall ihn endlich einkleidete. Sobald er in seinen violetten Roben steckte, half der andere ihm vorsichtig auf. Koumei murrte. Er fühlte sich schlagartig in die Vergangenheit zurückversetzt, wo Chuu'un ihn viel zu oft herum getragen hatte: Damals war er einige Zeit lang so krank gewesen, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Dann hatte er einen dummen Fehler begangen und Chuu'un, der den kaiserlichen Palast vor einigen Jahren verlassen hatte, war plötzlich zurück in sein Leben getreten und hatte ihn gerettet. Nach einigen Wirrungen hatte Koumei ihn zu seinem Vasallen ernannt. Chuu'un war für diese Aufgabe wie geschaffen. Tatsächlich hätte er eigentlich an Hakuyuus oder Hakurens Seite stehen sollen, doch dieses Schicksal war den beiden Prinzen und Chuu'un nicht vergönnt gewesen. An Stelle der starken Kaisersöhne bekam er ein abgerissenes, kleines Nervenbündel, um das er sich rund um die Uhr kümmern musste. Wahrscheinlich hatte sich heute, zumindest aus der Sicht des Dieners, nichts daran geändert, nur dass er sich nicht mehr mit nächtlichen Heulkrämpfen und beschämender Anhänglichkeit herumschlagen musste, was an einem volljährigen jungen Mann wohl äußerst abstoßend wirkte, sondern nur noch mit übermäßiger Schläfrigkeit. Natürlich ließ Koumei sich auch nicht mehr von ihm tragen. Meistens. Heute hätte er jedoch nichts dagegen einzuwenden. Chuu'un besaß viel Kraft und seine Arme fühlten sich immer behaglich warm an. Man konnte in den herrlichsten Träumen versinken, wenn man in seiner achtsamen Umarmung steckte. Leider ging es ihm schon wieder so gut, dass er alleine gehen konnte. Ohne zu taumeln. Der Plan, sich krankzustellen würde heute wohl nicht mehr aufgehen. Das Leben im kaiserlichen Palast oder zumindest in einer Niederlassung der Familie Ren war hart, da sollte sich noch irgendein nichtsahnender Sklave beschweren und sie beneiden. Er erhielt immerhin klare Anweisungen und wurde vom Gesetz beschützt. Wer schützte einen Prinzen? Niemand, die Wachen oder die eigene Verwandtschaft konnten sich jeden Moment gegen ihn erheben. Er wusste, dass dieser Gedanke vermutlich nicht besonders gerecht war, doch er konnte sich der leisen Verbitterung nicht erwehren. Misstrauen gegen alles und jeden war in der Familie Ren seit dem verheerenden Brandanschlag vor zehn Jahren nicht selten. „Seid ihr bereit?“, riss Chuu'un ihn plötzlich aus seinen missmutigen Gedanken. Koumei bejahte seufzend und ließ sich von ihm über die Korridore geleiten. Wenig später und immer noch triefnass von der ellenlangen Badeaktion standen beide Männer vor dem Speisesaal. Die Wachen musterten sie mit schlecht verhohlenem Erstaunen. Welch ein trauriges Bild sie abgeben mussten... Koumei seufzte schwer. Seine Lust hielt sich in Grenzen. Wahrscheinlich hatte Kouen bereits ohne ihn mit dem Essen begonnen. Zu verübeln war es ihm nicht, so lange wie Chuu'un mit seinem Haar gekämpft hatte. Schnell bat der Vasall um Einlass und sie hörten, wie Kouen im Inneren des Raumes den Befehl erteilte, sie hereinzuholen. Schicksalsergeben trottete der zweite Prinz hinein. In ihrer Balbadd-Niederlassung herrschte zwar kein Reichtum, der mit dem des Palastes in Rakushou vergleichbar war, doch hier im Speisesaal hatte man sich verhältnismäßig viel Mühe gegeben. Dies fing bereits bei der goldbeschlagenen hohen Flügeltür an, eine der wenigen im Haus. Die Decken hingen hoch über dem gewaltigen Zimmer, das Holz wirkte edler und die Teppiche weniger staubig. Alles in allem nicht besonders überwältigend, aber durchaus nett anzuschauen, zumindest für die kleinen Stadthalter und Senatoren, die Kouen manchmal einladen musste. Die beiden Männer wurden von einem scharfen Räuspern empfangen: „Sieh an, schön, dass du dich auch einmal blicken lässt! Hast du deinen Vasall schon wieder mit deinen Lügen gequält?“ Koumei, der nun wirklich keine Lust auf einen Streit verspürte, ignorierte den gereizten Tonfall und sagte unbeeindruckt: „Mein königlicher Bruder, verzeiht die Verspätung.“ Manchmal musste man einfach klein beigeben, nicht, dass er das immer tat, aber als sein heller Blick auf den mit Schüsseln bedeckten Tisch fiel, konnte er nur noch an das Essen denken. Tatsächlich fühlte er sich bereits ganz schwach und benötigte dringend ein wenig Energie. So schlurfte er zu dem freien Stuhl neben Kouen, welcher allein am Kopfende der Tafel saß und grade sein Mahl beendete. Der erste Prinz machte wie immer einen äußerst einschüchternden Eindruck. Er war groß, kräftig, sein Haar loderte wie Feuer. Darüber hinaus besaß er einen außergewöhnlich bedrohlichen Blick, den höchstens Koumei in gereizten Momenten überbieten konnte. Nur sein lächerlicher Ziegenbart und die recht legeren Gewänder taten der machtvollen Ausstrahlung einen leichten Abbruch, da er lediglich eine einfache Robe trug. Kouen kümmerte sich nicht um Mode, schon gar nicht wenn er gemeinsam mit seinen Geschwistern speiste. Eigentlich hätte auch Kouha hier sein sollen, doch dieser war mit einem diplomatischen Auftrag nach Magnostadt aufgebrochen. Der kleine, sadistische Bruder und Diplomatie… wenn man darüber nachsann, stellte es sich als gewagte Kombination heraus. Besonders an diesem bedrohlichen Ort: Ein sehr interessantes Land, voller Magie und dunklen Geheimnissen, die Kou besser für sich nutzen sollte, bevor es jemand anders wagte. Natürlich sorgte sich niemand um die Sicherheit des dritten Prinzen, da dieser bestens auf sich alleine achtgeben konnte, zumindest besser als Koumei. So musste der nun mit seinem älteren Bruder alleine speisen. Dieser stellte seine Schale zurück, in der noch ein paar Reste klebten. Wie immer Reis mit scharfen Gewürzen. Koumei schauderte. Niemand sollte den Fehler begehen, von dem Frühstück oder generell von den Speisen seines Bruders zu kosten. Als er selbst es früher getan hatte, waren ihm die Tränen in nicht enden wollenden Sturzbächen aus den Augen geronnen. Widerlich! „Koumei, fändest du es nicht angebracht, wenigstens zur ersten Mahlzeit des Tages mit einem angemessenen Äußeren hier aufzutreten?“, grollte Kouen. Offenbar hatte er schlechte Laune. Wobei, besonders gut war sie ohnehin nie. Koumei kannte schlimmeres. Während er sich einen Überblick über die vom ersten Prinzen übriggelassenen Speisen verschaffte, schickte Kouen Chuu'un mit seinem üblichen harschen Befehlston fort. Die knurrige Stimme ließ keinen Platz für Widersprüche. Koumei, der sich grade Essstäbchen und einen Teebecher nahm, erstarrte plötzlich. Verstohlen schweifte sein Blick zur Seite. Hinter Kouen standen keinerlei Diener oder Vasallen. Auch in den Ecken oder vor der Tür befanden sich keine Menschen. Chuu'un hatte ebenfalls grade den Raum verlassen. Ihm schwante böses. Sehr böses. Wenn Kouen in dieser düsteren Stimmung schwebte, alle Menschen, die nicht zur Familie gehörten aussperrte, konnte dies nur eines bedeuten: Er wartete darauf, seinen kleinen Bruder übers Knie zu legen. Dieser hatte es darauf natürlich nicht abgesehen. Verdient hatte er es sich heute auch nicht, fand er zumindest. Mit ein wenig Verspätung war bei ihm immer zu rechnen. Besonders bei einem ungestörten Frühstück unter Brüdern sollte dies doch keine Strafe verheißen, oder? Noch dazu konnte sein ungepflegtes Äußeres an diesem Morgen nicht den falschen Leuten auffallen, wenn niemand außer ihnen beiden anwesend war. Noch dazu gab es doch eigentlich nur seine feuchten Haare und Gewänder zu bemängeln, die in der Hitze umgehend trocknen würden, oder? Auf der Hut beobachtete Koumei den Älteren aus den Augenwinkeln. „Schönes Wetter heute, nicht?“, fragte er betont heiter, wobei ihm eher danach war, unter dem Tisch in sich zusammenzusinken. Und sich totzustellen. „Das nennst du schön?“, knurrte Kouen, dem die andauernde Hitze sichtlich zu schaffen machte, so oft wie er sich mit einem bestickten Taschentuch über die Stirn fuhr. Tja, wenn der respekteinflößende General sich unbeobachtet wähnte, legte er das starre und korrekte Gehabe ziemlich schnell ab. Wenn man aus dem angenehmen Klima Kous in diese Wüstenstadt kam, hatte man es eben nicht leicht. Der einzige Grund weshalb Koumei momentan noch nicht mit heftigen Schweißausbrüchen kämpfte war, dass seine Haare vor Nässe tropften. Schön erfrischend. Offensichtlich genügte Kouen der jämmerliche Versuch seines Bruders, eine harmlose Unterhaltung zu beginnen. Kein Wunder, für ihn zählten nur wichtige, weltbewegende Dinge. „Und wie kommst du mit der Arbeit voran? Wenn du dich schon tagelang nicht zeigst, wirst du hoffentlich etwas erreicht haben. Weißt du schon, wie wir am geschicktesten mit diesem Land verfahren?“, verlangte er zu wissen. Koumei stöhnte im Geiste. Er hatte grade einen Schwindelanfall sowie schmerzhafteste Foltern hinter sich und Kouen fragte ihn allen Ernstes nach seiner Arbeit? Die er gestern auch noch vernachlässigt hatte, weil ein unverschämter Hohepriester der Meinung gewesen war, dass er ihn stören musste? Hoffentlich lernte er aus seiner Strafe! Der Baum, in dessen Wipfel er Judar teleportiert hatte, war extra hoch gewesen. Gedankenverloren langte Koumei mit den Essstäbchen in eine der abgegrasten Schalen. Er schob sich ein paar in Essig eingelegte Paprikastreifen in den Mund. Leider hatte Kouen ihm nur wenige übrig gelassen. Der fruchtig-saure Geschmack zerging ihm so herrlich auf der Zunge, dass er genießerisch die Augen schloss. Hastig verschlang er die restlichen Gemüsestücke und kaute zufrieden. Wie gut es tat, endlich wieder etwas in den Magen zu bekommen. Zusammen mit dem kalten Tee ein Traum! Dann widmete er sich dem frischen Obst, welches zum Teil sicher aus ihrem Heimatland stammte. Eigentlich mochte er die Süße nicht besonders, doch bei Spezialitäten aus Kou wollte er heute nicht wählerisch sein. Endlich wieder etwas Vertrautes und keine seltsamen zusammengematschten Bröckchen aus Balbadd, welche die Leute stolz als Curry betitelten. Wie man einen Eintopf, der die Farbe von uralten, giftigen Abfällen besaß, als eines der Nationalgerichte bezeichnen konnte, eröffnete sich ihm noch heute nicht. In Kou gab es ähnliche Gerichte, aber sie wirkten deutlich appetitlicher… Doch zum Glück quälte man sie heute nicht mit der „Delikatesse“ des viel zu heißen Landes. Die getrockneten Birnen und Pflaumen aus Kou stellten einen Hochgenuss dar. Angetan verspachtelte er etwas Reis, der ohne jegliche Beigabe eigentlich langweilig schmeckte, doch wenn man kurz vor dem Verhungern gewesen war, gab es schlechteres. Zu guter Letzt widmete er sich abermals den Früchten. Er ging so sehr in dem Essen auf, dass er zusammenfuhr, als plötzlich eine schwere Hand auf seine Schulter donnerte. „Koumei! Ich habe dich etwas gefragt!“, brüllte Kouen zornig. Oh ja, mit dem zukünftigen Thronfolger war heute nicht gut Kirschen essen. Dabei schmecken die hier so gut…, dachte Koumei und spuckte einen Stein aus. Na gut, immerhin hatte Kouen offenbar mit dem Ausrasten gewartet, bis Koumei sich gestärkt hatte. Das musste man ihm zu Gute halten, es war keine Selbstverständlichkeit. Vielleicht sollte er sich dann langsam mal eine Antwort überlegen. „Ich denke, wir verfahren mit Balbadd nach dem üblichen Prinzip“, erklärte er schnell, um zu verschleiern, wie wenig er sich mit der Angelegenheit bis jetzt auseinandergesetzt hatte. Was war er nur für ein untüchtiger Berater für seinen ehrenwerten Bruder? Es war doch seine Aufgabe, ihn nach Kräften zu unterstützen! Stattdessen schlief er mitten bei der Arbeit ein, vergnügte, beziehungsweise stritt sich mit ihrem Magi und verhungerte beinahe. Kouen warf ihm einen genervten Blick zu. „Und wie stellst du dir das vor?“ „Mein königlicher Bruder, im Detail ist der Plan noch nicht ausgearbeitet, es ist ein wenig komplizierter, als erwartet, die bisherigen politischen und wirtschaftlichen Strukturen dieses Landes zu durchschauen. Dies wäre allerdings wichtig, um die optimalen Entscheidungen zu treffen. Ich schlage vor, dass wir uns in den nächsten Tagen oder vielleicht heute Nachmittag in dieser Angelegenheit erst einmal beraten, bevor ich mich wieder ausführlich damit beschäftige. In jedem Fall wäre es klug, das Land an Kou anzugleichen. Durch die Lage am Meer sollten wir uns ausführlicher mit dem wirtschaftlichen Teil befassen, vielleicht kann dieser uns von größerem Nutzen sein. Außerdem sollten wir zumindest die Hauptstadt, später möglicherweise auch den Rest des Landes, umstrukturieren, wie es sich in Rakushou bewährt hat. Demzufolge kommen wohl eine grundlegende Änderung des Stadtbilds und der Gesetze der Bevölkerung auf uns zu. Des Weiteren sollten wir dringendst daran arbeiten, die Erinnerungen an die vergangene Regentschaft unter dem alten Königshaus in Vergessenheit geraten zu lassen. Ein wenig falsche Propaganda wird dafür unabdingbar sein…“ Kouen hob zur Unterbrechung die Hand. Der Jüngere verstummte erleichtert. So viel zu sprechen strengte ihn an. Besonders am frühen Morgen. Prüfend musterte er seinen Bruder, der grade kritisch die Stirn runzelte. Oh nein! Bevor Koumei reagieren konnte, wurde er im Genick gepackt und zu Boden geworfen. Mit einem empörten Aufschrei prallte er auf die hölzernen Dielen. Bei den Rukh, waren die hart! „Lügner“, polterte der Ältere, „du hast dich kein bisschen mit Balbadd auseinandergesetzt, wie ich es dir befohlen hatte, sondern die ganze Zeit gefaulenzt!“ Jetzt benimmt er sich aber wirklich ungerecht. Schließlich habe ich mich auf seine Anweisungen hin nicht nur mit dem Land zu beschäftigen gehabt und in den ersten Tagen wirklich viel gearbeitet. Außerdem habe ich mir eben schon ein wenig Gedanken über Balbadd gemacht, also habe ich ihm keine besondere Lüge aufgetischt! Doch er konnte keine einzige Rechtfertigung hervorbringen, da Kouen ihm bereits seinen schweren Fuß auf den Bauch stellte. „Was stellst du dich immer so an? Sei nicht so schlaff, sondern ausnahmsweise mal etwas motivierter! Das hier ist eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit und du führst dich auf wie ein Kleinkind!“, bellte Kouen zornig. „Aber En-uff!“ Der Druck auf seinen Bauch wurde stärker. „Keine Ausreden, ich kann heute keine Lüge mehr ertragen!“ Koumei fürchtete bereits, sich gleich übergeben zu müssen. „Ich habe grade gegessen!“, winselte er, doch auch das brachte seinen Bruder nicht zu Vernunft. Mit einem unwilligen Knurren ließ er sich auf ihn fallen, was beinahe die köstlichen Speisen wieder aus Koumeis Magen herausbefördert hätte und versetzte ihm eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. Kouens Ohrfeigen hatten sich immer gewaschen. Der Kopf des Jüngeren schleuderte zur Seite. „Au!“, schrie er, ohne auf Mitleid zu hoffen. Kouen meinte immer, ein bisschen rauerer Umgang würde selbst ihm nicht schaden. Tatsächlich lebte er immer noch, obwohl sich seine Brüder sein ganzes Leben lang immer wieder mit boshaften Absichten auf ihn stürzten und sich nie zurück hielten. „So und jetzt steh gefälligst auf, geh in deine Gemächer, bleib wach und arbeite endlich!“, fauchte der erste Prinz. Hätte er das nur vor dem Schlag gesagt. „Mein Gesicht ist verletzt, ich kann nicht mehr arbeiten“, stöhnte Koumei leidend und lag auf einmal vollkommen erschlafft unter dem Größeren. „Jetzt hör endlich auf zu lügen!“ Kouen schüttelte ihn grob, erfolglos. Wenn Koumei einmal im gekünstelten Koma am Boden lag, bekam man ihn nicht mehr so leicht an die Arbeit. Da Kouen jedoch mit den Macken des Jüngeren seit dessen Geburt vertraut war, wusste er genau, was ihnen Abhilfe verschaffte. Die Methode hatte sich schon unendlich viele Male bewährt. Zumindest in seinen Augen. Und auch wenn Koumei danach meistens noch antriebsloser wirkte, bereitete es Kouen wenigstens ein bisschen Spaß. Etwas, das er an einem stressigen, mit Pflichten angefüllten Tag gut gebrauchen konnte. Noch dazu konnte es niemandem ernsthaften Schaden zufügen und eignete sich somit viel besser als Schläge. Langsam, dafür umso bedrohlicher beugte er sich zu Koumeis Ohr hinab. „Vielleicht solltest du über deine Behauptung nochmal nachdenken“, flüsterte er mit Grabesstimme, „du weißt doch, wer im Ringen immer unterliegt und dann bis zur Besinnungslosigkeit durchgekitzelt wird…“ Keine Antwort. Koumei konnte es scheinbar kaum glauben, dass ihm solch eine kindische Strafe drohte. Da half nur noch rohe Gewalt. Mit einer blitzschnellen Bewegung packte er die Handgelenke seines kleinen Bruders, welche dieser grade von ihm wegziehen wollte, und presste dann beide mit einer Hand über dessen Kopf auf den Boden. „En!“, jammerte Koumei sofort und versuchte sich hektisch zu befreien, denn er wusste ganz genau, was jetzt passieren würde. Natürlich konnte er den großen Mann nicht abschütteln, nicht mit diesen kümmerlichen Muskeln. Schon als kleiner Junge hatte er nichts dagegen tun können, der ältere Bruder war immer stärker gewesen. Kouen würde mit ihm ringen, ihn zwicken und kitzeln, bis er nicht mehr konnte. Das hatte er immer schon gemacht, wenn Koumei widerspenstig war. Na gut, das Ringen würde heute wohl größtenteils entfallen, wenn er bereits unter ihm lag… So ein Pech, er hätte es wissen müssen! Wahrscheinlich hatte Kouen ihn nur zum Frühstück hierher befohlen, um an ihm seinen Frust auszulassen. Bei einem faulen Bruder gab es immer einen guten Grund für Prügel. Dabei hasste Koumei diese Raufereien! Nun gut, wer würde das nicht tun, wenn er immer verlor? Kouen kostete es noch nicht einmal große Anstrengungen, um ihn am Boden festzunageln. So sehr der Jüngere auch zappelte, er bekam nicht einmal seine Hände los. Sehr schlecht. Kouen nutzte die Gunst der Stunde, für ein paar Minuten unbeobachtet zu sein und piekte ihn fest in den Bauch. Sein Bruder bäumte sich fiepend auf, es kitzelte so sehr. Obwohl, eigentlich tat es fast schon weh bei dieser Kraft. Dann beschloss der erste Prinz eine seiner Lieblingsfoltermethoden anzuwenden. Koumei versuchte krampfhaft, seine Hände zu befreien, doch der Ältere packte sie nur noch fester, während er ihn unter den Achseln kitzelte. Was für ein unverschämtes Glück für ihn, dass Chuu'un Koumei grade noch gebadet hatte. „Kouen! Nein! Lass das!“, schrie er und zappelte verzweifelt. Seine Stimme klang beinahe panisch, denn er bekam kaum Luft. Das Lachen konnte er nur schmerzhaft unterdrücken. „Stell dich nicht so an, das ist noch gar nichts! Auf der anderen Seite kannst du es doch noch viel weniger ertragen!“, brummte ihm sein Peiniger schadenfroh ins Ohr. „S-Stimmt nicht- Ich bin da nicht mehr ki- Nein, nicht da!“, keuchte Koumei, als Kouen seine Drohung verwirklichte. „Lügen werden bestraft, Freundchen!“ Die Füße des zweiten Prinzen strampelten verzweifelt auf dem Boden. Nun lachte auch der Ältere, aber nicht zwanghaft, sondern weil er wie immer stolz auf sich war, Koumei plötzlich so wachgerüttelt zu haben. Mit den passenden Berührungen kam man bei ihm sehr weit. „Arbeitest du, wenn ich dich loslasse?“, erkundigte sich Kouen beiläufig, als er seine Finger flink wie eine Spinne über Koumeis Bauch krabbeln ließ. Bei den Rukh, das war das schrecklichste Gefühl auf der Welt! „Jetzt erst recht nicht!“ Der Jüngere wand sich jaulend, erwiderte den amüsiert funkelnden Blick dennoch trotzig. „Du schreist wie ein Mädchen“, prustete Kouen, „immer noch! Meine Güte, ist es lange her, dass ich mich so gehen lassen habe!“ Gut zu wissen. In Koumeis erzwungenes Lachen mischte sich ein Schnauben. Ja, lange her war es in der Tat. Wenn irgendein Außenstehender Kouens genüssliches Grinsen und seine offensichtlich gute Laune zu Gesicht bekommen hätte, wäre ihm dies wohl wie ein Weltwunder erschienen. Der erste Prinz zeigte niemandem seine heitere Seite, mit Ausnahme von Koumei, vielleicht auch mal Kouha, der dann immer als Komplize auf dem schwächsten der drei Brüder herumhacken durfte. Eigentlich stellte dies keine gute Methode dar, um einen kleinen Jungen, der ohnehin zu Gewaltausbrüchen neigte, zu erziehen. Egal, die Zeit dafür war bei Kouha längst verstrichen. Was nützte es, sich deswegen Vorwürfe zu machen? Koumei wollte nur noch zurück ins Bett. Er konnte nicht mehr. „Willst du dich deinem großen Bruder widersetzen?“, knurrte Kouen drohend. „N-Nein!“, schrie Koumei und schüttelte panisch den Kopf, als Kouen sich für einen winzigen Moment von ihm erhob. Dafür packte er ihn bei den Schultern und warf ihn auf den Bauch. Oh nein! Das durfte nicht wahr sein! Um Gnade flehend krallte sich der zweite Prinz in einer der Lücken zwischen den Dielen fest und versuchte sich von ihm fortzuziehen. Zu langsam. Kouen packte seine austretenden Beine und hielt sie in einem eisernen Schraubstockgriff gefangen. „Bitte! Tu das nicht!“, röchelte Koumei, doch sein Bruder zwickte ihn zur Strafe nur in den Unterschenkel. „Auauauau…!“, wimmerte er und kringelte sich zusammen, was mit einem ungehaltenen Grunzen quittiert wurde. Kouen mochte es nicht, wenn er Laute der Hilflosigkeit ausstieß, weil dies mögliche Zuschauer anlockte, aber egal wie oft sie bereits miteinander gerungen hatten, nie hatte Koumei seine Schreie unterlassen. Selbst als lange erwachsener Mann nicht. Er hatte ja auch allen Grund dazu. Irgendwie schaffte es der Jüngere plötzlich, auf die Knie zu kommen. Aufbegehrend schlug er nach Kouen. Spöttisch lächelnd packte ihn dieser am Kragen und stieß ihn wieder auf den Boden zurück, wo er in hektisches Betteln ausbrach: „Hör auf, das überlebe ich nicht! Bitte! Verschone mich, ich tue auch alles was du willst!“ „Ich habe nicht mal angefangen!“, feixte der andere. Er war nicht so dumm, seinem kleinen, heimtückischen Bruder zu glauben. Man musste ihm schon zeigen, wer der Herr im Palast war. Provozierend langsam zog er ihm die spitzen Schuhe von den Füßen. „Das geht nicht! Ich habe Fußpilz, üüüberall! Du steckst dich nur an!“, fiepte Koumei, sobald er Kouens Fingerspitzen an seinem Fußballen spürte. „Lügner!“, brüllte Kouen ihn an und verpasste ihm eine heftige Kopfnuss. Er kannte keine Gnade. Na gut, er konnte ja selbst sehen, dass mit Koumeis Füßen alles stimmte. Dieses schreckliche Kribbeln machte den Jüngeren wild. Schreiend krümmte er sich zusammen, um gleich darauf nach einem rettenden Stuhlbein zu haschen. Das Lachen explodierte in seiner Kehle, schüttelte seinen dürren Körper. Er brauchte dringend etwas zum Festhalten, dann könnte er sich vielleicht endlich dem vernichtenden Griff entziehen. Sein Leben hing davon ab! Er konnte so nicht atmen! Doch Kouen schlug den Stuhl beiseite, sodass er krachend auf den Dielen aufschlug. „Wag es ja nicht!“, zischte er. Koumei stemmte sich verzweifelt auf, doch Kouen nahm in sofort in den Schwitzkasten. Als die Gegenwehr des Jüngeren erlahmte, rief der andere grollend aus: „Der Unhold ist besiegt!“ „Der Unhold ist eher zerquetscht“, krächzte Koumei. „Hätte nie gedacht, dass du als pflichtbewusster und erwachsener Kaisersohn dich solch kindischem Vergnügen hingibst oder deinen Sieg so laut herumposaunen würdest!“ „Klappe!“, blaffte der Ältere und versetzte ihm einen warnenden Knuff, bevor er sich wieder seinen nackten Fußsohlen zuwandte. Die erbarmungswürdigen Schreie des zweiten Prinzen hallten durch die gesamte Residenz. „Beruhig dich doch endlich, sonst kreischt du auch nicht so laut! Du hast dir das alles selbsteinge-“ Auf einmal zuckte er zusammen. Der verdutzte Koumei konnte gar nicht reagieren, so schnell hatte er von ihm abgelassen. „Alles in Ordnung, eure Hoheiten?“, drang die Stimme eines Wachmanns durch die Halle. Kouen schnellte in die Höhe. Trotz seiner zerzausten Haare und den verrutschten Kleidern richtete er sich kerzengrade auf. „Selbstverständlich!“, polterte er erzürnt. Doch Koumei konnte hören, wie peinlich es ihm war, beim Raufen mit seinem jüngeren Bruder erwischt zu werden. Kein Wunder, der Ältere bemühte sich immer um den Respekt ihrer Untergebenen. Etwas mühsam Erarbeitetes wollte er nicht wegen solch einem kindischen Ringkampf verlieren, da er nicht den Eindruck vermitteln wollte, im Zwist mit seinem Bruder zu liegen. Der Kopf des ersten Prinzen glühte feuerrot, fast wie sein Haar und seine Augen. Tja, selbst schuld. Erleichtert robbte Koumei aus der Reichweite des anderen und blickte zur Tür, wo zwei Wachen mit gezückten Schwertern, sowie Chuu'un mit seinem Dolch standen, als gelte es einen mordenden Einbrecher zu fassen. Nun ja, mit einem Einbrecher konnte er nicht dienen, aber mit einem lebensgefährlichen Bruder schon… Der tödliche Blick mit dem er die drei Diener bedachte, flößte einem wirklich Angst ein. „Was habt ihr hiervon gesehen?“, fragte er laut und die Männer zuckten unwillkürlich zusammen. Koumei sah vor seinem inneren Auge schon, wie Kouen in seiner Dschinnausstattung auf die armen Kerle losging. Immerhin weiß sich Chuu'un dagegen zu wehren, dachte er in einem Anflug von Stolz, während er versuchte, seinen hektischen Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. Bei den Rukh, was hatte sein Bruder mit ihm angestellt?! Völlig erschlafft lag er im Speisesaal und konnte nur noch beobachten, wie der Ältere seine eigenen Untergebenen bedrohte. Chuu'uns Blick fiel unterdessen mit unverhohlenem Schrecken auf ihn. Na großartig, jetzt musste er auch noch seinen überbesorgten Vasallen beruhigen! *~* Kapitel 27: Wachsamkeit ----------------------- //_* Chuu'un lehnte seit einer gefühlten Ewigkeit an der Wand vor dem Speisesaal. Natürlich beschwerte sich der Vasall nicht über diese Sinnlosigkeit. Nein, er verspürte nicht einmal den Wunsch danach. Dank seiner strengen Erziehung befolgte er die Befehle seines Herrn punktgenau. Auch die seines machtvollen älteren Bruders. Manchmal hinterfragte er die Anweisungen im Geiste, um bei dringendem Bedarf seine Bedenken zu äußern, aber in Kouens Befehl, den Saal zu verlassen, sah er keine Gefahr. Schließlich bewachten die Wächter und er den Raum von außen, was sollte den beiden Hoheiten im Inneren schon zustoßen? Genau genommen freute sich der große Mann sogar über die Aufgabe, auf dem Flur zu warten. Ein wenig Ruhe tat ihm gut. Eigentlich hätte er aufrecht und kampfbereit stehen sollen, wie die beiden Wachmänner neben ihm es taten, doch nach dem morgendlichen Ärgernis mit seinem Herrn brauchte er eine kurze Pause. Da Koumei ihn so nicht sah, bestand erst recht keine Notwendigkeit Haltung anzunehmen. Nun gut, wahrscheinlich würde es den zweiten Prinzen ohnehin nicht weiter stören, wenn sein Vasall sich etwas weniger beherrschte als gewöhnlich. Dank seiner eigenen heruntergekommenen Erscheinung konnte sein Herr ihn ja wohl nicht dafür verurteilen, wenn er sich für ein paar Minuten anlehnte. Nicht dass er sich an dessen Äußerem störte, wenn man Koumei Ren nur danach oder gar nach dem ersten Eindruck beurteilen würde, wäre man wirklich dumm. Allerdings begingen viele Leute eben diesen Fehler. Wie viele Menschen in Kou und den anderen Ländern bereuten diesen Umstand wohl mittlerweile? Sicherlich nicht wenige. Jedoch sollte Chuu'un selbst nicht derart viel nachgrübeln, ansonsten hätte er wohl auch bald etwas zu bedauern. Eventuell sogar sein vergeudetes Leben, weil er statt Wache zu halten lieber über unnötige Dinge nachsann. Vernachlässigte Pflichten zogen manchmal drastische Strafen nach sich. Also gut, er würde jetzt aufmerksamer sein. Entschlossen, ja stoisch wie immer, ignorierte er den missbilligenden Blick der beiden Wachmänner. Da er durch seine Haarmähne und unter dem Helm hindurch ohnehin kaum etwas erkannte, fiel es ihm recht leicht, der abschätzenden Musterung keine größere Bedeutung beizumessen. Viele konnten seine unbewegte Art nicht leiden. Hielten ihn für hochnäsig. Wahrscheinlich dachten sie, dass der Vasall des müden Prinzen bestens zu diesem passte. Vielleicht lag es auch daran, dass sein Körper im Gegensatz zu Kouens Vasallen noch keine nennenswerten Zeichen von Dantalions Einfluss zeigte. Manchmal ärgerte ihn dieser Umstand sehr. Dabei konnte er nicht einmal etwas dafür: Koumei besaß Dantalion noch nicht so lange, wie Kouen Astaroth und Agares sein Eigen nannte und eine Angleichung an einen Dschinn benötigte nun einmal Zeit. Kouens Vasall Seishuu Ri, der mit seinem Schlangenhaar Astaroths Kopie zu werden schien, zog ihn manchmal damit auf. Dieser blöde Zwerg! Damals hatte Chuu'un den Knirps noch bei Weitem überragt. Bevor sein Kindheitsfreund mit dem Wachsen begonnen hatte, war er so klein gewesen, wie es sich für die Familie Ri gehörte! Vermessener Schlangentyp! Ja, Chuu'un konnte es nicht leiden, wenn jemand ihn wegen seiner mangelnden Vertrautheit mit Dantalion von oben herab betrachtete. Alles hätte viel einfacher sein können, wenn Koumei sich ein paar Jahre eher in einen Dungeon gewagt hätte. Aber was half es zu grübeln, das lenkte nur ab. Hatte er sich ebendies nicht grade untersagt? Verstohlen spähte er unter seinem Helm hervor und lauschte auf irgendwelche verdächtige Schritte, auch wenn es mal wieder vollkommen übertrieben war. Welcher Verbrecher würde sich schon in die Nähe des bestens geschützten Thronfolgers von Kou wagen? Höchstens ein Lebensmüder! Dafür fiel Chuu'un etwas anderes auf. Ach je… die Wachen starrten immer noch. Sie schienen wirklich darüber nachzudenken, ob und inwiefern er zu seinem Herrn passte. Mit einer Vergleichbarkeit zu Koumei hätten die Männer hier nicht Unrecht, auch wenn es nicht an der scheinbaren Müdigkeit, weil er sich grade ein kleine Auszeit nahm, oder seinem noch größtenteils menschlichen Aussehen lag, wie Chuu'un fand. Sie waren einfach beide bedächtige Menschen, die vor dem Handeln überlegten, nicht erst danach wie viel zu viele andere. Einfache Wachleute zogen sowieso stets voreilige Schlüsse. Der Bogenschütze konnte dies aus eigener Erfahrung bezeugen, war er doch vor zehn Jahren noch auf der Mauer von Rakushou gewandelt und hatte darauf geachtet, keine verdächtigen Gestalten in die Stadt ein- oder auszulassen. Zuerst war der raue, weniger gesittete Umgang der Kerle dort ein Schock für den jungen Mann aus einer gutsituierten Adelsfamilie gewesen, doch wenn man Tag und Nacht von Raubeinen umgeben war, gewöhnte man sich schnell an sie. Ganz egal, ob man es mit ehemaligen Bauernsöhnen vom Land, Stadtbewohnern oder zum Strafdienst verurteilten Verbrechern zu tun bekam. Chuu'un konnte ihre einfache Denkweise nachvollziehen und hatte sich vergleichsweise gut mit ihnen verstanden, auch wenn die meisten ihn aufgrund seiner noblen Herkunft nicht sonderlich schätzten. Dabei erging es den Adligen in Kou kaum besser als wohlhabenden Bürgern, denn sie mussten der kaiserlichen Familie genauso ergeben dienen, wie jeder andere Mensch im Reich. Die Söhne und manchmal auch Töchter der ältesten und treuesten Adelsfamilien wuchsen dicht neben den Sprösslingen des Kaisers auf, um in ihrer Zukunft eng mit ihnen zusammen zu arbeiten. In seltenen Fällen dienten sie sogar als Heiratskandidaten. Allerdings geschah dies wirklich nur zur Ausnahme. Meist fungierten sie als Berater, persönliche Diener, Verwalter, Beschützer oder Waffenbruder. Manchmal gleich alles in einem. Hielt ein Kaiserkind oder der Kaiser selbst einen für die engere Vergesellschaftung mit einem Prinzen beziehungsweise einer Prinzessin geeignet, wurde man meist dessen oder deren engster Vertrauter. Chuu'un hatte diesen Status allein Koumei zu verdanken, da dieser Interesse an ihm bekundet hatte. Im Nachhinein wäre der Wachdienst auf der Stadtmauer wohl die einfachere Arbeit gewesen, doch nie hatte er den Wunsch verspürt, sie wieder aufzunehmen. Natürlich, die Aufgaben eines Vasallen beinhalteten viel Verantwortung und verlangten einem die gesamte Kraft ab. Urlaub oder Freizeit gab es selten bis nie. In der Nähe des zweiten Prinzen lauerten viele Schwierigkeiten, die meist darin bestanden, den Rothaarigen irgendwie vom Schlafen abzuhalten und zur Arbeit zu zwingen. Leider wurde viel zu oft aber auch das genau Gegenteil von Chuu'un verlangt: Wenn Koumei sich einmal in seinen Schriften und Dokumenten vergrub, bekam man ihn kaum wieder zur Ruhe, bis er nach ein paar Tagen vor Erschöpfung über den Papieren zusammenbrach. In dieser Hinsicht war es wohl einfacher, ein Kind zu erziehen, als Koumei Ren zur Vernunft zu bringen. Die richtige Balance zwischen Ruhe und Arbeit für seinen Herrn ließ sich für Chuu'un immer noch nur schwer finden. Wahrscheinlich hätte er auf diese Weise verhindern können, dass er stets so abgekämpft und müde aussah, vielleicht wäre seine Gesundheit besser, aber Chuu'un verzweifelte an dieser unüberwindbaren Hürde. Würde er jeglichen Gemütszustand seines Herrn durchschauen, würde ihm dies sicherlich leichter fallen. Aber nicht nur durch die speziellen Eigenheiten des Prinzen stellte die Position seines ergebensten Dieners eine gefährliche Tätigkeit dar: Man musste jederzeit bereit sein, die Angehörigen seines Herrn und natürlich diesen selbst zu verteidigen und im schlimmsten Falle sogar für sie zu sterben. Schon als kleiner Junge hatte man ihm diese Pflicht schmackhaft gemacht und so blieb sie sein ganzes Leben lang eine Selbstverständlichkeit. Erst die Hoheiten schützen, danach sich selber. Einfach zu sagen, für viele Menschen jedoch schwer zu verwirklichen. Doch meist hatten die kaiserlichen Vasallen kein Problem mit der Selbstaufgabe, da sie es nicht anders vorgelebt bekamen. In Chuu'uns Fall half ihm bestimmt, dass er sich schon damals recht gut mit Koumei verstanden hatte. Nicht, dass sie als Kinder je richtige Freunde gewesen wären, Freundschaft mit Kaiser Koutokus zweitem Sohn zu schließen war schwierig, doch zwischen ihnen hatte seit jeher ein stumme Anerkennung bestanden. Der Bogenschütze bewunderte die Intelligenz und die versteckte Härte seines Herrn, gepaart mit Hinterlistigkeit. Darüber konnte man fast vergessen, dass er eigentlich ein sehr weichherziger Mensch war. Dieser wiederum wusste genau um Chuu'uns bedingungslose Treue und seinen kühlen Kopf in Gefahrensituationen. Ja, er war gemeinhin für seine Ruhe und Besonnenheit bekannt. Etwas was ihm nicht lag, war die rohe Gewalt. Er konnte tadellos mit dem Bogen umgehen, besser als die meisten anderen Schützen im Reich, ansonsten erschienen seine Kampfkünste eher durchschnittlich. Kein Wunder, dass sich die Kaiserkinder damals und auch heute nicht um seine Dienste gerissen hatten. Wer beachtete schon einen ruhigen, unauffälligen Bogenschützen, wenn es Jungen gab, die andere mit bloßen Händen besiegten oder mit ihrem Schwert selbst dicke Baumstämme zerstückeln konnten? Hakuren Ren hatte es schon in jüngsten Jahren passend formuliert: „Du bist viel zu langweilig, viel zu brav! Ich hoffe, mein Bruder nimmt dich später zum Vasallen, dann bekomme ich Seishuu, mit dem kann man wenigstens raufen.“ Derartige Äußerungen hatte er sich oft anhören müssen. An ihm gab es kaum eine Eigenschaft, welche besonders hervorstach. Beispielsweise eroberte man mit Korrektheit und Treue als kleiner Junge nicht grade die Herzen seiner Altersgenossen. Nun gut, mit seinen Schießkünsten eigentlich schon, doch sein stilles Wesen schien jegliche Aufmerksamkeit von ihm auf die lebhafteren Adelssöhne abzulenken. Noch heute musste Chuu'un bei dem Gedanken lächeln, wie der ruhige Koumei seinem gedankenlosen Cousin damals widersprochen hatte: „Ich würde Chuu'un in jedem Falle Seishuu vorziehen. Er ist mutig und stark, aber er zeigt es nicht jedem. Er ist nicht feige, nur weil er dich nicht zum Lachen bringt, wie Seishuu es tut. Außerdem ist er viel verlässlicher und denkt im Gegensatz zu euch beiden, bevor er handelt.“ Ja, die Art des vierjährigen Koumei völlig unerwartet und unverblümt seine nicht grade vorsichtig formulierte Meinung preiszugeben, war einfach unvergesslich. Der fast doppelt so alte Seishuu hatte nach dieser Offenlegung ein grandioses Gesicht gezogen und auch Hakuren war beleidigt gewesen. Chuu'un hingegen hatte den kleinen Koumei direkt ein wenig ins Herz geschlossen. Niemals zuvor hatte jemand ihn gegen Seishuu hervorgehoben, der eine große Klappe besaß und sich gerne mit den kaiserlichen Prinzen am Boden wälzte. Allerdings zog er trotz seines kämpferischen Geschicks gerne einmal den Schwanz ein. Nicht die lobenswerteste Eigenschaft für einen Leibwächter und Waffenbruder. Tja, Chuu'uns zukünftiger Herr hatte bereits damals gewusst, wer der Richtige für ihn war. Unter normalen Umständen wäre der Schütze zwar nie sein Vasall geworden, doch der verehrende Brand begünstigte die Stellung des Kaiserneffen und schon befand er sich in der Position des zweiten Thronfolgers und bestimmte mit über die Geschicke von Kou. Ohnehin hatte erst der Anschlag auf den Kaiser und seine ältesten Söhne dafür gesorgt, dass sie sich noch einmal begegneten. Eine traurige Geschichte, die seinen Herrn noch heute nicht losließ. Aber Chuu'un wollte sich nicht über das Schicksal beschweren, es gab einen Grund für jedes noch so vernichtende Ereignis, davon war er überzeugt. Deshalb würde er seinen Herrn nach Kräften unterstützen, ganz gleich welche Ziele er verfolgte. Letzen Endes hatte er Koumei sein Leben oder zumindest seine Freiheit zu verdanken und das verband sie so sehr, dass er es nicht wagte, einen anderen Weg einzuschlagen. So stand er auch nach zehn Jahren noch unbeweglich im kaiserlichen Palast und umsorgte den zweiten Prinzen von Kou. Was hätte er nach all der gemeinsamen Zeit, gegenseitigem Vertrauen und unbezahlbarer Nähe auch anderes machen sollen? Dabei bedauerte er, dass sie sich früher noch so viel besser verstanden hatten als im Moment. Nach fürchterlichen Startschwierigkeiten, gepaart mit einigen Fehltritten von beiden Beteiligten, hatte er für einige Jahre geglaubt, dass zwischen ihnen eine enge Freundschaft herrschte, doch momentan konnte er dies nicht länger beschwören. Koumei hielt ihm Dinge vor, das spürte er, doch er bekam kaum bedeutsame Worte aus ihm heraus. Wenn sein Herr etwas verheimlichen wollte, bedurfte es einiges an Überredungskunst, die Worte aus ihm herauszupressen. Trotzdem sorgte Chuu'un sich immer noch sehr um ihn und wollte um jeden Preis an seiner Seite bleiben. Würde er fortgehen, hätte er doch nur Angst um das Befinden seines Herrn. Es gab viel zu wenige Leute im Palast, welche die Muße besaßen, mit Koumei über sein Wohlergehen zu diskutieren. Ja, in dieser Hinsicht war er anstrengender als ein Kleinkind. Früher hatte man ihn wenigstens noch herumtragen können, heutzutage musste man ihn schon zum gewünschten Zielort schleifen, wie Chuu'un es diesen Morgen erst getan hatte. Nicht, dass er ihn nicht immer noch hochnehmen könnte, aber mittlerweile war es deutlich mühsamer als früher und für einen erwachsenen Mann einfach lächerlich, weshalb er es so gut es ging vermied. Nun durfte er hier vor der Flügeltür zum Speisesaal ein wenig Kraft für den restlichen Tag tanken. Außerdem hatte er die letzten Tage nichts Nennenswertes von seinem Herrn gesehen oder gehört, da dieser nicht gestört werden wollte. Jetzt musste er sich wohl wieder mehr um ihn bemühen. Versonnen lauschte er in die Stille hinein. Außer dem schnaufenden Atmen des einen Wachmanns drang kein Geräusch an seine Ohren. Die Wände des Saals waren vergleichsweise dick. Vielleicht hatte Kouen diesen Ort ausgewählt, um sich mal wieder in aller Ruhe mit seinem Bruder zu beraten. Kein Wunder, dass er die Wachen nicht dabei haben wollte, sicher fürchtete er, dass Gerüchte über seine Pläne nach außen gelangen könnten. Ja… das würde es wohl sein. Entspannt musterte Chuu'un das Teppichmuster zu seinen Füßen, welches Rad schlagende Pfauen zeigte. Hübsch. Die Kunstweber in Kou verstanden ihr Handwerk. Vielleicht sollte er sich für seine Kammer ebenfalls solch einen Teppich anfertigen lassen. Falls er sich so etwas leisten konnte. Geld erhielt er auf seinem Posten zwar massenweise, dafür sorgte sein Herr, aber ob er damit einen teuren, bestickten Teppich kaufen konnte, blieb dahingestellt. Es konnte Jahre dauern, bis solch ein Kunstwerk fertiggestellt war. Vielleicht sollte er sich bei seinem nächsten Ausgang einfach mal nach einem Weber oder ein paar guten Stickerinnen erkundigen. Etwas Schönes konnte schließlich jeder Mann gebrauchen… „LÜGNER!“ Erschrocken fuhr Chuu'un zusammen. Das ohrenbetäubende Brüllen drang eindeutig aus dem Speisesaal, gefolgt von einem gepeinigten Kreischen. Mist! Alarmiert sprang der Schütze auf, seinen kleinen Nahkampf-Dolch gezückt. Der sperrige Bogen wartete in seiner Kammer und konnte ihm momentan nicht nützlich sein. Wie ungünstig, jetzt verfügte er nicht mal über sein Hausgefäß! Wahrscheinlich hatte Koumei auch sein metallenes Dschinngefäß in seinem Schlafzimmer gelassen, großartig! Jetzt musste Chuu'un wirklich auf der Hut sein! Die Wachen wirkten ebenfalls gewarnt. Der Schrei am Ende hörte sich verdächtig nach dem zweiten Prinzen an. Ob seinem Herrn etwas zugestoßen war? Chuu'un sorgte sich bereits. Sein Puls schnellte hektisch in die Höhe, verdammt, hätte Kouen ihn doch nicht hinausgeschickt! Nach dem Baden war Koumei kollabiert, vielleicht war er immer noch wackelig auf den Beinen. Bei einer Auseinandersetzung mit einem Verbrecher käme ihm seine schwächliche Konstitution sicher nicht zu Gute. Aber wie hatte ein Eindringling an ihnen vorbei in den Speisesaal gelangen und die anderen Wachleute überlisten können?! Höchst befremdlich. „Was ist da drin los?“, fragte sich einer der Männer laut. „Wohlmöglich ein Einbrecher, der einen Anschlag auf die beiden Prinzen verüben möchte!“, befürchtete der andere Wachmann. Chuu‘un war sich da nicht so sicher. Ein schnelles Handeln wäre jedoch sicher von Vorteil, wenn sein Herr solch gequälte Laute von sich gab! „Das müssen wir wohl selbst herausfind-“ Die Meinung des Vasallen ging in einem heftigen Krachen unter, als hätte jemand einen Stuhl nach einer Person geworfen. Die drei Männer wechselten einen kurzen Blick, der nichts als Entschlossenheit zeigte. „Rein da!“, beschlossen sie einstimmig und stürmten mit gezogenen Waffen den Saal. Mit rasendem Herzen platzte Chuu'un hinter den beiden Kerlen in den gewaltigen Raum. Hoffentlich gab es keine Verletzten! Oder gar Tote…! Die Szenerie, die sich ihm bot, musste er nach seinem Schock erst einmal verarbeiten. Was war er froh, dass man ihm seine Aufregung niemals ansah. Jahrelange Übung zahlte sich aus! Statt einem verzweifelten Kampf mit einem Eindringling beizuwohnen, erblickten sie lediglich die beiden Prinzen. Sie lagen übereinander am Boden, nur noch ein wildes Knäuel aus rotem Haar, langen, mehr oder weniger kräftigen Gliedmaßen und weißen Untergewändern. Kouen schien sich oben zu befinden und Koumei zu quälen, die umgekehrte Position hätte wohl jeden gewundert. Einer der schweren Stühle lag umgekippt daneben. Das sah schlimm aus. Oder war seine Sorge unbegründet gewesen? Er wusste es nicht. Nun gut, ein verzweifelter Kampf fand grade auf jeden Fall statt und ließ Chuu'un die Haare zu Berge stehen. Vielleicht hätten sie sich aus der Angelegenheit heraushalten sollen. Oder nicht? Prinz Kouen lehnte nun mit seinem ganzen Körpergewicht auf dem Rücken seines kleinen Bruders und hielt ihn so unbarmherzig im Schwitzkasten, dass dieser nur noch elendig würgen konnte. Wie es schien murmelte der Ältere Koumei grade ein paar beängstigende Drohungen ins Ohr, ehe er seine überraschend nackten Füße packte und unbarmherzig kitzelte. Sofort ertönte lautstarker Protest in Form von atemlosen Hilferufen. Oh ja, er hatte den Schrei seines Herrn vorhin richtig erkannt. Daraufhin schalt Kouen seinen Bruder, er sollte sich nicht so anstellen und Ruhe geben. Doch plötzlich wandte er zufällig den Kopf Richtung Tür und verstummte schlagartig. Der flammende Blick streifte die unerwünschten Neuankömmlinge und fixierte sie dann mit plötzlicher Erkenntnis. Wie der Blitz sprang Kouen auf, was seinem Bruder ein ungläubiges Stöhnen entlockte. Ach du je. Jetzt hatten sie ein lebensbedrohliches Problem. „Alles in Ordnung, eure Hoheiten?“, wagte sich endlich einer der Wächter vor. „Selbstverständlich!“, donnerte der erste Prinz und von dem ausgelassenen jungen Mann, der sich mit seinem Bruder balgte, blieb keine Spur zurück. Kouens Gesicht färbte sich puterrot. Ob vor Wut über die unangemessene Störung oder vor Scham, bei einer derart unwürdigen, gar kindischen Tätigkeit erwischt zu werden, ließ sich nicht feststellen. Jedenfalls konnte es für sie alle nun sehr ungemütlich werden. Den Thronfolger sollte man besser nicht reizen. Je nach Angelegenheit lag seine Reizschwelle ungewöhnlich hoch oder, wie bei diesem unschönen Ereignis hier, bemerkenswert niedrig. Irgendwo verständlich: Er sah sehr mitgenommen aus - zerrupft - und seine Gewänder hingen ihm unordentlich vom Leib. Mit seinen lodernden Augen erdolchte er die drei Männer beinahe, während er grollend versuchte, die verrutschten Stoffschichten in eine einigermaßen akzeptable Position zurechtzurücken. Sichtlich um Haltung bemüht, starrte er ihnen entgegen. Chuu'un bekam beinahe Mitleid. Als derart stolzer Mann in seiner Würde gekränkt zu werden, musste eine schlimme Erfahrung sein, doch als sein Blick das erste Mal bewusst auf Koumei fiel, verrauchte seine Empathie für den ersten Prinzen blitzschnell. Sein Herr hatte sich natürlich längst in Sicherheit gebracht. Kaum war Kouen aufgesprungen, war er, schneller als man es ihm zutraute, an Seite gekrochen. Nun lag er halb unter der Tafel, die noch die Reste des Morgenmahls trug. Verzweifelt keuchend und um Atem ringend musterte er das Geschehen. Offensichtlich schien er sich unter dem Tisch am sichersten zu fühlen. Er wirkte überaus bekümmert, sicherlich um das Wohl von ihnen, den unerwünschten Wachen. Dabei hielt Chuu'un es für angebrachter, sich um Koumei zu sorgen, so matt wie er anmutete. Immerhin hatten nun die beiden Wachmänner Kouens Aufmerksamkeit auf sich gezogen und lenkten diesen von seinem wehrlosen Bruder ab. Die Armen. Plötzlich blickte sein Herr zu ihm herüber. Chuu'un konnte ihn nur entsetzt ansehen, das hektische Luftholen des Prinzen machte ihm Angst. Mit einem bedächtigen Schielen in Kouens Richtung, dank welchem er feststellte, dass dieser mit den Wächtern zu beschäftigt war, schlich er so unauffällig wie möglich zu Koumei hinüber. Er musste seinen Herrn schleunigst aus dieser Gefahrenzone herausbringen, zudem war es für einen hochrangigen Prinzen wie ihn eine Schande, derart gedemütigt zu werden. Das wollte er nicht noch einmal zulassen. Was wäre er denn dann für ein lausiger Vasall? Er lebte, um Koumei vor Schaden zu bewahren und offenbar war er heute Morgen grandios daran gescheitert. Wer hätte auch ahnen können, dass Kouen in diesem Alter immer noch die Vorlieben eines ungestümen Jungen hegte und über seinen kleinen Bruder herfiel? Damals, als beide Hoheiten noch Kinder gewesen waren, hätte er nichts gegen eine Rauferei unter Geschwistern einwenden können, aber nun… so etwas gehörte sich wirklich nicht mehr! Sie befanden sich hier doch nicht im Land der Barbaren und Dämonen, wie es in Kina der Fall war! Außerdem störte es ihn gewaltig, dass immer sein Herr den Kürzeren zog. Solch eine Ungerechtigkeit! Als verantwortungsbewusster Edelmann hätte Kouen ihm wenigstens ab und an ein paar Siege zugestehen können. Kein Wunder, dass Koumei vor körperlichen Anstrengungen zurückschreckte, wenn er immer nur die Erfahrung machte, dass alle anderen viel stärker als er waren! Andererseits konnte man wohl nicht gleichzeitig besonders kräftig und bemerkenswert intelligent sein. Das eine schien das andere meist auszuschließen, fand zumindest Chuu‘un, wobei er Kouen eigentlich immer für ein ziemlich schlaues Köpfchen gehalten hatte. Heute hegte er an der alten Vermutung allerdings einige Zweifel. Schließlich kniete Chuu'un neben der leergegessenen Tafel nieder. „Mein Herr, lasst uns von hier verschwinden!“, flüsterte er vorsichtig. Dieser stieß hechelnd die Luft aus und nickte lethargisch. Er scheiterte schon an der Aufgabe, sich aufzurichten. Seine Arme zitterten bereits, wenn er sie nur ein wenig streckte. Was den Bogenschützen aber enorm erzürnte, waren die zerzausten Haare seines Herrn. Weshalb hatte er sich eben so lange mit ihnen abgemüht? Sie waren so herrlich ordentlich und glatt gewesen! Jetzt ähnelte Koumei einer zerlumpten Vogelscheuche! Bei den Rukh, was um alles in der Welt hatte Kouen mit ihm angestellt? Der arme Kerl machte nicht den Eindruck, als könnte er noch aus eigener Kraft den Speisesaal verlassen. Dermaßen geschwächt, von einer harmlosen Rauferei unter Brüdern? Er sah eher aus, als hätte er einen Kampf auf Leben und Tod hinter sich. Da kam Chuu'un eine berechtigte Idee: Vielleicht hatte Kouen sich ja gar nicht so viel zu Schulden kommen lassen und Koumei musste einfach nur mehr für seinen Körper tun? Diese Kurzatmigkeit konnte nicht gesund sein. Der Vasall wusste nicht mal mehr, wann er den zweiten Prinzen das letzte Mal für längere Zeit im Freien gesehen hatte. Vor ein paar Monaten? Hier in Balbadd scheute er die Sonne noch mehr als daheim in Rakushou… Er sollte dringend versuchen, ihn zu körperlicher Ertüchtigung zu bewegen. Egal, darüber konnte er sich später den Schädel zermartern. Erst einmal musste er seinen Herrn vor dessen übergeschnappten Bruder retten. Wahrscheinlich sorgte er sich vollkommen unbegründet, aber man kümmerte sich nun mal gut um den Mann, der seinem Leben einen tieferen Sinn verliehen hatte. Sie hatten schon derart viele gefährliche Situationen überstanden, dass Chuu'un stets fürchtete, die letzte könnte bald kommen. Was er ohne seinen Herrn mit seiner Existenz anfangen sollte, wusste er nicht. War es da nicht verständlich, dass er jegliches Übel von ihm fernhalten wollte? Und ein Übel stellte Kouen Ren an diesem Tag eindeutig dar! Den unangenehmen Lauten im Hintergrund nach zu urteilen, hegte er einen gehörigen Zorn auf die Wachmänner. Auf Chuu'un sicher auch… Sie sollten sich wirklich schnellstens aus dem Staub machen. „Na kommt schon, Koumei“, drängte er leise. Möglicherweise gelingt es uns ja, ungesehen aus diesem Albtraum zu entkommen, hoffte er. Allerdings hätte er bedenken müssen, dass der zweite Prinz sich nicht sonderlich kooperativ verhalten würde. Gut, das rührte von der Erschöpfung her, doch die Ursache änderte nichts daran, dass sie nun vor einem riesigen Problem standen! „Bitte, tut nur einmal das, was ich sage!“, flehte der Vasall. Die Antwort gab ihm keine neue Hoffnung: „Will ich ja… kann aber nicht…“ Verdammt, Koumei döste schon fast. Seine Augenlider flatterten bedrohlich. Es brauchte also mehr Nachdruck. „Aufstehen!“, forderte Chuu'un. Der Rothaarige zuckte zusammen. Dessen gekränkter Blick, den er daraufhin erntete, ließ ihn sich wahrhaft bösartig fühlen. Aber was sollte er sonst tun? Er war doch wohl kein schlechter Mensch, nur weil er seinen Herrn vor weiterem Unheil bewahren wollte! Musste er es etwa erst mit herabwürdigendem Betteln versuchen, damit sein Vorhaben gelang? Plötzlich zuckten Koumeis Beine. Beinahe erschrocken über die unerwarteten Bewegungen wich Chuu'un zurück, ehe er begriff, dass der Prinz sich erheben wollte. Hervorragend! Damit hätte ich heute nicht mehr gerechnet!, jubilierte er innerlich und hätte dem schwächelnden Mann um den Hals fallen können. Dass Koumei sich aus eigener Kraft heraus anstrengte, konnte in Situationen wie diesen nur ein Wunder bedeuten. Tatsächlich stand er wenige Augenblicke später auf beiden Füßen. Ein wenig schwankend zwar und immer noch um Atem ringend, aber es gab Schlimmeres. Kouen unterdessen brüllte die beiden Wachen an, sich fortzuscheren. Er tobte vor Wut. Gut, dann würden sie jetzt ebenfalls das Weite suchen. Tatsächlich erreichten sie Koumeis Gemächer ohne einen neuerlichen Angriff des ersten Prinzen. Als Chuu'un seinen Herrn an Kouen vorbeigelotst hatte, unter Geleitschutz der beiden anderen Männer, hatte er eigentlich irgendeine unerfreuliche Reaktion des Thronfolgers erwartet. Nichts war geschehen. Und so hatte er Koumei relativ unbeschadet in Sicherheit bringen können. Doch dieser dankte es ihm grade nur mit neuen Schwierigkeiten: Kaum hatte der Vasall die Tür aufgeschoben, fiel der Prinz gähnend ins Bett. „Nein!“, knurrte Chuu'un scharf, was eigentlich weder seiner Art, noch der Etikette entsprach, doch dafür, dass der Tag grade mal angefangen hatte, nahm sich sein Herr eindeutig viel zu viel heraus. Er musste verflucht nochmal arbeiten! Sonst würde der bescheuerte Kouen ihnen beiden den Kopf abreißen! So ein Mist, jetzt fing er bereits an, die groben Ausdrücke der Stadtwächter zu benutzen… Solch ein Frevel… er sollte sich hüten je wieder auf diese abfällige Weise an den Erben des Kaiseramtes zu denken! Aber hier musste dringendst etwas passieren. Chuu'un konnte Koumei nicht schon wieder Ewigkeiten schlafen lassen! Es stand derart viel Arbeit an, dass der zweite Prinz sich problemlos auf Überstunden einstellen konnte. Chuu'un würde ihm da, selbst wenn er wollte, keine große Hilfe leisten können. Das würde ja heiter werden. Wieso musste Koumei denn auch immer wieder solch eine Mattigkeit und Antriebslosigkeit zeigen? Das gehörte sich für einen Mann von Rang und Namen ganz und gar nicht! Er sollte lieber seine Intelligenz und sein Metallgefäß nutzen, nicht die ganze Zeit faulenzen. Zu Koumeis Verteidigung: Sein nervenaufreibendes Verhalten war nicht alltäglich. Nur fast. Es gab ja durchaus Wochen, sogar ganze Monate, wo der Zottel seine Arbeit über alles stellte und ja, dann durfte Chuu'un ihn bremsen. Dies gestaltete sich als ebenso schwer wie das Antreiben. Wenn es wirklich ernst wurde, legte sein Herr einen verstörenden Eifer an den Tag, konnte sogar todernst und einigermaßen aktiv an Besprechungen teilnehmen. Manchmal befehligte er Soldaten, als würde er nie etwas anderes tun. Doch für seine Müdigkeit, die Ausreden und Schwächeanfälle war Koumei mittlerweile derart berühmt, dass man das Gefühl gewinnen konnte, sein ganzes Leben bestünde daraus, der Dienerschaft Scherereien zu bereiten. Genaugenommen gab es eben hin und wieder kurze Momente oder ausgedehnte Zeiten, zu denen mit seinem Herrn nichts anzufangen war. Um ehrlich zu sein hatte Chuu'un schon seit jeher eine Vermutung, wo diese Antriebsschwäche herrührte. Der Vasall diente dem zweiten Prinzen immerhin schon lange genug, um zu wissen wie sensibel er sein konnte. Seit dem Tod des vorherigen Kaisers und dessen Söhnen war irgendetwas in ihm zerbrochen. Das hatte Chuu'un gleich bemerkt, als er den jungen Koumei in den Wochen nach dem großen Brand versorgt hatte und seine Dienerschaft an dessen Seite angetreten war. Alleine schon ihre erste Begegnung nach all der Zeit hatte ihm mehr verraten, als er wissen wollte. Früher, als die verstorbenen Verwandten noch am Leben gewesen waren, hatte Koumei kaum je geweint, außer um Prinz Hakurens Herz zu erweichen, eine kluge Handlung, war sie bei diesem naiven Kerl doch stets geglückt. Als Chuu'un nach dem Feuer zum Vasall geworden war, hatte er schmerzvoll erfasst, dass sich dies gänzlich verändert hatte. Und er wusste ganz genau, dass sein Herr auch heute noch von Schuldgefühlen und Trauer geplagt wurde, auch wenn er es längst nicht mehr offen zeigte. Natürlich konnte dies nicht der einzige Grund für die Faulheit und Müdigkeit sein, da Koumei bereits als kleiner Junge versucht hatte, jeglicher Anstrengung zu entgehen. Dennoch, er war sich ganz sicher, dass Koumeis Erinnerungen und Stimmung eng mit seiner Arbeitsmoral zusammenhingen und das betrübte ihn sehr. Vor allem, dass er nicht helfen konnte, egal was er versuchte. Momentan schien mal wieder eine längere Zeit des Elends angebrochen zu sein. Sie würde hoffentlich höchstens ein paar Tage andauern und dann konnte man wieder normalen Umgang mit Koumei pflegen. Aber bis dahin galt es die übersteigerte Ermüdung auszuhalten. Dieser schreckliche Zottel war wirklich zu bedauern, aber er verhielt sich manchmal unmöglich. Dazu passte auch die schändliche Eskapade mit dem Priester. Dieser widerliche Kerl! Wenn er sich noch einmal in die Nähe seines Herrn wagen sollte, würde er es mit Chuu'un zu tun bekommen! Koumei war viel zu gutherzig, um sich mit diesem missratenen Bengel abzugeben! Magi hin oder her! Es interessierte ihn auch nicht, dass der Priester seinem Herrn zu einem Dschinn verholfen hatte. Nein, er konnte den Gedanken, dass sein Prinz auch nur im gleichen Bett wie Judar geschlafen hatte, nicht ertragen! Was auch immer zwischen ihnen geschehen war… Koumei verheimlichte ihm doch etwas! Wenn er sich nur daran erinnerte, wie sich Judar an diesem furchtbaren Tag in die Gemächer des zweiten Prinzen begeben hatte, während er selbst wachehaltend und unbemerkt, mit der Aufforderung ja nicht zu stören, am Anfang des Ganges gestanden hatte, ballten sich seine Hände zu Fäusten und er verspürte das heftige Verlangen, dem Magi den Hals umzudrehen! Welch ein Glück für ihn, dass er sich bereits in Rakushou befand! Was fiel ihm nur ein, sich an seinen Herrn heranzumachen? Und wie konnte dieser das auch noch dulden? Na gut, Koumei duldete ohnehin immer viel zu viel, wahrscheinlich weil er zu faul oder schwach war, um sich unangenehmen Situationen zu entziehen, wie die Rauferei mit Kouen mal wieder gezeigt hatte. Plötzlich erstarrte der Vasall. Was, wenn Judar an der Angelegenheit vollkommen unschuldig wäre? Wenn alleine der Prinz schuld war, dass er bei ihm übernachtet hatte? Noch schlimmer! Aber gar nicht mal so unwahrscheinlich, wie er mit Schrecken feststellte. Koumei kam manchmal auf verstörende Einfälle. Das war so dumm und naiv, dass es ihn schaudern ließ. Falls jemand davon Wind bekäme… nicht auszudenken! Wenn sich eine derartige Verfehlung wiederholen sollte, vor allem mit dem Priester, würde es unvermeidlich sein, dass irgendjemand es bemerkte. Generell wunderte es Chuu'un seit jeher, dass anscheinend niemand außer ihm wusste, dass Koumei Männer den Frauen deutlich vorzog. Oder besser gesagt zog er Hakuren Ren jedem andern vor. Immer noch. Ob Kouen etwas ahnte? Bitte nicht. Niemand sollte etwas davon wissen. Chuu'un konnte Geheimnisse für sich bewahren und verspürte nicht im Ansatz den Wunsch, irgendetwas auszuplaudern. Wäre auch schön dumm, denn dann würde er sich gleich mit ins Verderben hineinreiten. Ja, hoffentlich würde was er über Koumei wusste niemals ans Licht kommen. Sie hatten wahrhaft schon genug Schwierigkeiten. Er musste dringend ein paar ernste Worte mit dem Prinzen sprechen! Andererseits, würde diese Enthüllung etwas an dem Bild, welches die meisten Menschen im Palast von seinem Herrn besaßen, ändern? Wahrscheinlich nicht, viele sahen in Kouens jüngerem Bruder, verglichen mit dem starken Thronfolger, eine einzige Enttäuschung. Natürlich würde dies niemand offen zugeben, doch als Diener hörte man Dinge, die niemals an die Ohren der Herrschaften gelangen sollten. Eigentlich traurig, dass scheinbar nur Chuu'un schätzte, was sie an dem zweiten Prinzen hatten. Nun ja, Kouen wusste dies sicher auch, sonst würde er Koumei sicher nicht derart viel Macht einräumen. Bis sich der Zottel jedoch wieder gefangen hatte, würde Chuu'un seine gesamten Überredungskünste aufbieten müssen. Wie anstrengend… Aber das würde er schon irgendwie schaffen. Jetzt galt es erst einmal, die unverbesserliche Schlafmütze aus dem Bett zu werfen und zur Arbeit zu überreden, von der es in den nächsten Wochen mehr als genug zu erledigen geben würde. //_* Kapitel 28: Arbeit ------------------ *~* „Nun, mein Herr, hier ist der aktuelle Plan für den Umbau der Stadt Balbadd. Ach und der Bebauungsplan für neu erschlossene Flächen am Stadtrand. Es wurden anscheinend minimale Änderungen im Hafenbereich vorgeschlagen. Der zuständige Baumeister bittet nur noch um eine Absegnung Eurerseits. Euer kaiserlicher Bruder scheint bereits einverstanden zu sein.“ Voller Elan kam Chuu'un in den viel zu heißen Raum gestürmt. Koumei legte erfreut seine Schreibfeder beiseite. Erwartungsvoll wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Bei diesem unerträglichen Klima war er leider unvermeidlich, was ihn nicht weniger lästig machte. Chuu'un sah nicht besser aus als er, die Kleidung des Vasallen trug eindeutige Spuren der Hitze. Trotzdem bedauerte Koumei nicht, dass er ihn durch das gesamte Anwesen eilen ließ wie einen Laufburschen. Etwas Abwechslung konnte der Diener bei der meist recht eintönigen Anstrengung nämlich dringend vertragen. Chuu'un war stark, da würde ihn ein bisschen Wärme nicht umbringen. Da er seine Angelegenheiten immer noch mit befriedigender Schnelligkeit bewältigte, kam er anscheinend vergleichsweise gut mit den Temperaturen hier zurecht. Koumei nickte zufrieden. „Das ist ausnahmsweise eine gute Nachricht. Leg sie mir hier hin, die ganzen dazugehörigen Unterlagen am besten gleich mit.“ Nach Kouens Wutanfall vor ungefähr eineinhalb Wochen hatte er sich lieber früher als später zusammengerissen und war wieder in konzentriertes Arbeiten verfallen. Wenn er sich einmal ernsthaft dazu überwand, kam er nicht mehr von seinen Aufgaben los. So saß er wie üblich ununterbrochen stundenlang an seinem Schreibtisch, schrieb wichtige Briefe, unterzeichnete Dokumente und plante was das Zeug hielt. Wider Erwarten machte ihm das Denken am meisten Spaß, auch wenn die Umstrukturierung Balbadds sich als wahrhaft komplex erwies. Genaugenommen verlangte es immer unvorstellbar viele Gedankenexperimente, wenn man ein ganzes Land verändern wollte. Aber Koumei hatte schon früh in seinem Leben gemerkt, dass ihm derartige Aufgaben durchaus lagen. Auch sein Bruder wirkte ausnahmsweise zufrieden mit ihm. Bei ihrer letzten Unterredung hatte er in einemfort anerkennend genickt und dann war abschließend sogar ein seltenes Lob über seine Lippen gekommen. Ein kleines Wunder. Den Preis den der zweite Prinz jedoch für seine tagelange Aufmerksamkeit zahlte, waren die schwärzesten Augenringe, die je sein Gesicht gezeichnet hatten. Chuu'un achtete dieses Mal zwar darauf, dass er die ihm verordneten Zwangspausen einhielt und brachte ihm stets Essen und Trinken vorbei, wenn es kein Dienstmädchen tat, doch Schlaf fand Koumei viel zu selten. Noch hielt er tapfer durch, auch wenn er bereits hin und wieder daran dachte, einfach in sein herrliches Himmelbett zu kriechen und den Rest seiner Lebenszeit dort zu verbringen. Diese mutlosen Gedanken verschwanden jedoch schnell, wenn sein Vasall mit einer neuen Aufgabe in der Tür erschien. Koumei stürzte sich regelrecht darauf. Sobald er sich einmal eingearbeitet hatte, konnte ihn nichts mehr stoppen. Deswegen schob er nun auch die Papiere, die er grade bearbeitet hatte, an Seite und entrollte den Bebauungsplan, der soeben neu aufgelegt worden war. Sofort verfing sich das dünne Pergament an seinem Armband. Ungehalten nahm er den hinderlichen Schmuck ab, er hatte keine Lust, sich immer wieder von dem Papier zu befreien. Balbadd bedurfte seiner vollen Aufmerksamkeit. Um allen Menschen eine befestigte Bleibe bieten zu können, musste die Stadt ein wenig vergrößert werden. Platz gab es in der Wüste genügend, nur musste die Stadtmauer erweitert werden, was einigen Aufwand kosten würde. Doch ein Land unter dem Oberbefehl der Kou sollte seinem Volk immerhin ein sicheres Dach über dem Kopf bieten können. Die zahllosen Obdachlosen, die einem bei jedem Gang durch die Gassen auffielen -zumindest beklagte Kouen dies immer voller Ärger, Koumei setzte kaum jemals einen Fuß in diese brütende Hitze - sollten endlich verschwinden. Selbstverständlich würde es immer ein paar Menschen geben, die die Hilfen der Regierung nicht annehmen wollten und deshalb auf der Straße bleiben würden. Doch bei der Masse an Bettlern, die Nachts im Freien schlafen mussten, was man in dieser Wüstenkälte niemandem gönnte, würde der Bau von kleinen Häusern und die geplante kostenfreie Nahrungsverteilung an Bedürftige deren Lebenssituation schlagartig verbessern. Das alles war unverkennbar schwer zu organisieren und nicht ohne gravierende Nachteile zu verwirklichen, dennoch hielt Koumei diese Vorgehensweise für die einzig funktionale. Auch die bereits bestehenden Viertel Balbadds würden umgebaut werden. Vielleicht nicht, um mehr Raum für die Menschen zu schaffen, was wohl ein netter Nebeneffekt des Vorhabens sein könnte, sondern um sie auch geistig zu Bürgern des Kou Reichs zu machen, doch diese Umerziehung würde ihnen nur zu Gute kommen. Wenn man die Architektur und das Aussehen eines Ortes in richtigem Maße veränderte, wandelte sich mit der Zeit auch die Mentalität der Bewohner. Genau das wollten sie erreichen: Unterstützer des Kaisers heranziehen, damit es nicht mehr zu derartigen Unruhen kam, wie sie vor der Übernahme durch Kou in diesem Land geherrscht hatten. Volksunruhen waren an der Tagesordnung gewesen, vor allem wegen diesem Taugenichts von König Ahbmad Saluja. Nun gut, einer der Priester von Kaiserin Gyokuen war nicht ganz unschuldig daran gewesen, dass das Land dem Ruin anheimgefallen war, aber ohne diesen schrecklichen Herrscher wäre Balbadd niemals derart verkommen. Die Menschen konnten sich wirklich glücklich schätzen, denn nun würde endlich Frieden in ihrem Staat einziehen, auch wenn sie nicht wie gewünscht in einer Republik leben würden. Erfahrungsgemäß führten derart lockere Strukturen, in denen das Volk über sich selbst herrschte lediglich zu Chaos und bald zu den nächsten Unruhen, weil Probleme nur schwer gelöst werden konnten, wenn jeder darüber abstimmen durfte. Ein Reich brauchte nur einen Herrscher, der, anders als Ahbmad Saluja, kluge und energische Entscheidungen treffen musste, die niemand anzweifeln konnte, außer vielleicht seine engsten Vertrauten. Die Mächtigen des Kou Reichs dachten da noch einen Schritt weiter: Genaugenommen brauchte sogar die ganze Welt nur einen Herrscher. Wie man in Balbadd bestens hatte beobachten können, brachten verschiedene Ideologien und Ansichten nur Krieg und Verderben. Deshalb unterstütze Koumei Kouen und seinen Vater, wobei klar war, wer mehr für ihr Land tat, in ihren Eroberungsbestrebungen. Ihr Vorhaben: Die ganze Welt unter dem Banner der Kou einen, um endlich Frieden zu schaffen. Ob ihnen dies je gelingen würde, wusste er freilich nicht. Niemand hatte je dergleichen versucht. Balbadd stellte nur einen weiteren Schritt auf dem Weg zu ihrem hohen Ziel dar. Natürlich gab es viele Gegner, die ihnen den Weg versperrten oder es zumindest versuchten. In der jetzigen Lage der Welt waren zudem Kriege und damit verbundene Opfer noch unvermeidlich. Doch zumindest Balbadd hatten sie relativ problemlos unter ihre Fittiche nehmen können. Dass den Menschen hier immer noch einige unschöne Veränderungen bevorstanden, hätte ihn damals, als kleiner Junge, noch betrübt, doch mittlerweile wusste Koumei, dass es ohne Eingeständnisse und Kompromisse unmöglich war, die Leute von den Kou-Idealen zu überzeugen. Sie würden strenge Gesetze und fremde Sitten für das Wüstenvolk einführen müssen, um sie von Rebellionen abzuhalten. Die Wachenpräsenz sollte erhöht werden, damit niemand auf falsche Ideen kam. Außerdem würde das System der Sklaverei grundlegend verändert werden. Anscheinend gab es momentan keine oder kaum noch Sklaven in Balbadd, doch aus den Aufzeichnungen entnahm Koumei, dass dem erst seit den Unruhen vor ein paar Monaten so war. Ungünstig. Die Widereinführung der Sklaverei würde sicherlich auf Protest stoßen. Doch seiner Meinung nach war die Methode der Kou weitaus humaner als alle anderen, die ihnen zur Auswahl standen: Misshandlung von Sklaven stand unter Strafe und nach fünf Jahren wurde ein Sklave in die Freiheit entlassen. Außerdem stammten die Sklaven nicht aus dem eigenen Land. Eigentlich verabscheute Koumei derartigen Menschenhandel. Er wusste jedoch, dass es ohne die Sklaven nicht möglich war, ein derart großes Reich stabil zu halten. Außerdem hatte die gewöhnliche Bevölkerung so kein Recht, sich über ihre möglicherweise missliche Lage zu beschweren, es gab immerhin Menschen, denen es deutlich schlechter ging als ihnen. „Herr, bedrückt Euch irgendetwas?“ Die ruhige, gleichmütige Stimme seines Vasallen ließ Koumei aus seinen konzentrierten Gedanken aufschrecken. „Nicht der Rede wert. Der Plan sieht vielversprechend aus. Es wird wohl ein großes Bauunternehmen werden, soweit sich das für Außenstehende einschätzen lässt. Natürlich sind die Behausungen keine besonders feudalen Anwesen und stehen alle in Reih und Glied, aber um unser großes Anliegen zu erfüllen, die Obdachlosigkeit zu bekämpfen, ist dies die einzige Möglichkeit. Etwas Besseres können wir uns momentan einfach nicht leisten“, seufzte er. „Ist das nicht schon eine gewaltige Verbesserung der bisherigen Umstände?“, hakte Chuu'un verwirrt nach. „Natürlich. Aber schön oder gar angenehm ist anders. Die Menschen werden das Leben in diesem Viertel rasch leid sein, wenn sie sich erst einmal an die Annehmlichkeiten einer Behausung gewöhnt haben. So ist die Gesellschaft, daran lässt sich nichts ändern.“ „Selbst wenn dies eintreffen sollte, können sie Euch dankbar sein!“, protestierte Chuu'un. „Vielleicht“, murmelte Koumei und versank wieder in dem Stadtplan. Balbadd würde wirklich ein ganzes Stück wachsen. Nicht übel. Dann vertiefte er sich in das andere Pergament. Die Zeichnungen von der ursprünglichen Stadt waren mit roter Farbe ergänzt oder übermalt, wo Änderungen eintreffen würden. Es dauerte seine Zeit, bis er alles geprüft hatte. Bei den Rukh, wenn die Arbeiter mit dem Umbau fertig sein würden, wäre Balbadd nicht mehr wiederzuerkennen, sondern aussehen, wie eine richtige Kou-Stadt, fast wie Rakushou! Ob dieser Umstand ihn in Zukunft über das unausstehliche Klima hinwegtrösten konnte? Ehrlichgesagt fehlte ihm das Fachwissen zum Thema Städtebau, aber nach dem wenigen was er wusste, fand er die Vorschläge und Pläne vernünftig. Mittlerweile hielt er alle Entscheidungen, die auf diesem Papier verzeichnet waren, für tragbar. Zufrieden rollte er die Entwürfe zusammen und ließ sich von Chuu'un die Zettel überreichen, auf denen er alles absegnen sollte. Ach, da stand ja auch schon Kouens Unterschrift, wie schön. Ungelenk wie eh und je fügte er die seine hinzu und versiegelte die Dokumente schließlich ein wenig unordentlich, was seinem Vasallen ein erschrockenes Luftholen entlockte. Koumei unterdrückte spöttisches Lachen. Kommentarlos händigte er dem anderen auch diese Papiere aus, ehe er sich einer neuen Schriftrolle zuwandte. Unter dem dicken Papier blitzte jedoch etwas weitaus spannenderes hervor. Ob es das war, worauf er schon lange gewartet hatte? Wie Chuu'un pflichtbewusst den Raum verließ, um die unterzeichneten Papierberge fortzubringen, bemerkte er nicht. Nein, seine Entdeckung nahm seine gesamte Aufmerksamkeit ein. Neugierig zog der zweite Prinz an dem zerknitterten Blatt. Ach, zwischen seine Akten war ein Schreiben von Kouha aus Magnostadt gerutscht? Hoch interessant! Er hatte sich schon gefragt, warum es so lange dauerte, bis er etwas von ihm hörte. Ob sein kleiner Bruder bereits Erfolge vorzuweisen hatte? Doch sobald sein Blick auf dessen ordentliche, wenn auch ein wenig angestrengte Schrift fiel, breitete sich Ernüchterung in ihm aus. Das sah Kouha ganz ähnlich: Lieber Bruder Mei, bist du jetzt enttäuscht? Ich dachte, ich lasse dir mal einen kleinen Gruß aus Magnostadt zukommen. Du erwartest sicher einen förmlichen Bericht über meine diplomatischen Fortschritte, doch leider muss ich gestehen, dass sich Matal Mogamett nicht grade kooperativ zeigt. Der alte Opa stellt sich quer, dabei gebe ich wirklich mein Bestes. Diese Magier lassen einfach nicht mit sich reden. Sie halten uns gewöhnliche Menschen für Abschaum und blicken auf uns herab. Wie man so blind sein kann, ist mir wirklich ein Rätsel. Nun gut, wenn erst einmal unsere Streitmacht vor ihren Toren steht, werden sie schon sehen, dass wir nicht zu unterschätzen sind. (Hoffentlich wird dieser Brief nicht abgefangen, sonst bekommen wir hier wohl größere Schwierigkeiten…) Aber genug davon, an sich ist Magnostadt ein herrlicher Ort. Er ist wirklich von Interesse für uns. Ein wenig befremdlich, dass überall in der Öffentlichkeit magische Utensilien zum Einsatz kommen, als wäre dies das normalste der Welt. Du wärest begeistert davon, was sie hier alles entwickelt haben, diese magischen Erfindungen können durchaus mit deinen Ideen mithalten. Sei nicht traurig, du bist immer noch der schlauste Mensch, den ich kenne. Gestern war ich mit Junjun, Jinjin und Reirei in der Stadt unterwegs. Als erbärmlicher Goy darf man sich hier zwar nur äußerst eingeschränkt bewegen, doch das, was wir bis jetzt gesehen haben, wirkt sehr ansprechend. Hier gibt es streunende Katzen, stell dir vor, ich habe einen Jungen gesehen, der vor Begeisterung darüber beinahe ausgerastet ist… Wie gesagt, das Volk scheint mir nicht das hellste zu sein. Dafür sieht man überall Menschen, die auf verzauberten Gegenständen durch die Luft fliegen. Das sieht spaßig aus. Du hättest wahrscheinlich weniger Freude daran und an dem geschäftigen Treiben hier ebenfalls. Es gibt sehr schöne Parks hier, vielleicht würden die dir eher gefallen. Selbst um Nahrungsmittel oder Zierpflanzen anzubauen, nutzten sie hier die Magie. Ich habe noch nie so große Tomaten gesehen und die Feigen erst! Lecker, sag ich dir! Vielleicht bringe ich ein paar davon mit nach Hause, falls sie die beschwerliche Reise überstehen. Da fällt mir ein, dass ich auf eine überaus anstrengende Hinreise zurückblicken kann. Zuerst ließ der Kutscher noch einen kleinen Knirps zusteigen und dann wurden wir zu allem Überfluss von Banditen überfallen. Alle mit magischen Utensilien bewaffnet, seltsam, was? Immerhin gibt es jetzt eine Räuberbande weniger auf der Welt, ich habe sie alle ihrer gerechten Strafe zugeführt. Falls du jetzt entsetzt bist, Mei kann ich nur sagen: Sie wollten uns auch töten und mir war langweilig. Im weiteren Verlauf der Reise habe ich mich dann überraschenderweise doch noch sehr über die Gesellschaft dieses komischen Knirpses namens Aladin gefreut, der wohl in Magnostadt die Akademie besuchen möchte. Ich bin mal gespannt, ob ich irgendwann erfahre, wie er sich dort macht, besonders fähig erschien er mir nämlich nicht. Aber dafür habe ich ihm hübsche Zöpfe geflochten. So, das war eigentlich alles, was es momentan aus Magnostadt zu berichten gibt. Falls ich in den nächsten Tagen unerwartete Fortschritte erzielen sollte, bist du selbstverständlich der erste, der davon erfährt. Viele Grüße und übernimm dich nicht! Dein Kouha PS: Ich schicke das hier mit einer Taube, hoffentlich findet das Tier den Weg nach Balbadd, allzu schlau wirkt sie ja nicht… Außerdem wäre es ziemlich traurig, wenn ein Jäger sie vom Himmel schießt, nicht wahr? Dann würde meine lästerliche Nachricht in die falschen Hände fallen und jemand würde einen köstlichen Taubenbraten verspeisen. Wahrscheinlich wäre dann auch mein Leben in Gefahr. Was fändest du schlimmer? Schick mir doch eine Antwort, wenn du Zeit hast. Ich stecke deine Taube auch nicht in den Topf. Bis bald, ich vermisse dich und En schon, Mei! Fehlt nur noch, dass er das Briefpapier mit Herzchen und anderen Kritzeleien verziert…, dachte Koumei pikiert. Brummend faltete er den Brief zusammen. Wie furchtbar. Die arme Taube! Ja, das passte zu Kouha. Sein kleiner Bruder liebte es, ihn auf sadistische Weise zu ärgern, besonders, wenn sich für ihn daraus keine Konsequenzen ergaben. Scheinbar fühlte er sich in Magnostadt überaus sicher, wenn er solch ungehörige Dinge über das Staatsoberhaupt und dessen Volk schrieb. Allerdings hatte die Nachricht Koumei durchaus belustigt. Obwohl ihm gute, sachliche Neuigkeiten lieber gewesen wären und Kouhas abfällige Worte über Tauben ihn wirklich verletzten. Natürlich war ihm sein Bruder wichtiger, als ein unbekannter Vogel, doch es war einfach bösartig, ihn damit aufzuziehen! Keine Taube hatte es verdient, als Braten zu enden! Herrje, jetzt hatte er seine Zeit mit Kouhas lächerlichem Briefchen vergeudet. Es überraschte ihn, dass sein Bruder so viel geschrieben hatte, normalerweise ödete ihn dies an. Er beschäftigte sich lieber mit seinen Dienerinnen oder seinem Äußeren, als mit wirklich praktischen Dingen. Allerdings klangen die wenigen Beschreibungen von dem Land derart interessant, dass Koumei an Kouhas Stelle wahrscheinlich ebenfalls mehr als sonst geschrieben hätte. Dass die Menschen aus Magnostadt in der Magieforschung mehr Fortschritte erzielt hatten als sie in Kou, wunderte ihn kein bisschen. Doch über Kouhas Verfahren mit den Banditen konnte er nur den Kopf schütteln. Er sorgte sich wegen diesem unbedachten Verhalten, alleine der Brief konnte lebensgefährlich für Kouha enden. Sein kleiner Bruder liebte die Gefahr und dem Quälen seiner Feinde schien er niemals abgeneigt. Aber die Sache mit den magischen Utensilien in der Hand von Straßenräubern, war tatsächlich besorgniserregend. Vielleicht war es gut, dass Kouha mit ihnen kurzen Prozess gemacht hatte, doch irgendwann würde dieser Wahnsinn ihn zu Grunde richten. Welch ein Glück, dass jemand aus Kou die Taube gefunden und die Nachricht Koumei hatte zukommen lassen. Hoffentlich hatte dieser jemand sie nicht gelesen. In jedem Fall würde er Chuu'un lieber befehlen, das Schreiben zu verbrennen, er wollte Kouha nicht in Gefahr wissen, nur weil der Junge sein Temperament nicht zügeln konnte. Koumei beäugte ein letztes Mal das leicht zerknitterte Briefpapier. Schon wollte er nach seinem Vasallen rufen, doch von diesem fehlte jede Spur. Irritiert überlegte er, wann dieser den Raum verlassen hatte. Es musste kurz vor seiner Lektüre gewesen sein. Dann würde er sicherlich gleich wieder kommen. Eigentlich egal, was das betraf hatte er Zeit, er würde den Brief ja nicht unbeaufsichtigt liegen lassen. Jetzt musste er aber schleunigst weiter arbeiten. Gewissenhaft schuftete er sein Tagespensum ab. Irgendwann wollte er schließlich damit fertig werden! Tagespensum bedeutete in diesem Falle tatsächlich Tagespensum. Freizeit blieb keinerlei übrig. Was Kouen sich immer dabei dachte! Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, spielte die Sonne ihnen heute besonders übel mit. Diese elendige Hitze! Koumei schwitzte mal wieder. Das tat er in Balbadd eigentlich rund um die Uhr. Widerwärtig. Zum Glück nahm ihn die Arbeit so in Anspruch, dass er kaum die Gelegenheit bekam, sich über das furchtbare Wetter aufzuregen. So vertiefte er sich auch heute wieder in ellenlange Listen und so weiter und sofort. Plötzlich zog ihm ein merkwürdiger Geruch in die Nase. Zuerst ignorierte er ihn, wollte sich nicht ablenken lassen, da er gleich die eine Schriftrolle durchgearbeitet haben würde. Dann jedoch legte er sie beiseite und blickte erwartungsvoll zur Tür. Tatsächlich stand dort Chuu'un samt einem vollbeladenen Tablett und einer Teekanne. Wenn der Vasall nicht aufpasste, mutierte er noch zum Dienstmädchen. Koumei stöhnte innerlich. Schlafen durfte er nicht, aber essen schon? Er wusste genauestens, welche Option er vorgezogen hätte. Leider die falsche. Gut gelaunt, Chuu'un wirkte immer vergleichsweise heiter, wenn er seinen Herrn nicht aus dem Bett werfen musste, stellte der Mann die Speisen vor Koumeis Nase ab. Ein herzhafter Duft von gebratenem Meeresbewohner waberte durch den Raum. Das war doch nicht etwa das, worauf er hoffte? „Leider konnte ich heute mal wieder keinen Tintenfisch auftreiben“, entschuldigte sich Chuu'un. Schlagartig verlor er Koumeis Aufmerksamkeit. Der Prinz hatte keine Lust irgendein abartiges Gericht aus Balbadd zu sich zu nehmen, wie die letzten Tage schon. Was für eine Qual. Wie ertrugen die anderen das nur? Es wäre herrlich, wieder in Kou zu sein und dort zu speisen. Schade, eigentlich müsste es doch auch in Balbadd Tintenfisch geben? Die Stadt lag direkt am Meer! Ach, was brachte seine Empörung? Genau, nichts. Er würde den Tee trinken und dann weiter arbeiten, dies war ohnehin besser für den brüderlichen Frieden. Doch Chuu'un durchkreuzte sein Vorhaben voller Motivation. Ein Außenstehender hätte dies nie bemerkt, für jeden außer Koumei sprach der Vasall vollkommen nüchtern, nicht im Mindesten beschwingt. „Anstatt Eurer Leibspeise habe ich einen Ersatz aufgetrieben.“ Der Prinz hob skeptisch eine Augenbraue. Er mochte keinen Ersatz. Weder für Menschen noch für bestimmte Nahrungsmittel. Der andere reagierte nicht darauf, sondern schob ihm einen großen, flachen Teller hin, der in Kou eher als Anrichtplatte durchgegangen wäre. Was ist das?, dachte Koumei irritiert. „Eumer Brasse in Butter gebraten“, kam prompt die ruhige Antwort. „Das soll ich essen?“, murrte der zweite Prinz nicht sonderlich begeistert. Vor ihm lag ein ganzer Fisch und starrte ihn anklagend aus seinen toten Augen an. Die schuppige graue Haut bedeckte immer noch den schlaffen Körper. Da konnte man ja Albträume von bekommen! Wirklich widerlich. Wie sollte man das Fleisch von diesem unzerteilten Viech denn mit Stäbchen fassen? Unmöglich! Die Menschen aus Balbadd benötigten dringend ein paar Rezepte aus Kou, damit sie weniger abscheuliche Tiere und mehr pflanzliche Kost aßen, Tintenfisch ausgenommen. „Dieser Fisch gilt als Nationalgericht Balbadds. Seine Gräten sind so zart, dass Ihr sie mitessen könnt. Kommt Euch das nicht entgegen?“ „Schweig. Den Kommentar hättest du dir sparen können“, gab Koumei unwirsch zurück. Es fehlte ihm grade noch, dass der Kerl ihn mit seiner Faulheit aufzog. Lustlos betrachtete er den Fisch. „Bring mir Gemüse!“, verlangte er. Chuu'un verzog keine Miene. „Ihr braucht mehr Fett und Energie, das bekommt Ihr nicht durch Gemüse. Kopfarbeit verbraucht sehr viel Kraft, die bekommt ihr schneller durch gehaltvolles Essen. Dieser Fisch ist gesund und wird Euch gut tun.“ Ich gebe dir gleich Fett und Energie, du respektloser Vasall! Dann wirst du schon sehen, wie gut das tut! Doch er entgegnete lediglich: „Dann bleibe ich lieber beim Tee.“ „Ausgeschlossen. Euer Bruder würde aus der Haut fahren, falls Ihr wieder aufgrund eines Zusammenbruchs ausfallt!“ „Fische, deren Gräten essbar sind, sind unnatürlich.“ Chuu'un schwieg verdutzt. Plötzliche Themenwechsel brachten ihn manchmal aus dem Konzept. Dann allerdings warf er eine Frage auf, die Koumei schockierte. „Glaubt Ihr, dass Tintenfische Gräten besitzen?“ „Ähm… wie bitte?“, brummte der Prinz missmutig. Das durfte nicht wahr sein, war es allerdings durchaus: „Ich sehe immer nur die Tentakel mit den Saugnäpfen zwischen Euren Stäbchen baumeln.“ „Mhm…“ Sehr gehobene Wortwahl, Chuu'un. „Und wo ich Euch diese Eumer Brasse bringen sollte, habe ich mich eben gefragt, ob Tintenfische auch Gräten haben und ob sie vielleicht ebenso zart sind, dass man sie zerkauen kann.“ „Du machst mir Angst. Natürlich haben Tintenfische keine Gräten, es sind nicht einmal richtige Fische!“, schnaubte Koumei entsetzt über so viel Unwissenheit. „Entschuldigt Herr, aber das wusste ich nicht.“ Koumei hätte sich am liebsten den Schädel an der Tischkante aufgeschlagen. Chuu'un offenbarte grade eine derart unterirdische Intelligenz, dass er beinahe mit Hakuren konkurrierte. Alleine bei diesem Gedanken verzogen sich seine Mundwinkel nach unten. Noch weiter als gewöhnlich, er zeigte scheinbar oft einen sehr finsteren Blick, wenn man Kouha und Judar Glauben schenkte. Solch eine Dummheit hätte er von seinem Vasallen niemals erwartet. Dieser schenkte ihm bereits einen Becher Tee ein. Pflichtbewusst wie eh und je. Obwohl er seinen Helm in der brütenden Hitze nicht mehr trug, hing ihm immer noch das lange braune Haar wild in die Stirn und behinderte wohl seine Sicht. In diesem Fall verbarg es sicherlich einen gedemütigten Blick. Wahrscheinlich schämte sich der Ältere seiner Ahnungslosigkeit. Angebracht wäre dies jedenfalls. Davon, dass er vier Jahre mehr Lebenserfahrung besaß, merkte man momentan nicht viel. Doch Chuu'un ließ keinerlei Betroffenheit erkennen, ging lediglich unbekümmert seinen Pflichten nach, als hätte er nicht eben die lächerlichste Frage seit Anbeginn der Welt gestellt. So drückte er seinem Herrn ihm unerbittlich den Tee in die Hand. Glücklicherweise war die Flüssigkeit bereits abgekühlt, etwas Warmes wollte bei diesen Temperaturen niemand trinken. Durstig spähte der Prinz in den Becher und nippte prüfend an dem dunklen Inhalt. „Schwarzer Tee aus Kou, nicht vergiftet und grätenfrei, falls Ihr das befürchtet“, erlaubte sich Chuu'un einen kleinen Seitenhieb. Koumei hatte wohl allzu skeptisch dreingeschaut, denn normalerweise servierte man ihm nur grünen Tee. Schwarztee verfärbte die Zähne gelb. Trotzdem mochte er beide Sorten gerne. Von einem Mal würden seine Zähne nicht gleich unansehnlich werden. Vielleicht könnte ihn das Gebräu sogar besser wachhalten als sein gewöhnliches Getränk. Zumindest der herbe, deutlich kräftigere Geschmack erweckte Hoffnung. „Euer Fisch wird kalt“, bemerkte Chuu'un nach dem zweiten Becher. Und wurde desinteressiert ignoriert. Sollte das Gericht doch abkühlen und ungenießbar werden. Koumei würde es ohnehin nicht zu sich nehmen. Nicht einmal die Beilagen waren nennenswert. Neben einem verlorenen Kräuterbüschel gab es nur einen Klecks undefinierbaren Brei, welcher mit Nüssen gekrönt war. Nicht grade verlockend und mit Stäbchen wirklich sehr schlecht zu essen. Gähnend schob er den Teller bei Seite und wandte sich wieder seinen Schriftrollen zu. Chuu'un versteifte sich kaum merklich hinter ihm. Nach Koumeis Zusammenbruch vor anderthalb Wochen achtete er peinlich genau auf ihn. Vor allem stellte er sicher, dass er genügend zu Essen und zu Trinken bekam. Lästig. Koumei fand einfach keinen Gefallen an den exotischen Speisen. Seit seinem Frühstück mit Kouen hatte er nur zweimal Reis gegessen, ansonsten hatte man ihm irgendwelche faden Wurzeln aus Balbadd aufgezwungen. Deren Geschmack glich eher dem einer durchgelaufenen Strohsandale. Dass man ihm heute nicht einmal etwas Gemüse zustand, wurmte ihn allerdings noch mehr. Wer konnte schon von diesen harten Knollen leben und ansonsten nur diese seltsame Brasse und Obst verschlingen? Ach ja, Fleisch wurde hier ebenfalls häufig aufgetischt. Viel zu viel für seinen Geschmack. Wahrscheinlich konnte er sich glücklich schätzen, dass ihn noch niemand mit Hühnerspießen oder dergleichen belästigt hatte. „Derart übel sind die hiesigen Spezialitäten nun auch wieder nicht“, bemerkte Chuu'un ruhig. Natürlich. Dieses Argument hätte er auch verwendet, wenn er jemandem diesen schrecklichen Fisch schmackhaft machen wollte. Koumei beachtete es nicht weiter, sondern tauchte seine Feder in das Tintenfass. Er merkte, wie sein Vasall immer unzufriedener wurde. Der tägliche Kampf mit dem Prinzen und dem unwillkommenen Essen machte ihn scheinbar aggressiv. Soweit er aggressiv werden konnte. Das einzige was man bei Chuu'un von seinem erhitzten Gemüt bemerkte, waren nämlich zusammengebissene Zähne. Und das höchstens in Ausnahmefällen. Wenn man nicht Seishuu Ri hieß, durfte man nicht auf einen Wutanfall des Bogenschützen hoffen. Koumei empfand dies als überaus angenehm. Er brauchte Diener, die Geduld mit ihm hatten oder zumindest so taten, als könnten sie abwarten. Mit einem hektischen Sklaventreiber, wie der Berater von König Sindbad einer war, hätte er sich niemals abgegeben. So konnte Chuu'un nur frustriert dreinschauen, während der Prinz das eigens für ihn zubereitete Gericht verkommen ließ. Nach einer Weile versuchte er es mit Bestechung: „Mein Herr, was haltet Ihr davon, wenn ich Euch nach dem Hauptgericht noch ein wenig Gemüse bringe?“ Keine Antwort. Koumei würde sich doch nicht wie ein Kleinkind überreden lassen! Da sollte sich Chuu'un jemand Dümmeren aussuchen. Niemals würde er auch nur eine Faser des weißen Fischfleisches probieren. „Wenn du möchtest, kannst du den Fisch essen“, schlug er beiläufig vor, interessierte sich allerdings nicht sonderlich für die Antwort. Er musste schließlich arbeiten. Kouen hatte ihm dies mit seiner Attacke sehr eindrucksvoll nahegelegt. Nur dank seinem Retter Chuu'un hatte er diesen brüderlichen Übergriff überlebt, ansonsten wäre er an einem Lachanfall erstickt. Koumei konnte für die nächsten hundert Jahre darauf verzichten, wieder unter ihm eingezwängt und gekitzelt zu werden. Wenn man diesen Muskelberg über sich hatte, konnte man nahezu Minderwertigkeitskomplexe bekommen! Also war wieder Arbeit angesagt! Andächtig beschäftigte Koumei sich mit den wichtigen Dokumenten. Nach einer halben Ewigkeit seufzte Chuu'un unmerklich auf und nahm sich den Teller. Offenbar schien ihm die Eumer Brasse tatsächlich zu schmecken, denn es dauerte höchstens ein paar Augenblicke, bis der Fisch verschwunden war, wie Koumei mit einem müden Seitenblick feststellte. Dann verschwand der Vasall, nahm auch Kouhas Brief zum Vernichten mit, um seinem Herrn kurzdarauf seine Paprika und Möhrenstreifen zu überreichen. Bevor Koumei verhungerte, musste er schließlich wenigstens irgendetwas vorgesetzt bekommen, das er zu sich nehmen würde. Perfekt. Jetzt konnte er endlich zugleich essen und arbeiten. „Danke dir“, murmelte der Prinz, bevor er sich für den Rest des Tages vollends in seiner Aufgabe verlor. Ungefähr so verlief jeder Tag in den folgenden Wochen. Nach und nach nahmen die Pläne für die Übernahme Balbadds konkrete Gestalt an. Die ersten Bauarbeiten begannen und die kaiserlichen Brüder ertranken fast in den Bergen aus Papieren, die sie beide absegnen mussten. Die Arbeit duldete keinerlei Pausen, sondern brachte durchwachte Nächte und blankliegende Nerven mit sich. Ja, die Wochen vergingen als Einheitsbrei. Neben spärlichen Mahlzeiten, viel zu wenig Schlaf und unendlichen Überstunden lauerten Besprechungen mit Kouen, sowie Würdenträgern und Volksvertretern des Landes Balbadd. Die alte Königsfamilie hatte man selbstverständlich ins Exil geschickt, von wo aus sie hoffentlich nie wieder Schaden anrichten würde. Natürlich löste das nicht jedes Problem: Viele der einheimischen Menschen schienen der Herrschaft der Kou sehr abgeneigt. Doch ihre Vorschläge, wie ihr Land stattdessen regiert werden sollte, konnten keinen der kaiserlichen Prinzen, noch deren Vater überzeugen, der von Boten über alle wichtigen Ereignisse in Kenntnis gesetzt wurde. Meist reagierte seine Frau Gyokuen auf die Briefe, angeblich hütete Kaiser Koutoku mal wieder das Krankenbett. So fand sich keine bessere Lösung, als die, welche Koumei ohnehin angestrebt hatte. Balbadd stand nun unter der Verwaltung des Kou Reichs. Kouen Ren hatte eine wahrhaft wichtige Rolle übernommen und Kou der Verwirklichung ihrer Ziele einen großen Schritt näher gebracht. Koumei verspürte Stolz auf seinen älteren Bruder. Da konnte er ihm sogar seine Grobheit und die unangemessene Rauferei verzeihen. Die Arbeit, die ihn am Ende des Monats vollkommen ausgelaugt hatte, war verglichen mit dem herausragenden Ergebnis nicht der Rede wert gewesen. *~* Kapitel 29: Unverhoffte Hochzeitsnacht -------------------------------------- Unverhoffte Hochzeitsnacht (Traum) *~* „In Anbetracht der Tatsache, dass du die letzten Wochen unermüdlich deinen Beitrag zur Umgestaltung Balbadds geleistet hast, darfst du dir einen Tag freinehmen.“ Überrascht und träge hob Koumei den Kopf von seinem Schreibtisch. Das warme Holz war eine furchtbar harte Unterlage. Sein Schädel fühlte sich an, als wäre er mit nichts als Watte gefüllt. Verwundert blickte er zu Kouen hinauf, der mit einem beinahe freundlichen Ausdruck im sonst so strengen Gesicht auf ihn herunter sah. „Nein, du musst dir sogar einen Tag freinehmen“, präzisierte der erste Prinz und legte ihm eine schwere Hand auf die Schulter. „Du hast die dritte Nacht in Folge durchgearbeitet. Auf Dauer kann das nicht funktionieren. Die Erschöpfung ist dir anzusehen und ich kann es dir nicht verübeln, wenn du danach über deinen Schriftrollen einschläfst. Du siehst schlecht aus.“ „Danke, du auch“, murmelte Koumei und versuchte wenigstens die kurzen Augenblicke in Kouens Anwesenheit wach zu bleiben. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er über den Papieren eingedöst war. An irgendeinem Punkt der durchwachten Tage und Nächte war seine Müdigkeit verflogen und hatte einer aufgestachelten Wachheit platzgemacht. Natürlich hielt diese nicht ewig an. Jetzt, wo er aus dem unvermeidlichen Sekundenschlaf erwachte, spürte er den Preis, welchen er für die entbehrungsreichen Stunden zahlen musste. Seine düster umschatteten Augen ließen sich kaum mehr offenhalten und er zitterte am ganzen Körper. Sein Haar war zerzaust wie üblich und seine tintenfleckigen Gewänder bedurften einer gründlichen Wäsche, genauso wie er selbst. Kouen bot einen ähnlichen Anblick, seine tiefschwarzen Augenringe hielten problemlos mit Koumeis mit und seine heisere Stimme kündete von einer stressreichen Zeit ohne Ruhepausen und viel Bedarf, seine Untergebenen zusammenzustauchen. Abgesehen davon wirkte er recht gepflegt: Der Ziegenbart immer noch säuberlich gestutzt, das Haar und die Kleidung gewaschen. Im Gegensatz zu seinem Bruder musste er stets gut oder wenigstens vorzeigbar aussehen, da er sich mit allerlei Menschen zu beraten hatte. Wenn man jedoch tagein tagaus nur Chuu'un in seiner Nähe duldete, bestand natürlich nicht der gleiche Bedarf hoheitsvoll zu wirken. „Also, schlaf ein paar Stunden oder von mir aus den ganzen Tag. Ich werde mich nun ebenfalls in meine Gemächer zurückziehen und ein wenig ruhen“, beschloss Kouen. Oh, diese verlockenden Worte klangen wie Musik in Koumeis Ohren. „Vorher solltest du dich allerdings waschen“, stellte der Ältere naserümpfend fest. Etwas anderes war nicht zu erwarten. En ist immer so peinlich auf ein kaiserliches Auftreten bedacht… Als Kouen aus der Schiebetür trat, hörte der kleine Bruder, wie er polternd nach Dienerinnen verlangte. Offenbar traute er Koumei nicht zu, sich selbst um das Bad zu kümmern. Nicht dumm, denn wenn es nach diesem ginge, wäre er schnurstracks zu seinem Bett getaumelt und hätte sich in die herrlichen Laken sinken lassen. Natürlich gefiel solch unvornehmes Benehmen Kouen nicht. Aber wieso rief er statt Chuu'un die groben Frauen? Einige Zeit später lag der zweite Prinz endlich in seinem geliebten Bett. Wie gewöhnlich hatten die Dienerinnen ihn nicht mit Samthandschuhen angefasst und seine Haut brannte höllisch von der Kirschseife, die ihm zu allem Überfluss auch noch in die Augen getropft war. Sich baden zu lassen hatte definitiv seine Nachteile. Na gut, die Vorteile lagen ebenfalls auf der Hand… Immerhin waren seine Haare beinahe getrocknet, so konnte er bequem dösen. Die Frauen hatten ihn sogar in ein Nachthemd gezwängt. Viel zu heiß, aber solange er liegen konnte, kümmerte ihn das nicht. Die dicke Decke hatte er sich lediglich über die Beine gebreitet, um nicht an einem Hitzschlag zu sterben. Ganz ohne Laken konnte er leider nicht die volle Erholung aus seinem Schlaf schöpfen. Alles in allem fühlte er sich jedoch äußerst wohl, da ein ruhiger Tag ohne jegliche Verpflichtungen vor ihm lag. Die Sonne versteckte sich noch hinter den Dächern der Stadt und er war wirklich sehr müde. Nur Chuu'un hielt ihn vom Schlafen ab. Sein Vasall fuhrwerkte lautstark mit einer Teekanne herum. Er hatte darauf bestanden, dass sein Herr vor dem Ausruhen noch etwas Flüssigkeit zu sich nahm. Fast wie eine überfürsorgliche Mutter. Schließlich überreichte er Koumei eine Tasse kalten Kräutertees. Es musste eine einschläfernde Mischung sein, nicht das übliche aufputschende Getränk, welches die Lebensgeister erquicken sollte, zumindest spürte er, wie er automatisch immer müder wurde. Das milde Aroma der frischen Kräuter zerging ihm angenehm auf der Zunge. Das seltsame Gebräu schmeckte beruhigend und so konnte der Prinz die leere Tasse nur noch Chuu'un in die Hand drücken, ehe er in einen tiefen Schlaf verfiel. ~ „Mei, Mei! Steh auf!“, jaulte eine piepsige Stimme in sein Ohr. Schwächlich zuckte er mit den Beinen, wollte weiterschlafen. Die Müdigkeit drückte ihn regelrecht zu Boden und sein Gesicht versank quälend langsam in den weichen Kissen. Doch die hohe Stimme gab einfach keine Ruhe. „Bruder Mei!“, fiepte sie und winzige Hände gruben sich fordernd in sein Haar. Judar? Nein, der konnte es nicht sein. Ansonsten wäre die Luft von Pfirsichduft geschwängert gewesen. Kraftlos blinzelte er in das Zwielicht, welches in seinem Zimmer herrschte. Plötzlich durchfuhr ein scharfer Schmerz seine Schulter. „Au!“, wimmerte er und riss nun doch endlich die Augen auf. Erschrocken verdrehte er sich und blickte zu seinem kleinen Bruder auf, welcher wie ein jagender Tiger auf seinem Rücken saß. Ein Rinnsal Blut tröpfelte dessen Kinn herab. Hatte er ihn gebissen? Noch halb im Tiefschlaf versunken, wusste er nicht, was er mit diesem Anblick anfangen sollte. Erneut zuckte heftiger Schmerz durch seinen Körper, doch jetzt riss Kouha wieder an seinen Haaren. Kläglich versuchte Koumei sich der Qual zu entziehen, indem er sich zur Seite drehte, aber das schickte nur einen brennenden Stich durch seine Schulter und Schwindel in seinen Kopf. Ein gepeinigtes Winseln entwich ihm. Er fühlte sich so schwach, das Fieber hatte ihn vollkommen ausgezehrt und nun diese blutende Bisswunde... Trotzdem sollte er aufstehen? Er war so zittrig und entkräftet, dass er die vergangenen Wochen ohne Hilfe keinen Schritt hatte gehen können. Jetzt würde dies nicht besser funktionieren. Am liebsten hätte er losgeheult. „Geht es dir wieder besser?“, fragte der kleine Junge und blickte ihn aus seinen riesigen, rosafarbenen Augen an. Obwohl Koumei bereits die Tränen in die Augen stiegen, presste er die Zähne zusammen und nickte tapfer. Die Lüge entlockte dem kleinen Kouha ein glückliches Lächeln. „Mei… ich hatte Angst ohne dich…“, murmelte er erleichtert und schlang seine dünnen Ärmchen um Koumeis Hals, wobei seine Finger die neue Verletzung streiften. Koumei verkrampfte sich und konnte einen gedämpften Schrei nicht verhindern. Wie üblich kümmerte sich Kouha nicht um seinen Zustand, sondern klammerte sich an ihn, als wollte er ihn nie mehr loslassen. Der Achtjährige vergrub sein Gesicht in Koumeis Halsbeuge und seufzte, als fiele die Last der ganzen Welt von seinen Schultern. Dann jedoch fuhr er plötzlich hoch. „Bruder, ich sollte dich wecken!“, fiel ihm wieder ein. „W-Warum?“, wimmerte der Ältere und spürte das Blut, welches langsam seinen Rücken hinunter lief. Der Kleine sah ihn an, als wäre er verrückt oder senil geworden. Vielleicht gleich beides auf einmal. „Hakurens Hochzeit! Weißt du das etwa nicht mehr, Mei-Mei?“ Die unbekümmerten Worte entlockten ihm ein Keuchen, wie ein Schlag in den Magen. Die Tränen ließen sich kaum noch aufhalten. „Heute schon?“, flüsterte er matt, während ihn die Erinnerung mit groben Fängen überfiel: Kouha hatte Recht. Bebend setzte er sich auf. Alleine diese kleinen Bewegungen zeigten ihm, dass er keinen Funken Kraft mehr besaß. Die Krankheit hatte alles aufgezehrt, nur noch eine leere Hülle zurückgelassen. Und was ihm bevorstand verbesserte seinen Zustand nicht grade: Heute würde er Hakuren wiedersehen. Nach all den Wochen, in denen sein Cousin kein Lebenszeichen von sich gegeben, seine Brieftauben ignoriert und ihn nicht einmal besucht hatte, würde er seiner Hochzeit beiwohnen müssen. Ihn wie der Rest der Gäste beglückwünschen, als bestünde zwischen ihnen kein engeres Band als das von einander wohlgesinnten Vettern. Er wäre gezwungen, mit anzusehen, wie der zweite Prinz seine Braut, die er nie zuvor gesehen haben sollte, küssen und umwerben würde. Durfte keine Miene verziehen, nur mit seinen erbärmlich zitternden Beinen in gebührendem Abstand daneben stehen und sich erinnern, wie weich und fest zugleich sich Hakurens Lippen auf den seinen angefühlt hatten. Wie schrecklich. Unerträglich. Das würde er nicht überstehen. Er schaffte es ja nicht einmal, sich aus dem Bett zu erheben. „Mei!“, rief Kouha plötzlich entsetzt aus. „Du blutest!“ Als ob er nicht wusste, wie heftig er zugebissen hatte. Koumei nickte nur. Die Wunde schmerzte furchtbar, aber noch mehr schmerzte sein Herz. Als hätte Hakuren es in kleine Fetzen zerrissen und sie an die Krähen im Palastgarten verfüttert. Hinter diesem freundlichen, harmlosen Grinsen hatte nichts außer Eigennutz gesteckt. Doch sein Bruder gab keine Ruhe. Mit schockiertem Ausdruck berührte Kouha den Biss und zeigte seine blutige Hand Koumei, der nur gelähmt auf die rote Flüssigkeit starren konnte. Sofort schossen grausame Assoziationen durch seinen Geist. Glücksfarbe… Rubinfarbene Tropfen fielen auf das blütenweiße Bettlaken wie Chrysanthemenblüten. Langes Leben, Herbst… Wie passend. Schon lange fühlte er sich, als könnte er vom Glück nicht weiter entfernt sein. Da schrie Kouha auf. Das Blut in seiner Hand begann Blasen zu werfen. Brodelte. Der unangenehme Geruch nach Eisen erfüllte die Luft. Betäubt beobachteten die Brüder, wie die Flüssigkeit immer heftiger in Wallung geriet und als rötlicher Nebel in die Luft stieg. „M-Mei? Mach das weg!“, jammerte Kouha und reckte die befleckte Hand so weit von sich fort wie möglich, während er die andere panisch in Koumeis Seite krallte. Ohne Erfolg. Der Dunst verdichtete sich, sein Geruch bohrte sich regelrecht schmerzhaft in die Nase und eine wohlbekannte Gestalt schälte sich heraus. Das Blut verschwand. „B-Bruder En?“, fragte Kouha verschüchtert, immer noch an Koumei gedrückt. Doch der Älteste ging gar nicht auf den Kleinen ein. „Trödelt nicht“, meinte er streng. „Heute wird ein wichtiger Tag, wir dürfen auf keinen Fall zu spät anreisen.“ Und dann verschwand alles im roten Nebel. ~ Ehe Koumei in Panik ausbrechen konnte, fand er sich an einem vollkommen neuen Ort wieder. Finsternis. So sehr er auch die Augen aufriss und blinzelte, er konnte sie nicht durchdringen. Lautes Rumpeln, unerträgliches Prasseln und Donnern. Heftige Stöße rüttelten ihn von allen Seiten mitleidlos durch und warfen ihn schließlich gegen etwas Hartes. Holz? Eine Wand? Doch sogleich wurde er wieder zurückgezogen und prallte gegen eine kräftige Schulter. Vertraute Hände hielten ihn fest und schafften es, ihn ein wenig zu erden. Verwirrt starrte er in die Schwärze, ehe seine Begleitung mit dem Reden begann: „Bist du wieder aufgewacht?“, fragte Kouen, der neben ihm in der rumpelnden Kammer saß. Der Jüngere nickte, schob ein schwaches „ja“ hinterher, als er bemerkte, dass in dieser Dunkelheit keinerlei Bewegung zu erkennen war. Dabei hatte er keine Ahnung, ob er wirklich geschlafen hatte… „W-Wo sind wir?“ „Auf dem Weg zur Hochzeit natürlich“, gab sein Bruder zurück, als wunderte er sich über Koumeis Vergesslichkeit. „Sch-schon?“ Mit einem Mal verstand er, weshalb sie die ganze Zeit durchgeschüttelt wurden: Sie befanden sich in einer Kutsche und befuhren eine schlecht ausgebaute Straße. Die Erkenntnis bahnte sich verstörend langsam ihren Weg. Er fühlte sich derart ausgelaugt, nicht nur körperlich hatte die Krankheit ihn gezeichnet. Furchtsam rückte er näher an Kouen heran und umfasste dessen starken Arm. „Warum ist es so dunkel?“, flüsterte er angstvoll. Der Ältere blickte auf ihn herab. Lediglich seine roten Augen glühten dämonisch in dieser unheimlichen Lichtlosigkeit. Koumei zuckte unter dem bedrohlichen Blick zusammen. Doch Kouen schien dies nicht zu bemerken. „Sieh nach draußen“, seufzte er und plötzlich schob er den Vorhang vor dem winzigen Fenster der Kutsche fort und hob Koumei hoch, sodass er hinaus spähen konnte. Doch dort herrschte ebensolche Düsternis wie in der winzigen Kammer. Das Klackern der Pferdehufe wurde von strömendem Regen übertönt, der gewaltsam auf das Dach stürzte, als wollte er es zertrümmern und einen Anschlag auf die Insassen verüben. Dicker, schwarzer Nebel waberte zusätzlich über die undurchschaubare Szenerie vor dem Fenster. Obwohl sie sich spürbar bewegten, änderte sich die Aussicht kein bisschen. Lediglich der undurchdringliche Nebel und tiefhängende Regenwolken. Der muffige Geruch nach aufgeweichter Erde und nassem Stein zog in die Kutsche hinein und erinnerte ihn, dass er die ganze Zeit über gefröstelt hatte. „Mir ist kalt“, wimmerte Koumei und prompt war da Kouha, der sich auf seinen Schoß warf und die Arme um ihn wand. Angstvoll stieß er hervor: „Bruder Mei! Stirbst du jetzt?“ Verstört verneinte Koumei, wie kam sein kleiner Bruder nur immer auf derart absurde Gedanken, und Kouha drückte ihn erleichtert. Augenblicklich pochte seine Schulter, doch dieses Mal floss kein Blut mehr. Und wieder verschwamm der Moment, um sich im Nichts aufzulösen. ~ „Seid gegrüßt, Ren Kouen. Es ist mir eine Ehre, Euch an diesem besonderen Tag willkommen heißen zu dürfen.“ Bereits das erste Wort der beiden Sätze ließ Koumeis Herzschlag aussetzen. Diese wohlbekannte Stimme, jetzt so unpassend förmlich und gestelzt, veranlasste ihn zum Schlottern. Nicht vor Abneigung oder Angst, sondern vor unstillbarer Sehnsucht. Was war nur mit ihr geschehen, dass sie ihren fröhlichen, unbekümmerten Ton verloren hatte? Langsam öffnete sich auch der Rest seiner Wahrnehmung: Er stand neben Kouha im Empfangssaal des kaiserlichen Palastes in Rakushou, wo Hakuren sie zu den heutigen Feierlichkeiten willkommen hieß, wie es die Tradition verlangte. Es war so falsch, seinen Cousin derart ernst sprechen zu hören. Sobald Kouen den Gruß erwidert hatte, raste Koumeis vorher kaum vorhandener Herzschlag aus heiterem Himmel los wie ein fliehendes Pferd, als hätte er es erst jetzt realisiert: In einem Wimpernschlag würde er seinem Geliebten wieder gegenüber stehen. Diese Situation erfüllte ihn mit quälender Unsicherheit. Sollte er sich freuen, oder die Begegnung fürchten? Wie würde sich Hakuren verhalten? Ebenso unbewegt wie bei Kouen oder würde er ihm durch irgendwelche verborgenen Zeichen signalisieren, dass er immer noch so unermesslich viel für ihn empfand, wie er damals unter den Brombeerbüschen beteuert hatte? „Ich grüße Euch ebenfalls, Ren Koumei.“ Der Angesprochene fuhr zusammen. Keine Zeit mehr zum Nachdenken. Zitternd, nicht nur vor Schwäche, hob er den Kopf und blickte in die tiefblauen Augen des Menschen, der ihm im Leben am wichtigsten war. Viel zu lange hatte er geglaubt, dass es seinem Gegenüber ebenso ging. Doch anscheinend hatte er sich getäuscht. Die eisige Teilnahmslosigkeit in dem sonst so offenherzigen Gesicht versetzte ihm einen Stich in die Brust. Hakuren musste ein noch viel besserer Schauspieler als er sein, um sich derart glaubhaft verstellen zu können. Der Schmerz raubte ihm beinahe den Atem. Er wusste, dass er antworten musste. Versuchte es, doch kein Ton drang aus seiner Kehle. Er konnte nichts erwidern. Am liebsten wäre er auf der Stelle zusammengebrochen und hätte nie wieder auch nur einen Muskel gerührt. Hakuren schien gar nicht zu registrieren, dass noch etwas fehlte, ging direkt zu Kouha über. Als der Saal um sie auseinanderbrach und Koumei in undurchdringliche Schwärze fiel, wollte er nur noch sterben. Warum nur hatte er diese schwere Krankheit überleben müssen, wo ihn hier ohnehin nur Leid erwartete? ~ Verblüfft fand er sich in einem festlich geschmückten Saal inmitten einer unübersichtlichen Menschenmenge wieder. Auf einem kleinen Podest stand Hakuren in traditionellen roten Hochzeitsgewändern; neben ihm eine junge Frau in einem strahlend weißen Kleid, welches sich von der in Kou gewohnten Mode ungehörig abhob. Obwohl er es nicht mitbekommen hatte, weder etwas hören, noch die Gesichter der beiden sehen konnte, wusste Koumei, dass sie nun Mann und Frau waren. Aber warum ertönten dann keine Beifallsrufe und lautstarke Glückwünsche? Plötzlich hob die Braut den Blick und ihre rötlichen Augen fanden ihn in der namenlosen Masse, ohne auch nur nach ihm zu suchen. Koumei keuchte erschrocken auf. Er blickte in das Gesicht seiner zweitältesten Schwester Koujaku, die ihm ein triumphierendes Lächeln schenkte. Aber… das war doch seltsam, nein, unmöglich! Sie schien es zu sein und irgendwie doch im Leib einer anderen zu stecken. Ihr Haar war pechschwarz, der Körper höhergewachsen und schlanker, die Gestalt einer Fremden. Doch ihre Augen starrten ihn unbarmherzig an, ihr Mund verzog sich schadenfroh und ihre Nase ragte so hoch in die Luft wie immer. Ein Dämon, der sich seine Schwester als Opfer gesucht hatte, oder ein Zufall? Koujaku hatte Hakuren immer gerngehabt. Fast so gerne wie Koumei. Wo war überhaupt seine restliche Familie? Hektisch wandte er sich um, warf den Kopf hin und her. Ohne Erfolg. Er fand sie nicht, war vollkommen alleine mit dem jüngst vermählten Ehepaar. Stand neben unbeweglichen Säulen aus Fleisch und Blut, die dennoch keinerlei Leben in sich trugen. Ohne es zu bemerken ballte er die Hände zu Fäusten. Was ging hier nur vor? Da sah er versehentlich zu Hakuren hinüber, dabei hatte er sich geschworen, ihn nie wieder anzuschauen. Diese Kälte konnte er einfach nicht noch einmal ertragen. Doch als sich ihre Augen trafen, zwinkerte er überrascht. Spielte ihm das Licht boshafte Streiche? Nun lag ein vollkommen anderer Ausdruck auf dem Gesicht des zweiten Prinzen. Merkwürdig und nicht einzuordnen. Nicht länger unbewegt von seiner Anwesenheit. Auch nicht liebevoll. Dennoch so intensiv, dass dessen scharfer Blick direkt in seine Seele zu stechen schien. Koumei erschauderte voller Unbehagen. ~ Von einem Moment auf den anderen saß er an einer riesigen Festtafel. Es regnete immer noch in Strömen, das ohrenbetäubende Prasseln der riesigen Tropfen stellte den einzigen Lärm da. Moment. Eigentlich herrschte bei derartigen Banketten stets ein unerträgliches Stimmengewirr! Doch nichts war zu hören. Lauter gesichtslose Gäste saßen regungslos auf ihren Plätzen. Einige hielten die Essstäbchen erhoben, manche tranken Reiswein oder Pflaumenlikör aus goldenen Bechern, anderen rann Bratensoße aus den Mundwinkeln. Diener und Sklaven, die eher Wachsfiguren glichen, verharrten mitten in der Laufbewegung, um den Anwesenden leere Schüsseln vorzusetzen. Schwankend erhob Koumei sich von der Bank. Unsicher machte er ein paar Schritte, deren Hall vom tosenden Regen verschluckt wurde. Keine der stummen Figuren bewegte sich, niemand zeigte eine Reaktion. Unheimlich. Zitternd taumelte er aus dem Raum, fand sich in einem unbekannten Gang wieder, irrte über unendliche Korridore, bis ihn eine grobe Hand am Kragen packte und in den Schatten einer Säule zerrte. Der Jungen wusste nicht, wie ihm geschah. Schlaff hing er im Griff der anderen Person, nicht einmal verstört, sondern einfach nur… müde. Wenn jemand ihm Schaden zufügen wollte, würde dieser es jetzt ohne jegliche Gegenwehr schaffen. Sollte er doch, was kümmerte es ihn noch? „Mei…was ist los?“, hauchte es in sein Ohr und viel zu vertraute Lippen lagen an seinem Hals, ehe er reagieren konnte. Sein Herz machte einen heftigen Satz. Wie leicht er zu beeinflussen war! Starr vor Schreck erblickte er seinen Cousin, nach dem er sich die ganzen letzten Wochen so schrecklich gesehnt hatte. Weshalb hatte er ihn grade erst erkannt? Irgendetwas stimmte nicht mit ihm, so dumpf wie er alles um sich herum wahrnahm. „H-Hakuren?“ Der Prinz rückte von ihm ab, um ihn gründlich mustern zu können. „Warum so überrascht?“ In seinen Augen leuchtete etwas, das an gleißende Sonnenstrahlen auf dem Grund eines glasklaren Sees erinnerte. Jähe Wärme durchflutete Koumeis Brust. Es war pures Glück. Erleichterung. „Ich-Ich dachte du magst mich nicht mehr!“, stieß er hervor und hielt sich sogleich für furchtbar kindisch. Die Freude, die mit dem Blut durch seine Adern schoss, ließ sich kaum mehr zügeln, am liebsten wäre er Hakuren heulend um den Hals gefallen. Diesem schien es ähnlich zu gehen, doch er strich lediglich liebevoll über Koumeis Wange und platzierte zärtliche Küsse auf seiner vernarbten Nase. Ach… wie gut es sich anfühlte, ihn wieder bei sich zu haben. Zaghaft legte er seine Arme um den anderen, hielt sich an ihm fest, um ihn nie wieder zu verlieren. Aber sogleich durchzuckte ihn ein mahnender Gedanke: Wie kam Hakuren auf die Idee, ihn hier abzufangen, als wäre nichts gewesen? Wollte er ihn wieder so schrecklich verletzen wie bei ihrer Begrüßung? Außerdem… dieser Ort… Jederzeit konnten Leute hier vorbei kommen und sie beobachten! Und der Prinz verhielt sich so, als hätten sie keinerlei Störung zu befürchten. Das konnte er doch nicht tun! Er dürfte ohnehin gar nicht in Koumeis Nähe sein, ihn gar nicht erst so sehnsuchtsvoll betrachten, schon gar nicht berühren und auf gar keinen Fall so drängend küssen! Nicht jetzt, wo er bei seiner frischverheirateten Ehefrau sein sollte… „Sie will mich nicht sehen. Sie ist unpässlich. Da siehst du mal, wie wild alle auf diese verfluchte Ehe sind“, murmelte Hakuren und drückte ihn mit seinem Gewicht gegen die Wand. So warm und schwer. „Und überhaupt… ich will sie ebenfalls nicht sehen“, fügte er dann unerwartet trotzig hinzu, als Koumei versuchte, ihn von sich wegzuschieben. Hakuren blieb an Ort und Stelle. Die gemaulten Worte passten nicht zu seinem entschiedenen Verhalten. Koumei wusste nicht mehr, was er davon halten sollte. Doch die offensichtlichen Bedenken brachen einfach aus ihm heraus: „Und jetzt brauchst du jemanden mit dem du deine Hochzeitsnacht verbringen kannst und hast dich erinnert, dass dein kleiner, dummer Cousin, den du heute das erste Mal seit einer halben Ewigkeit wieder siehst, eine gute Alternative wäre?“ Hakuren wich zurück. Er starrte ihn an, als wäre er verrückt. „Was denkst du von mir?“, fragte er mit einem Mal gekränkt, wenngleich mit einem hintergründigen Flackern in den Augen. Schlechtes Gewissen? „Ich habe dir doch immer geschrieben, aber du hast mir ja nicht geantwortet. Na ja, du warst ja krank, aber trotzdem. Geht es dir eigentlich wieder besser, Meichen?“ Der Rothaarige blinzelte verblüfft und nickte. Nie hatte er auch nur einen Fetzen von einem Brief des anderen zu Gesicht bekommen. Außerdem war er doch derjenige, der vergeblich Tauben geschickt hatte. Empört protestierte er und erntete ein ungläubiges Schnauben von Hakuren. „Irgendjemand muss die Briefe abgefangen haben!“, erkannte der Prinz kopfschüttelnd. „Aber wer sollte das tun?“ „Keine Ahnung, aber wir sollten ihm schnellstens eine Lektion erteilen!“, grollte der Ältere. Er verhielt sich so seltsam. Und dennoch. Das hier war unverkennbar sein Hakuren. Es tat so unfassbar gut, ihn endlich wieder zu erreichen, nein ihm endlich wieder gegenüberzustehen. „Ist doch mittlerweile egal“, befand Koumei und entspannte sich ein wenig, weil er langsam wieder Vertrauen fasste. Er erhielt ein weiches Lächeln. Eine lange entbehrte Regung, die auf seine Seele wie Medizin wirkte. „Tut mir leid, dass ich dich heute Morgen nicht wärmer empfangen konnte, aber ich wollte uns grade an diesem Tag nicht in unnötige Schwierigkeiten bringen“, gestand der Prinz und sah einfach nur noch traurig aus. Sein Cousin konnte dies plötzlich nachvollziehen, obwohl er vorhin so gekränkt gewesen war. Es musste schlimm sein, zu heiraten. Vor allem eine Frau, die aussah wie Koujaku, aber außer ihm schien dies niemandem aufgefallen zu sein. Egal, er stand endlich wieder dem Mann gegenüber, den er die ganze Zeit schändlich vermisst hatte und das Missverständnis zwischen ihnen schien sich grade dankenswerterweise in Luft aufzulösen. Sicherlich konnten sie ein anderes Mal noch tieferreichende Schwierigkeiten klären, jetzt wollte er nur in der Nähe des anderen sein und sie genießen. Das Gefühl, nicht einfach durch irgendeine dahergelaufene Prinzessin ersetzt worden zu sein, war unbeschreiblich erleichternd. Mit einem Mal schaute Hakuren verlegen drein. „Ich glaube ich habe noch etwas gut zu machen, nicht wahr? Komm mit in meine Gemächer, ja?“, bat er vorsichtig. Der Jüngere nickte erfreut. Er wollte fort von diesem Ort, an welchem viel zu schnell jemand unerwünschtes auftauchen konnte. Hakuren führte ihn in sein Schlafzimmer und nachdem er ihm eines seiner Nachthemden zugeworfen hatte, verblieben sie auf seinem herrlich bequemen Bett. Der Glückliche hatte jetzt gleich zwei davon. Koumei fände es toll, zwei Betten zu besitzen. Seufzend lehnte er sich an Hakuren, der sofort wieder mit dem seligen Lächeln begann. Er schien sich ernstlich über seine Anwesenheit zu freuen, Koumei konnte es noch gar nicht richtig glauben. Ihn selbst berauschte diese Nähe regelrecht. Hakuren umfasste fast schüchtern seine Hände, als wäre er sich nicht sicher, ob sein Cousin es zulassen würde, wo er sich von seiner Überraschung erholt hatte. Doch Koumei wäre niemals eingefallen, sie ihm zu entziehen. Er wusste nicht, wann er sich das letzte Mal so vollständig gefühlt hatte. Es musste eine ganze Weile her sein. Sie sprachen wenig, der Prinz erzählte nur wortkarg von seiner neuen Frau, doch er hatte noch keine nennenswerte Gelegenheit gehabt, sich besser mit ihr bekannt zu machen. Also blieb es bei einigen vagen Sätzen. Irgendwie stimmte Koumei dieser Umstand milder, es nahm ihm das Gefühl an zweiter Stelle zu stehen. Hakuren liebte ihn immer noch, das hatte er ihm deutlich gemacht und beteuerte es nun immer wieder und wieder, bis der Rothaarige es fast nicht mehr hören konnte. Der Prinz zog ihn auf seinen Schoß, lehnte sich mit dem Rücken in seine Kissen und streichelte ihn behutsam, unternahm aber keine weiteren Annäherungsversuche, als müsste er sich Koumeis Zutrauen erst wieder erarbeiten. Dieser lehnte seine Stirn an dessen Brust und genoss die liebevollen Berührungen. Er hatte sich so sehr nach ihnen gesehnt und fast vergessen, wie gut sie sich anfühlten. Der vertraute Geruch tat sein Übriges, um ihn einzulullen. Schnell kam es ihm vor, als hätten zwischen ihnen nie diese traurigen Missverständnisse gestanden. „Bleib bei mir, bitte“, meinte Hakuren irgendwann und gab ihm einen Kuss, der schon sehr überzeugend war. Koumei lächelte und schmiegte sich glücklich an ihn. „Wenn du das befiehlst.“ Er fühlte sich so wohl und sicher, wie schon lange nicht mehr. Sein Cousin nickte fest entschlossen. „Ja, das werde ich. Anders kann ich es hier kaum mehr aushalten. Du weißt nicht, wie sehr ich es bereue, dich an deinem Geburtstag nicht einfach entführt zu haben. Wir hätten irgendwo hingehen können, wo uns niemand gefunden hätte. Dann hätte sich auch niemand an unserem Beisammensein gestört.“ Der Jüngere wusste nicht, was er antworten sollte. Wäre diese Prinzessin doch nie hier her gekommen, dann hätte er Hakuren für immer für sich alleine gehabt und sie müssten sich keine lächerlichen Wunschszenarien ausmalen. „Woran denkst du?“, fragte Hakuren und zwang ihn, den Blick zu heben. Die Augen des Prinzen schienen vor lauter Gefühlen beinahe überzuquellen. Doch das Bedauern verdrängte jegliche andere Empfindung in ihnen. „Ich habe einen Fehler gemacht, nicht wahr?“, bekannte er. „Ich hätte dich nicht dazu überreden sollen, mit mir zu schlafen. Das war das dümmste, was ich tun konnte. Dabei habe ich ganz genau gewusst, dass du es nicht möchtest, ist doch so. Du hast geweint und das tust du nur verdammt selten. Du hast nur nachgegeben, weil ich dich dazu gedrängt habe! Ich hätte dir mehr Zeit lassen sollen, ein paar Wochen mehr, aber die hatte ich nicht. Ich bin so dumm und-“ „Schon gut, Ren.“ „Du tust immer so, als wäre nichts gewesen. Warum?“, fragte er und sah so betroffen und wütend auf sich selbst aus, dass man nur Mitleid empfinden konnte. Koumei zuckte die Schultern und drückte sich dichter an den anderen. Er mochte es nicht, wenn Hakuren sich Selbstvorwürfe machte, das passte nicht zu ihm. Er sollte lieber dämlich vor sich hin grinsen und seine gute Laune auf sein Umfeld übertragen, wie er es gewöhnlich zu tun pflegte. „Es ist vorbei, oder nicht? Du kannst ohnehin nichts mehr daran ändern.“ „Und das bedaure ich so sehr! Ich habe immer nur meine eigenen Bedürfnisse im Blick und das tut mir so unerträglich leid!“, presste Hakuren gepeinigt hervor. „Verständlich“, seufzte Koumei, der nicht wusste, was er erwidern sollte. Zu sagen, dass es ihm nicht leidtun musste, wäre wohl eher gelogen gewesen. Letzten Endes fand er Hakurens Schuldgefühle allerdings einfach nur hinderlich. Sie konnten sich ein andermal aussprechen. Sowieso war es viel schlimmer, dass sie sich wochenlang nicht mehr gesehen hatten. Als er krank gewesen war, hätte er den Prinzen so sehr gebraucht, war so traurig gewesen, dass er an diesem Morgen alleine und verlassen aufgewacht war. Aber er wollte heute Abend nicht mehr reden. Konnte es nicht mehr. Dieser Tag war so seltsam gewesen… doch jetzt… jetzt war er hier bei Hakuren und alles war wieder gut. Zumindest für den Moment. Die beiden verbachten gefühlte Stunden miteinander, die ganze Zeit über in der gleichen Position, obwohl diese nicht sonderlich angenehm war. Es kümmerte keinen der beiden, zu schön war dieses Wiedersehen. Der Prinz raunte ihm seine üblichen Liebesschwüre entgegen, welche der andere erstaunlich freudig entgegen nahm. Was sollte er auch anderes tun, er lag bereits im Halbschlaf in seinen Armen. Doch plötzlich donnerte ein rotbrauner Schatten in den Raum. Der Prinz und Koumei zuckten voller Schrecken zusammen. Ein riesiger Blitz aus geballter Wut und Energie baute sich bedrohlich vor ihnen auf. Unter schrecklichem Brüllen packte er Koumei im Nacken. Ein heftiger Ruck ging durch seinen Körper, dann flog er regelrecht durch die Luft. Der Aufprall am Boden sandte dumpfe Schmerzen durch seinen Leib, Blut strömte aus der Bisswunde, welche Kouha ihm am Morgen hinterlassen hatte und die Qual nahm ihm den Atem, als würde er gleich ersticken. Er sah nur noch Hakuren, hörte seine aufgebrachten Rufe und erkannte seinen Vater, der sich zornesrot im Zimmer aufgebaut hatte, bevor die Welt vor seinen Augen in finstere Schlieren zerfaserte. ~ *~* Kapitel 30: Sticheleien ----------------------- *~* „Mein Herr!“ Der überraschte Aufschrei holte Koumei ruckartig aus dem Reich der Träume zurück. Orientierungslos  tastete er nach seiner Decke, um sie fortzuschieben. Doch er fand sie nicht. Mühevoll hob der Prinz seine Augenlider und nahm die pralle Mittagssonne wahr, welche auf den hölzernen Dielen verschlungene Muster zeichnete. Er starrte direkt ins grelle Licht, wie unangenehm! Interessant, er hatte gar nicht dermaßen lange geschlafen, wie erwartet. Welch eine Verschwendung von Ruhezeit, dass er so plötzlich aufgewacht war! Gähnend streckte er seine steifen Knochen. Sehr gemein, dieses Ziehen, als hätte er sich sportlich betätigt… undenkbar. Irgendetwas war da gewesen… in seinem Schlaf… seinem Traum… er konnte sich nicht recht entsinnen… Dann stieß er einen Laut des Erschreckens aus, als er der braunen Haarsträhnen gewahr wurde, die ihm ins Gesicht hingen. Fast wie ein buschiger Staubwedel. „Chu-Chuu'un?!“, brachte er überrumpelt hervor und erblickte den zerzausten Kopf seines Vasallen, der sich besorgt über ihn gebeugt hatte. „Was tust du hier?“ Herrje, er lag doch grade im Bett, was gab es für einen Grund, sich derart unheimlich über ihn zu beugen? Obwohl… wie eine Bettstatt fühlte sich das, worauf er lag nicht grade an. Außerdem schmerzte sein Rücken unleugbar. Unsicher tastete er über den harten Untergrund. Ohne Zweifel war es der Boden. Aber warum…? „Ihr seid wohl aus dem Bett gefallen“, klärte Chuu'un ihn gnädig auf. „Ich dachte zugegebenermaßen eher, das Haus würde zusammenbrechen, so sehr wie es geknallt hat.“ Oh, tatsächlich. Da musste Koumei sich über zerschundene Glieder nicht weiter wundern. Verwirrt kratzte er sich am Hinterkopf. Aus diesem riesigen Himmelbett zu fallen war eine Kunst für sich. Sie bedurfte schon einer gewaltigen Portion Ungeschick oder einfach nur sehr viel Unglück. Bei ihm konnte es durchaus ersteres sein. „Falls Ihr euch irgendeine Prellung oder dergleichen zugezogen habt…“, begann der Bogenschütze. „Nein, nein“, gähnte der Rothaarige und rappelte sich ungeschickt in eine sitzende Position auf. Es schmerzte stärker, als erwartet, aber er ignorierte das geflissentlich. Wäre ja noch schöner, wenn man sich beim Schlafen das Genick brach! Na gut es würde wohl zu ihm passen und sicherlich würde eines Tages auf diese bedauerliche Weise sterben… Da war es sogar weniger peinlich, in sein eigenes Schwert zu stolpern. Außerdem ging es ihm sonst bestens! Zwar pochte jeder Fleck an seinem Körper, doch nach einer Verletzung fühlte es sich nicht an. Grade versuchte er nochmals, sich an seinen seltsamen Traum zu erinnern, doch der andere Mann fuhr ihm störend dazwischen: „Eigentlich bin ich nur in der Nähe gewesen, weil ich Euch eine wichtige Botschaft zu überbringen habe: Euer kaiserlicher Bruder möchte Euch sehen. Ihr sollt Euch umgehend in den Speisesaal begeben. Das bedeutet, sobald Ihr wieder einigermaßen vorzeigbar seid.“ Der Prinz stöhnte ungehalten. Hatte Kouen ihm nicht diesen Tag frei gegeben? Weshalb besaß er die Unverschämtheit, ihn jetzt zu sich zu befehlen? Aber ablehnen konnte er die Anweisungen seines Bruders auch nicht. Eigentlich wollte er das ja auch gar nicht, er hatte ihm schließlich die Treue geschworen und meist gab Kouen keine widersprüchlichen Anleitungen. Außer heute. Dennoch, seit dem letzten Mal wurde Koumei mulmig bei dem Gedanken mit ihm alleine im Raum zu sein. Hoffentlich stand nicht wieder eine Mahlzeit mit anschließender Schlägerei zur einseitigen Belustigung bevor. Sicherheitshalber würde er Chuu'un in seiner Reichweite behalten, wie er es bei den letzten Besprechungen gehandhabt hatte. Bevor die beiden Männer sich zu der befohlenen Audienz begeben konnten, durfte Koumei sich mal wieder von dem Vasallen zurechtmachen lassen. Im Nachthemd bei Kouen aufzuschlagen käme einem Selbstmord gleich. Während Chuu'un ihn umkleidete und schließlich die wildgewordenen Haare bürstete, wobei er wie üblich an die Grenzen seiner Künste stieß, versuchte Koumei die verworrenen Traumfetzen wieder zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzusetzen. Er wusste nur noch mit Sicherheit, dass er Hakuren gesehen hatte und sein Vater ihn durch dessen Gemächer geworfen hatte wie eine räudige Katze. Danach war er auf dem sprichwörtlichen Boden der Realität wieder zu sich gekommen. Hätte er den Traum daheim in Rakushou gehabt, hätte er sich im gleichen Raum, der ihm im Schlaf erschienen war, wiedergefunden. Da hätte dieses Hirngespinst wenigstens Sinn ergeben. Die Gemächer des zweiten Prinzen waren und blieben eben die Gemächer des zweiten Prinzen, ganz egal, ob man Hakuren oder Koumei hieß. Bei den Rukh, weshalb dachte er nach all den Jahren immer noch ständig an seinen Cousin? Das war nicht normal. Nicht in diesem Maße und nicht mit diesem niederringenden Bedauern. Diese Sehnsucht war nicht nur unvorstellbar lästig, nein, sie erschöpfte ihn und nahm ihm jegliche Lebensmotivation, vor allem wenn er ohnehin überarbeitet war und sich nichts mehr wünschte, als endlich in sein Bett zu gelangen und für immer und ewig zu schlafen. Scheinbar war sein Verdruss nicht zu übersehen. „Ein Albtraum?“, fragte Chuu'un unbewegt. „Könnte man wohl so sagen, ich kann mich bedauerlicherweise nicht mehr daran erinnern“, schnaufte Koumei und rieb sich die Augen. Der Schlaf war wirklich nicht so erholsam wie erhofft gewesen. „Dann wird Euer Traum wohl auch keine tiefere Bedeutung gehabt haben. Falls Träume diese überhaupt besitzen. Ich habe noch nie etwas geträumt, das mir in irgendeiner Hinsicht im Leben weitergeholfen haben könnte. Manchmal schenken sie einem ein wenig Ruhe und Beruhigung, allerdings ebenso oft das Gegenteil davon.“ „Gut beobachtet“, murmelte der Prinz gähnend und gab sich ganz den behutsamen Bürstenstrichen hin. Die angenehmen Berührungen auf seiner Kopfhaut besänftigten ihn. Anscheinend hatte Chuu'un dies beabsichtigt. „Wisst Ihr noch, welche Personen in Eurem Traum aufgetreten sind, Herr?“, erkundigte er sich so nebensächlich, dass Koumei schon wusste, dass der Bogenschütze eine begründete Vermutung hegte. Diesbezüglich war der Rothaarige zugegebener Weise nicht schwer zu durchschauen. „Hakuren und unser Kaiser“, sagte er deshalb ohne sich zu zieren. Lügen hätten ohnehin keinen Sinn, er wusste, wann sie vollkommen unangemessen waren. „Oh, das ist mit Sicherheit schwer zu ertragen.“ „Wie gesagt, ich bin mir nicht sicher. Mein Vater hat mich wie einen Ball durchs Zimmer geworfen, das ist das einzige, woran ich mich tatsächlich erinnern kann.“ Der Vasall seufzte. Wahrscheinlich hatte er keine Lust, sich irgendwelche surrealen Geschichten von seinem, sich noch im Halbschlaf befindlichen, Herrn anzuhören. Stattdessen versuchte er sich an einem vorsichtigen Ratschlag: „Kann es sein, dass Ihr mal wieder etwas menschliche Nähe und Gesellschaft notwendig habt? Ehrlichgesagt gab es dafür in letzter Zeit vielerlei Anzeichen. Ihr wart lange nicht mehr unter Leuten. Vielleicht solltet Ihr Euch in die Stadt Balbadd begeben. Das würde Euch sicher auf andere Gedanken und in andere Gesellschaft bringen, als Ihr sie täglich um euch habt. Wie in jeder größeren Stadt gibt es auch hier sicherlich Lokale, die Euren kaiserlichen Ansprüchen gerecht werden könnten.“ Was für eine herausragende Idee! Natürlich würde der zweite Prinz sich niemals freiwillig aus dem Haus begeben. Schon gar nicht unter die sengende Wüstensonne oder das unruhige Volk des Landes. Chuu'un kam wirklich auf abwegige Gedanken. Welche Gesellschaft hatte Koumei schon nötig? Hier im sicheren Anwesen gab es wahrhaft genügend Menschen. Aber wenn das Publikum hier im Haus seinem Vasallen missfiel, konnte es nur einen Grund dafür geben… „Immer noch wegen Judar beleidigt?“, brummte Koumei belustigt. Wenn der Diener ihn ins Kreuzverhör nahm, musste er ebenfalls mit Angriffen rechnen. Zur Antwort ließ Chuu’un klappernd die Bürste fallen. Schnell beugte er sich an Koumeis Schulter vorbei und griff nach dem wichtigen Utensil. Seine Hände zitterten unmerklich. Der Prinz konnte ein schadenfrohes Glucksen kaum verbergen. Oh je, das sollte einem gestandenen Wächter nicht passieren. Ebenso unangemessen war Neid auf seinen Herrn und die Gesellschaft, die er sich angeblich aussuchte. Wahrscheinlich waren ihm obendrein die Gesichtszüge entgleist, doch das konnte Koumei nicht feststellen, da er ja mit dem Rücken zu Chuu'un saß. „Und?“, hakte er unbarmherzig nach. Er hatte nicht vergessen, welch einen Aufstand sein Vasall wegen Judar gemacht hatte. Außerdem fand er es nicht sonderlich respektvoll, dass er ihm unterstellte, wer-weiß-was mit dem nervtötenden Magi angefangen zu haben. Dabei hatte Koumei ihn nicht angerührt. Na gut, er hatte ihn vielleicht seiner Kleidung entledigt -wie hatte er dafür nur die notwendige Energie aufbringen können?- aber eigentlich war das kein Verbrechen. Schließlich unterschied sich Judars Anblick im halb entkleideten Zustand nicht großartig von seinem bekleideten Aussehen. Diese unansehnlichen Fetzen, die grade mal spärlich seine Brust bedeckten! Da konnte er auch gleich auf Kleidung verzichten. Koumei wunderte sich ernsthaft, weshalb der Priester die edlen Seidengewänder aus Kou gegen solch einen billigen Aufzug eingetauscht hatte. Um mit seinen Muskeln anzugeben, die ihm niemals die Kraft verliehen, über die er laut ihrem Anblick verfügen sollte? Koumei runzelte missbilligend die Stirn bei diesem Gedanken. Mittlerweile fragte er sich ohnehin immer verständnisloser, falls er überhaupt an diese Nacht zurückdachte, was in ihn selbst gefahren war. Offenbar hatte ihn dieser niveaulose Aufzug tatsächlich kurzzeitig in den Bann gezogen. Wie traurig. Er musste sich seinem schlaffen Wesen völlig entgegengesetzt verhalten haben, genau wie damals, als er sich angeblich schon einmal, allerdings betrunken, auf Judar gestürzt hatte. Aber sowohl vor einem Jahr,  als auch vor ein paar Wochen war nichts Nennenswertes zwischen ihnen geschehen, da hatte grade Chuu'un keinerlei Grund, neidisch zu sein. Auch wenn Koumei das untrügliche Gefühl hegte, dass Judar die Angelegenheit vor einem Jahr ganz anders wahrgenommen hatte. Der minderbemittelte Priester vertrug wirklich keinen Tropfen Alkohol. Dann wurde er äußerst aufdringlich. Vielleicht ebenso anziehend, nur verfügte Koumei, wenn er seinerseits betrunken war, über enorm wenig Ausdauer im Leute-anziehend-finden. Lieber legte er sich an Ort und Stelle zur Ruhe, es sei denn, dieses Verhalten würde dem Ansehen der Familie Ren besonders stark schaden. Wenn dieses Kind von Magi dann im Rausch versuchte, anderen, aber vor allem sich selbst, die Kleider vom Leib zu reißen, hatte der zweite Prinz längst genug. Natürlich, ein bisschen Nähe war schön und zur Abwechslung ganz nett - es gab nicht allzu viele Leute im Palast, die sie mit ihm teilen wollten, um ehrlich zu sein gar keine - doch dann wurde er schnell so unerträglich müde, dass er nur noch Sehnsucht nach einem weichen Lager verspürte. Der einzige, für den er den Schlaf je freiwillig aufgeschoben hatte und es auch heute noch tun würde, war Hakuren gewesen. Da konnte sein zauberndes Gegenüber noch so verrückt toben und ihm die Armbänder von den Handgelenken reißen, wie es wollte. Wenn es sich dann das Steißbein an einem umgefallenen Baumstamm stieß und sich am folgenden Tage die wildesten Fantasien zusammenreimte, war es selbst schuld. Solch ein bedauernswerter, krakeelender Affe. Nun gut, Koumei war sich bewusst, dass er dieses närrische Verhalten mit seinem anfänglichen Entgegenkommen selbst angeschürt hatte, was er am liebsten verdrängen würde. Doch eigentlich war es erheiternd, dass Judar ihn allein am nächsten Morgen nach seinem vollständigen Erinnerungsverlust für alles verantwortlich machte. Noch amüsanter fand er jedoch, dass der Priester augenscheinlich immer noch annahm, dass er dessen wehrlose Situation schamlos ausgenutzt hatte. Endlich mal eine Geschichte, die von dem üblichen Bild des schlaffen Zottels abwich. Dabei war er dafür wirklich nicht der Richtige. Viel zu anstrengend! Und er hasste es abgrundtief, wenn er sich selbst anstrengen musste. Außerdem lag die Betonung auf wehrlos, denn eigentlich hatte sich eher Koumei wehrlos gefühlt und war froh, dass er irgendwann dank Dantalion, trotz seines benebelten Zustandes, hatte Reißaus nehmen können. Der Zottel konnte zwar nicht leugnen, dass es ihm anfangs mehr als nur gefallen hatte, aber beschwipste Gesellschaft, die auch noch unangenehm zudringlich wurde, hatte er nicht nötig. Schließlich hatte er den Magi lediglich von der Feier entfernen wollen, um einer Katastrophe vorzubeugen. Wenn dieser das gleich falsch interpretierte oder zu weggetreten war, konnte der zweite Prinz auch nichts daran ändern, zumal Koumei selbst unverhältnismäßig viel Pflaumenwein getrunken hatte, was seinem Urteilsvermögen nie zu Gute kam. Tja, herrlich waren Judars falsche Vermutungen schon. Deshalb hatte er sie auch nie richtig gestellt, sondern ihn in seinem Irrglauben belassen. Ein bisschen Scheu konnte Judar nicht schaden, vor allem da er Koumei ansonsten für erbärmlich und schlapp hielt. Man konnte es ihm nicht mal verübeln, aber selbst der gleichmütige zweite Prinz hatte manchmal genug von den immerwährenden Beleidigungen des schwarzen Magi. Irgendwann sollte er vielleicht mit der Wahrheit herausrücken, aber noch verspürte er nicht ansatzweise das Verlangen danach. Das beste an der ganzen Sache aber war, dass Chuu'un scheinbar genauso schlecht von ihm dachte. Und ja… vielleicht hätte er sogar recht gehabt, wenn Koumei vor ein paar Wochen im Eifer des Gefechts nicht urplötzlich eingeschlafen wäre. Er fürchtete sich beinahe ein wenig vor dieser unberechenbaren Seite, die dort an den Tag gelegt hatte. Wirklich bedenklich, hoffentlich entwickelte er sich nicht noch zu einem hyperaktiven Etwas wie Judar, das wahllos die Palastbewohner belästigte! Apropos Judar, Chuu'un hatte still und heimlich seine Arbeit wieder aufgenommen, ohne Koumeis Frage zu beantworten. Das war ja eigentlich Antwort genug, aber der Prinz würde zu gerne einmal hören, was der Vasall zu seiner Verteidigung zu sagen hatte. „Chuu'un…“, mahnte er und dann gähnte er heftig. „Weshalb sollte ich neidisch sein?“, entgegnete der andere bewundernswert gefasst und drapierte Koumeis Zopfband neu. Natürlich hatte er nicht vergessen, worüber sie grade eben gesprochen hatten. Aber auf die Masche des Ignorierens fiel sein Herr nicht herein. „Vielleicht weil du unseren Hohepriester für unausstehlich hältst und der Ansicht bist, dass er kein angemessener Umgang ist. Möglicherweise gibt es da allerdings noch einen tieferliegenden Grund?“ Seine letzte Vermutung war gemein, nahezu boshaft, aber sie trug sicherlich einiges zu Chuu'uns Ablehnung gegen Judar bei. Vielleicht sollte er allerdings auch um seiner selbst willen nicht noch mehr Salz in eine alte Wunde reiben. Der Vasall erstarrte. „Red‘ keinen Unsinn“, blaffte er auf einmal. „Du hast grade das erste Mal seit Wochen meine Anweisung befolgt und duzt deinen Herrn. Das ist ein sehr zufriedenstellender Fortschritt“, lobte Koumei, wobei er das unleidige Thema fallen ließ. Andere in Verlegenheit bringen konnte er auch, da musste er nicht auf uralte Verfehlungen zurückgreifen, sondern konnte sich auf allgegenwärtige Probleme fokussieren. War auch besser für ihn selbst… Ja, er konnte sich gegenüber anderen ganz gut behaupten. Wenn er wollte sogar deutlich besser als Chuu'un. Schließlich war das auch die Aufgabe eines Prinzen, der sich mit Politik und Länderstreitigkeiten abplagen musste. Nicht, dass er sich mit Kouen messen könnte, wenn er vor einer Menschenmenge stünde, doch mit einzelnen Personen kam er bestens zurecht. Sofern er nicht allzu müde war. „Ich weiß, dass ich Euch meist nicht anrede, wie Ihr es wünscht, Herr. Aber es ist einfach merkwürdig und unsittlich, sich mit seinem Herrn und dem zweiten Prinzen zu unterhalten, als wäre er der engste Freund. Und es tut mir aufrichtig leid, auf Eure Provokation eingegangen zu sein.“ Da war sie wieder: Die Eismauer, welche sämtliche Emotionen sicher wegsperrte. Nicht einmal die Hitze Balbadds schaffte es, sie zum Schmelzen zu bringen. Koumei zuckte die Achseln. Sollte Chuu'un denken was er wollte. Von ihm aus konnte er auch gerne neidisch auf Judar sein, denn es gab nichts, auf das er wirklich hätte neidisch sein können. Somit musste er sich auch keinerlei Sorgen machen und sich verhalten wie eine beleidigte Prinzessin, die es nicht fertig brachte, über ihre Probleme zu sprechen. Fundierter Neid hätte den Prinzen vielleicht mehr berührt, aber dieses kleingeistige „Theater“ falls man überhaupt davon sprechen konnte, hielt er für vollkommen unangebracht. Und immer hinter dieser „Denkt an Eure Ehre, was wenn die Leute reden?“-Fassade. Irgendetwas stimmte mit dem Kerl doch nicht! „Ihr seid übrigens bereit“, befand Chuu'un plötzlich. „Hervorragend“, entgegnete Koumei knapp und erhob sich ächzend. Der Boden war nicht freundlich mit ihm umgesprungen.   *~*     Kapitel 31: Todesnachricht -------------------------- *~* Die Audienz im Speisesaal verlief überaus unerwartet: Kaum hatte Koumei einen Fuß über die Schwelle gesetzt, erblickte er neben Kouen seine jüngste Halbschwester Kougyoku. Verwundert warf er einen Blick auf das Mädchen, welches nervös an seinen weiten Kleiderärmeln herumnestelte und von einem Bein aufs andere trippelte. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass Kouen mit ihm alleine sprechen wollte. Anscheinend hatte er falsch gedacht, sein Bruder war schwer zu durchschauen. Dann runzelte Koumei unbehaglich die Stirn. Irgendetwas an der Atmosphäre im Raum gefiel ihm nicht. Sie hing angespannt in der Luft, wie eine schwarze Gewitterwolke, welche nur darauf wartete, ihre nasse Ladung über dem Land auszuspeien. Seine Augen wanderten von der achten Prinzessin hinüber zu seinem älteren Bruder. Kouen wirkte heute erschreckend alt. Seine Stirn lag ebenfalls in Falten und auf einmal erkannte man in aller Deutlichkeit, dass auch er in den letzten Tagen wenig geschlafen hatte. Die verkniffene Miene und die verzogenen Mundwinkel zusammen mit den rotflackernden Augen machten Koumei beinahe Angst. Sofort wusste er, dass sein Bruder tatsächlich einen guten Grund gehabt hatte, anscheinend  alle in Balbadd verbliebenen Geschwister samt Vasallen zusammen zu trommeln. So waren es ihrer immerhin drei. Kouha, Hakuei und Hakuryuu hatten anderweitig zu tun und die sechs anderen Schwestern lebten seit langem in fernen Ländern mit ihren hochrangigen Ehemännern. Aber auch so würde es wohlmöglich anstrengend werden. Hinter Kougyoku reckte Koubun Ka stolz den Kopf. Dieser machtversessene Mann trieb es immer zu weit. Neben Kouen standen Seishuu Ri, der dickliche Gaku Kin, der löwenähnliche Kokuton Shuu und Shou En, dessen Körperbau stark an einen Drachen erinnerte. Die Hausleute seines Bruders waren so groß, dass sie beinahe an die Decke stießen und jeder Beobachter sich automatisch fragte, wie sie wohl durch die Türen im Gebäude passten, die nicht derart breit und hoch waren, wie das Eingangsportal. Die vier gaben meistens Ruhe, lediglich Seishuu ließ ab und an ein paar dumme Kommentare hören, für die sich der Schlangenmann jedoch sofort selbst schämte. Wie Chuu'un mit so einem unbedachten Draufgänger befreundet sein konnte und weshalb Kouen ihn als Vasallen duldete und scheinbar schätzte, blieb für Koumei seit seiner Kindheit ein Rätsel. Aber hier ging es eindeutig nicht um die Vasallen, das konnte jeder unwissende Slumbewohner dem finsteren Ausdruck auf Kouens Gesicht entnehmen. „Setzen wir uns“, gebot er mit auffällig rauer Stimme, noch heiserer, als am Morgen. Irgendetwas schien ihn sehr zu bedrücken. Koumei riskierte einen prüfenden Blick zu Kougyoku, doch diese wirkte genauso ahnungslos wie er, zitterte aber beinahe unter der negativ geladenen Atmosphäre. Wie so oft verspürte er Mitleid mit ihr, vielleicht weil er in ihrer Unsicherheit einen Teil seines früheren Ichs wiedererkannte. Als Chuu'un ihm den Stuhl vom Tisch wegrückte, damit er darauf Platz nehmen konnte, war Koumei sehr angespannt. Die Nachricht, die sie gleich ereilen würde, musste denkbar schlecht sein. Das Schaben von zwei weiteren Stühlen ertönte. Dann saßen die drei Geschwister an der gewaltigen, leeren Tafel. Verlegen schielte Kougyoku zu Koumei hinüber, der sich Mühe gab, seinen düsteren Blick um ihretwillen ein wenig aufzuhellen, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. Schlafmangel trug nicht grade zu freundlichem Aussehen bei. Endlich räusperte sich Kouen, der am Kopf des langen Tisches thronte. „Soeben habe ich eine Botschaft aus unserer Heimatstadt erhalten“, begann er. Seine Grabesstimme ließ die beiden anderen erschaudern, während die Vasallen fragend von einem zum anderen sahen. Der erste Prinz fuhr unterdessen unbewegt fort: „Die Kaiserin schreibt, dass unser Vater überraschend gestorben ist-“ „Was?!“, piepste Kougyoku hysterisch dazwischen. Auch Koumei sog erschrocken die Luft ein. Kouen besaß keinerlei Sinn für das schonungsvolle Überbringen schlechter Nachrichten. Eigentlich war es kein großer Schock, Koumei wunderte es nicht allzu sehr, dass sein kränklicher Vater plötzlich verstorben war, aber dennoch… die Neuigkeit kam trotzdem unerwartet. Nicht, dass er in der Lage wäre, angebracht um diesen tyrannischen Vater zu trauern. Nichtsdestoweniger traf ihn diese Nachricht erstaunlich schwer. „Sind dir die näheren Umstände bekannt?“, fragte er seinen Bruder, äußerlich bemerkenswert gelassen, während in seinem Inneren bereits die Gedanken tobten. Hätte er nicht verzweifelter sein müssen? „Offenbar litt er in der vergangenen Zeit häufiger unter unerklärlichen Krankheitsschüben und Schwächeanfällen, das ist das einzige, was ich weiß.“ Kougyoku schüttelte sich. „Aber…Bruder Kouen… das ist ja schrecklich!“ „Es ist sehr bedauerlich. Vater verfügte nie über eine gute Gesundheit. Ebenso bedenklich ist jedoch, dass das Kaiserreich Kou nun ohne Regenten dasteht. Unsere verehrte Mutter-“ Stiefmutter, ergänzte Koumei im Geiste entschieden. „- die Kaiserin tut momentan ihr Bestes, um die dringendsten Angelegenheiten zu regeln. Natürlich lautet ihr Befehl, dass alle kaiserlichen Nachfahren unverzüglich zum kaiserlichen Palast in Rakushou reisen. Demzufolge solltet ihr das Nötigste vorbereiten lassen.“ Herrje, eine Trauerfeier für den Kaiser steht an. Wie anstrengend und unangenehm. Die Kaiserinwitwe wird einen Heidenaufstand anzetteln. Dass ihr Mann gestorben ist, wird sie sicher auf dem Falschen Fuß erwischt haben. Jetzt sitzt sie nicht länger am Hebel der Macht. Kouen wird den Thron erben, so ist es festgeschrieben. Was er nun denken mag? Ob er sich über diesen Aufstieg freut? Hoffentlich ergeben sich da keine Probleme… „Koumei?“, brummte Kouen rau. Sofort schreckte der Angesprochene auf. „W-was ist, mein Bruder und König?“ Er erhielt keine Antwort. „Kougyoku… könntest du dich dann für die Reise vorbereiten?“, bat Kouen stattdessen, doch eigentlich war es mehr ein ungewöhnlich freundlicher Befehl. Mit einem verkrampften Nicken und ungewöhnlich wässerigen Augen erhob sich die Prinzessin vom Tisch. „Bruder, lass sie doch noch ein wenig bleiben“, raunte Koumei, dem die Blässe in dem Gesicht seiner jungen Schwester nicht entgangen war. Doch der andere wartete stoisch, bis Kougyoku und Koubun Ka verschwunden waren. Als die Tür ins Schloss fiel, bedeutete er den restlichen Vasallen, ihnen ein wenig Freiraum zulassen. Während die fünf Männer gehorsam in die entfernteste Ecke des Raumes traten, ergriff Koumei das Wort: „Du könntest ein wenig umsichtiger mit ihr sein. Sie wirkt sehr verstört von dieser Neuigkeit, die du so emotionslos vorgetragen hast. Ehrlichgesagt kommt das alles ein wenig unerwartet.“ „Todesnachrichten sind meist unerwartet“, erwiderte der Ältere nüchtern und ballte seine kräftigen Hände zu Fäusten. Entgegen seiner gefassten Rede wirkte seine Körperhaltung äußerst betroffen. „Ich denke nicht, dass es bei unserem Vater angebracht wäre, in ein glorifizierendes Wehklagen auszubrechen. Das wäre nur Heuchelei.“ Koumei nickte verständnisvoll. Kouen sprach genau das aus, was er dachte. Dann fragte der Jüngere zögerlich: „Und du? Du bist jetzt praktisch der neue Herrscher über ein machtvolles Reich. Oder wirst es bald werden. Glaubst du, du kommst damit zurecht, mein königlicher Bruder?“ Für einen Moment flackerte Dankbarkeit für diese vertrauliche Frage und das unausgesprochene Angebot eines Zuhöreres in Kouens Blick auf, dann erlosch der Funke wieder. „Was bleibt mir für eine Wahl?“, raunzte er plötzlich abwehrend. Wie gewohnt. Also konnte die Botschaft ihn nicht vollkommen aus der Bahn geworfen haben. Dann allerdings sagte er etwas, dass Koumei schaudern ließ: „Es ist schon verrückt. Vor zehn Jahren lag der Thron in unerreichbarer Ferne für uns beide. Jetzt stehe ich kurz davor, ihn zu übernehmen. Ist es nicht grausam, dass das Schicksal dafür erst unsere halbe Familie auslöschen musste?“ Seine knurrende Stimme wurde mit jedem Wort leiser. Normalerweise hielt es sich bei Kouen eher andersherum. Bestürzt starrte Koumei auf seine verschränkten Hände, in denen er den schwarzgefiederten Fächer drehte, den ihm Hakuren einst geschenkt hatte. Das Schicksal kannte keine Gnade, aber das wussten sie ja bereits. Es machte ihm zu schaffen, seinen großen, starken Bruder auf einmal so betroffen zu sehen, obwohl er anfangs so ungerührt dahergeredet hatte. „Ich weiß nicht einmal, ob es klug ist, das Erbe unseres Vaters als neuer Kaiser von Kou anzutreten“, gestand Kouen plötzlich. „Was sagst du da?“, rief Koumei entgeistert. Wollte sein Bruder etwa vor seiner Bestimmung, seiner Pflicht, davon laufen? Das durfte nicht sein! Schlagartig wirbelte Chuu'un am anderen Ende des Saales herum. Der Schrei seines Herrn alarmierte ihn. Erst als er sich sicher war, dass seine Hilfe nicht erwünscht war, drehte er sich wieder um, woraufhin Seishuu irgendeinen unhörbaren Kommentar machte. Es musste eine der üblichen Dummheiten sein. Koumei konzentrierte sich wieder auf seinen Bruder. „Gyokuen macht mir Sorgen“, murmelte Kouen und raufte sich die Haare. „Manchmal frage ich mich, besonders jetzt, nach dem überraschenden Krankheitstod unseres Vaters, ob das Leben des ersten Kaisers damals wirklich von namenlosen Aufrührern genommen wurde, oder…“ „Ob sie damit zu tun hat, nicht?“, raunte Koumei, der dicht an seinen Bruder herangerutscht war, um ihm besser zuflüstern zu können. So hielten sie es auch oft bei wichtigen Versammlungen. Aus irgendeinem Grund verunsicherte es Außenstehende immer, wenn die kaiserlichen Brüder hinter vorgehaltener Hand - beziehungsweise Fächer - Informationen austauschten. Kouen nickte stumm. Ja, Gyokuen machte sie beide stutzig. Schon Hakuren hatte damals von dem angeblich veränderten Veralten seiner Mutter berichtet. Und dann war er kurzdarauf gestorben. Verbrannt. Gemeinsam mit Hakuyuu und ihrem mächtigen Vater. Lediglich ihr Cousin und Stiefbruder Hakuryuu hatte es lebendig aus der tödlichen Falle des in Flammen stehenden Hauses heraus geschafft. Was für ein seltsamer Zufall. „Was immer auch geschieht, wir dürfen uns diese Frau nicht zum Feind machen“, sagte Koumei langsam. „Wir werden sehen, wie sich unser Heimatbesuch entwickelt und spontan über unser Handeln entscheiden müssen, oder siehst du das anders? Kaiserwerden oder nicht… wo du deine Bedenken äußerst, wäre es auf jeden Fall angebracht, über die Vor- und Nachteile unserer Optionen nachzudenken. Das Amt scheint eine gewisse Todesgefahr mit sich zu bringen. Ich…“ will dich nicht auch noch verlieren!, schoss es unerwartet heftig durch seinen Geist. „Da kann ich dir nur Recht geben, Koumei. Gyokuen ist unberechenbar“, seufzte Kouen erschöpft. Die Todesnachricht musste ihn sehr mitgenommen haben. Aber gemeinsam würden sie alle Schwierigkeiten, die auf sie zukamen überwinden. Ganz egal von welcher Seite. Ob die Kaiserin und Al-Thamen sie bedrohten, andere Länder oder das aufständische Volk. Es gab für die meisten Probleme über kurz oder lang eine Lösung. Vielleicht bedeutete dies, dass Koumei ein paar zusätzliche Überstunden oder schlaflose Nächte einplanen musste, aber wenn es seinem Bruder half, waren sie eine gute Investition. „Verzeih, dass ich dich vorhin aus dem Schlaf reißen ließ“, merkte Kouen plötzlich an. Überrascht blinzelnd wehrte Koumei ab. Bei einem derartigen Vorfall konnte er gut damit leben. Seit wann bat sein Bruder um Entschuldigung? Nur wenn ihn etwas sehr beschäftigte und bedrückte, so viel stand fest. Dennoch, ein Gutes hatte die Frage definitiv: Sichtlich erheitert über Koumeis Bemühung so zu tun, als wäre ihm der Schlafmangel gleichgültig, meinte Kouen: „Wir werden morgen früh aufbrechen, sodass uns der Rest des heutigen Tages dazu dient, die wichtigsten Sachen zu packen und noch ein paar organisatorische Angelegenheiten zu regeln. Es ist nicht viel, wir haben hier ein paar gute Vertreter, aber so ganz wohl ist mir nicht bei dem Gedanken, den Befehl über die Stadt kurzzeitig auf jemand anderen zu übertragen. Du solltest übrigens schon einmal dein Magoi sammeln“, warnte er abschließend. Ob man diese Kraft sammeln konnte wussten sie beide eigentlich nicht, aber Kouen hatte somit unmissverständlich klargemacht, auf welchem Weg er gedachte, nach Rakushou zu reisen. Koumei sollte es nicht stören, zwar raubte es ihm mächtig Energie, einen halben Hofstaat zu teleportieren, aber er hatte bereits weit größere Gegenstände oder Mengen versetzt. Außerdem mussten sie so keine wochenlangen Reisen über sich ergehen lassen, was er als viel beschwerlicher empfand, als sich einen winzigen Moment anzustrengen. So kehrte der zweite Prinz mit Chuu'un in seine Gemächer zurück und ließ diesen ihre Utensilien zusammen raufen, während er noch ein wenig vor sich hin döste, um Kraft zu tanken, die er morgen dringend brauchen würde. Ganz wohl war ihm nicht bei der bevorstehenden Reise. Es lag nicht an seinem Zweifel an Dantalions Fähigkeiten, aber ob sie sich wirklich nach Kou begeben sollten? Eigentlich freute er sich unermesslich über die Aussicht einer kurzen Auszeit in Rakushou. Dort herrschten angenehmere Temperaturen, es gab besseres Essen und schönere Landschaften, falls man doch einmal das Haus verlassen wollte. Obendrein würde er seine Schwestern nach etlichen Jahren das erste Mal wiedersehen. Nicht, dass er seine Bindung zu ihnen als besonders eng bezeichnen würde. Trotzdem, zwei von ihnen, Kourin und Koujaku, waren beinahe gleich alt wie er und manchmal vermisste er die beiden ein wenig. Doch die Aussicht, auf seine Tante und Stiefmutter zu treffen, erfüllte ihn mit Unbehagen. Aber was konnten sie schon tun? Was die Kaiserin befahl war Gesetz, zumindest im Moment noch. Wie sich die Machtverhältnisse in Kou entwickeln würden, stand in den Sternen. Hoffentlich würden sie mit dem Ergebnis leben können. Es gab allerdings keinerlei Möglichkeit, die eventuell gefährliche Zusammenkunft mit der Familie zu meiden. Was wären sie auch für Prinzen, wenn sie nicht einmal zur Beisetzung ihres eigenen Vaters erscheinen würden? Da mussten sie wohl einfach durch.   *~* Kapitel 32: Heimreise --------------------- *~* „Dann bis gleich, wir sehen uns im Palast“, meinte Kouen und wartete geduldig, bis sein keuchender Bruder ein neues Portal nach Rakushou öffnete. Koumei hatte bereits Kougyoku, Koubun Ka, Kouens Vasallen und einige Bedienstete samt wichtigen Utensilien in die kaiserliche Hauptstadt des Kou Reichs befördert. Nun bebte er unter der Anstrengung, die Macht seiner Dschinniya ein weiteres Mal zu beschwören. Zerzaust und verschlafen wie üblich stand er im großen Saal und umklammerte krampfhaft sein gefiedertes Metallgefäß. Das Gold und der prächtige Rubin glitzerten im einfallenden Sonnenlicht, wirkten unter den wärmenden Strahlen umso schöner, während diese bei ihrem Herrn lediglich heftige Schweißausbrüche hervorriefen. Er hatte nicht einmal einen schlappen Blick für den Glanz der schwarzen Federn seines Fächers übrig. Stattdessen hob und senkte sich seine magere Brust bedenklich, während er versuchte, die Reste seines Magoi zu bündeln. Nur wollte ihm dies unter Kouens wohlwollenden Augen und Chuu'uns zurückhaltender Präsenz nicht problemlos gelingen. Sein älterer Bruder hatte sich, so imposant wie eh und je, in der Mitte des Saales aufgebaut, ein paar Gepäckbündel an seiner Seite und musterte Koumeis Bemühungen sehr genau. Unter Metallgefäßbesitzern musste man einander einfach auf die Finger schauen, vielleicht lernte man etwas, dass man für seine eigene Technik mit den Dschinns umzugehen verwenden konnte. „Mein Bruder und König, verzeiht mir, es dauert wohlmöglich noch ein wenig, bis ich wieder über genügend Kraft verfüge“, stöhnte Koumei niedergeschlagen. „Na schön, daran ist nichts zu ändern“, seufzte Kouen, ehe er streng hinzufügte: „Das kommt davon, wenn du nur einmal im Monat mit deinem Dschinn übst! Dies ist ein eindeutiges Zeichen, dass du mehr für deine Künste, sowie deine Kondition tun musst!“ Der Jüngere schluckte erschöpft. „Ich weiß … es ist nur nicht grade einfach, nach der Arbeit noch mehr Energie mit praktischen Übungen zu verschwenden.“ „Das stimmt. Aber dass es leicht wäre hat niemand behauptet. Meinst du, ich hätte es geschafft mit Astaroth und den anderen Dschinn umzugehen, wenn ich meine körperlichen Kräfte nicht vollkommen ausgereizt, ja sogar überschritten hätte?“ Koumei schüttelte betrübt den Kopf. An sich fand er es nicht unbedingt traurig, wenn er anderen Männern körperlich unterlegen war. Bei näherer Betrachtung seines großen Bruders konnte man zwar vor Neid erblassen, sofern man lediglich mit ein paar knochigen Ärmchen und einer Hühnerbrust geschlagen war, aber Koumei kam recht gut mit dieser Ernüchterung klar. Als Stratege benötigte er kaum Muskeln oder Kampftechniken. Zur Selbstverteidigung hatte er vor langer Zeit einen kleinen Dolch erhalten. Die einzige Waffe, mit der er einigermaßen umgehen konnte. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Einen Ernstfall, wo er sich hätte beweisen müssen, hatte es glücklicherweise noch nie gegeben. Wahrscheinlich hätte er diesen auch nicht überlebt. Aber wozu besaß er schließlich einen treuen Vasallen und Leibwächter? Ja, er kam gut ohne Körper- und Kampfkraft aus. Allerdings machte ihn die Herrschaft über Dantalions Fächer irgendwie doch zu einem Krieger, der an sich arbeiten musste. Er wusste, dass Kouen und auch seine anderen Geschwister auf seine kämpferische Unterstützung oder die generelle Anwendung dieser Fähigkeit zählten. Wenn er sie dann aufgrund Magoimangels enttäuschte, fühlte er sich nutzlos. „Erinnerst du dich noch, wie wir vor acht Jahren gemeinsam trainiert haben?“, brummte Kouen plötzlich und stieß ihn erheitert an. Der Jüngere taumelte schlaff zur Seite und wandte den Blick ab. Sofort schoss die Schamesröte in seine Wangen. Wie könnte er diese Schmach je vergessen? „Du machst es mir unmöglich, mich nicht daran zu erinnern“, entgegnete er spitzer als beabsichtigt. „Haha, das ist wohl wahr!“, lachte Kouen vollkommen unerwartet und schlug ihm kräftig auf die Schulter. Ach, wie nett … Als wüsste Koumei nicht selbst, welch einen Versager er in den Augen der Welt darstellte. Irgendwie hatte diese ganze Peinlichkeit jedoch auch ihr Gutes: Kouen wirkte deutlich glücklicher als zuvor. „Als du das erste Mal die Macht deines Dschinn nutzen wolltest, bist du in einem Brunnen gelandet!“ „Mhm…“ „Du sahst danach wirklich fertig aus. Und nass. Dein Vasall musste dich tagelang trösten und nach allen Regeln der Kunst überreden, es später noch einmal zu versuchen.“ „Ich weiß …“, stöhnte Koumei und fühlte sich ganz elend, als würde sein Kopf gleich vor lauter Blut, welches ungehindert in sein bereits knallrotes Gesicht strömte, platzen. Doch Kouen hatte offensichtlich Gefallen am Verspotten des Jüngeren gefunden. Wahrscheinlich merkte er nicht einmal, dass diese unbedachten Worte seinen Bruder verletzten. „Beim zweiten Mal ging es auch nicht wesentlich besser und als wir dann erst die Waffenausstattung ausprobiert haben, hatte ich Angst um mein Leben …“ Das ließ sich nachvollziehen. Mit Schaudern erinnerte sich Koumei, wie er bei dem Versuch die Waffe seiner Dantalion zu beschwören etliche Bäume im Garten ihres Geburtshauses gefällt hatte, deren Kronen größtenteils verschwunden waren, in Wahrheit jedoch irgendwo am anderen Ende des Anwesens wie von Geisterhand wieder aufgetaucht waren und dort einen der Hauptwege versperrten. Zum Glück hatte Kouen hinter ihm gestanden, sonst hätte er den Älteren in der Mitte zweigeteilt. Über den Schreck, dass die Dschinniya gar keine Waffe trug, sondern sich allein auf ihre magischen Hände verließ, hatte er die Kontrolle verloren. Nichts ahnend hatte er sein Magoi in den Fächer strömen lassen, bis dieser in seinem Griff zerschmolz und das heiße Gold über seine Hände geflossen war. Die kochenden Qualen würde er nie vergessen. Besonders als das glühende Metall in seine Haut gesickert war und dort den achtzackigen Stern eingebrannt hatte. Schreiend hatte er versucht, die Schmerzen durch Ausschütteln der Hände zu lindern, was prompt zu einem verwüsteten Garten geführt hatte. Unnötig zu erwähnen, das Koumei danach kein gesteigertes Verlangen gehegt hatte, je wieder auf diese mysteriösen und ebenso gefährlichen Kräfte zurückzugreifen. Es hatte lange gedauert, bis er sich wieder an die Übungen mit Kouen wagte, vor allem weil er die wachsamen Blicke des Bruders wahrnahm. Er war sich so dumm und unfähig vorgekommen. Vor allem wenn er sah, wie mühelos Kouen die Gestalt aller seiner Dschinn annahm und beliebig wechselte. Bis Koumei selbst die vollständige Dschinnausstattung beherrscht hatte, waren viele Monate ins Land gezogen. Bis Chuu'un endlich auf Dantalions Kräfte angesprungen war, hatte es sogar Jahre gedauert. Selbst heute wusste sein Vasall manchmal noch nicht so recht mit seinem Hausgefäß umzugehen. Im Gegensatz zu Kouen und dessen Vasallen hatten sie beide noch unvorstellbar viel zu lernen. „Bist du wieder einsatzbereit?“, erkundigte sich der erste Prinz und zeigte langsam doch erste Anzeichen von Unruhe. „Ich kann es versuchen“, antwortete Koumei. Er zeichnete die Silhouette des großen Wagens in die Luft und öffnete endlich vollkommen mühelos das strahlende Tor aus Sternenlicht. Als Kouen einen Fuß in das Portal stellte, hielt er ihn jedoch zurück. „Warte!“ Kouen runzelte kritisch die Stirn. Seine Lust darauf schien unterirdisch zu sein. „Ich komme nicht sofort zum Palast. Ich besuche unser altes Anwesen!“, beschloss Koumei so plötzlich, wie er sonst niemals etwas festlegte. Wie kam er denn auf diese Idee? Ewigkeiten hatte er sich nicht mehr in das alte Haus gewagt. Mittlerweile konnte es vielleicht sogar verfallen sein! Niemand aus ihrer Familie lebte noch dort. Weshalb verspürte er mit einem Mal den unleugbaren Wunsch, dorthin zu gehen? Nun gut, er hatte schon seit Jahren mit dem Gedanken gespielt, dorthin zu reisen, aber nie hatte er ihn ausgesprochen. Vor allem nicht zu solch einem unpassenden Moment. Kurz zeichnete sich Überraschung in Kouens Miene ab. Dann nickte er andächtig. Er schien widererwarten nichts dagegen zu haben. „Tu das. Ein bisschen frischer Wind und ein Spaziergang durch den wilden Garten wird dir guttun, bevor wir uns mit all dem Stress abplagen müssen. Aber lass dir nicht zu viel Zeit, ich brauche dich an meiner Seite. Wir werden ohnehin nicht sofort zu Vater gehen, sondern auf alle Geschwister warten. So hast du eine gute Gelegenheit für deinen Ausflug, aber du solltest vielleicht nicht unzählige Tage dort verbringen. Und nimm deinen Vasallen mit, wer weiß was sich dort für Gesindel herumtreibt.“ Die ungewohnte Wärme in den Worten seines älteren Bruders rührte Koumei unerwartet. Die Sicherheit, gebraucht zu werden ebenso. „B-bis später“, verabschiedete er sich überrumpelt. Kouen verschwand im Sternengleißen. „Sollen wir uns ebenfalls auf den Weg machen?“, fragte Chuu'un, der das ganze Gespräch stillschweigend mitangehört hatte. Der Vasall zerrte einen Beutel mit Koumeis wertvollsten formellen Gewändern und ein paar interessanten Schriftrollen hinter sich her. Ansonsten gab es in der Residenz nichts, was seinem Herrn in Rakushou nicht auch zur Verfügung stand. Zusätzlich schleppte der Mann auch noch seinen Bogen, samt Köcher und Pfeilen, sowie seinen eigenen kleinen Reisesack mit sich herum. Da sie sich vorerst nicht unter hohe Gesellschaft begeben würden, trug er keinen Helm, was Koumei sehr begrüßte. Man gewöhnte sich zwar schnell an das leicht furchteinflößende Aussehen eines voll ausgerüsteten Bogenschützen, aber angenehmer war es trotzdem, jemanden in seiner Nähe zu haben, der wie ein Mensch erschien und nicht wie eine metallene Dämonen-Statue. „Hast du an alles gedacht?“, hakte Koumei ein letztes Mal nach. Nicht, dass es tragisch wäre irgendetwas zu vergessen, im kaiserlichen Palast gab es alles was das Herz begehrte und wenn noch etwas fehlte, beschafften die Diener und Sklaven es in kürzester Zeit. Dennoch, Chuu'uns Waffen waren nicht leicht zu ersetzen. Bei dem Gedanken, lediglich einen unausgestatteten Leibwächter an seiner Seite zu wissen, überkam ihn ein Gefühl der unsichtbaren Bedrohung. Feinde lauerten überall und er selbst konnte sich nicht schnell genug verteidigen, um bei einem Anschlag lebend davon zu kommen. Dantalion benötigte vergleichsweise lange, bis sie ihre Kräfte freisetzte. Überraschungskämpfe kamen mit ihr nicht in Frage. Koumei seufzte bitter. Die Geschehnisse vor zehn Jahren hatten deutliche Spuren in seinem Geist hinterlassen. Wie armselig, nicht einmal der eigenen Familie vertraute er. Zumindest nicht dieser Hexe von Kaiserin, die seinen Vater umgarnt und sich auf diese Weise von neuem die Macht erschlichen hatte. Während Chuu'un rasch ihrer beider Gepäck überprüfte, spielte Koumei nervös mit seinen Armbändern herum. Wieder einmal verspürte er den inneren Widerstand sich in sein Heimatland zu begeben. Als würde sie dort etwas Schreckliches erwarten. Dabei hatte er es anfangs gar nicht verlassen wollen und sehnte sich so sehr nach der vertrauten Umgebung. Doch irgendetwas warnte ihn, dorthin zurückzukehren. Ob es klüger wäre, auf diese Vorahnung zu hören? Nach einiger Zeit bemerkte er den fragenden Blick seines Vasallen. Ach ja, sie wollten aufbrechen. „Ist alles da?“, murmelte er in sich hinein, ohne recht auf die Antwort zu hören, ehe er Dantalion noch ein letztes Mal um Hilfe bat. Ohne zurückzublicken durchschritten die beiden Männer das magische Portal. Das erste, woran Koumei merkte, dass sie heimischen Boden betreten hatten, war der erfrischende Luftzug, der seinen Pferdeschwanz noch mehr als gewöhnlich zerzauste. Mit einem Seitenblick zu seiner Begleitung versicherte er sich, dass es Chuu'un nicht besser erging. Hinter ihnen verschwand das magische Tor und gab die Sicht auf rote Ahornbäume und mächtige Kiefern frei. Unter ihnen wuchsen hohe Stauden, die ihre belaubten Zweige vorwitzig miteinander verflochten. Zahlreiche Blätter und Moose bedeckten die leicht feuchte Erde, ein perfekter Herbstbeginn in Kou. Noch strahlte die Natur in all ihren Farben, ehe das momentan reichlich vorhandene Grün vollkommen von Gelb und Rot abgelöst werden würde. Vögel zwitscherten verhalten in den Bäumen. Welch ein verwunschener Ort. Es hätte problemlos eine Szene aus einer der kitschigsten Sagen, die Koumei kannte, sein können. Damals war es ihm zu Hause nicht so unerträglich friedvoll vorgekommen. Chuu'un machte sich ebenfalls mit der hübsch anzusehenden Umgebung vertraut. „Habt ihr uns in einen bestimmten Teil des Anwesens gebracht, Herr?“, erkundigte sich der Bogenschütze orientierungslos. Kein Wunder, die meiste Zeit seines Dienstes hatte er am kaiserlichen Hof und nicht in der Behausung des Kaiserbruders verbracht. Dennoch, eigentlich hätte Koumei erwartet, dass er einen herausragenden Orientierungssinn besaß, woher auch immer diese zu hoch gegriffene Vermutung stammte. „Wir befinden uns am äußersten Rand des Geländes. Bis zum Haupthaus und den Nebengebäuden werden wir einige Minuten laufen müssen.“ Chuu'un musterte ihn entgeistert, als hätte er den Verstand verloren. „Ist das Euer Ernst, mein Prinz? Ihr wollt mit Euren langen Gewändern einen Marsch durch Dreck und Dickicht wagen? Noch dazu mit diesen Schuhen?“ Er deutete fassungslos auf deren nach oben gebogene Spitzen. Koumei nickte lediglich. Mit diesem Protest hatte er bereits gerechnet, doch aus irgendeinem Grund zog es ihn an die frische Luft. Beängstigend. Aber hier ließ es sich wenigstens aushalten! Keine pralle Sonne, sondern sanft-grauer Himmel mit zarten Wolken, keine lärmenden Menschenmassen, nur Einsamkeit und Ruhe. Zum Glück auch keine Eiseskälte … die hasste er zwar nicht ganz so sehr wie die Hitze Balbadds, doch im Winter brachten ihn ebenfalls keine zehn Pferde ins Freie. Nein, im Moment herrschten perfekte Temperaturen. Wenn der zweite Prinz sich schon einmal bewegte, dann an genauso einem friedlichen Ort. Chuu'un wirkte davon wenig begeistert. Nun, er war derjenige, der das schwere Gepäck tragen musste. Bedauerlicherweise konnte Koumei es ihm nicht abnehmen. Eigentlich schon, aber wo kämen sie denn dann hin? Er würde unter einer derartigen Last wahrscheinlich zusammenbrechen. Also kämpften sich die beiden Männer durch das dichte Gestrüpp. Schnell bemerkten sie, dass die friedvolle Natur eher als verwahrlost zu bezeichnen war: Die Pflanzen wucherten, wie ihnen der Sinn stand und verhinderten manchmal jegliches Durchkommen, sodass sie sich eine neue Bresche durch die störrischen Zweige und Dornenranken schlagen mussten. Nun ja, genaugenommen hatte Chuu'un den ungepflegten Zustand des Gartens schon früher als sein Herr als das erkannt, was er wirklich war. Aber da Koumei so gedankenlos gewesen war, sie in die hinterste Ecke dieser undurchdringlichen Wildnis zu teleportieren, mussten sie nun mit den unangenehmen Folgen leben. Kein Zweifel, wenn der Vasall nicht voraus gehen und für den zweiten Prinzen nicht ständig Äste und Blätter zur Seite biegen, abbrechen oder zertrampeln würde, würde dieser wohl kaum hinterher kommen. Es dauerte nicht lange, da bedauerte Koumei ein wenig, dass er seinen Willen durchgesetzt hatte und den armen Chuu'un die ganze Arbeit machen ließ, schließlich trug dieser auch noch das Gepäck. Doch dafür, dass er so schwer belastet war, schien er mit seinen Aufgaben meisterlich zurechtzukommen. Bei Gelegenheit musste er ihn dringendst für seine Mühen entlohnen. Irgendwann nutzte dem Prinzen jedoch auch Chuu'uns Hilfe nichts mehr. Der Marsch entpuppte sich als länger und anstrengender als erwartet. Zum tausendsten Mal stolperte er über eine hervorstehende Baumwurzel, bestens von hohem Gras getarnt. Unaufhaltsam schwankend, versuchte er, sich wieder zu fangen. Vergeblich, Gleichgewicht war ihm immer schon ein Fremdwort gewesen. Mit einem hilflosen Keuchen segelte er in den nächstbesten Busch. Die spitzen Zweige bohrten sich in seine Haut und hinterließen schmerzhafte Kratzer. Murrend registrierte er, dass er dieser Falle hier nur mit Unterstützung entkommen konnte. Welch ein Unglück. Gewiss bestand sein Haar nur noch aus einem blätterbedeckten Nest. Wie schrecklich! Bestimmt war das die Strafe des Schicksals für seinen groben Umgang mit Judar. Das ihm das im eigenen Anwesen passierte, beschämte ihn jedoch sehr. Eigentlich hätte er sich ja denken können, dass nach etlichen Jahren, in denen keine Angehörigen der kaiserlichen Familie mehr hier lebten, keine Gärtner mehr die hinteren Teile des Gartens pflegen würden … Obwohl, niemand hatte den Bediensteten erlaubt, alles derartig verkommen zu lassen. So verwunschen und schön es bei der ersten Betrachtung wirken mochte, kein Mensch konnte sich in diesem Chaos bewegen. „Alles in Ordnung?“, murmelte Chuu'un nervös, als er ihr Gepäck für einen Moment abstellte, um seinen Herrn aus der heimtückischen Pflanze zu befreien. Koumei spürte, wie der Vasall seine Robe mühsam von den feinen Zweigen befreite, damit sie beim Aufstehen nicht zerreißen würde. Dieses Unterfangen dauerte allerdings ewig und der Bogenschütze wirkte nicht so, als hätte er noch viel Geduld zu bieten. Dennoch, eigentlich fand Koumei die Situation gar nicht übel, denn auf diese Weise blieb ihm etwas Zeit, bis er weiterlaufen musste. Ausruhen … wie willkommen. Wahrscheinlich bot er einen ziemlich lächerlichen Anblick, wie er in diesem Gestrüpp feststeckte und sorgfältig wieder losgemacht werden musste. Doch momentan war es ihm vollkommen gleichgültig. Sein Kopf, nein sein ganzer Körper hing geschwächt herab und die Augen würden ihm sicher gleich zufallen. Natürlich reichte die Pause am Ende doch nicht aus, um im Reich der Träume zu schwelgen. Stattdessen schaffte es Chuu'un irgendwie, ihn aus dem Busch zu zerren, ohne die teuren Seidenroben allzu sehr in Mitleidenschaft zu ziehen. Unwillig stand Koumei also wieder auf eigenen Beinen. Prompt bemerkte er, dass der kurze, wenn auch hindernisreiche Marsch ihn ziemlich ausgelaugt hatte. Seine Füße schmerzten bereits, er musste sich in den unpraktischen Schuhen Blasen gelaufen haben. Litt Chuu'un denn gar nicht unter den Anstrengungen ihrer unliebsamen Wanderung? Der Vasall nahm völlig unbewegt ihre Bündel auf und setzte sich in Bewegung. Keine Frage, er sollte einige Strapazen gewohnt sein, aber das hier… diese unerschütterliche Gelassenheit! Koumei bereute es sehr, als Zielort ihrer Teleportation die hinterste Gartenecke gewählt zu haben. Leider hatte er sich vorhin so sehr verausgabt, dass er seinen dummen Fehler nicht mehr korrigieren konnte. Sein Magoi, welches er für den entsprechenden Zauber benötigte, war unleugbar aufgebraucht. Wenn er nicht bis zum nächsten Morgen in diesem Urwald feststecken wollte, blieb ihm folglich nichts anders übrig, als Chuu'un hinterher zu rennen, wie ein unartiges Kind, das von zu Hause fort gelaufen war. Immerhin erlaubte das dichte Unterholz keinen schnellen Schritt. Unglaublich, wie sehr die Natur sich ihre Gebiete zurück eroberte, sobald sie niemand mehr in Schach hielt. Wie viele Jahre wohl vergangen sein mochten, seit die Gärtner noch die wuchernden Stauden und knorrigen Bäume zurechtgestutzt hatten? Mindestens fünf mussten es wohl gewesen sein, oder? Andernfalls wäre der zweite Prinz ein wenig verstört gewesen. Die Natur und er vertrugen sich nicht sonderlich gut, ganz egal welche Schönheit sie bot. Hinter der prächtigen Fassade lauerten Unwirtlichkeit und Gefahren. Nicht für ein schläfrig-schlaffes Etwas wie ihn geschaffen. Ob sich der kaiserliche Palastgarten tatsächlich über eine größere Fläche als dieser hier erstreckte? Es war kaum zu glauben. Irgendwann, es konnte nicht viel später sein, doch Koumei hatte das Gefühl bereits seit Jahren im wahrsten Sinne des Wortes in Chuu'uns Fußstapfen zu treten, lichtete sich das Dickicht um sie herum und sie betraten endlich wieder einen Weg, der sich in akzeptablen Zustand befand. Kein Vergleich zu damals, die Sträucher und anderen Pflanzen am Rand waren keineswegs derart ordentlich gestutzt, wie Koumei es aus seiner Kindheit kannte. Doch immerhin ließ es sich hier vernünftig gehen, ohne bei jedem Schritt Ranken bei Seite schieben zu müssen. Koumei seufzte ermattet. Endlich mussten sie sich nicht mehr jeden Zentimeter Strecke erkämpfen. Dennoch, da flammte nicht nur Erleichterung in ihm auf. Wenn er auf das mächtige Brombeergestrüpp blickte, welches sich bedrohlich hinter der Wegabgrenzung auftürmte, begann sein Herz unangenehm dumpf zu pochen. Schweratmend verharrte er, handelte sich einen prüfenden Blick unter Chuu'uns Mähne hindurch ein. Koumei wusste ganz genau, was den Grund dafür darstellte. Niemals hätte er gedacht, dass die Erinnerung ihn an diesem Ort nach all den Jahren noch so heftig treffen würde. Den selben ausgetretenen Pfad hatte er in der Nacht seines Geburtstags mit Hakuren beschritten. Na ja, zumindest einer von ihnen war ihn eher in blinder Verzweiflung entlang gerannt, nur um dem Kaisersohn dann einen kleinen Anfall vorzuspielen. Es war einfach immer zu herrlich gewesen, wie kinderleicht er Hakuren hereinlegen konnte. Viel zu oft hatte ihn deswegen ein schlechtes Gewissen geplagt, doch er hatte nie damit aufhören können. „Stimmt etwas nicht, Herr?“, wollte Chuu'un wissen. Koumei zuckte zusammen. Kein Wunder, dass sein Vasall ihn aus den Gedanken gerissen hatte, wo er ohne ersichtlichen Grund für den anderen stehen geblieben war. „Alles bestens“, gab er knapp zurück und versuchte sich einen aufmunternden Blick abzuringen, der wohl genauso  finster ausfiel, wie eh und je. Hakuren musste wirklich unermesslich dumm gewesen sein, da er ihm Lüge um Lüge bedingungslos geglaubt hatte. „Seid Ihr erschöpft? Falls Ihr eine Pause einlegen möchtet…“ „Nein. Schon gut. Lass uns weiter gehen. Wir wollen nicht den ganzen Tag hier verbringen. Spätestens am frühen Abend sollten wir uns in Rakushou befinden. Kouen braucht alle Unterstützung, die er erhalten kann.“ Der Ältere neigte ergeben den Kopf. Doch Koumei konnte sehen, dass ihn seine Ausflüchte nicht beeindruckt hatten. Dieser räudige Kerl besaß einen viel zu sensiblen Instinkt für seine Gefühle. Niemand hätte dies je vermutet. „Weißt du jetzt, wo es zum Haupthaus geht?“, erkundigte er sich, um den Bogenschützen abzulenken. „Verzeiht, aber ich kann mich nicht mehr erinnern“, gestand dieser. Koumeis Mundwinkel wanderten ein winziges Stückchen nach oben. „Dann folge mir.“ Bald schon erreichten sie das Gebiet, in dem sich sogar Chuu'un wieder auskannte. Je näher sie dem eigentlichen Anwesen kamen, desto gepflegter wirkte der Garten. Aber niemals sah er so aus, wie Koumei ihn in Erinnerung hatte. Ein kaum merklicher Hauch von Verwahrlosung lag stets über den üppig mit Blumen bepflanzten Rabatten. Er konnte nicht einmal benennen, woran es lag. Vielleicht weil ungewöhnlich viele herabgefallene Blätter neben und auf den kleinen Pflanzen am Boden lagen, oder vertrocknete Blüten zwischen den frischen Trieben hervorschauten. Damals hätten die eifrigen Bediensteten sie sofort entfernt, doch nun lebte das meiste Personal im kaiserlichen Palast oder war vor etlichen Jahren entlassen worden. Hier auf dem Land wohnten nur noch die nötigen Bediensteten, um das Anwesen nicht völlig verkommen zu lassen. Ob ihnen dies gelungen war? Irgendwie verlieh einem der Anblick des Gartens nicht unbedingt Optimismus. Sie nährten sich bereits dem Haupthaus, zumindest konnten sie es hinter ein paar Ahornwipfeln ausmachen. Da entdeckten sie einen kleinen Verschlag, der früher einmal die Aufgabe eines Taubenschlags erfüllt hatte. Koumei war sofort begeistert. Es gab nichts, dass seine Aufmerksamkeit so sehr wecken konnte, wie Tauben es vermochten. Leise Geräusche drangen aus dem wackeligen Schuppen ins Freie, als lebten die possierlichen Tiere noch immer darin. Doch Koumei wusste, dass seine geliebten Vögel schon lange nicht mehr dort hausten. Vor ihrem Umzug in den kaiserlichen Palast hatte er die meisten Tiere mitgenommen. Viele von ihnen, falls sie noch lebten, kannten sogar sein Zimmer dort und flogen nicht selten zum Fenster herein. Darauf freute er sich bereits. Hoffentlich würden sie merken, dass er wieder dort weilte, immerhin war er lange nicht mehr in Rakushou gewesen. Tiere erkannten schnell, wenn sich das Aufsuchen eines gewissen Ortes nicht mehr lohnte. Allerdings begriffen sie ebenso flink, falls es dort doch wieder etwas zu holen gab. Und wenn sie es nicht lernten, konnte er sie immer noch im Taubenhaus aufsuchen. Trotzdem, er war neugierig, was mit dem ungenutzten Verschlag geschehen war. Vorsichtig entriegelte er die knarzende Tür, wobei ihm das morsche Holz beinahe unter den Händen weggesplittert wäre, und spähte ins schummrige Innere. Der Geruch, welcher ihm entgegenschlug, nahm ihm kurz den Atem. Ja, hier lebten eindeutig andere Vögel. Misstrauisches Gackern ertönte, sobald er den Kopf hinein schob. Als sich seine Augen ein wenig an das fehlende Licht gewöhnten, erkannte der Prinz eine kleine Schaar von Hühnern, die unruhig im schmutzigen Stroh scharrten, während ein zerrupfter Hahn mit ruckendem Kamm stolz umherstakste, was überhaupt nicht zu seinem heruntergekommenen Äußeren passen wollte. Offenbar hielten sich die Diener hier Geflügel. Keine schlechte Idee, so gelangten sie am einfachsten an Eier und Fleisch, auch wenn dieser Taubenschlag nicht wirklich für die Haltung von Hühnern taugte und sich niemand angemessen um die Tiere zu kümmern schien. Kopfschüttelnd kehrte der Prinz wieder zu Chuu'un zurück, der ihn geduldig erwartete. „Es hat sich einiges verändert, nicht?“, sagte er leise, als wüsste er nicht, ob dieser Kommentar besonders klug war. Koumei nickte lediglich zustimmend. Etwas anderes zu behaupten, wäre eine reine Lüge gewesen. Oder Blindheit. Dies hier glich dem behaglichen Ort, wo er mit seinen Geschwistern aufgewachsen war viel weniger als erwartet. Dennoch, der Verfall besaß seine eigene, widerwillige Schönheit. Falls man es so nennen wollte. Die Bezeichnung „Charme“ wäre vielleicht neutraler und weniger irreführend. „Wohin sollen wir nun gehen? Ihr wollt gewiss ins Haus, nicht wahr? Vielleicht finden wir einen Diener, der uns Einlass gewährt. Oder möchtet Ihr zuvor noch den Rest des Gartens besichtigen?“ Bei der letzten Frage mischte sich leichter Unwillen in Chuu'uns Stimme. Nicht so viel, dass es irgendein Außenstehender bemerkt hätte, aber Koumei nahm den Widerwillen des Vasallen, noch eine halbe Ewigkeit wie ein vollbepackter Esel herumzulaufen, deutlich wahr. Also beschloss er, den Bogenschützen nicht noch länger zu quälen. Genaugenommen kam ihm der Entschluss selbst am meisten zu Gute, denn er war sicherlich noch erschöpfter, als Chuu'un, obwohl er deutlich weniger Gewicht zu schleppen hatte. Sehr gemäßigten Schrittes überquerten sie eine gebogene Brücke, deren ehemals in schillerndem Rot lackiertes Geländer nun eher braun und fahl wirkte. Nur einige abgesplitterte Reste erinnerten an die herrschaftliche Färbung. Was jedoch weitaus auffälliger wirkte, war das völlige Fehlen des Wassers im künstlich angelegten Bachlauf darunter. Statt sanft dahinplätscherndem Nass und den obligatorischen Goldfischen oder Koikarpfen, erblickten sie nun ein paar einsame Schilfgraswedel. Die Pflanzen hatten sichtlich mit der Trockenheit zu kämpfen, wenn man ihre gelblichen Blätter betrachtete. Wie schade, damals hatte das unauffällig fließende Wasser dem Garten erst das Leben eingehaucht. Nun wirkte dieser Bereich hingegen tot und vergessen. Hakuren wäre enttäuscht gewesen, er hatte diese Stelle geliebt. Nicht dass Koumei nicht verstand, warum alles derart alt und morsch wirkte. Wahrscheinlich gab es einfach zu wenig Bedienstete oder Sklaven hier, um alles in einem einwandfreien Zustand zu halten. Kein Wunder, das Anwesen wurde nicht mehr genutzt, warum sollte man sich mehr Mühe als nötig machen, es bewohnbar zu bewahren? Bedauerlich, vielleicht hätten sie irgendwann wieder hierher ziehen können. Nun würde es jedoch sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, bis ein Mitglied der kaiserlichen Familie an diesem Ort wohnen wollte. Missmutig lehnte sich der zweite Prinz gegen die Brüstung, die unter seiner Last warnend knarzte. Erschrocken trat Koumei zurück. Diese Verwahrlosung ging wirklich einen Schritt zu weit, man konnte sich nicht einmal gefahrlos in diesem Garten bewegen. Was würde erst geschehen, wenn sie das Haus erreichten? Würden sie unter herabfallenden Dachziegeln begraben werden?! Sie sollten die Dienerschaft des Anwesens besser bestücken, damit in ein paar Jahren nicht nur noch Ruinen von dem friedlichen Haus und dem herrlich angelegten Garten künden würden. Nachdem sie den ehemaligen Wassergraben passiert hatten, marschierten sie müde den gewundenen Pfad zum Haupthaus hinauf. An dieser Stelle herrschte eine leichte, eigentlich kaum merkliche Steigung, doch die anstrengende Wanderung durch das Unterholz hatte nicht nur Koumei ausgelaugt, dem der restliche Weg wie ein beschwerlicher Bergaufstieg vorkam. Selbst Chuu'un atmete mittlerweile nicht mehr so mühelos und hielt einmal sogar an, um für einen Moment das Gepäck abzustellen. Koumei hätte es besser direkt in die Hauptstadt teleportiert. Aber nun hatte er keine Kraft mehr und konnte nichts daran ändern. Hoffentlich würden sie hier eine Kutsche bekommen, ansonsten könnte es gut sein, dass sie im alten Haus übernachten mussten. Das würde durchaus kalt werden, besonders wenn man aus der wochenlangen Hitze kam. Endlich standen sie röchelnd vor dem prächtigen Eingangstor. Doch sobald sie ein wenig verschnauft hatten, siegte sogar bei Koumei die Neugierde und die beiden Männer schritten höchst interessiert die ihnen zugewandte Seite des Gebäudes ab. Obwohl die goldenen Beschläge ein wenig dumpf geworden waren, wirkte der Rest des Hauses erstaunlich ansehnlich. Von außen zumindest. Die geschwungenen Dächer glänzten rötlich im Sonnenlicht, die Fenstergitter zeigten nicht einmal den Ansatz von Spinnenweben und die überdachten Wandelgänge luden noch immer zum gedankenverlorenen Flanieren ein. Falls man gerne spazieren ging jedenfalls. Zwar strahlten die ehemals weißgetünchten Wände nicht mehr derart rein wie vor zehn Jahren, doch dafür, dass sie wohl niemand mehr gestrichen hatte, boten sie keinen beklagenswerten Anblick. Welch eine Überraschung. Koumei konnte eine gewisse Freude nicht leugnen. Das Anwesen sah bewohnbar aus, was für ihn eine höhere Priorität hatte, als die makellose Gestaltung des Gartens. Plötzlich wirbelte Chuu'un neben ihm herum. Koumei zuckte erschrocken zusammen. Der Vasall versetzte ihm einen heftigen Stoß und schob sich vor ihn. Mit einem lauten Poltern fielen die Gepäckstücke auf den steinernen Boden, als Chuu'un blitzschnell seine Waffe zückte und einen Pfeil auflegte. Überrascht drehte Koumei sich um. Die tödliche Spitze des Geschosses zielte gradewegs auf das Auge eines untersetzten kleinen Mannes. Den hatte er gar nicht bemerkt. Ob er sich angeschlichen hatte, um einen Überfall anzuzetteln? Wie gut, dass er den Bogenschützen mitgenommen hatte. Wer wusste schon, auf welches Gesindel man an diesem verlassenen Ort treffen konnte? Sicherlich nicht nur auf treuergebene Diener. Der Unbekannte starrte mit schreckensbleichem Gesicht auf die Waffe, die nur darauf zu warten schien, seinen Kopf zu durchbohren. Zitternd vor Angst hob er die Hände und wollte ein paar hastige Schritte zurück machen, wohl am liebsten flüchten, doch das sollte er gar nicht erst versuchen. „Keine Bewegung!“, warnte Chuu'un. Im Gegensatz zu den meisten Leibwächtern, die Koumei im Laufe seines Lebens kennengelernt hatte, verfiel er nicht in angsteinflößendes, völlig übersteigertes Gebrüll oder unwirsches Anblaffen, sondern blieb ganz nüchtern. Dennoch, sein Tonfall ließ keinen Zweifel, dass man diese Warnung befolgen musste. Koumei war zufrieden: Auch wenn dem Vasallen die äußerliche Ruhe sonst ein wenig besser gelang, blieb er sehr gefasst, was dem Prinzen gefiel. Männer, die jeden Fremden sogleich zerfleischten, nur weil sie in eine falsche Richtung geschaut hatten, konnte er nicht gebrauchen. Stattdessen wartete Chuu'un gehorsam auf die Anweisungen seines Herrn und würde keine drastischen Maßnahmen ergreifen, es sei denn, der Fremde würde sie aus heiterem Himmel angreifen. Koumei glaubte jedoch nicht daran, dass der kleinwüchsige ältere Mann gleich auf sie losgehen würde. Nein, sein schreckensstarres Gesicht sprach Bände. Offenbar war er in seinem Leben noch nie derartig bedroht worden. Da sie von ihm vorerst wohl nichts zu befürchten hatten, nahm sich der Rothaarige einige Zeit, ihn zu mustern. Das schwarze Haar steckte in einem strengen Knoten und lichtete sich bereits stark. Das breite Gesicht wirkte ein wenig … verquollen, die schmalen braunen Augen freundlich und arglos. Die seidig glänzende Robe erschien wertvoll, hatte aber eindeutig bessere Zeiten hinter sich, während die Schuhe definitiv zu klein und ausgetreten waren. Das sah doch ganz nach einem Mitglied der alten Dienstleute aus. Um genau zu sein nach einer der höherrangigen Persönlichkeiten. „Wie heißt du?“, fragte Koumei, in der Hoffnung, sich wenigstens an den Namen erinnern zu können, wenn ihm schon das Aussehen des Mannes unbekannt vorkam. „T-Tekkyo Ki, mein Herr. Meine A-Aufgabe ist die Verwaltung dieses A-Anwesens. Außerdem kümmere ich mich mit den anderen verbliebenen Bediensteten darum, d-dass keine Unbefugten Zutritt zu dem kaiserlichen Haus bekommen. Wir geben unser beste-“ „Schweigt, mein Herr hat Euch nicht gestattet, frei zu sprechen“, unterbrach ihn Chuu'un beinahe tadelnd. Dabei klang er nicht einmal harsch, wie auch immer er das schaffte. Na großartig, offenbar hatte dieser Verwalter keine Ahnung, mit welch vornehmen Herrschaften er es grade zu tun hatte. Wie dumm konnte man sein? Dachte er, es mit einem Fanalis zu tun zu haben? Nicht dass Koumei ihn dafür hinrichten lassen würde, aber mit Sicherheit würde eine Enthüllung seiner Identität zu ebensolchen Gedanken bei dem Fremden führen und unweigerlich unerträgliche Entschuldigungskaskaden mit sich bringen. Hilfesuchend schielte er zu Chuu'un hinüber, der jedoch offenkundig keinen Ratschlag für ihn übrig hatte. Also seufzte der Prinz innerlich auf, unterdrückte ein Gähnen und stellte sich neben seinen Vasallen, damit er sich im Blickfeld des kleinen Dieners befand. Doch außer einem unsicheren Stirnrunzeln erntete er nichts. Kein einziges Zeichen des Erkennens. Zweifellos wusste dieser, dass er mit hohen Herren verkehrte, doch dass er einen der kaiserlichen Prinzen vor sich hatte, blieb ihm verborgen. Dabei sollte man die Herrscherfamilie wenigstens grob wieder erkennen. Wenn man sie einmal in seinem Leben gesehen hatte, blieb einem doch immerhin das verräterische rote Haar ihrer Sippe im Gedächtnis. Wahrscheinlich hatte dieser Mann ihn noch nie in ausgewachsenem Zustand zu Gesicht bekommen, doch vor zehn Jahren musste er ihm des Öfteren über den Weg gelaufen sein. Unglaublich. Und so etwas wollte als Verwalter arbeiten? Kein Wunder, dass es mit dem Anwesen den Bach hinunterging. Also blieb Koumei nichts anderes übrig, als sich vorzustellen. Wie unangemessen in seiner Position, aber so würden sie müheloser in das Haus gelangen. „Mein Name ist Koumei Ren, Sohn von Kaiser Koutoku Ren und zweiter Prinz des Kaiserreich-Kou“, verkündete er und konnte den erneuten Drang zu Gähnen nicht niederringen. Das brauchte er auch gar nicht, denn seine offensichtliche Müdigkeit half dem Mann auch nicht über einen Schock hinweg. „W-wa-w-w-wie?“, stammelte er und schlug entsetzt die Hände vors Gesicht, ehe er unterwürfig auf die Knie fiel und sich so tief verneigte, dass es die Naturgesetze grade noch zuließen. Chuu'un, der auf Koumeis Zeichen den Bogen senkte, schnalzte ungehalten mit der Zunge. Sich als einfacher Diener dermaßen vor einer Hoheit zu blamieren, konnte eine schwere Strafe nach sich ziehen. Dieses respektlose Gestammel konnte bei manchen Prinzen zu Zornesausbrüchen führen. Nicht jedoch bei Koumei. Der Rothaarige legte lediglich fragend den Kopf schief. „Schon in Ordnung, Chuu'un. Unser Gegenüber schämt sich bereits genug, auch wenn ich nicht weiß, wo das Problem liegt“, brummte er müde. Rot vor Scham blickte der Fremde zu ihnen auf. „Vergebt mir, mein hochwohlgeborener Prinz, hätte ich Euch früher erkannt, hätte ich Eure Augen niemals mit meinem unerfreulichen Anblick beleidigt. Gibt es nicht etwas, womit ich meine Schuld wieder begleichen kann? Ich werde jeden Befehl so gut ausführen, wie es unsere beschränkten Möglichkeiten hier erlauben.“ „Nur keine Mühen“, seufzte Koumei, „aber ein anständiges Bett wäre sehr erfreulich.“ „Und eine vernünftige Mahlzeit für den Herrn“, schob Chuu'un rasch hinterher. „Ersteres wäre mir wichtiger“, stellte der Prinz klar. „Letzteres ist für Euch wichtiger“, behauptete sein Vasall unerbittlich und ließ sich von dem peinlich berührten, wenn auch erleichterten Diener ins Innere des Hauses führen, der bereits nach anderen Bediensteten rief, um das Gepäck herein zu tragen. Koumei folgte den beiden in gemessenerer Geschwindigkeit. Ob der äußere Schein wohl trog? Sie würden es jeden Moment herausfinden.   *~* Kapitel 33: Diener ------------------ *~* Tekkyo Ki geleitete Koumei und Chuu'un ins Innere des Hauses. Die kaiserliche Landresidenz thronte noch immer stattlich im mittlerweile völlig verwilderten Garten des Anwesens. Immerhin etwas, das sich kaum verändert hatte. Dabei konnte Koumei nicht einmal sagen, ob es wirklich gut war, dass sich das Gebäude beinahe im selben Zustand befand wie damals. Einerseits fände er es traurig, sein altes zu Hause verfallen zu sehen, andererseits weckte der Anblick der hübschen Eingangshalle mit ihren unaufdringlichen goldenen Drachenschnitzereien an den holzgetäfelten Wänden Erinnerungen. Angenehme und unliebsame. Lediglich der muffige Geruch, wie von alten Schriftrollen, nur viel durchdringender, erinnerte ihn daran, wie viel Zeit vergangen war. Kaum berührten die Füße der Männer den weichen roten Teppich, welcher seit Urzeiten über die kalten Bodenkacheln gebreitet lag, eilte ein junges Mädchen von vielleicht sechzehn Sommern herbei und verbeugte sich ehrerbietig. Aus irgendeinem Grund erinnerte sie an Tekkyo, obwohl ihr zierlicher Körperbau sich grundlegend von dessen üppigeren Maßen unterschied. Ob Chuu'un dies ebenfalls bemerkte hatte oder ob er die junge Frau aus anderen Gründen verstohlen musterte, blieb Koumei jedoch schleierhaft. „Seid gegrüßt, Eure Hoheit“, meinte sie ergeben und senkte ihre Stirn bis auf den Boden. Immerhin eine, die wusste, wie man sich einem Prinzen gegenüber zu verhalten hatte. Offenbar nahm sie die Formalitäten derart ernst, dass sie sich immer noch nicht erhoben hatte, als eine gebeugte alte Frau herangewatschelt kam und sich angesichts ihres hohen Alters ebenfalls überraschend tief verneigte. So viel Achtung war Koumei überhaupt nicht mehr gewohnt. Die meisten Untergebenen in der Niederlassung in Balbadd pflegten ein recht lockeres Verhältnis zu ihren Herren, vielleicht weil Kouens Vasallen mit schlechtem Beispiel vorangingen. Aber der Prinz störte sich nicht daran, ihn machte zu viel Verehrung eher verlegen, als glücklich. Mit einem unbehaglichen Blick bat er Chuu'un stumm um Rat. Es schien, als wollten sich die beiden Frauen überhaupt nicht mehr aufrichten und auch Tekkyo wirkte wieder sehr verlegen. Die zu lange Abwesenheit der Herrscher nahm den Bediensteten wohl das sichere Wissen, wie sie sich benehmen sollten. Schließlich rettete Chuu'un die Situation, in dem er an die Dienerinnen gewandt sprach: „Ihr dürft euch erheben. Mein Herr, Prinz Koumei, Sohn des jüngst verstorbenen Kaisers Koutoku Ren, möchte die wenige freie Zeit, die er in seiner Heimat verbringt, dafür nutzen, an seinen Geburtsort zurückzukehren.“ Das junge Mädchen blickte sittsam zu ihnen auf, während die Alte freudig lächelte. Überraschenderweise erkannte Koumei sie sofort als eine der Dienerinnen, die sich damals immer mit seinem Haar abgeplagt hatten. Kein Wunder, dass sie ohne zu klagen hier zurückgeblieben war. Wie war noch gleich ihr Name gewesen? Xi-Jin oder dergleichen? „Jiu-Jin und meine Tochter Xiiri sind meine Assistentinnen und organisieren die Arbeit auf dem Gelände. Bedauerlicherweise unterstehen ihnen nicht mehr viele Diener und Sklaven, sodass wir beschlossen haben, unser Hauptaugenmerk auf das Haus zu richten. Wir hoffen, Eure Hoheit sind nicht erzürnt über diesen Umstand?“ Da Koumei nun wirklich nicht wusste, was er erwidern sollte, nickte er lediglich so freundlich er konnte, wobei er befürchtete, dass seine finstere Miene alles andere als überzeugend wirkte. Bevor er sich jedoch darüber ärgern konnte, ergriff die alte Frau, Jiu-Jin, das Wort: „Welch eine Ehre, Prinz Koumei nach all den Jahren wiederzusehen. Womit können wir Euch dienen? Ihr seid gewiss hungrig, mein Prinz. Lasst mich ein bescheidenes Mahl zubereiten, auch wenn ich fürchte, es wird Euren Ansprüchen in keinster Weise gerecht werden. Wünscht Ihr ein heißes Bad zu nehmen? Xiiri wird es unverzüglich vorbereiten und Euch neue Gewänder herauslegen. Eure Gemächer sind immer noch in bestem Zustand, falls ihr Euch zuerst ein wenig von der langen Reise erholen möchtet. Für Euren Begleiter können wir ein Gästezimmer herrichten, wenn es Euch recht ist.“ Offenbar entging den Bewohnern dieses Hauses so einiges, was in der Außenwelt geschah. Sonst hätten sie ganz sicher gewusst, dass Koumei nicht mehr sonderlich oft zu Fuß reiste, sondern Dantalion benutzte. Aber die Angebote der Dienerin klangen wirklich verlockend. Außerdem behandelte sie ihn vollkommen anders als früher, wo er noch ein kleiner Junge gewesen war, der panische Angst vor ihrer groben Hand beim Bürsten seiner Haare und Waschen seiner Haut gehabt hatte. Er würde die Gelegenheit sich zu waschen nutzen, aber ganz sicher nicht in der Nähe dieser Frau. Sie hatte ihn früher schon genug gequält, in dieser Hinsicht traute er ihr nicht mehr über den Weg. Kein Wunder, dass er nicht gerne badete. Aber nach dieser Wanderung durch das Gestrüpp und nach der engeren Bekanntschaft mit einem Busch freute er sich beinahe auf wohltuendes Wasser und duftende Seife. Zum Glück würde er die Hilfe der beiden Frauen nicht benötigen, heute hatte er ja den fürsorglichen Chuu'un dabei. „Das sind sehr ansprechende Vorschläge. Wir werden beide ein Bad nehmen. Etwas zu Essen wäre besonders für meinen Vasallen hier wünschenswert.“ Kaum hatte Koumei seine Sätze beendet huschte Xiiri flink wie ein Reh davon. Ein tüchtiges Mädchen. Auch Jiu-Jin verabschiedete sich, wahrscheinlich um das Essen vorzubereiten. Nun befanden sie sich wieder alleine mit Tekkyo in dem großen Raum. Interessiert begutachtete Koumei die zarten Sandelholzregale, in denen einige Schriftrollen lagerten. Damals hatten sie sich noch nicht in der Eingangshalle befunden. „Mein Herr, möchtet ihr Euch vor dem Bad zurückziehen oder wünscht Ihr, etwas anderes zu tun? Ach, verzeiht, ihr solltet natürlich vorerst Euer Gepäck abstellen können“, brabbelte Tekkyo vor sich hin. Das ließ sich wirklich nur schwer ertragen. Am liebsten wäre Koumei sogleich in seine Räume gekrochen und im Bett verschwunden, aber das konnte er sich vor dem Essen nicht leisten. Sein Vasall würde ihn dafür sicherlich umbringen, wahrscheinlich kochte er innerlich vor Zorn über den langen beschwerlichen Weg, den er bekanntlich mit einer großen Last auf dem Rücken zurücklegen musste. Während Chuu'un also das Gepäck mit Hilfe eines weiteren Dieners fort brachte, blieb Koumei nicht viel zu tun, außer sich in der Eingangshalle umzusehen. Da er nicht viel für das Gestammel des Verwalters erübrigen konnte, wandte er sich vollständig den Schriftrollen zu. Enttäuschenderweise behandelten die meisten lediglich das Thema, wie man ein großes Anwesen in Schuss hielt. Bis auf die Hauspflegevorschläge hatten die Anweisungen und Hinweise nicht viel genutzt. Da hatte wohl jemand nur stümperhaft gelesen. Oder die Texte waren nicht brauchbar und enthielten falsche Anleitungen. Gelangweilt tappte der Prinz durch die Halle, hob den Kopf zur mit Schnitzereien verzierten Decke, von der ein paar hübsche Laternen herabhingen, die zu dieser Tageszeit überflüssig waren, da genügend Licht durch die offenen Fenster in den Raum flutete. Die ganze Zeit über war er sich des unsicheren Blickes des schmächtigen Mannes bewusst. Ein weniger friedliebender Geselle, hätte ihn wahrscheinlich längst hinrichten lassen. Solch ein nerv tötender Charakter. Welch eine Wohltat, als endlich Xiiri zurückkehrte und verkündete, dass das Bad bereitet war. Sie wirkte ein wenig gehetzt, als hätte sie sich beim Bereitstellen und Erhitzen des Wassers sehr beeilt. Interessiert betrachtete Koumei das Dienstmädchen. Ihr nachtschwarzes Haar hatte sich aus seinem Knoten gelöst und fiel ihr durchaus reizend ins Gesicht. Ihre dunklen Augen strahlten noch nicht die Resignation der älteren Bediensteten aus. Die zartblaue Leinenrobe harmonierte angenehm mit ihrer für Diener ungewöhnlich zarten Haut, auch wenn das schlichte Kleidungsstück in der Eile ein wenig verrutscht war. Unauffällig glättete das Mädchen die Falten des Gewandes und lächelte ihn unverbindlich an. Sehr professionell. Insgesamt bot sie einen überaus erfreulichen Anblick. Auch Jiu-Jin sah trotz ihres beträchtlichen Alters gepflegt aus, was man von Tekkyo Ki nicht unbedingt behaupten konnte. Aber alles in allem schien es um das kaiserliche Landhaus gar nicht mal so schlecht zu stehen. Allerdings war dem ungeschickten Verwalter Koumeis Musterung nicht verborgen geblieben. Natürlich deutete er sie prompt falsch, so verkrampft wie er mit einem Mal dastand. Unbehaglich huschten seine kleinen Augen zwischen dem Mädchen und dem Prinzen hin und her. Oh, da sorgte sich jemand um seine Tochter. Es war interessant, wie unterschiedlich Menschen sein konnten. Die einen sperrten ihre Töchter ein, damit sie ja keinem Mann vor die Nase liefen, die anderen – und zu dieser Gruppe gehörten die meisten - führten sie bereitwillig, fast wie Waren, den Adeligen vor, um sich vielleicht ein wenig Ansehen und Wohlstand erkaufen zu können. Nicht wenige hofften, dass ihre Töchter später einmal Mütter von hochrangigen Kindern werden würden. Vielleicht sogar von kaiserlichen Sprösslingen. Allerdings konnten sie in Koumeis und sicherlich auch in Kouens Fall lange darauf warten. Die kaiserlichen Brüder hegten wahrhaft wichtigere Interessen. Schade für den Gutsverwalter, der grade ebenfalls auf die Idee zu kommen schien, dass Xiiris Schönheit ihm durchaus Gewinn und nicht unbedingt Nachteile bringen könnte. Bevor er Koumei jedoch irgendwelche unerwünschten Angebote machen konnte, wies der Prinz darauf hin, dass er jetzt gerne sein Bad nehmen wollte. Xiiri nickte gehorsam und führte ihn pflichtbewusst durch altvertraute Korridore in Richtung Baderaum. Erfreulicherweise teilte sie nicht die Gedanken ihres Vaters, sondern verhielt sich völlig unaufdringlich und ging schnellen Schrittes voran. Die Flure hatten sich überhaupt nicht verändert. Überall hübsche Sandelholzschnitzereien, ab und an sogar goldverziert. Hie und da roter Teppich, mal Holzdielen, mal Fliesenboden mit Mosaiken. Unterwegs stieß Chuu'un zu ihnen. Der Bogenschütze hatte seine oberen Gewänder abgelegt und war nur noch in eine leichte, weiße Robe gekleidet. Offenbar sehnte er sich genauso sehr danach, den Schmutz aus dem Garten loszuwerden wie sein Herr. Koumei bedeutete ihm mitzukommen und Xiiri meinte, dass sie auch für seinen Gefolgsmann ein Bad vorbereiten könnte. Der Prinz winkte ab. Chuu'un brauchte keine Sonderbehandlung, wo kämen sie denn da hin? Ebenso wenig hatte der Kerl den freundlichen Blick des Mädchens nötig, den sie ihm verstohlen zuwarf. Wieder bemerkte er den durchaus nicht abgeneigten Blick seines Vasallen. Das durfte nicht wahr sein. Wofür hatte man dem Bogenschützen denn die strenge Erziehung am Kaiserhof zukommen lassen, wenn dieser sich von einem dahergelaufenen Dienstmädchen um den Finger wickeln ließ? Koumei kannte diese Anzeichen, er hatte sie in der Vergangenheit schon einmal gesehen, das glaubte zumindest, und erfolgreich unterbunden. Ungehalten stieß er seinen Vasallen in die Seite. Überrascht wandte sich ihm der überwachsene Kopf zu. Wenn er darüber nachdachte ein äußerst erheiternder Anblick. Dennoch, davon sollte er sich nicht ablenken lassen, immerhin galt es, Recht und Ordnung zu bewahren. „Chuu'un, ich glaube, du schläfst heute Nacht in meinem Bett, falls wir hierbleiben müssen“, warnte er leise. Seine einzige Hoffnung bestand darin, dass die junge Dienerin in Chuu'uns ausdrucksarmen Gesicht nicht lesen konnte, dass sie ihm offenbar recht gut gefiel. Er brauchte seinen Diener nämlich in seiner Nähe und nicht auf Schürzenjagd, das sollte der Kerl gar nicht erst versuchen. Nicht dass Chuu'un es je getan hätte, aber Koumei war misstrauisch. Fühlte sich in seinem Heimatland ohne bewaffneten Begleiter nicht mehr sicher. Er wollte nicht, dass sein Vasall über zweifelhaften Gedanken seine Pflichten vernachlässigte und er selbst am Ende unbewacht in seinen Gemächern ruhte, während eine weitgehend unbekannte Dienerschaft über das Anwesen schlich. Außerdem war er der Ansicht, dass Chuu’un alleine ihm verpflichtet war und sich nicht mit anderen Leuten abgeben sollte. Und er mochte ihn. Ein kleines bisschen zu sehr, um ihm irgendwelche unverantwortlichen Abenteuer mit deutlich jüngeren Mädchen zu zugestehen. Deshalb schickte er Xiiri nach dem Betreten des Baderaumes unverzüglich fort. „Aber Herr, wollt ihr Euch wirklich alleine zurecht machen? Es ist doch meine Aufgabe!“, protestierte sie überrascht. Doch als Koumei sie mit einem einzigen finsteren Blick durchbohrte, suchte sie schleunigst das Weite. Besser für diese nervige Henne, sie verbreitete zu viel Energie, als das der Prinz sich angemessen entspannen könnte. *~* Kapitel 34: Bad --------------- *~* Warmer Wasserdampf waberte aus dem hölzernen Badezuber durch den vertrauten Raum. Die klare, nach teuren Ölen duftende Flüssigkeit verlockte regelrecht dazu, sich in ihr zu waschen. Nur hatte Koumei inzwischen einen Großteil seiner Badelust eingebüßt. „Gibt es irgendein Problem? Ihr seht nicht sehr zufrieden aus…“, erkundigte sich Chuu'un vorsichtig, nachdem die Tür hinter der jungen Frau, Xiiri, ins Schloss gefallen war. „Halt den Mund“, schnappte Koumei und nahm auf einem kleinen Hocker Platz. Pass besser auf, dass du nicht zum Problem wirst und starr‘ diesem jungen Ding nicht derart auffällig hinterher! Überrascht über die groben Worte verschmälerten sich Chuu'uns Lippen. Zu seinem eigenen Glück erlaubte er sich keinen weiteren Kommentar, sonst hätte er wohl einen umfassenderen Einblick in die Gedanken seines Herren erhalten, als ihm lieb war. „Worauf wartest du eigentlich noch? Darauf, dass wir beide hier Wurzeln schlagen?“, herrschte ihn Koumei nach einer Weile an. Er hatte sich bereits die Schuhe selbst von den Füßen streifen müssen, was mehr war, als er für gewöhnlich tat. „Was ist bloß mit Euch geschehen, Prinz Koumei? Irgendetwas stimmt hier doch nicht, oder?“, fragte Chuu'un ratlos. Kein Wunder, dass er seine Arbeit nicht erledigen konnte, wenn er in Gedanken entweder bei dieser Dienerin oder der mürrischen Reaktion seines Herren verweilte. „Entkleide mich endlich und steck mir die Haare hoch!“, fauchte Koumei ungehalten. Der Vasall hob abwehrend die Hände. Schlechte Laune kannte er als Diener zur Genüge, derart laute Äußerungen allerdings nicht so gut. Für gewöhnlich beließ der zweite Prinz es bei einem schlaffen Murren. „Aber natürlich, mein Herr.“ Resigniert öffnete Chuu'un Koumeis Roben und legte sie säuberlich gefaltet auf die an der Wand stehende Kommode. Sein Herr erschauderte sogleich. Sobald sein Körper nicht mehr von den beiden dicken Stofflagen bedeckt war, wurde er sich erstmals vollends des mächtigen Temperaturunterschiedes zu Balbadd bewusst. Kein Zweifel, der Herbst stand kurz bevor und er würde eisig werden. Fröstelnd verschränkte er die Arme vor der Brust und wickelte sich in ein bereitliegendes Handtuch, während sein Vasall versuchte, seine Haare vorsorglich vor dem Nasswerden zu schützen. Vielleicht würde er sich bald über die Wärme in Balbadd freuen. Nun jedoch fühlte er sich verhältnismäßig wohl, zumindest für einen winzigen Moment, da er sich in dampfendes Wasser gleiten lassen konnte. Eigentlich war es ein herrliches Gefühl, von den winzigen Wellen umspielt zu werden und die Nässe auf der verschwitzten Haut zu fühlen. Die Temperatur war weder zu kalt noch zu heiß, eine wahre Wohltat. Wenn seine langen Haare nicht wären, die jedes Bad zu einer ausgedehnten, ermüdenden Prozedur ausufern ließen, hätte er sich vielleicht des Öfteren dieser Tätigkeit erbarmt. Aber nur vielleicht: Die ätherischen Öle, die die junge Dienerin hineingegeben hatte, machten die Flüssigkeit weich und verliehen ihr einen intensiv-blumigen Duft. Doch Koumei freute sich nicht besonders. Das Wasser würde bald seinen Leib auskühlen und der Geruch der Öle erinnerte ihn unangenehm an die aufdringliche Haaremsdame Kali. Irgendetwas hatte ihm grade gehörig die Laune verdorben. Er wusste nicht einmal mit völliger Sicherheit, woran genau es lag. So hockte er missmutig in dem großen Badezuber und ließ sich von Chuu'un den Rücken durchkneten. Höllische Schmerzen peinigten ihn unvermeidlich. Die Arbeit machte ihn wirklich krank. Zumindest seine Schultern und die Muskeln, die alles zusammenhielten, litten unter den tage- und nächtelangen Anstrengungen, sowie dem Bewegungsmangel. Richtig bewusst wurde einem dieser Umstand erst, wenn sich jemand daran machte, die festen Verspannungen zu lockern. Nur stand Koumei in diesem Moment absolut nicht der Sinn danach, sich derart foltern zu lassen. Nein, er konnte sich schöneres vorstellen, als in dieser Wanne angeblich massiert zu werden, obwohl alles was dabei herauskam, heftige Nackenschmerzen und halbe Knochenbrüche waren. „Hör endlich auf mit diesem Quatsch! Das hält ja niemand aus!“, fuhr er seinen Vasallen an. Chuu'un widersprach verdrießlich: „Aber mein Prinz, es wird Euch guttun! Merkt ihr denn nicht, dass Ihr Euch viel sorgloser bewegen könnt, wenn die verhärteten Muskelstränge ein wenig aufgelockert werden?“ „Das einzige, was man dank deiner stümperhaften Behandlung spürt, sind endlose Qualen!“, schnaubte Koumei verärgert und schlug die kräftigen Hände fort. „Fass mich nicht an. Nicht so, sonst bricht gleich irgendetwas in meinem Körper und du darfst mich die nächsten paar Jahre durch die Gegend tragen. Willst du das? Vermutlich nicht, oder?“ „Mein Herr, ich würde Euch niemals mutwillig verletzen, alles was mir am Herzen liegt, ist Eure Gesundheit“, beteuerte der andere. „Dann nimm deine feuchten Finger von meinen Schultern!“ Chuu'un kniete sich an Koumeis Seite und schenkte ihm unter den langen Stirnfransen hindurch einen vorwurfsvollen Blick. Widererwarten erweckte grade diese Geste ein ungeahntes Entzücken bei seinem Herrn, mit dem dieser selbst am wenigsten gerechnet hätte. „Komm her“, befahl er plötzlich überaus angetan. Erfreut griff er nach dem Gesicht seines Bediensteten und zog ihn am Kinn soweit zu sich, wie es dieser in seiner Überraschung zuließ, ohne vollkommen bekleidet in die Wanne zu fallen. Um die Gewänder wäre es schade gewesen. Dennoch hatte der Prinz eben etwas überaus Vielversprechendes entdeckt. „Aber Herr, was tut ihr da?“, murmelte Chuu'un verunsichert, als ihm sanft, aber etwas ungeschickt die schweren Haarsträhnen aus der Stirn geschoben wurden, wobei warme Wassertropfen seine Wangen hinunterrannen. Koumei scherte sich allerdings nicht um seine Verwirrung, sondern begutachtete voller Konzentration die gold-gelben Augen des Vasallen. Dank dieser nervigen Haarmähne bekam er sie so gut wie nie zusehen. Grade eben jedoch hatte er geglaubt, etwas Neues in ihnen erkannt zu haben. Etwas, das vorher noch nicht da gewesen war. Chuu'un hatte immer schon eine ungewöhnliche Augenfarbe besessen, ein so helles Braun, dass es golden schimmerte. Seit der begonnenen Angleichung an Dantalion hatte sich dieser Eindruck jedoch immer weiter verstärkt. Koumei nahm dies als gutes Zeichen hin: Je mehr sich der Körper seines Untergebenen veränderte, desto stärker und vertrauter wurde er mit dem Dschinn des Raumes und der Zeit. Ja, mittlerweile besaß Chuu'un faszinierende Raubtieraugen, die in der Dunkelheit regelrecht glühten. Doch was die Aufmerksamkeit des Prinzen insbesondere fesselte, waren die kaum merklich verschmälerten Pupillen, die vorher vollkommen rund und unauffällig gewesen waren. „Hast du in den letzten Tagen mit deinem Hausgefäß geübt?“, wollte Koumei wissen und drehte das Gesicht des anderen hin und her, damit ihm keine noch so kleine Veränderung darin entging. Chuu'un, der sichtlich erleichtert war, den harmlosen Grund für Koumeis seltsames Verhalten zu erfahren, verneinte. Kein Wunder, zum Trainieren hatte er kaum Gelegenheit gehabt, wo er die ganze Zeit in der Nähe seines Prinzen gewesen war. Das bedeutete entweder, dass sich seine Pupillen vor einiger Weile verändert hatten, ohne dass es Koumei aufgefallen war oder dass sich eine Angleichung auch schleichend und vielleicht sogar von alleine vollziehen konnte. Welch eine interessante Beobachtung! Von dieser Vermutung sollte er Kouen in Kenntnis setzen. Möglicherweise eröffneten sich ihnen hier neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Dungeonerforschung. Leider konnte er seine Vermutung nicht beweisen, so selten wie man dem Bogenschützen in die Augen schauen konnte… Er würde ihn wohl öfter kontrollieren müssen. Zwar hätte er ihm auch einfach befehlen können, die Haare zu schneiden, doch er wusste, wie unangenehm dem Vasallen die ungewöhnliche Farbe bereits seit frühester Kindheit gewesen war und wenn es mit der Angleichung weiterging, würde es wohl nicht besser, sondern eher noch auffälliger werden. Aber alles in allem blieb sein Vasall ein ansehnlicher Mann. Ob ihm irgendwann Hörner aus der Stirn sprießen würden wie bei seinem Herrn in der Dschinnausstattung? Chuu'un würde sie sich eigenhändig ausreißen, weil sie ihm das Tragen eines Helmes verwehren würden. Aber darüber mussten sie sich im Moment keine Sorgen machen. Die langsame Angleichung genügte Koumei vollends. „Du machst deine Arbeit wirklich sehr gut“, lobte er zufrieden, wobei er die schmerzhaften Massageversuche gekonnt vergaß. War er nicht ein gnädiger Prinz? Was eine hervorragende Entdeckung nicht alles zum Besseren wenden konnte. Chuu'un senkte scheinbar verlegen den Blick und nahm ein Stück Seife von der Ablage. Nachdem er seine Hände befeuchtet hatte, sonderte sie einen zarten Kirschduft ab, der leider in der Flut der ätherischen Öle unterging. Seit Koumei denken konnte, benutzten sie derartige Seife in Kou. Es war ein recht edles Produkt, aus den feinsten Kirschblüten gefertigt, aber nicht so ein überflüssiges Luxusgut wie Judars sindrianisches Pfirsichhaaröl. Mit Seife konnte man sich immerhin Schmutz und Dreck vom Hals schaffen. „Das Wasser wird bereits kalt“, bemerkte der Vasall, während er ihm die Schultern einschäumte. Koumei zuckte die Achseln. Ihn kümmerte das wenig, denn er hätte die lästige Säuberungsprozedur gleich hinter sich gebracht, aber der Bogenschütze würde im abgekühlten Nass unweigerlich weniger Freude an dem Bad haben. „Dann komm doch mit rein“, schlug der Prinz gähnend vor. Der Zuber bot nun wirklich ausreichend Platz, wenn sie sich ein wenig miteinander arrangierten. Außerdem hätte er dann ein höchst bequemes Kissen, auf welchem er seinen schweren Schädel zur Ruhe betten konnte. Offensichtlich sah Chuu'un ebenfalls seinen Vorteil in der Sache. Wer wollte schon eisiges Wasser, falls er auch warmes bekommen konnte? „Wenn es Euch recht ist…“, murmelte er und streifte rasch sein unter Gewand ab, ehe er sich ebenfalls in den Bottich begab. Schlagartig stieg der Wasserspiegel ein ganzes Stück an, bis er Koumei über die Brust reichte. „Oh, ich hatte ganz vergessen, wie groß du bist.“ „Verzeiht mein Herr, nicht jeder ist so zart gebaut wie Ihr“, entgegnete der andere, was ihm einen Schwall Wasser ins Gesicht einhandelte. „Schweig und rede nicht solch einen Unsinn“, brummte Koumei gekränkt. Er wusste ja, dass er nicht kräftig war, aber ihn als zart zu bezeichnen entsprach hoffentlich nicht der Wahrheit. Er war abgemagert, nicht zart! Das war ja wirklich beleidigend! Welcher Mann wollte schon zierlich sein? Niemand. Was brachte einem solch eine Figur? Nichts außer Schwäche. Und Schwäche konnte keiner gebrauchen, sie war ein einziges Hindernis, wie der Prinz aus Erfahrung sagen konnte. Manchmal verfluchte er seine Schlaffheit vehement, vor allem wenn er sich aus diesem Grund fürchterliche Kommentare seitens des Vasallen anhören musste, für die man ihm nicht einmal böse sein durfte, weil sie mehr Wahrheit in sich trugen, als er sich eingestehen wollte. „Entschuldigt. Es ist einfach mit mir durchgegangen“, lächelte Chuu'un und schob sich das nun feuchte Haar zurück. „Wenn ihr erlaubt werde ich mit dem Waschen jetzt fortfahren?“ Koumei gestattete es und drehte sich ein wenig ungeschickt in der Enge des Zubers herum, während Chuu'un ein wenig näher an ihn heranrückte, um den Seifenschaum von seinen Schultern zu spülen. Der Prinz konnte ein neuerliches Gähnen nicht unterdrücken. Wenn man ihre Hintergrundgeschichte betrachtete, grenzte es an ein Wunder, dass er derart entspannt und ohne Hintergedanken zwischen Chuu'uns Knien saß. Irgendwann fielen ihm die Augen zu und dann hörte er nur noch ein heftiges Platschen, als er nach vorne kippte und sich Chuu'uns Mühe, die er sich mit den Haaren gegeben hatte, in Luft auflöste. *~* //_*\ Zu Tode erschrocken fing Chuu'un seinen Herrn auf und zog dessen matt herabhängenden Kopf aus dem grauen Badewasser. Nun war er wirklich froh, dass er hinter ihm gesessen hatte, denn so konnte er ihn besser vor dem Ertrinken bewahren. Wenngleich es sich irgendwie falsch anfühlte, die Wanne mit ihm zu teilen, auch wenn es ihm seltsamerweise gefiel. Heute war es das Glück des Prinzen gewesen. Wer schlief schon einfach so im Badezuber ein? Das konnte nur Ren Koumei sein… Großartig. Vor allem, dass der straffe Haarknoten ebenfalls für einen winzigen Moment unter Wasser getaucht gewesen war. Mit ein wenig Glück hatte es nur die äußeren Haare seines Herrn angefeuchtet, mit etwas mehr Pech wäre alles durchnässt. Vorsichtig lehnte er ihn an seine Schulter und wischte ihm die Tropfen aus dem Gesicht. Bei den Ruhk, wenn Koumei alleine gebadet hätte, hätte er wirklich sterben können, welch ein verstörender Gedanke. Der Prinz war schlimmer als ein kleines Kind, immer musste man ihn beobachten. Andererseits machte es einen eigentlich mächtigen Kaisersohn unvergleichlich nahbar und sympathisch, wenn er ohne Hilfe kaum überleben konnte und selig schlafend an seinem Vasallen lehnte. Chuu'un musste ihn noch immer festhalten, damit er nicht zurück unter die Oberfläche rutschte. Da würde eine gründliche Reinigung für ihn selbst wohl entfallen. Egal, er wusste immerhin, wie man sich richtig zu waschen hatte, wo er sich bei Koumei nicht so sicher war. Die kaiserlichen Hoheiten rasierten sich lieber sämtliche Körperbehaarung ab, anstatt regelmäßige Bäder zu nehmen. Zweifelsohne, das konnte manchmal hilfreich sein, doch hygienisch fand Chuu'un das nicht grade. Sein Vater hatte ihm beigebracht, sich regelmäßig zu baden und mehrmals am Tag die Hände zu waschen. Mit Seife. Besonders, wenn er im Dreck oder mit Tieren gespielt hatte. Er hatte meist ein kleines Stückchen dabei. Das konnte einigen Krankheiten vorbeugen. Er wusste nicht, wie oft er mit Koumei bereits über dieses leidige Thema diskutiert hatte, aber der Prinz badete immer noch ungern. Kein Wunder, als Kind konnte es traumatisierend wirken, von ungeschickten Dienern gewaschen zu werden, je nachdem wie dumm sie waren. Es gab durchaus Menschen, die Kinder badeten, indem sie sie für einen Moment unter Wasser drückten. Sicherlich war Koumei solch ein unfreiwilliger Tauchgang in schlechter Erinnerung geblieben. Momentan träumte er jedoch höchst zufrieden und schmiegte sich dicht an Chuu'uns Seite. Vorsichtig ergriff dieser die Seife und begann, sachte das Gesicht seines Herrn zu waschen. Behutsam tupfte er die narbige Haut ab, in der Hoffnung die Säuberung würde ihr vielleicht guttun. Im wachen Zustand hätte er dies nie geschafft. Danach allerdings wurde er eines großen Problems gewahr: Das Wasser war mittlerweile stark abgekühlt und die Lippen seines Prinzen nahmen langsam einen beunruhigend bläulichen Farbton an. Wenn Chuu'un jedoch aufstehen würde, um ihn anschließend aus dem Zuber zu heben, würde Koumei erst einmal untergehen. Je nachdem wie geschickt sich Chuu'un dabei anstellte, ihn zu retten, konnte dieses Vorhaben gefährlich werden. Also strich er seinem Herrn leicht über die Wange, dann versuchte er es mit Sprechen, mit Rufen. Als auch Schütteln nicht wirkte, beschloss er, einfach noch ein wenig abzuwarten. Solange Koumei nicht zitterte wie Espenlaub, konnte es nicht dramatisch sein. Chuu’un war ohnehin eher optimistisch veranlagt. So verharrte er in seiner nicht unbedingt bequemen Position, bis es an die Tür klopfte. Auf sein Herein betrat Xiiri den Raum. „Das Essen ist bereitet, die Herrschaften“, meinte sie und musterte mit unterschwelligem Erstaunen den schlafenden Prinzen, was Chuu'un ihr nicht verübeln konnte, auch wenn es ihm für Koumei leidtat, der sich mittlerweile einen behaglichen Platz an seiner Seite geschaffen hatte. Besonders die gelegentlichen Stupser, die ihn eigentlich aufwecken sollten, schienen seinem Schlaf sehr förderlich zu sein. „Benötigt ihr Hilfe?“, fragte sie unsicher. Chuu'un bemühte sich um ein entschuldigendes Lächeln. Sicherlich war es für ein derart junges Dienstmädchen nicht das angenehmste, sich mit zwei entkleideten Männern abzugeben. Plötzlich ließ ihn eine schwache Bewegung an seinem Arm aufmerken. „Mein Herr?“, flüsterte er, um nicht direkt der kaiserlichen Ruhestörung angeklagt zu werden, während Koumei träge in die Umgebung hinein blinzelte. Müde flackerte sein Blick über die vertraute Einrichtung des Raumes, ehe er an Xiiri hängen blieb. Der völlig schlaftrunkene Ausdruck auf seinem Gesicht verschwand mit einem Mal vollends. An dessen Stelle trat unverhohlene Abneigung. Chuu'un zuckte beinahe zusammen, als Koumeis Fingernägel sich in seine Brust und den Arm gruben, den er ihm stützend um den Oberkörper gelegt hatte, damit er nicht elendig ertrank. Doch der Prinz rutschte lediglich ein Stück näher an ihn heran und presste seinen Kopf gegen die Brust des Vasallen, als wollte er die Dienerin nicht ansehen. Gleichzeitig schlang er die dürren Arme um ihn, als fürchtete er, der Bogenschütze würde ansonsten davon laufen und ihn doch noch elendig verenden lassen. Nicht unbedingt angenehm. Chuu'un wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, vor allem da sie sich nicht länger alleine ihm Zimmer befanden. „Herr? Mein Vater trug mir auf, Prinz Koumei darüber zu unterrichten, dass die Speisen angerichtet seien“, verkündete das Mädchen schüchtern. Nun gut, sie wusste es ebenso wenig. Koumei wandte nun doch das Gesicht zu ihr um und musterte sie abweisend. „Hinfort mit dir!“, befahl er düster und Xiiri zuckte erschrocken zusammen, ehe sie erschüttert davon eilte. Offensichtlich hegte der Prinz eine starke Abneigung gegen die junge Frau. Eigentlich verwunderte Chuu'un dies, da die Dienerin bestens gekleidet war und höfliche, angemessene Manieren zeigte. Ihr Aussehen zog einen vielleicht nicht in den Bann, aber als ansehnlich konnte man sie durchaus bezeichnen. Eigentlich seltsam, dass sie trotzdem unterschwellige Ähnlichkeiten zu ihrem eher plumpen Vater aufwies, wo sie doch so gertenschlank war. Genaugenommen fand der Vasall sie sehr hübsch, was er allerdings nur am Rande vermerkte. Alles in allem hielt er Xiiri jedenfalls für äußerst tüchtig. Falls sich eine Gelegenheit ergab, würde er sich freuen, ein ruhiges Gespräch unter Kollegen mit ihr führen zu dürfen. Bestimmt würde das Mädchen dem nicht abgeneigt sein. Sicherlich würde ihr ein wenig Abwechslung von dem stressigen Arbeitsalltag gut bekommen und wenn diese auch nur ein paar Augenblicke währte. Mal sehen, was sich ihm in der nächsten Zeit für Möglichkeiten bieten würden. So anhänglich wie sich sein Herr momentan benahm, würde er allerdings keinen einzigen Moment für sich bekommen. Weshalb Koumei ihr mit dieser Unfreundlichkeit begegnete, wollte ihm nicht einleuchten. Obwohl… eigentlich kannte er diese Situation bereits. Der zweite Prinz war immer ein liebes Kind und ein ebensolcher Jüngling gewesen. Schüchtern und müde zwar, aber mit einem freundlichen Lächeln, wenn man sich darauf verstand, es hervor zu locken. Allerdings wäre er kein Ren gewesen, hätte es an ihm nicht die eine oder andere schlechte Seite gegeben. Besonders in Stresssituationen verwandelte er sich in ein manipulatives Monster und fühlte er sich wirklich schlecht konnte er auch eine hysterische Furie sein. Selbstverständlich geschah letzteres nicht häufig, aber Chuu'un hatte genügend Jahre an Koumeis Seite verbracht, um sein Verhalten zu kennen. Vor ungefähr acht Jahren hatte Koumei ein Dienstmädchen namens Hina versetzen lassen, weil sie Chuu'un scheinbar zu oft angeschaut hatte. Ungefähr so hatte es der Prinz formuliert. Zugegebenermaßen hatte sein Herr damit nicht ganz Unrecht gehabt, denn nach einer Weile hatte selbst der Vasall bemerkt, dass ihre höchst interessierten Blicke nicht, wie er zuerst fälschlich vermutet hatte, seinem jungen Herrn gegolten hatten, sondern ihm selbst. Als einfacher Bediensteter wunderte man sich immer, wenn die Aufmerksamkeit anderer nicht auf den Hoheiten ruhte. Also hatte er irgendwann damit begonnen, die Musterung möglichst unauffällig zu erwidern, was in Anwesenheit seines Herrn keine gute Idee gewesen war. Während der Bogenschütze zaghaft zu dem Schluss gekommen war, dass das Dienstmädchen vielleicht ein wenig Ungehorsam wert war, hatte der Prinz ihm scheinbar jeden unzüchtigen Gedanken angesehen. Zweimal war es bei einer verblüffend strengen Ermahnung, oder eher gesagt Drohung, geblieben. Beim dritten Mal eskalierte die Lage jedoch und die Warnung verwirklichte sich umgehend: Koumei war fuchsteufelswild geworden und ausgerastet, falls man es bei ihm so nennen konnte, dabei war es zwischen den beiden lediglich zu vertraulichen Blicken gekommen. Keinen Tag später ließ sich von Hina kein Härchen mehr finden. Besorgt hatte der Vasall sich nach ihr erkundigt und Koumei hatte ihm achselzuckend erklärt, dass er das Mädchen an einen entlegenen Ort des Palastes verweisen lassen hatte, wo sie sich mit dem Sortieren von Schriftrollen beschäftigen musste. Viel zu spät hatte Chuu'un begriffen, was genau den Grund dafür dargestellt hatte. Heute wusste er längst, dass Koumei es nicht duldete, wenn er sich zu vertraut mit anderen Menschen zeigte. Seishuu, sein ältester Freund blieb die einzige Ausnahme, mit diesem durfte er sogar etliche Stunden verbringen, falls er einen seltenen freien Tag erhielt. Koumei war damals von extrem misstrauischer Natur gewesen und hatte geglaubt, dass Chuu'un seine Aufgabe nicht ernst nahm, wenn er sich zu viel mit Fremden abgab. Weitaus entscheidender hatte jedoch die Tatsache gewirkt, dass Koumei ihn für sich alleine haben wollte, seltsam anhänglich wurde und starke Eifersucht zeigte. Nun gut, damals war er sowohl einsam als auch noch sehr jung gewesen und hatte in ständiger Furcht vor einem erneuten Anschlag auf das Leben seiner Familie leben müssen. Heute konnte man das nicht mehr von ihm behaupten, sein Herr freute sich über jede freie Minute, in der er keinerlei andere Personen um sich herum hatte. Gegen damals konnte das entweder sehr lästig oder aber sehr befreiend wirken. Früher hatte Chuu'un sich ein paar Monate lang kaum aus dem Raum begeben dürfen, ohne Koumei damit in tiefe Verzweiflung zu stürzen. Vielleicht fürchtete er, dass hinter seinem Rücken Intrigen und Mordanschläge geplant wurden. Wahrscheinlich hatte er auch einfach nur panische Angst, von seinem Getreuen verlassen zu werden, weil dieser plötzlich andere Interessen hegte. Wenn Chuu'un einem hübschen Mädchen ein wenig zu lange hinterher sah, verfinsterte sich Koumeis Miene manchmal immer noch. Jeglicher intimer Umgang mit Frauen, insbesondere der Palastdienerinnen war ihm strengstens untersagt. Damals hatte es lange und ein sehr eindeutiges Ereignis gebraucht, um Chuu'un darüber aufzuklären, warum Koumei dieses gnadenlose Verbot verhängt hatte. Einmal, nach einem Festbankett, bei dem der Pflaumenwein in den üblichen Strömen geflossen war, hatte Koumei sich derart über ihn aufgeregt, dass er Chuu'un sogar damit gedroht hatte, ihn entmannen zu lassen. Wie die Eunuchen, die den Harem des Kaisers bewachten. Dabei hatte Chuu'un überhaupt nichts getan. Und dann war Koumei in Tränen ausgebrochen. Was Alkohol nicht alles für reizende Seiten an einem Menschen zum Vorschein bringen konnte. Er musste unter schlimmen Verlustängsten leiden. Vermutlich dachte sein Herr nun, dass seine Anweisungen durch Xiiri gefährdet waren, was auch sein aufbrausendes Verhalten erklären würde. Dabei hatte der Bogenschütze nur ihre verwirrenden Ähnlichkeiten zum Vater abgleichen wollen. Zugegeben, am Anfang hatte ihn der strikte Befehl manchmal etwas angestrengt, denn vor acht Jahren war er noch jung und dumm gewesen, bedeutungslose Liebschaften zwischen Palastdienern und Vasallen galten eben als unvermeidlich, doch mittlerweile dachte er gar nicht mehr daran, sich zu widersetzen. Er diente seinem Herrn, schützte ihn mit seinem Leben, befolgte dessen Befehle und versuchte dessen Wünsche bestmöglich zu erfüllen. Das war alles, was er brauchte und wollte. So half er dem schlaftrunkenen Zottel pflichtbewusst aus dem Zuber und wickelte ihn führsorglich in das dicke Handtuch, ehe er sich selbst schnell abtrocknete und in das bereitgelegte neue Untergewand schlüpfte. Dennoch empfand er es eines Prinzen des Kou Reichs nicht würdig, so harsch mit der Dienerschaft zu sprechen. Während Koumei zu schlottern begann, ergriff der große Mann vorsichtig das Wort: „Mein Herr, hegt ihr eventuell eine Abneigung gegen das junge Dienstmädchen? Hat sie etwas falsch gemacht? Ich bin mir sicher, dass es nur ein Versehen gewesen ist. Seid ihr nicht böse.“ Doch Koumei ignorierte ihn eisern und entgegnete: „Wir sollten uns endlich für das Einnehmen unserer Mahlzeit bereit machen.“ Dieses Biest von einem Prinzen! Wenn er nicht wollte, ließ sich wirklich nicht mit ihm reden. Chuu’un verehrte den Sohn des zweiten Kaisers sehr, doch manchmal wollte selbst er ihm am liebsten den Hals umdrehen. //_*\ Kapitel 35: Erfolglosigkeit --------------------------- ~*~ Als die ersten Mitglieder der kaiserlichen Familie im Palast von Rakushou eintrafen, hockte Judar mit seinem obligatorischen Pfirsich auf einem der geschwungenen Dächer. Zwar frischte der Wind gegen Mittag auf, doch für den anstehenden Herbstbeginn war es auszuhalten. Die roten Ziegel speicherten die Wärme der Sonne, sodass sie oft einen behaglichen Ort zum Verweilen darstellten, fern von allen ätzenden Menschen mit denen sich der Priester ansonsten herumschlagen musste. Es dauerte lange, bis Judar bemerkte, dass langsam Leben in das vorher so stille Gebäude kam. Zuerst hatte er sich über den geschäftigen Trubel gewundert, doch bald verstand er, dass es die Sprösslinge des verstorbenen Kaisers sein mussten, die ihrem Vater die letzte Ehre erweisen wollten. Dessen krankheitsbedingter Tod war keine Überraschung. Die Kaiserin hatte ihm vor Wochen bereits von dem schlechten Zustand des Regenten erzählt. Wahrscheinlich hatte die alte Hexe sogar ihre Finger mit im Spiel. Zuzutrauen wäre es ihr alle Mal. Aber was kümmerte es den schwarzen Magi, solange Gyokuen ihn in Frieden ließ. Koutoku Rens Leichnam bot zwar einen äußerst abschreckenden Anblick, aber vielleicht geschah dieses unwürdige Ableben dem tyrannischen Idioten ganz recht. Es verschaffte Judar immerhin ein wenig mehr Ruhe vor seiner bösartigen Gattin, welche sich nun natürlich darum bemühte, ihre hohe Stellung im Reich beizubehalten. Der Magi freute sich bereits auf ihre Auseinandersetzung mit Kouen, welcher in der Erbfolge an nächster Stelle stand. Ob Gyokuen ihm die Macht einfach überlassen würde? Bestimmt nicht. Blöde alte Schachtel. Alles wäre besser, wenn an Koutokus Stelle sie gestorben wäre, dann müsste Judar nicht länger Ergebenheit und Gehorsam heucheln. An Kouens Seite ließ es sich viel angenehmer leben. Sie könnten erbarmungslose Kriege gegen all die winzigen, schwachen Länder auf der Welt führen und Kou endlich zu wahrer Größe verhelfen. Der erste Prinz schien seine Kriegslust in gewisser Weise zu teilen. Die Kaiserin hingegen war für seinen Geschmack viel zu sehr mit ihrer bescheuerten Sekte beschäftigt und ihr bösartiges Wesen schreckte selbst den chaosversessenen Magi ab. Wie sehr er diese verfluchte Hexe hasste! Missmutig schnipste der Hohepriester den abgekauten Pfirsichkern vom Dach. Mal sehen, wer von den kaiserlichen Kindern bereits angereist war. Offenbar hielten sie momentan eine Art Versammlung in einem der zahlreichen Palastsäle ab, denn aus einem großen Fenster drangen aufgeregte Stimmen zu ihm hinauf. Hoffentlich würde er dort auch dem hässlichen Zottel Koumei begegnen, dann könnte er ihm den heimtückischen Teleport zurückzahlen, welcher ihn vor den Augen der Kaiserin zu Boden befördert hatte. Judar schüttelte es allein bei der entwürdigenden Erinnerung an ihr falsches Lächeln, als sie auf ihn hinuntergeblickt hatte. Ja, etwas Rache würde ihm sicherlich helfen, sich besser zu fühlen. Während er zum Fenster des Versammlungsraumes hinüberschwebte, zerrte er seinen silbernen Zauberstab aus dem Schultertuch hervor. Welcher Zauber würde seinem Königskandidaten wohl am meisten Unwohlsein bereiten? In seinem Kopf manifestierte sich bereits eine gute Idee, die den Zottel mit Sicherheit aufs Tiefste verstört zurück lassen würde. Mal schauen ob er danach immer noch seine übliche desinteressierte Miene zur Schau stellen würde oder gar noch gähnen konnte. Bestimmt nicht, er würde vor Scham in Grund und Boden versinken! Alleine beim Gedanken an dessen überrumpeltes, verschlafenes Antlitz stahl sich ein schadenfrohes Grinsen auf sein Gesicht. Doch bereits im Näherfliegen ahnte er, dass seine Rachepläne warten mussten. Er spürte die Rukh des zweiten Prinzen nicht. Enttäuscht ballte er die Hände zu Fäusten. Vielleicht waren wenigstens Kouen oder Kougyoku anwesend, um ihm Auskunft über den Aufenthaltsort ihres missratenen Bruders zu geben. Die Rukh des ersten Prinzen schienen zumindest in unmittelbarer Nähe zu sein. Die Luft vibrierte vor ihrer überwältigenden Kraft. Leider interessierte sich der Magi momentan nicht die Bohne für den furchteinflößenden Kerl. Zornig schoss er in den Saal hinein, woraufhin erschrockenes Kreischen ertönte und er beinahe mit einer rothaarigen Person zusammengestoßen wäre. Keine Seltenheit, sobald man sich im Hause Ren befand. Im letzten Moment wich er aus und landete prompt quer über einem Beistelltischchen. Der Schmerz des Aufpralls überfiel ihn völlig unerwartet und erweckte seinen Zorn. Dem Klirren und dem Brennen von heißer Flüssigkeit auf seiner Haut nach zu urteilen, hatte er grade auch noch eine gemütliche Teerunde gestört. „Scheiße! Wer stellt dieses blöde Ding auch direkt in meinen Weg?!“, fauchte er und sprang wie von der Tarantel gestochen auf. Seine Finger schienen gekocht worden zu sein wie Hühnerfüße. Fluchend schüttelte er die schmerzende Hand, bis er bemerkte, dass alle Anwesenden ihn mit großem Erstaunen musterten. „Bruder Kouen, wer ist diese ungehobelte Gestalt?“, flüsterte eine dickliche Frau, welche nicht viel jünger als der Befragte sein konnte, hinter vorgehaltener Hand. Irritiert starrte Judar sie an. Sie wirkte nicht wie die Schwester des ersten Prinzen. War sie überhaupt eine Tochter Koutokus? Ihr Haar schien nicht einmal richtig rot zu sein. Zwar waren viele der Kaisertöchter nach ihrer Heirat in fremde Länder gezogen, als der Priester noch ein Kind gewesen war, doch Judar hatte immer geglaubt, sie wiedererkennen zu können. Angestrengt überlegte er, ob er wenigstens eine der drei jungen Damen einordnen konnte, welche ihm nicht vertraut vorkamen, doch auch die beiden schlankeren Frauen sagten ihm nichts. Dies schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Bis auf Kouen und Kougyoku glotzen ihn alle erschrocken an. Und ziemlich angewidert, als ihr Blick auf seine Kleidung oder eher gesagt auf seinen bloßen Bauch fiel. Doch plötzlich rief die augenscheinlich jüngste der drei Unbekannten überrascht: „Ah, jetzt fällt es mir wieder ein! Du bist doch Judar, oder? Ja, du musst Judar sein! Es ist so lange her, dass ich dich beinahe nicht wiedererkannt hätte, du hast dich vielleicht verändert! Damals warst du noch wirklich klein und niedlich!“ Der Magi zeigte ihr lediglich eine unwillige Grimasse. Hast du keine Augen im Kopf? Außer mir schon mal jemanden mit einem derart prächtigen Zopf gesehen, dumme Schnepfe?, hätte er am liebsten hinterhergeschoben. Doch als er Kouens drohende Miene sah, nickte er lediglich grummelnd. Die dumme Prinzessin jedoch bemerkte nichts von seiner Verstimmung. „Es ist schön, euch alle nach dieser unvorstellbar langen Zeit noch einmal wiederzusehen“, lächelte die Kleine und Kougyoku, diese alte Vettel, nickte schüchtern. „Das finde ich auch, Kousen!“ Der Priester hätte sich allerdings fast übergeben. Solch eine vorgespielte Familienidylle widerte ihn an und wie furchtbar ängstlich und verklemmt die achte Prinzessin sich benahm, konnte er nicht aushalten. Eigentlich hätte sie einen bissigen Kommentar verdient. Doch Judar stand leider nicht der Sinn danach, sie zu ärgern. Nein, er wollte so schnell wie möglich zu Koumei, um sich endlich an ihm zu rächen! Der Prinz würde schmerzhaft zu spüren bekommen, wie entwürdigend er seinen Magi behandelt hatte! Die rothaarigen Schnepfen ignorierend sprang er auf Kouen zu. „Wo ist dein Trottel von einem Bruder?“, keifte er und stemmte wütend die Hände in die Seiten. Die ohnehin stets ernste Miene des ersten Prinzen und möglicherweise neuem Kaiser des Kou Reichs verfinsterte sich bedrohlich. „Nicht hier, wie du siehst“, grollte Kouen, dem offenbar der respektlose Ton missfiel. Spießer. „Wo steckt er dann?!“ „In unserem Geburtshaus, vermute ich. Zumindest wollte er dem Anwesen noch einen Besuch abstatten. In ein paar Stunden wird er sicherlich hier eintreffen. Was gibt es denn so dringendes mit ihm zu besprechen? Kannst du nicht auch mit mir darüber reden?“, brummte sein Königskandidat ungehalten. Seine roten Augen maßregelten Judar ohne Worte. Er konnte beinahe die polternde Stimme in seinem Kopf schimpfen hören: Begrüß wenigstens meine Schwestern auf angemessene Weise! Du kannst nicht einfach hier hereinschneien und Chaos anrichten!, schienen sie zu tadeln. "Vergiss es!“, spie der Priester aus, während er sich in die Luft erhob. Die ganze Koubagage konnte ihm gestohlen bleiben! Immer machten sie nur das, was ihnen gefiel und nahmen niemals Rücksicht auf ihren Magi, dem sie so viel zu verdanken hatten! Eitles Pack, mal sehen ob Koumei nach einem erneuten Aufeinandertreffen immer noch derart hochmütig an ihm vorbeischreiten würde. Ganz sicher fiele es ihm danach im Traum nicht mehr ein, Judar in einen Baumwipfel zu schleudern und davor ein drittes Mal so grausam mit seinen Gefühlen zu spielen würde er sich bald krampfhaft hüten. Oh ja, Judar hatte einen Plan. Und dieser Plan würde nicht aus ein wenig harmloser Zauberei bestehen, oh nein. Bei einem Magi hatten sie schon mit raffinierteren Tricks zurechnen. Sie würden ihn alle fürchten lernen! Besonders der Zottel würde ihm bald unterwürfig zu Füßen liegen und jeden seiner Wünsche mit Freude erfüllen. Wie schön es wäre, diese eingebildete Abgeklärtheit aus seinem Narbengesicht zu wischen. Was würde Kouen wohl sagen, wenn er von dieser ganz speziellen Verbindung zwischen seinem kleinen Bruder und dem Magi wüsste? Oder der gewalttätige kleine Kouha? In seiner Eifersucht konnte er wahrhaft beängstigende Züge entwickeln. Daran dass diese Enthüllung vor allem ein Fallstrick für ihn selbst werden könnte, dachte Judar allerdings keine Sekunde. Zu groß war die Euphorie, als er seinem vorläufigen Ziel entgegenrauschte. Koumei sollte sich besser in Acht nehmen! ~*~ Kapitel 36: Pfirsichkerne ------------------------- //_*\ Wie Chuu'un bereits erwartet hatte, hob sich Koumeis Laune auch bei der Mittagsmahlzeit kein Bisschen. Die drei Bediensteten hatten in einem hübschen, kleinen Raum einen niedrigen Sandelholztisch vorbereitet und den Boden mit roten, goldbestickten Sitzkissen bedeckt. Zur stillen Freude des Vasallen durfte er ebenfalls mitspeisen. In seiner Position nicht immer eine Selbstverständlichkeit, so hatte er bei Banketten unter den kaiserlichen Hoheiten meist hinter dem Stuhl seines Herrn zu stehen und auf Befehle zu warten. Da allerdings der Verwalter und sogar die beiden Frauen mit ihnen aßen, war es ihm eindeutig auch gestattet. Während die drei Diener auf der Fensterseite saßen, durch welches weiches Spätsommerlicht in den Raum flutete, hatten er und Koumei ihnen Gegenüber Platz genommen. Dafür, dass das Anwesen recht verkommen wirkte, hatten sich die Bediensteten mit dem Essen viel Mühe gegeben und verhältnismäßig viele Gerichte aufgetragen. Es gab Reis, süß eingelegte Sauerkirschen, einen herzhaften Getreidebrei mit Bambussprossen, Wasserkastanien und Lotuswurzelstreifen, sowie Schweinefleisch in Pflaumensoße, welches Koumei allerdings mit einer derartigen Abneigung betrachtete, dass Chuu'un sich für dieses hochnäsige Verhalten schämte. Niemals hätte er den Prinzen als eingebildet bezeichnet, doch die Erziehung, die einem Kaisersohn oder zumindest einem jungen Adligen unweigerlich zu Teil wurde, hatte selbst bei einem ehemals schüchternen, lieben Jungen unleugbare Spuren hinterlassen. Koumei war einfach gewohnt, dass alles zu seiner Zufriedenheit geregelt wurde und wenn nicht, zeigte er eben seine Ablehnung. Dennoch zwang sich der Bogenschütze, die Ruhe zu bewahren, wie es ihm seit frühester Kindheit anerzogen worden war. Leider wurde seine Beherrschung arg auf die Probe gestellt, als Tekkyo Ki mit dem Verteilen der Speisen begann. Als „Gastgeber“ fühlte er sich verpflichtet, den beiden Höhergestellten die schönsten Stücke darzubieten. Solange es bei Reis, Obst und Gemüse blieb, benahm Koumei sich erträglich, dankte höflich und bemühte sich sichtlich um eine etwas aufgewecktere Miene als sonst. Er aß sogar mit gesundem Appetit und sprach einmal tatsächlich ein Lob aus, da das Essen wirklich ausgezeichnet schmeckte. Doch als der Gutsverwalter beim Fleisch angelangte, wehrte Koumei ungehalten ab und stieß dessen Hand beiseite - ob aus Versehen oder absichtlich, war nicht ersichtlich - was dazu führte, dass die fruchtige Soße auf den Tisch tropfte. Erschrocken über die heftige Reaktion des Prinzen rutschte Tekkyo nun auch noch das Fleisch aus den Stäbchen, sodass etwas von dem fettigen Bratensaft auf Koumeis Robenärmel spritzte. Der Blick, den er daraufhin erntete, war absolut tödlich. Gepaart mit der eisigen Stille, die von dem Herrn ausging, äußerst bedrohlich. Während ihr Vater noch starr vor Schreck auf den dunklen Soßenfleck auf dem weißen Stoff starrte, warf sich Xiiri eilig zu Boden und beteuerte ihr Bedauern. Chuu'un war mäßig entsetzt. Natürlich konnte der Vasall gut nachvollziehen, warum der Prinz kein Fleisch mehr zu sich nahm, doch derart unverschämt musste man sich als Würdenträger nicht verhalten. Es verstieß gegen die Ehre der Familie Ren, das hatte ihm sein Vater damals immer wieder eingebläut, auch wenn dies bedeutete, dass die Kinder des Kaisers stetig Regeln missachteten. „Mein hochwohlgeborener Herr, ich flehe euch an, verzeiht meinem Vater diese Ungeschicklichkeit, ich bin untröstlich! Wenn ihr erlaubt bringe ich euch umgehend ein neues Gewand!“ „Habt ein Einsehen mit ihm, mein Prinz“, stimmte auch Jiu-Jin ein, was Chuu'un stumm befürwortete. Nicht dass Koumei irgendjemanden wegen solch einer Lappalie bestraft hätte, aber bei dem Groll, den er bereits gegenüber dem Mädchen hegte, konnte man sich nicht sicher sein, ob dieser Unfall lediglich ein Tropfen auf dem heißen Stein war. Vielleicht würde er sofort verdunsten, doch irgendwie glaubte der Vasall nicht recht daran. Der Prinz nickte auf diese panischen Unterwürfigkeiten hin nur müde. Dann erhob er sich raschelnd. Verblüfft über so viel schlechtes Benehmen blickte Chuu'un zu ihm auf. Sein Herr wirkte merkwürdig geschafft. Ziemlich blass. Ob es ihm nicht gut ging? „Ich begebe mich für einen Moment ins Freie“, erklärte er steif und schritt ohne sich nach irgendjemandem umzublicken hinaus. Der hoheitliche Abgang führte zu fragenden bis hin zu ängstlichen Blicken. Tekkyo Ki schüttelte voller Furcht den Kopf und beteuerte immer wieder seine Dummheit, während sich die beiden Frauen einfach nur über Koumeis merkwürdiges Verhalten wunderten. Kaum war die Tür mit einem lauten Knall hinter dem Prinzen zugefallen, sprang Chuu'un auf und hetzte ihm hinterher. „Mein Herr! Wartet!“, rief er besorgt, wenn auch mit seltenem Ärger in der Stimme und erwischte ihn kurz vor der Terrasse, die in Richtung der Nebengebäude des Anwesens lag. Koumei blieb tatsächlich stehen und wandte sich zu ihm um. Der Ausdruck in seinen rötlichen Augen, die er zu winzigen Schlitzen verengt hatte, war fürchterlich, voller Zorn. Nun, offensichtlich hatte er keine gesundheitlichen Probleme. Chuu’un schauderte innerlich, ignorierte die Feindseligkeit und meinte möglichst unbewegt: „Wieso kehren wir jetzt nicht einfach zu den anderen zurück und vergessen das Ganze?“ „Weil deren jämmerliches Gehabe unerträglich ist“, erwiderte Koumei emotionslos, was den Vasallen an sich selbst erinnerte. „Es war gewiss nicht ihre Absicht, Euch zu kränken“, beruhigte der Bogenschütze ihn, „außerdem haben sie sich doch entschuldigt. Gewiss ist ihnen noch nie zu Ohren gekommen, dass Ihr kein Fleisch essen könnt.“ „Nein, sie kriechen um uns herum wie schlecht dressierte Hunde, um uns nur ja alles recht zu machen. Genau das ist unerträglich. Sag mir nicht, dass du dich mit diesen Speichelleckern abgeben möchtest! Ach, ich vergaß, dass du ja dieses junge Dienstmädchen ganz reizend findest! Muss herrlich für dich sein, wenn dir in diesem Alter eine junge Frau mal wieder schöne Augen macht“, schnaubte Koumei und setzte seinen Weg nach draußen unbeirrt fort. Schockiert starrte Chuu'un auf den beleidigt wippenden Pferdeschwanz, der sich immer weiter von ihm entfernte. Was für eine boshafte Unterstellung! Sie hatte nichts mit der Wahrheit gemein! Zumal er mit seinen dreißig Jahren noch lange nicht alt war! Allerdings unterstich es nur seine Vermutung, weshalb Koumei die Tochter des Verwalters nicht leiden konnte. „Prinz Koumei!“, rief er wieder, aber dieses Mal drehte sich der andere nicht mehr nach ihm um, sondern stapfte stur zur Tür hinaus. Pflichtschuldig folgte ihm der Vasall. Da das Anwesen nicht sonderlich gut bewacht war, konnte er ihn nicht einfach vollkommen allein durch den Garten streifen lassen. Immerhin hatte er seinen Fächer dabei, doch bei einem plötzlichen Angriff wäre Dantalion zu schwerfällig, um ihm das Leben zu retten. Da brauchte es schon die Künste eines versierten Bogenschützen. Sobald Koumei an die frische Luft hinaus trat wurde er langsamer, lief jedoch immer noch weiter. Wahrscheinlich wollte er wieder in irgendeinen entlegenen Winkel des Gartens flüchten, um Chuu'un zu provozieren. Doch kaum stand der Vasall selbst außerhalb des schützenden Gebäudes, lief ihm ein kalter Schauder über den Rücken. Irgendetwas beunruhigte ihn, als hinge eine schwarze Aura drohend über ihnen. Angespannt tat er einen weiteren Schritt in Richtung des flüchtenden Prinzen, doch daraufhin verdichtete sich das Gefühl des Unheils so stark, dass er innerhalten musste. Gleich würde irgendetwas Ungutes geschehen. Mit rasendem Herzen suchte er den Himmel nach der unsichtbaren Bedrohung ab, konnte aber nichts entdecken… außer… einer Wolke schwarzer Rukh. Er hatte noch nie derart viele von ihnen wahrgenommen. Ob es an seinen veränderten Augen lag? Egal, was war das? Hektisch sah er hinüber zu Koumei, der sich vollkommen unbekümmert von ihm entfernte. Dann riss er sich den Bogen von der Schulter. Die schwarzen Rukh schossen vom Himmel herab. Chuu'un wusste, dass er zu spät reagiert hatte. „Vorsicht, Koumei, über Euch!“, brüllte er und schoss einen schlechtgezielten Pfeil in die wirbelnde Schwärze hinein. Verwundert blickte sich der Prinz nach ihm um. Hatte den Ernst der Lage nicht ansatzweise begriffen. Dann prallte mit voller Wucht ein Pfirsichkern gegen seine Schläfe. Koumei taumelte überrumpelt und fiel erst einmal ins Gras vor Schreck. „Au…“, nuschelte er und rieb sich unbeholfen die Stirn, schien gar nicht zu begreifen, woher er so plötzlich attackiert worden war. Keine zwei Herzschläge später kniete Chuu'un neben ihm. Je nachdem konnte selbst ein scheinbar harmloser Pfirsichkern große Schäden hinterlassen, abhängig davon, mit welcher Wucht er abgefeuert worden war. Dieser Treffer hatte nicht ungefährlich ausgesehen. „Alles in Ordnung, mein Herr? Geht es Euch gut? Habt Ihr Schmerzen?“ Hastig schob er etliche zottelige rote Haarsträhnen beiseite, um die heftig gerötete Stelle an Koumeis Schläfe zu untersuchen. „Oh, Chuu'un… “, murmelte dieser überrascht über sein plötzliches Auftauchen. „Was machst du da?“, fragte er perplex und drückte die besorgten Hände des Vasallen zur Seite. „Nachschauen, ob Ihr euch verletzt habt“, erklärte dieser erleichtert, dass der Kopf seines Herrn noch in einem Stück und bis auf die Rötung, die sich wohlmöglich bald zu einer Beule auswachsen würde, unbeschädigt war. „Na, hoffentlich hat sich der olle Zottel ordentlich den Schädel gespalten!“, keifte es mit einem Mal über ihnen. Sprichwörtlich aus heiterem Himmel schlug noch ein abgekauter Pfirsichkern neben ihnen ein und landete mit einem Rascheln im hohen Gras. Beim schadenfrohen Klang dieser gehässigen Stimme schnellte Chuu'un herum. Und tatsächlich: Ungefähr eine Baumlänge über ihnen schwebte die Person, die er momentan am wenigsten von allen sehen wollte. Judar. Der unerträgliche Hohepriester des Kou Reichs und Magi in Personalunion. Nicht zu vergessen ein ganz besonderes Ärgernis im Verhältnis mit seinem Herrn. Chuu'un verabscheute nur wenige Menschen so tief wie diesen unterbelichteten Kerl. Ruckartig riss er einen weiteren Pfeil aus seinem Köcher und legte an. Dieser unflätige Bengel sollte sich gut überlegen, ob er weitere dumme Worte ausspeien oder sie noch einmal mit seinen widerlichen Geschossen malträtieren würde, wenn er überleben wollte. Und vor allem sollte er sich von Koumei fernhalten, den er anscheinend mit seinem unverschämten Gehabe auf Abwege trieb. „Wie kommst du hierher?“, fragte er, die Ruhe in seinem Satz nur mühsam vorgetäuscht. „Ach, da ist ja auch die zauselige Kammerzofe! Musst du eigentlich immer noch die Aufgaben einer gewöhnlichen Dienerin ausführen?“, spottete der schwarze Magi statt einer Antwort und verschränkte die Arme vor der Brust. Chuu'un ging nicht auf die Provokation ein, sondern stellte sich fest entschlossen vor Koumei, der auf ihn immer noch zu benommen wirkte, um mit der Situation zurechtzukommen. „Was möchtest du von meinem Herrn?“, fragte er nüchtern. Am besten gar nicht erst auf die Provokation eingehen… Der schwarzhaarige junge Mann über ihnen verengte zornig die Augen. „Vergeltung!“, bellte er. Wofür das denn? Hat er jetzt vollkommen den Verstand verloren? Judar war schon immer ein seltsames Kind, aber seit er im Mannesalter ist, benimmt er sich immer merkwürdiger. Doch offenbar hatte Judar noch nicht alle Tassen in seinem Schrank verloren und brabbelte vollkommenen Unsinn vor sich hin, denn Koumei stieß plötzlich ein belustigtes Schnauben aus. Nun, eigentlich klang es eher bitter oder… schadenfroh. Zwischen den beiden war wohl etwas unschönes vorgefallen. „Wie man sieht, bist du wieder gesund und munter von deinem Ausflug in den Baumwipfel im Palast zurückgekehrt, Priester“, sprach er schneidend. Falls es möglich war, verfinsterte sich sein Blick noch weiter. Anscheinend hatte er nicht das Verlangen danach, sich mit Judar abzugeben, was Chuu'un seltsamerweise erleichterte. Vielleicht herrschte doch kein so gutes Verhältnis zwischen dem Magi und seinem Königsgefäß. Hoffentlich, denn dies konnte Koumei nur zu Gute kommen. In seinem Alter sollte man sich nicht mehr mit solchen Kindsköpfen herumärgern müssen. Doch genau dies tat sein Herr grade und scheinbar mit nicht wenig Genuss: „Was ist denn los mit dir, hat es dir die Sprache verschlagen? Dort oben war es wohl kaum so gemütlich wie in einem Bett“, höhnte er. Ja, wenn Koumei einmal an einem Punkt angelangt war, an dem er richtig sauer wurde, konnte er sehr hämisch reagieren. „Was du nicht sagst, du dämlicher Zottel! Dank dir habe ich mir beinahe sämtliche Haare ausgerissen! Du kannst froh sein, dass ich deine Dummheit überlebt habe!“, fauchte Judar und zappelte böse in der Luft herum, genau wie man ihn kannte. Chuu'un überfiel das jähe Bedürfnis, ihn mit einem kurzen Pfeilschuss durch den Hals zurück auf den Boden der Tatsachen zu holen. Zum Glück merkte ihm niemand das mörderische Verlangen an. Nein, Koumei und Judar waren viel zu sehr mit einander beschäftigt, um ihm noch besonders viel Aufmerksamkeit zu schenken. „Nun, froh über dein Weiterleben bin ich gewiss, ansonsten hätte ich wohl die alleinige Verantwortung für deinen Tod tragen müssen“, entgegnete Koumei ungerührt. „Halt die Klappe, widerlicher Kerl! Du bist doch an allem Schuld! So respektlos geht man nicht mit seinem Magi um!“ „Mit seinem kaiserlichen Königsgefäß könnte man sich ebenfalls ein wenig gesitteter unterhalten…“ „Das interessiert mich nicht! Ich bin nicht hierhergekommen, um mit dir Tee zu trinken wie zwei alte Hexen! Warum bist du überhaupt mit diesem blinden Zausel an diesem scheußlichen Ort? Und wie kommt es, dass du diesen steifen Spießer zu deinem Vasallen ernannt hast? Wenn ich all die Jahre mit diesem Zausel verbracht hätte, wäre ich direkt nach Sindria ausgewandert!“ Nette Spitznamen, Zottel und Zausel. Chuu'un musterte den vermessenen Magi. Schon allein dieser spärliche Kleidungsstil signalisierte, dass Judar nicht die Klasse eines ehrbaren Mannes besaß. Er war wirklich kein Umgang für seinen Herrn! Dennoch genoss der Kerl hohes Ansehen in Kou. Wie hinderlich. Obwohl es ihn sehr in den Fingern juckte, steckte Chuu'un seinen Pfeil zurück in den Köcher und hängte sich den Bogen wieder über die Schulter. Dafür ergriff der Prinz wieder das Wort: „Über einige der angesprochenen Angelegenheiten sollten wir uns vielleicht unter vier Augen unterhalten, nicht wahr, Priester?“ Alles in Chuu'un krümmte sich bei diesem Satz zusammen. Koumei warf ihm einen eindeutigen Blick zu. Er war unerwünscht. Wie schmerzhaft. „Lass uns eine Weile alleine.“ „Aber mein Prinz-“ „Du hast meinen Befehl gehört.“ Zähneknirschend nickte der Vasall. Es war ihm nicht geheuer, Koumei mit diesem Bastard alleine zu lassen. Beide wirkten sehr schlecht aufeinander zu sprechen, den einen befähigten die Rukh tödlichste Zauber zu vollbringen, der andere konnte – sofern er die Zeit dazu bekam – einen Teleportationszauber dafür nutzen, um sein Gegenüber der Länge nach zu zerteilen. Eine gefährliche, äußerst explosive Kombination. Normalerweise lag Koumeis Reizschwelle zwar extrem hoch, er versteckte sich lieber, als zu kämpfen, aber mittlerweile wollte Chuu'un für nichts mehr garantieren, vor allem nicht für die Sicherheit des daher geflogenen Magi. Er selbst als schlichtender Ruhepol wäre eine durchaus sinnvolle Ergänzung gewesen. Zur Not hätte er Judar einfach erschossen, wenn er durchdrehte. Ja, für gewöhnlich verfügte der Bogenschützte über eine friedlich-gelassene Persönlichkeit. Nun jedoch wäre er seinem Herrn am liebsten nicht mehr von der Seite gewichen. Aber natürlich konnte er einem derart entschiedenen Befehl nicht zuwiderhandeln. Ein wenig betroffen machte er sich auf den Weg zurück zum Essen. Am besten würde er sich bei der Dienerschaft für Koumeis unwürdigen Abgang entschuldigen. Doch er kam nicht weiter als bis zur Eingangstür, weil er dort mit Xiiri zusammenstieß. Das Dienstmädchen stieß ein erschrockenes Kieksen aus und landete hinterrücks auf dem Boden. Auch das noch. „Verzeiht, Fräulein, darf ich Euch aufhelfen?“, fragte er verlegen und ergriff ihre Hand, um sie wieder auf die Beine zu ziehen. Was für ein Glück, dass Koumei grade anderweitig beschäftigt war, dachte er erleichtert. Sein Herr hätte ihm sicher unterstellt, absichtlich in das Mädchen hineingelaufen zu sein. Aber offensichtlich war sie ebenso der Meinung, die Verantwortung für die Kollision zu tragen: „Oh, Herr Chuu'un, verzeiht mir bitte, ich habe Euch nicht kommen hören“, entschuldigte sie sich schüchtern und schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln, das dem verletzten Vasallen das Herz erwärmte. „Keine Ursache, wertes Fräulein. Ich hätte selbst auf den Weg achten können, dann hätte ich Euch rechtzeitig erblickt. Habt Ihr Euch wehgetan?“ „Nein, nein, danke der Nachfrage, aber alles ist in Ordnung“, beteuerte sie nervös, während sie sich verlegend die Hand rieb, die der Vasall zuvor berührt hatte. Sie war wahrhaft ein fragiles Geschöpf. Nur leider wirkte sie viel zu verunsichert, um ein unverfängliches Gespräch unter Leidensgenossen zu führen. Dabei erschien sie auf den ersten Blick wie eine gute Gesprächspartnerin. Höflich, zurückhaltend und intelligent genug, um sich eine eigene Meinung bilden zu können. „Darf ich fragen, wo sich der verehrte Prinz befindet?“ Chuu'un seufzte leise. Heute war es wohl um seine Nüchternheit geschehen, Koumei hatte ihm in den letzten Wochen entschieden zu viel abverlangt. „Er führt ein vertrauliches Gespräch mit dem Hohepriester unseres Reiches. Offenbar ist dieser ebenfalls angereist“, berichtete er, wobei er seinen Unmut wohl nicht gut genug verbarg, den die junge Frau runzelte nachdenklich die Stirn, wagte jedoch nicht, weiter nachzuhaken. Das war ihm sehr sympathisch. „Möchtet Ihr vielleicht einen Becher Tee?“, bot Xiiri nach einer Weile des betretenen Schweigens an. „Vielen Dank, sehr gerne. Ein warmer Tee ist mir immer willkommen“, antwortete er und ließ sich auf einer Bank unter dem überstehenden Dach des Hauses nieder. Die Aussicht auf den herbstlichen Garten beruhigte sein gereiztes Gemüt ein wenig. „Dann bereite ich ihn grade zu und bringe ihn Euch. Darf ich Euch danach ein wenig Gesellschaft leisten? Wisst Ihr, es kommen so selten andere Leute hierher und es ist schön sich mit jemandem zu unterhalten, den man nicht Jahr um Jahr jeden Tag zu Gesicht bekommt. Außerdem macht Ihr den Eindruck, Herr Chuu'un, als wüsstet Ihr genau, wie es sich als Diener lebt. Verzeiht, wenn ich Euch mit diesen Worten kränke, gewiss seid Ihr von viel höherer Geburt, als jeder derzeitige Bewohner dieses Anwesens.“ Ehe er sie beruhigen konnte, dass sie ihn keinesfalls beleidigt hatte und er sich über ein wenig Gesellschaft sehr freuen würde, verneigte sie sich vor ihm und wuselte unter raschelnden Gewändern davon. Nun, wenn Koumei sich eine „Unterhaltung“ suchte, würde Chuu'un es ebenfalls so handhaben, gleichgültig was der Prinz darüber dachte. Sein Vasall hatte nicht vor, Ungehorsam zu zeigen, sondern sich wie ein gesitteter Mensch zu benehmen und höfliche Konversation zu betreiben. Ob er dasselbe in diesem Moment von seinem Herrn behaupten könnte, wagte er stark zu bezweifeln. //_*\ *~* Koumei stapfte verdrießlich durch das hohe Gras voran, sich Judars unheilvoller Präsenz unangenehm bewusst. Die Schmerzen an der Stelle seines Schädels, wo ihn der Pfirsichkern getroffen hatte, machten das Gehen nicht grade erträglicher. Der schwarze Magi schwebte mühelos hinter ihm her, ohne sich um die hinderlichen Halme kümmern zu müssen. Dieser vermessene Mistkerl. Was dachte er sich dabei, hier aufzutauchen und ihn zu belästigen? Hatte er ihm nicht deutlich genug klargemacht, dass er ihn nicht länger in seiner Nähe haben wollte? Sicherlich hatte er Kouen nach dessen Ankunft in Rakushou ausgehorcht, weshalb er ohne seinen jüngeren Bruder dort angekommen war. Bestimmt hatte Kouen ihm seinen Aufenthaltsort unbekümmert verraten. Er hielt Judars gefährliches Getue beinahe für drollig und nicht der Rede wert. Dabei war es riskant, dessen unberechenbare Natur zu unterschätzen! Dieser Magi war einfach unverbesserlich. Irgendwann würde er es noch schaffen, dass wegen seinen unüberlegten oder vielleicht eher sorgfältig platzierten Äußerungen ein großer Krieg zwischen Kou und anderen Weltmächten ausbrach. Koumei konnte diese ungehobelte Art nicht ertragen. Was erhoffte der Heißsporn sich überhaupt von diesem Zusammentreffen? Wollte er ihn lediglich ärgern oder sich vielleicht mit ihm aussprechen? Letzteres hielt Koumei bei Judar für mehr als unwahrscheinlich, denn das zur Weißglutbringen von Menschen gehörte zu den Lieblingsbeschäftigungen des Priesters. Schließlich beschloss der zweite Prinz, dass sie sich weit genug vom Haupthaus entfernt hatten. Unter einem alten Kirschbaum hielt er an und drehte sich mit entnervter Miene zu Judar um, der sich lässig zu Boden fallen ließ. Dabei entging Koumei nicht, dass er vorsichtshalber seinen Zauberstab umfasst hielt. Feigling. Zuerst große Töne spucken und dann den Schwanz einziehen. Schlimmer als Seishuu Ri. „Was glotzt du mich so an, hässlicher Zottel?“, kreischte Judar und fuchtelte wütend mit dem Stab in der Luft herum. Koumei biss die Zähne zusammen. Eigentlich war er an diesen Ort gekommen, um ein wenig Frieden zu genießen, aber dieser Wunsch würde offenbar nie erfüllt werden. Schon gar nicht mit dem Priester an seiner Seite. „Hey, ich hab‘ dich was gefragt!“ „Mhm…“, nickte er und funkelte ihn unter gesenkten Lidern hindurch an. Jetzt glotzte er wohl wirklich, was allerdings eher der Einschüchterung dienen sollte. Angeblich wirkte er ja immer so furchteinflößend mit seinen schmalen Augen und dem wilden Dämonenhaar. „Läufst du mir nach?“, wechselte er betont gelangweilt das Thema, weil er es überraschenderweise genoss, Judar zu reizen. Wenn der Magi ihn angriff, würde ihm das irgendeinen Vorteil einbringen? Mehr Ruhe vielleicht? Eine Woche Bettruhe? „Ha, das hättest du wohl gerne!“ „Du hast eben selbst gesagt, dass du Vergeltung möchtest.“ „Hä? Habe ich das gesagt? Kann mich nicht erinnern, aber ja, fändest du es etwa lustig in einem verdammten Baum festzustecken und dann der alten Hexe Gyokuen vor die Füße zu fallen?“ Koumei hob milde erstaunt, eigentlich eher belustigt, die Augenbrauen. Da hatte er sich wirklich etwas Passendes für den aufmüpfigen Kerl ausgedacht. „Die Kaiserin hat deine unglimpfliche Situation also bemerkt?“, hakte er arglos nach. „Natürlich!“, fauchte Judar. „Und dann wollte sie wissen, was ich so lange in Balbadd getrieben habe.“ „Aha“, machte der Prinz und wandte sich desinteressiert einem hübschen Strauch zu, der orangene Vogelbeeren trug. „He, Zottel, hör mir gefälligst zu! Das was du mir angetan hast, wirst du noch bereuen! Du wirst dir wünschen, nie geboren worden zu sein!“, zischte der Schwarzhaarige und schleuderte seinen langen Zopf nach hinten. Seine Augen funkelten derart wahnsinnig und feindselig, dass Koumei wahrscheinlich in Todesangst verfallen wäre, wenn er den jungen Mann und seine furchtbaren Ausdrücke nicht bereits als kleinen Jungen kennen und verachten gelernt hätte. Solch ein verzogenes Balg hatte es nirgendwo sonst in Kou gegeben. „Zweifelsohne, aber vielleicht bereue ich meine Tat bereits in diesem Moment. Wie es scheint hat sie unliebsame Auswirkungen.“ „Oh ja!“ „Und was hast du jetzt vor?“ Judar verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. „Geht dich gar nichts an, alter Zottel!“ Koumei zuckte teilnahmslos mit den Schultern und drehte sich weg. Ob er jetzt endlich seine Ruhe bekommen könnte? Er wollte sich unter einen netten Baum niederlassen und ausspannen, bevor es nach Rakushou ging. Jetzt würde das wohl kaum möglich sein. Judar war solch ein ätzender Plagegeist… Plötzlich zuckte er zusammen und schwankte bedrohlich. Etwas Schweres sprang ihn von hinten an wie ein Tiger seine Beute. Er konnte sich kaum noch aufrecht halten. „So, du nutzloser Prinz, das hast du jetzt davon!“, knurrte Judar und klammerte sich verbissen an seinen Schultern fest, einen Arm um Koumeis Hals und die Beine in der schlabbrigen Hose um seine Hüften geschlungen. Überrumpelt strauchelte der Prinz. Vergeblich kämpfte er gegen die unfreiwillige Umklammerung an. „Lass. Mich. Los!“, keuchte er aufgebracht und versuchte unter Aufbietung seiner letzten Kräfte den aufdringlichen Magi abzuschütteln. Was denkt der sich eigentlich? Doch leider führte dies nur zu noch mehr Schwankungen. „Pass doch auf!“, beschwerte sich der Jüngere und krallte sich noch nachdrücklicher an Koumei fest. Vielleicht merkte er jetzt, was für eine dumme Idee er gehabt hatte, einen derart klapprigen Menschen anzufallen. Sicherlich wollte er nicht herunterfallen… Letzten Endes geschah jedoch das unvermeidliche: Koumei bekam durch Judars Würgegriff langsam Atemnot, wankte noch stärker und schon klappten ihm einfach die Beine weg. Dann landeten sie im hohen Gras. Koumei verstand nicht so recht, weshalb er sich gierig nach Luft ringend am Boden wiederfand. Schon gar nicht mit der Nase zwischen allerlei wucherndem Unkraut. Noch dazu drückte ihn ein ziemlich großes Gewicht noch tiefer in die Pflanzenbüschel, während sich etwas Hartes in seinen Magen bohrte. Wenn seine Kleidung nicht ohnehin schon durch die Pflaumensoße vom Mittagessen ruiniert war, dann eindeutig jetzt durch die Grasflecken. Großartig, herrlich. Ein spitzer Halm kitzelte ihn an der Nase und er nieste heftig. Das wurde ja immer besser. Vielleicht sollte er sich diesen Ort einfach schön schlafen. Plötzlich regte sich die schwere Last auf seinem Rücken. Eine grobe Hand grub sich in sein Haar, kratzte über seine Kopfhaut und riss seinen Schädel wütend in den Nacken. „Was kannst du eigentlich?! Geh runter von meinem Arm oder willst du ihn zerquetschen?!“, grollte Judar böse. Obwohl Koumei dessen Gesicht nicht sah, wusste er, dass er grade mit brennenden Blicken bedacht wurde. Nicht sonderlich angenehm. Irgendwann beschloss er, dass er nicht daran schuld sein wollte, wenn der Arm des Hohepriesters abstarb und stützte sich mühsam und unter übertriebenem Stöhnen auf die Ellenbogen. Ohnehin war es so bequemer für ihn. Kaum verschwand sein Gewicht von dem Arm, riss Judar ihn maulend an sich und plumpste neben Koumei ins Gras. „Du bist wirklich ein jämmerlicher Prinz!“, stellte er mit glühenden roten Augen fest und zog noch einmal bekräftigend an dessen Haaren. Koumei krümmte sich, um dem Schmerz in seiner Kopfhaut zu entgehen, mit mäßigem Erfolg. Womit hatte er diese Gewalteinwirkung nur verdient? Sollte er sich etwa wehren? Er hatte keine Lust darauf. Wollte einfach nur ungestört entspannen… Aber mit dieser schrecklichen Hand in seinen Zotteln war dies unmöglich. Er wusste nicht wie ihm geschah. Ächzend folgte er dem unerträglichen Zug und plötzlich war Judar über ihm und rammte die Lippen, beziehungsweise seine Nase, so hart gegen die seine, dass Koumei Sternchen sah. Seine Reaktionen waren nie die schnellsten gewesen und so brauchte er sehr lange, um nach dem Abklingen des gröbsten Schmerzes zu realisieren, was grade passierte. Dieser unflätige Magi saß auf seinem Bauch und küsste ihn, als hätte er nie etwas anderes getan! Dabei hatte Koumei ihm doch zu verstehen gegeben, dass er nichts von ihm wissen wollte! Oder nicht? Zu verwirrt, um irgendetwas zu tun, ließ er zu, dass der Priester die Finger immer tiefer in seinen Haaren vergrub. Währenddessen saugte Judar so heftig an seiner Unterlippe, dass er dann doch regelrecht Angst um sie bekam. Wie konnte man nur so ungestüm und widerwärtig sein? Was dachte er sich eigentlich dabei? Hier im Garten konnte jederzeit ein Beobachter vorbeikommen. Wäre es Chuu'un, wäre dessen Missgunst gegenüber dem dummen Priester endlich berechtigt. Kurzentschlossen grub er seinerseits die Hände in das schwarze Haar. Zuerst zupfte er protestierend daran, entschied sich aber sogleich für ein heftiges Rucken, bis er es irgendwie schaffte dieses aufdringliche Etwas von seinem Mund fortzuzerren. „Was machst du?!“, keifte Judar zornig. Koumei gab keine Antwort. Schweratmend musterte er den Magi. Nicht dass sein Äußeres nicht attraktiv auf ihn wirkte, aber… das war eben auch schon alles. Er hatte nicht das Gefühl, dass Judar zu mehr taugte, außer ein paar lächerlichen Küssen, die nichts in ihm auslösten. Mit Ausnahme von diesem Nachmittag in Balbadd und ihr betrunkenes Zusammentreffen, über dessen weiteren Verlauf er den Priester immer noch nicht aufgeklärt hatte. „Sollte ich nicht lieber dich fragen, weshalb du auf einmal so anschmiegsam bist?“ „Du hast damit angefangen!“ „Findest du? Ich dachte ich hätte deutlich gemacht, dass das keine gute Idee war?“ „Meinst du? Bei dir weiß man ja nie, dämlicher Zottel!“, spie Judar verächtlich aus. Das war nicht mal so weithergeholt. Koumei nickte träge. Dennoch… er hatte beschlossen, sich von seinem Hohepriester vorsorglich fernzuhalten. Es behagte ihm gar nicht, dass dieser jetzt trotz ihres Zwistes seine Nähe gesucht hatte. „Mh… damit hast du nicht Unrecht. Aber wieso suchst du dir nicht jemand jüngeren, um ein paar Erfahrungen zu sammeln?“ Und zwar am besten jemanden der nicht in einer verwandtschaftlichen Beziehung zum Kaiser steht, fügte er im Geiste noch hinzu. Die einzig Akzeptable aus der Familie wäre Kougyoku gewesen, aber obwohl sie Judar mochte, gönnte Koumei seiner Halbschwester etwas Besseres als diesen kriegsbesessenen Taugenichts. „WAS?!“ Judar, der immer noch auf seinem Bauch saß, stemmte die Fäuste in die Seiten. „Erst fällst du über mich her, dann stößt du mich weg, was willst du eigentlich?“ Gute Frage. Er wusste nur eines, das er wirklich wollte, aber das konnte er nicht bekommen. Nun, er wusste ebenfalls, dass er Judar nicht als Ersatz für Hakuren haben wollte. Er wollte ihn überhaupt nicht. Schon als Magi war es mit ihm kaum auszuhalten und obwohl er sich in einigen Situationen durchaus zu ihm hingezogen gefühlt hatte, war er sich sicher, dass ihm seine Gefühle was das betraf grausame Streiche spielten. Wie sehr würden sie erst aneinander geraten, wenn… nein, daran sollte er gar nicht erst denken. Judar war zu kindisch und unerfahren, was wahrscheinlich auch an seinem Alter lag. Koumei fand es überhaupt nicht verlockend, derjenige zu sein, der die Führung übernahm und den ungestümen Trottel bändigen musste, um sein eigenes Wohl zu gewährleisten. Ab und an tat er Kouen zwar diesen Gefallen in Schlachten und bei Strategieplanungen, doch eigentlich gehorchte er lieber, als zu befehlen. Das war oft weniger anstrengend. „Geh von mir runter“, seufzte der Prinz nach einer Weile des Schweigens. Die Luft zwischen ihnen blitzte regelrecht vor unterdrückter Spannung, aber Judar blieb nichts anders übrig, als zu gehorchen. Ungehalten sprang er auf. Irgendwie tat er Koumei Leid, offenbar hatte er den Magi mit seiner harschen Abfuhr tiefer getroffen, als erwartet. „Auf nimmer widersehen, blöder Zottel! Ich hoffe du zerschneidest dich irgendwann selbst mit deinen blöden Teleportationskreisen!“, spie Judar aus und sprang ungestüm in den Himmel, ehe er mit wehender Kleidung davon flog. *~* Kapitel 37: Anschuldigungen --------------------------- Anschuldigungen   *~* Ein wenig durcheinander wankte Koumei wieder in Richtung Haus. Judars unmögliches, respektloses und vor allem aufdringliches Verhalten hatte ihn heillos überfordert. Noch dazu schmerzte seine Schläfe, wo der Pfirsichkern ihn getroffen hatte, mittlerweile höllisch. Außerdem waren seine Gewänder sicherlich in Unordnung und voller Grasflecken. Von seinen Zotteln ganz zu schweigen… wahrscheinlich konnte er gleich nochmal in den Badezuber steigen. Verärgert schüttelte Koumei den Kopf. Hoffentlich hielt Judar sich jetzt ein für alle Male fern von ihm. Dieser aufmüpfige Magi! Voller Groll auf den Priester erklomm er die Stufen zum Eingangstor. Eigentlich hatte er eben nur noch diesem grauenhaften Essen, sowie der stümperhaften Dienerschaft entfliehen wollen, doch nun zog es ihn magisch ins Innere des Hauses. Er war unverkennbar müde. Doch seine Ruhepause sollte ihm noch länger vorenthalten werden, denn sobald er am Tor anlangte, fiel sein Blick auf eine mehr als unschöne Szene. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er mit Kouha an regnerischen Sommertagen auf der alten Bank unter dem gebogenen Dach ausgeharrt hatte und als Geschichtenerzähler missbraucht worden war. Nun jedoch hatten sich Chuu'un und die junge Dienerin namens Xiiri auf den gemütlichen Platz zurück gezogen. Einträchtig saßen sie nebeneinander. Am liebsten wäre er bei diesem Anblick einfach an ihnen vorbei geschritten oder hätte Chuu'un grob zur Rede gestellt. Für Koumeis Geschmack war das nämlich viel zu nahe. Beide hielten einen verzierten Becher mit dampfendem Tee in den Händen und sahen vollkommen gelöst in den bereits herbstlichen Garten hinaus. Zumindest die junge Frau, Chuu'uns Augen versteckten sich hinter dessen Haaren. War vielleicht nicht ganz so erfreulich, denn auf diese Weise blieb ihre ungewöhnliche, vielleicht auch furchteinflößende Eigenart verborgen. Mit einem einzigen Blick aus geschlitzten Dämonenaugen hätte sein Vasall die Dienerin sicherlich sofort in die Flucht geschlagen. Nur leider beabsichtigte er wohl genau das Gegenteil. Die zwei schienen sich sogar recht gut zu unterhalten. Xiiri lächelte ununterbrochen vor sich hin, während Chuu'un in seiner typisch zurückhaltenden Art über das Bogenschießen erzählte. Doch als die beiden den zweiten Prinzen entdeckten, verneigte sich Xiiri schüchtern. Auch der Vasall verstummte abrupt. Da hatte er wohl ihr trautes Beisammensein gesprengt. Widerstrebend trat Koumei vor seinen Untergebenen und schenkte ihm den bösesten Blick seit langem. Doch Chuu'un ignorierte diesen, hatte offenbar wichtigere Sorgen. „Mein Herr, wo ist unser Priester?“, erkundigte er sich beunruhigt. Ungehalten fuhr sich Koumei durch die zerzauste Mähne. Bei den Rukh, Judar hatte ein großes Unheil auf seinem Kopf angerichtet. „Wieder auf dem Weg zurück nach Kou. Ich habe ihn davon überzeugt, dort zu warten. Oder uns nicht mehr zu belästigen, das trifft es eher.“ „Mhm.“ „Was?“ „Nichts, verzeiht mir.“ Koumei zwang sich zu einem müden Lächeln. Dabei hatte er zu nichts weniger Lust. Mit einem Mal bemerkte er die verstohlene Musterung, welche die unverschämte Dienerin ihm angedeihen ließ. Was erlaubte sie sich? Einen kaiserlichen Prinzen derart anzustarren, galt als grobe Fahrlässigkeit. Eigentlich sollte Chuu‘un sie nun zurechtweisen, doch der untreue Kerl schwieg eisern. Nein, nicht nur das, auch er sah Koumei mehr als seltsam an. Was war heute nur in diese unerträglichen Bediensteten gefahren?   *~*   //_*\ Als Koumei die Treppe zum Eingangstor hinauf getappt kam, schämte sich Chuu'un bereits das zweite Mal an diesem Tag für seinen Herrn. Auch wenn Xiiri, mit der er nach einiger Zeit dann doch ein angenehmes Gespräch gehalten hatte, sich pflichtbewusst vor diesem verneigte, konnte der Bogenschütze erkennen, dass sie von dem Anblick überrascht war. Sicherlich auch nicht besonders angetan, denn das war Chuu'un ebenfalls nicht. Koumei sah aus, als wäre er in einen Wirbelsturm geraten. Die schweren Gewänder verrutscht und halb geöffnet, sodass er Mühe hatte, seine Schultern bedeckt zu halten, die Haare außer Rand und Band. Aber wirklich aufschlussreich war erst sein bitterböser Blick, der von unschönen Ereignissen kündete. Er hatte sich also doch wieder ausführlich mit Judar abgegeben. Anscheinend waren sie sich näher gekommen, als ein gewöhnliches Streitgespräch erforderte. Es versetzte dem Vasallen durchaus einen kleinen Stich, dass sein Herr derartigen Unfug trieb. An sich verhielt er sich immer wie die intelligente und vernünftige Person, die er war. Zumindest wenn es um strategische Planung ging. Alles andere endete meist in einem völligen Chaos. Seinetwegen durfte Koumei gerne eine Geliebte oder einen Geliebten haben, sogar mehrere, in Kou gehörte dies nun einmal zur Tagesordnung und er war schließlich alt genug, diese Angelegenheiten selbst zu beurteilen. Aber Judar? Niemals. Das war kein Umgang für einen Prinzen. Und dieser sollte das eigentlich ganz genau wissen! Eigentlich fand Chuu'un, dass es nicht zu Koumei passte, sich Geliebte zuzulegen. Na schön, vielleicht gefiele es ihm doch nicht so sehr, wenn der zweite Prinz sich einen Harem ähnlich dem des Kaisers zulegen würde, wie er angenommen hatte und es lag nicht nur an dem unerträglichen schwarzen Magi. Und dann war da noch das ungehaltene Funkeln in Koumeis Augen, wenn er Xiiri ansah. Wahrscheinlich mochte er es nicht, dass sich Chuu'un mit jemand anderem abgab und schon gar nicht mit einer Frau. Als ob der Vasall jemals die Gesellschaft einer Dienerin der Treue zu seinem Herrn vorziehen würde. Ab und an schätzte er es jedoch, sich mit anderen Menschen zu unterhalten. Was Koumei daran ablehnte, wollte sich ihm manchmal nicht erschließen. Immerhin war Chuu'un kein Gefangener oder gefährlicher Wahnsinniger, den man von Fremden fernhalten musste. Menschen brauchten nun einmal Kontakte, um sich wohlzufühlen. Ferner würde er niemals auf die Idee kommen, sich von einem Außenstehenden gegen die kaiserliche Familie aufbringen zu lassen. Bei seiner Gesellschaft bestand in diesem Falle nicht einmal der Anlass zur Besorgnis, schließlich war auch Xiiri eine treue Anhängerin des Kaisers. Aber offensichtlich dachte Koumei, dass er durch ein einfaches Gespräch mit dem jungen Mädchen eine feindliche Gesinnung annehmen könnte. Eigentlich war es nur verständlich, wenn man bedachte, welch einer unangenehmen Begebenheit der zweite Prinz seine hohe Stellung zu verdanken hatte. Dennoch hielt Chuu'un dessen Misstrauen dieses Mal schlicht und ergreifend für paranoid. „Lass uns wieder hineingehen“, befahl Koumei plötzlich. Der Vasall nickte ohne zu zögern. Eigentlich hätte er dies viel früher vorschlagen sollen, da die Kleider seines Herrn bedenkliche Mengen an Haut entblößten. Kein guter Eindruck für die einfachen Diener hier. So erhob er sich und geleitete den Zottel fügsam ins Innere des Hauses. Xiiri blieb zum Glück auf der Bank sitzen, andererseits hätte sie wohl noch mehr von Koumeis Abneigung auf sich gezogen. Kaum waren sie außer Hörweite der jungen Frau, kam das, worauf Chuu'un schon seit längerem gewartet hatte. „Du solltest in Zukunft Abstand zu der Dienerin halten“, knurrte Koumei. Genervt blieb der Vasall stehen. Normalerweise bemühte er sich immer, es ihm recht zu machen, aber dass er nicht einmal mit einer Frau reden durfte, ohne böse angepflaumt zu werden, während Koumei mit Judar in den Tiefen des Gartens weilte, machte ihn dann doch ungehalten. Außerdem lag so ein Gekeife unter der Würde seines Herrn. „Eine einfache Unterhaltung sollte an sich kein Grund zur Sorge sein, mein Prinz“, gab er zu bedenken. Der Zurechtgewiesene wirbelte erstaunlich schnell zu ihm herum, wobei ihm endgültig die Gewänder von den Schultern glitten. Zum Glück befand sich momentan niemand außer ihnen auf dem Gang. „Natürlich nicht“, erwiderte Koumei knapp. „Allerdings ist dir sicherlich auch nicht entgangen, dass dieses Mädchen  ein gewisses Interesse an dir gefasst hat.“ Chuu'un fühlte sich ziemlich vor den Kopf gestoßen. Die Worte seines Gegenübers klangen derart beleidigt und wütend, dabei wusste er gar nicht, was Koumei da falsches in Xiiris Verhalten hineingedeutet hatte. Prompt verfiel er in ein angestrengtes Grübeln. Natürlich hatte sie sich irgendwann einigermaßen angeregt und neugierig mit ihm unterhalten. Aber sie sollte die Art von Interesse an ihm haben, die der zweite Prinz glaubte in ihrem Verhalten erkannt zu haben? Ein derart junges Ding? Weshalb denn das? Er hatte nichts dergleichen bemerkt. Sie war sogar anstrengend schüchtern gewesen und das Gespräch hatte er selbst in die Wege leiten müssen. Sein Herr war wirklich paranoid! Er musste sich wirklich unvorstellbar davor fürchten, von seinen Getreuen im Stich gelassen zu werden, wenn er in einem unerfahrenen Dienstmädchen jemanden sah, der ihm seine Unterstützer streitig machen könnte. „Du sagst ja gar nichts mehr“, murmelte es an seiner Seite. „Verzeiht, mein Herr“, meinte Chuu'un und beobachtete mitleidig, wie Koumei vergeblich versuchte, seine Kleidung zu richten. In diesem Moment erinnerte er den Vasallen an den kleinen, hilfe- und pflegebedürftigen Jungen, der er gewesen war als sie sich kennengelernt hatten. Letztendlich hatte sich ja tatsächlich nichts an diesem Umstand geändert. Koumei wirkte niedergeschlagen, als glaubte er Chuu'uns kurzes Schweigen wäre eine Bestätigung, dass er lieber sein restliches Leben an der Seite einer beinahe fremden Person fristen wollte als an der seines kaiserlichen Herrn. Am besten würde er schnell klarstellen, dass dies ein völliger Irrtum war. Aber nicht hier, wo jeder sie belauschen konnte. „Lasst mich Euch in Eure Gemächer geleiten, dort können wir Euch umkleiden und wieder ordentlich zurechtmachen. Euer Obergewand ist mittlerweile sehr unansehnlich geworden.“ Bei diesen Sätzen verzog Koumei angewidert das Gesicht. „Ich will nicht länger hier bleiben. Lass uns von hier verschwinden, so schnell wir können.“ Verwundert musterte Chuu'un den wankelmütigen Prinzen. Als sie hierhergekommen waren, hatte er viel enthusiastischer gewirkt, wollte die Residenz besuchen, auf der er aufgewachsen war und nun konnte er es nicht mehr abwarten, sie so schnell wie möglich zu verlassen? Hoffentlich lag es nicht an Xiiri. Das wäre erbärmlich. Der vergleichsweise angenehme und zwischenfallfreie Rest des Tages schaffte es auch nicht, Koumeis Laune zu heben. Nachdem Chuu'un dem Prinzen in andere Gewänder geholfen hatte, hatte zwischen ihnen bis nach dem Abendessen eisiges Schweigen geherrscht. Dass dessen Magoi immer noch nicht regeneriert war und sie sich auch keine Kutsche nach Rakushou nehmen konnten, hatte ihn noch mehr deprimiert. Mit finsterem Gesicht stapfte er zu seinen Gemächern, den Vasallen dicht auf den Fersen. Müde schlurfte er durch die Tür und ließ sich auf den Rand eines kleinen Hockers sinken. „Mein Herr, nun beruhigt Euch doch. Was ist so schlimm daran, eine Nacht hier zu verbringen? Ihr habt ein sauberes Bett, welches sie für Euch hergerichtet haben, Nahrung und ein Bad bekommen.“ Nicht zu vergessen Judars höchstexquisite Gesellschaft. „Und morgen werden wir in den kaiserlichen Palast zurückkehren können. Es gibt keinerlei Grund, Trübsal zu blasen.“ Er erhielt keine Antwort. Anscheinend bekam dem zweiten Prinzen der Besuch seines Kindheitshauses kein bisschen. Niedergeschlagen beobachtete Chuu'un, wie sich sein Herr mit den Gewändern abmühte. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus und wollte Koumei zur Hilfe kommen, schließlich war es seine Schuld, dass der Knoten so fest gebunden war. Doch dieser stieß ihn ungehalten von sich fort. „Du solltest deine Hände bei dir behalten.“ Verblüfft wich der Bogenschütze zurück. „Verzeihung, ich wollte Euch nicht zu nahe treten.“ Das war vollkommen untypisch für seinen Herrn. Er ließ sich eigentlich immer gerne helfen, vor allem wenn er auf diese Weise schneller in sein geliebtes Bett kriechen konnte. Anscheinend hatte er heute beschlossen, wieder zu dem anstrengenden kleinen Jungen zu mutieren, der er einst gewesen war.   ~ Koumei hatte Chuu'un also wie angedroht in seine Gemächer beordert. Nun gut, eigentlich war er ja lediglich vorausgegangen und der Vasall war ihm gefolgt, um ihm beim Umziehen zu helfen. Danach hatte der Prinz ihm befohlen zu bleiben und nachdem er sich ebenfalls für die Nacht bereit gemacht hatte, hatte sich Chuu'un klaglos neben ihm niedergelegt. So oft wie sie nebeneinander in einem derart riesigen Bett genächtigt hatten, keine große Sache. Keiner von ihnen schnarchte allzu laut und in der Regel besaßen beide einen tiefen Schlaf. Doch heute viel ihnen beiden die Ruhe schwer, offenbar war am Tag zu viel geschehen, um ihnen Entspannung zu erlauben. Ein kühler Windhauch wehte zum Fenster herein, doch anstatt einen guten Schlaf zu begünstigen, erinnerte sich Chuu'un daran, wie Judar sie vor wenigen Stunden aus heiterem Himmel überfallen hatte. Dieser ungehobelte Mistkerl. Nur der Magi trug die Schuld daran, dass zwischen ihm und Koumei eine merkwürdig beleidigte Spannung schwebte. Dabei gab es momentan so viele andere Sorgen, die wichtiger waren als zwischenmenschliche Beziehungen. Das Schicksal des Kou Reichs zum Beispiel. Doch nun schien es, als könnte sich keiner von ihnen mehr mit der notwendigen Aufmerksamkeit darum kümmern. Während der Vasall mit dem Rücken zu seinem Herrn lag, spürte er, dass es diesem ganz und gar nicht gut ging und das lag sicherlich nicht allein an dem Ableben von dessen Vater.   //_*\   *~* Koumei hatte dem anderen ebenfalls den Rücken zugedreht und starrte mit trübem Blick aus dem Fenster, dessen Papierbahnen teilweise eingerissen waren. Das schwache Leuchten einiger Sterne drang mit der kalten Nachtluft hinein. Als er früher ab und an mit Hakuren hier geschlafen hatte, war alles so viel wärmer und freundlicher erschienen als jetzt, wo alles seltsam tot wirkte. Der Kaisersohn hatte seine Arme um ihn gelegt und ihn die ganze Nacht über festgehalten. Es hatte sich so unsagbar schön und sicher angefühlt. Nun wo er fort war, wirkte es merkwürdig, wieder allein in diesem Bett zu ruhen. Dabei konnte er die Begebenheiten, zu denen  sich sein bester Freund seit ihrer frühsten Kindheit zu ihm geschlichen hatte, beinahe an Händen und Füßen abzählen. Ganz schön selten dafür, dass sie ihr ganzes Leben lang befreundet und schließlich Liebende gewesen waren… Trotzdem fühlte er nun, wie die Leere sich unerbittlich in seinem Herzen festkrallte. Es war einfach nicht das gleiche, mit seinem Vasallen, der beschützend an seiner Seite wachte, hier zu sein. Es war so jämmerlich. Und einsam. Und irgendwie bedrückte ihn dieser Umstand zum ersten Mal seit vielen Jahren wirklich. Natürlich hatte er sich stets nach Hakuren gesehnt, aber Einsamkeit und Ruhe mochte er durchaus. Heute Nacht jedoch… nach all dem was passiert war fühlte er sich wirklich schlecht. Er hatte Chuu'un vermutlich haltlose Beschuldigungen an den Kopf geworfen und doch wachte sein Vasall so stoisch über ihn, als hätte er ihn heute nicht unzählige Mal angepflaumt wie eine Furie. Was besaß er für einen guten Leibwächter. Wie schlecht er ihn behandelte. Es tat ihm Leid, wirklich leid, aber er wusste nicht, wie er sich bei ihm entschuldigen sollte, wenn ein Teil von ihm noch immer bei dem Bild des Vasallen neben der Dienerin vor Wut bebte. Das war nicht gut. Überhaupt nicht gut. Verfiel er etwa wieder in die irrationale alte Furcht, die ganze Welt hätte sich gegen seine Familie verschworen und würde sich von ihm abwenden? Oder lag es daran, dass er es genoss einen Menschen um sich zu haben, dessen einziger Lebenssinn darin bestand, für seine Sicherheit und sein Wohlergehen zu sorgen und den er auf keinen Fall an einen anderen verlieren wollte? Er seufzte still vor sich hin. Wann war sein Leben derart kompliziert geworden, dass er seine eigenen Gefühle nicht mehr verstand? Seit er fünfzehn Jahre alt gewesen war und bemerkt hatte, dass sein Cousin mehr als nur ein Freund für ihn sein wollte? Ja, da hatte alles angefangen. Dagegen erschien ihm die Verwaltung eines Landes wie ein Klacks. Diese konnte er verstehen und händeln. Seine Gefühle nicht, weshalb er sie meistens verdrängte. Er vermisste Hakuren immer noch und konnte sich einfach nicht von ihm lösen, welch schändliche Schwäche. Unruhig wandte er sich zu Chuu'un um. Es fühlte sich tröstlich an, nicht alleine in dem entfremdeten Zimmer zu liegen und sich völlig verlassen in depressiven Gedanken zu verlieren. „Chuu'un…“, murmelte er, befürchtete allerdings, dass es eher wie ein kleinlautes Winseln klang. Keine Reaktion. In der Dunkelheit konnte er nicht erkennen, ob sein Vasall schlief oder wachte. Was tat er hier überhaupt? Er sollte den anderen in Frieden lassen und nicht um seine wohlverdiente Erholung betrügen. Doch davon hielt ein Teil von ihm erstaunlich wenig: „Chuu'un könntest du nicht… ein bisschen näher… ich…“ Seine Stimme brach. Verdammt, hatte er das grade tatsächlich gesagt? Es war eindeutig an der Zeit, aus dem Fenster zu springen und fortzulaufen. Ganz weit fort. Falls dies nicht so endlos viel Kraft gekostet hätte! Das Rascheln der Decken verriet ihm, dass sich der andere Mann zu ihm herum drehte. Aber er blieb dort, wo er war. Natürlich. Koumei war kein halber Junge mehr, den man noch jederzeit in den Arm nehmen konnte. Beziehungsweise wollte. Mittlerweile war er schließlich älter geworden. Zu alt für derartigen Trost. Dabei wäre es genau das, was er jetzt brauchte. Damals hatte ihm eine schützende Umarmung von Chuu'un ebenfalls beim Einschlafen geholfen. Der Ältere hatte sich nach Hakurens Tod rührend um ihn bemüht. Versucht jedem seiner Wünsche nachzukommen und ihn ein wenig aufzuheitern. Aber nun ging das nicht mehr. Wie schön es doch wäre, wenn statt dem Bogenschützen Hakuren hier läge. Die Finsternis ließe theoretisch durchaus Spielraum für diese Wunschvorstellung. Aber nein… An Stelle von Hakuren hatte er nur Chuu'un, der vielleicht ungleich unkomplizierter, dafür aber bei weitem nicht derart bewundernswert war. Dennoch… eine angenehme Gesellschaft, die er kaum jemals richtig wertgeschätzt hatte. Stockend stahl sich eine vollkommen dämliche Frage über seine Lippen: „Chuu'un?“ Ein leises erschöpftes Seufzen, ungewöhnlich. „Ja mein Herr?“ „Wie… wie kommt es, dass du nur mein Diener und Vasall bist?“ Erneutes Rascheln, ein weiteres tiefes Seufzen. „Weil ich es Euch damals versprochen habe, erinnert ihr Euch nicht mehr?“ „Nein…“, log er reflexartig, dabei wusste er es ganz genau. „‚Sei mein Untergebener, Beschützer und Berater, nicht mehr und nicht weniger. Erinnere mich daran, wenn ich diesen Wunsch je in Frage stellen sollte‘, habt ihr gesagt. Da wart ihr...17 Sommer alt? Und nun, meist habe ich mich daran gehalten“, erinnerte ihn Chuu'un überflüssiger Weise. Koumei schluckte. Er musste verrückt geworden sein, dass war die einzig logische Erklärung für sein Aufgewühltsein. „Ja, dass hast du hervorragend gemacht… nur…“ Wie erbärmlich er sich doch benahm! Es wäre nur gerechtfertigt, wenn der andere gleich entnervt aus dem Bett steigen und sich zu Xiiri stehlen würde. Doch Koumei hatte Glück: „Ihr seid einsam“, stellte der andere fest und es klang derart mitfühlend, dass der Prinz sich am liebsten vor Grauen geschüttelt hätte. Niemand sollte ihn bedauern. Oder…?  Vorsichtig streckte er die Hand in die Düsternis. Etwas Weiches berührte seine Finger und ehe er erschrocken zurückzucken konnte, schlossen sich Chuu'uns Hände um die seinen. Sie waren angenehm warm, nicht Balbadd-warm, sondern menschlich, etwas, das er seit langer Zeit nicht mehr auf diese Weise gespürt hatte.   *~* Kapitel 38: Familie ------------------- *~* Der nächste Morgen brach brutal über Koumei herein. In der vergangenen Nacht hatte er kaum Schlaf gefunden, bis Chuu'un ihn schließlich festgehalten hatte. Doch als der Prinz sich aufsetzen und dem Vasallen verlegen für diesen Freundschaftsdienst danken wollte, war dieser unauffindbar. Gar nicht übel, da bliebe ihm reumütiges Gestammel erspart. Welcher Herr hatte sich schon vor seinem Untergebenen zu rechtfertigen? Gähnend torkelte Koumei aus dem Bett und auf den Gang. Ach, er fühlte sich so schwach. Er wollte nur noch zurück nach Hause, in den Palast und dort in das nächste Bett steigen. Die vertraute Umgebung hier war ihm wirklich fremd geworden. Nicht, dass sie ihm nichts mehr bedeuten würde, aber er hatte sich die Rückkehr erfreulicher vorgestellt. Ohne seltsame Diener und Judar. Da eilte ihm plötzlich Chuu'un entgegen. „Guten Morgen, mein Herr! Wir müssen Euch schnell zurechtmachen, soeben hat uns eine Brieftaube erreicht. Euer Bruder, Prinz Kouen, schickt nach Euch. Offenbar trudeln Eure Geschwister schneller ein als erwartet und somit wird vermutlich auch die Zeremonie zu Ehren des Kaisers früher stattfinden. Jedenfalls möchte er Euch in seiner Nähe wissen.“ Koumei blinzelte zufrieden. Er konnte es schließlich gar nicht mehr abwarten diesem alten Gemäuer zu entkommen.   ~ Dantalions Magie spie sie direkt in Koumeis heimatlichen Gemächern aus. Göttlich. Verblüfft taumelte Chuu'un durch den Raum, irgendwie kam er manchmal immer noch nicht mit dieser Art zu Reisen zurecht. Erleichtert sog Koumei den vertrauten Sandelholzduft der teuren Möbel ein. Endlich wieder in Sicherheit, fern von den Unannehmlichkeiten eines heruntergekommenen Hauses. Oh, er wusste, was er sogleich tun würde. „Schaff unser Gepäck an den rechten Ort, damit es uns nicht im Wege herumsteht. Und dann unterrichte meinen Bruder über unsere Ankunft“, wies er den Vasallen an und ließ sich nachlässig in die säuberlich gefalteten Bettlaken fallen. „Aber Prinz Koumei, zum Faulenzen bleibt Euch keine Zeit. Wir müssen ihm beide unsere Aufwartung machen, um zu erfahren, wann wir Eurem ehrenwerten Vater ein letztes Mal gegenübertreten.“ „So eilig wird es schon nicht sein. Bei der Anzahl an Geschwistern gibt es immer jemanden der viel zu spät kommt. Immerhin hält sich Kouha momentan in Magnostadt auf, er wird sicherlich noch ein paar Tage benötigen.“ Der Vasall schüttelte verwirrt den Kopf. „Eben schient Ihr es noch so eilig zu haben.“ „Eilig, in mein vertrautes, weiches Bett zu kommen.“ „Ich hätte es wissen müssen…“, brummte Chuu'un resigniert. „Wie dem auch sei, Ihr könnt jetzt nicht schlafen. Vielleicht nach unserem Treffen mit Prinz Kouen. Möglicherweise werdet Ihr dabei auch einige Eurer Schwestern wiedersehen, ist das denn kein lohnender Anreiz?“ Nein, das war es eigentlich nicht. Koumei hatte kein Problem mit seinen Schwestern, aber er vermisste die meisten von ihnen nicht besonders. Über die Jahre hatte er sich damit abgefunden, sie nur noch zu sehr besonderen Anlässen zu Gesicht zu bekommen. Dennoch gewannen am Ende ihrer Diskussion Chuu'un und seine Vernunft. So standen sie bald darauf für alle Eventualitäten gewappnet vor Kouen und seinen Hausleuten, die sie neugierig beäugten. Zu allem Überfluss entdeckte der Prinz in einer Ecke Judar, der betont interessiert in seinen Pfirsich biss, sobald sich ihre Blicke trafen. Ob er ihm deutlich genug gemacht hatte, dass er auf weitere Interaktionen keinerlei Wert legte? Koumei beschloss, ihn ebenfalls zu ignorieren. „Ah, du bist schneller wieder da, als ich dachte. Konntest dich wohl endlich mal von deinen Kissen loseisen. Erzähle mir doch, wie dein Ausflug verlaufen ist!“, verlangte Kouen plötzlich zu wissen. Er wirkte müde und überarbeitet. Aber das war wohl in dieser Situation unvermeidlich. Und Koumei ging es nicht besser. „Anstrengend. Der Garten ist sehr verwildert, das Haus ein wenig staubig, aber sonst in akzeptablen Zustand. Ansonsten gibt es lediglich zu berichten, dass der Verwalter ein unfähiger Mann ist. Wir sollten ihn bei Gelegenheit ersetzen. Vielleicht wäre er als Diener hier im Palast geeigneter.“ Kouen nickte verstehend. „Gut, dann haben wir ja direkt eine Aufgabe für die Zeit nach all den Scherereien hier. Bis auf Kouha fehlen lediglich Kouha, Hakuryuu und… Kouka oder Kouhaku? Seishuu, wer war es noch gleich?“ „Ähm...“, machte der Vasall ebenso ahnungslos. Der erste Prinz winkte ungehalten ab. „Gleichgültig, jedenfalls eine unserer Schwestern. Soll sich einer diese unzähligen Namen merken. Ich werfe schon alles durcheinander, wahrscheinlich fehlt sogar noch die Hälfte von ihnen, weil ich mich nicht mehr erinnern kann.“ Koumei gluckste gegen seinen Willen. Mit ihren Schwestern hatte es sein älterer Bruder nicht besonders. „Mach dich nicht über mich lustig, es gibt ernste Dinge zu besprechen“, grollte der, „immerhin werden wir bald erfahren, wer als Nächstes die Zukunft unseres Reiches in den Händen hält. Bis dahin kümmert sich Mutter um die Vorbereitungen und wir haben Zeit, unseren Geschwistern zu begegnen. Des Weiteren werde ich noch einige Vorkehrungen treffen, falls Vaters Testament unerwartete Neuigkeiten zu bieten hat. Du hingegen kannst ausnahmsweise einmal nichts tun oder Hakuryuu empfangen, er bereitet mir ehrlichgesagt einige Sorgen ich-“ Er kam nicht mehr dazu seinen Satz zu Ende zu führen. „Meichen!“, rief auf einmal eine hohe Stimme und Koumei zuckte zusammen. Weiche Arme warfen sich von hinten um ihn. „Wie schön, dich hier zu treffen, ich dachte wir würden uns erst zu meinem hundertsten Geburtstag wieder sehen! Sag, wie ist es dir ergangen, Bruder?“ Unbehaglich wandte er den Kopf. Vor ihm stand eine kleine, pummelige Frau mit rotbraunem Haar. Erwartungsvoll lächelnd blickte sie zu ihm auf und schien sich ehrlich zu freuen. Verlegen schob er sich eine Strähne aus dem Gesicht. Eindeutig eine Schwester, nur welche? Er hatte sie alle so lange nicht mehr gesehen! Dieses Exemplar musste ungefähr so alt sein wie er, also lag er hoffentlich nicht falsch, wenn er sie für Koujaku hielt. „Die Freude ist ganz meinerseits“, verkündete er und verneigte sich vor ihr. „Hach, du bist noch genau derselbe Zottel, wie vor sechs Jahren. Herrlich! Ich bin so glücklich hier verweilen zu dürfen, meine hochwohlgeborenen Brüder, obwohl der Anlass ein tragischer ist.“ Kouen schien alles andere als erfreut über diese Unterbrechung. Eher erzürnt über ihr unangekündigtes hereinplatzen. „Koujaku, hat dir dein Ehemann etwa immer noch keine Manieren eingebläut?“, knurrte er, woraufhin sie ihm ein reizendes Lächeln schenkte. „Ach was, mein Ehemann ist sanft wie ein Lamm, er würde nie ein böses Wort zu mir sagen“, kicherte sie. Aufgedreht wie eh und je. Nun erinnerte sich Koumei endlich. Seine zweitälteste Schwester war seit ihrer Kindheit durch spatzenhafte Quirligkeit aufgefallen. „Ach, Bruder Mei, ich muss dir übrigens eine großartige Neuigkeit mittteilen, sie her!“ Sie strich sich über den Bauch und der Ältere erkannte erst jetzt, dass ihre frühere Pummeligkeit mittlerweile weiblichen Kurven gewichen war. Nur die Wölbung ihres Bauches erzeugte den Eindruck, dass sie immer noch ein wenig zu dick wäre. Dieses Mal lag es wohl nicht an ihrem großen Appetit. „Ich bekomme ein Kind! Bald, noch dieses Jahr!“, jubelte sie und fiel ihm ungestüm um den Hals. „Oh… das… ist ja… großartig“, stieß er hervor, weil ihr Gewicht ihm beinahe die Nackenwirbel ausrenkte. Er war so ein Schwächling. Seine Schwester störte sich jedoch nicht an seinem gequälten Gesichtsausdruck. Wahrscheinlich wog ihre Freude über das Kind zu schwer, als dass sie von irgendetwas gebremst werden konnte. „Ich werde sie Koukou nennen!“ „Und wenn es ein Junge wird?“, murrte Kouen, der gelangweilt den Kopf in die Hand stützte. „Ebenso! Es ist ein guter Name für alle Kinder.“ „Meinst du nicht, dass dein Ehemann über den Namen entscheiden möchte? Koukou ist weder sonderlich klangvoll, noch kreativ, zudem ist es seltsam seinem Spross einen Namen aus fremden Landen zu geben“, gab der erste Prinz hartnäckig zu bedenken. Er hatte es schon immer gemocht, die Euphorie ihrer Schwester zu brechen, wahrscheinlich, weil er sich nach Koumei am meisten von ihr nerven ließ. Ob er sich überhaupt freute, sie wieder zu sehen? Das Mädchen hatte ihm damals des Öfteren Schwierigkeiten bereitet. Koujaku blies empört die Backen auf. „Bekommst du das Kind oder ich, En?“ „Na, dann schau dich mal an, unser kaiserlicher Prinz Kouen ist deutlich athletischer gebaut als du!“, warf Seishuu ein, was ihm einen bösen Blick von allen Anwesenden einhandelte. Er hatte sich nun wirklich nicht in dieses Gespräch unter Geschwistern einzumischen. Kleinlaut senkte der Schlangenkopf den Blick. „Sei nicht so gemein, du schuppige Bestie, wenn du ein Kind unter dem Herzen tragen würdest, würdest du dich gewiss den ganzen Tag nur noch rollend fortbewegen. Männer stellen sich immer an, sobald es anstrengend wird“, zwitscherte Koujaku in aufgebracht-süßlichem Tonfall. Wie hatte Koumei nur daran zweifeln können, das Spatzenmädchen vor sich zu haben? Ihr undamenhaftes Verhalten war einzigartig. Doch nun wollte noch jemand anderes Ärger machen. „Er hatte doch Recht, aufgeblasene Schnepfe“, meinte Judar und schwebte mit verschränkten Armen näher an den Aufruhr heran. Den Pfirsich hatte er wohl bereits verschlungen. Koujaku musterte ihn grimmig. Offenbar hatte sie sich wieder an den Magi gewöhnt. „Du unflätiger Wicht schon wieder! Hast du nichts Besseres zu tun, als jede gemütliche Runde zu stören? Dir werde ich Beine machen!“, erboste sich die junge Frau und fuchtelte ergebnislos mit dem Fächer aus ihrem Gürtel in der Luft herum. Er trug ein hübsches Magnolienmuster, welches nun wirklich niemanden verschrecken konnte. Judar lachte sie aus. Kein Wunder, sie ähnelte wirklich einem empört krakeelenden Spatz. Niedlich. Doch Koumei durfte sich nicht lange an dem Wiedersehen erfreuen. „Was guckst du denn so rührselig, alter Zottel?“, blaffte der Schwarzhaarige plötzlich. Darauf wusste der Prinz ausnahmsweise nichts zu erwidern. Er verlegte sich darauf, den Plagegeist mit einem abfälligen Stirnrunzeln zu bedenken. „Pah! Da hat es dir aber die Sprache verschlagen! Du bist so ein Idiot. Freu dich schon einmal auf unser nächstes Aufeinandertreffen“, schnaubte Judar und stolzierte davon. Kouen und Koumei tauschten einen Blick. Sein Bruder wirkte verwirrt. „Habt ihr Ärger? Gestern hat er noch wie ein Wahnsinniger nach dir gesucht. Er schien ein wenig gehetzt, als gäbe es etwas wichtiges zwischen euch zu besprechen.“ Alle Augen richteten sich auf den zweiten Prinzen, der sich unbehaglich am Hinterkopf kratzte. „Nun ja… so könnte man es sagen. Zumindest denkt unser Priester, dass wir Ärger haben.“ Kouen lachte trocken auf. „Das kann ich mir vorstellen. Wäre ja nicht das erste Mal, dass der Kerl die beleidigte Prinzessin spielt. So wie unser Magi leibt und lebt! Du solltest allerdings darauf achten, dich irgendwann wieder mit ihm zu versöhnen, ein Zwist zwischen ihm und einem Königsgefäß ist schlecht.“ Koumei nickte unwillig. Eigentlich legte er es nicht darauf an, je wieder ein Wort mit diesem Irren zu wechseln. Nur konnte er Kouen das natürlich nicht ins Gesicht schleudern, schon gar nicht, wenn sie unter Beobachtung standen. „Ach, hier ist es genau wie früher. Alle vertragen sich und halten zusammen“, seufzte Koujaku. Bevor er ihr ausweichen konnte, hakte sie sich bei ihm unter. Na, sie hat gut reden, wahrscheinlich darf sie in ihrem Land die vornehme Prinzessin mimen und wird den lieben langen Tag von Dienern umsorgt, die ihr jeden Wunsch von den Lippen ablesen. Obwohl ihn die Verblendung seiner Schwester störte, ließ sich der Prinz von ihr davon geleiten. Kouens Befehl „Morgen treffen wir uns vor dem Frühstück wieder hier und besprechen unser weiteres Vorgehen, wenn Kou in unsere Hände fällt! Sei gefälligst pünktlich!“ hallte ihm unangenehm mahnend in den Ohren. Chuu'un zockelte händeringend hinterher. „Eure Audienz war doch noch nicht beendet!“, rief er aus. „Schon gut, Bruder En wird es seinen Geschwistern verzeihen, da bin ich mir ganz sicher!“, flötete Koujaku und drückte sich an Koumei. Früher hatte sie ihn nicht so interessant gefunden. Nun ja, da waren auch Hakuyuu und Hakuren noch am Leben gewesen. „Hach, Koumei mein lieber Bruder. Sicherlich kannst du dich kaum noch an uns Schwestern erinnern. Wir müssen dich nun erst einmal mit dem Rest der Verwandtschaft wiedervereinen“, entschied sie und zerrte die beiden Männer energisch mit sich. Koumei wusste aus Erfahrung, dass jeglicher Widerstand zum Scheitern verurteilt war. Die junge Dame brachte sie in einen kleinen Saal, wo der zweite Prinz stürmisch empfangen wurde. Schwestern, die er Jahre lang nicht mehr gesehen, geschweige denn einen Gedanken an sie verschwendet hatte, eilten kichernd und plappernd auf ihn zu und wollten alle gleichzeitig Fragen stellen oder berichten, wie es ihnen ergangen war. Von wohlerzogenen Prinzessinnen keine Spur. Diener versorgten die Gesellschaft fortwährend mit kleinen Häppchen und Getränken, sodass eine unpassend heitere Stimmung ob des traurigen Anlasses herrschte. An sich war es tatsächlich schön, die Geschwister wiederzutreffen, doch ihm wäre eine entspanntere Situation lieber gewesen. Momentan spukten ihm einfach zu viele Probleme im Kopf herum. Die Sache mit seinem Vater, aber auch die mit Judar und Balbadd und so weiter und sofort. Für albernes Damengeschwätz fehlte ihm einfach die Zeit. Nachdem ihm Kousen zum zweiten Mal von dem großen Ball am Hofe ihres Gatten erzählte und Kourin sich darüber ausließ, was er damals für ein unnützer Spielgefährte gewesen sei, beschloss der Zottel, dass ihn der Trubel zu sehr anstrengte. Wer wollte schon gerne an seine Nutzlosigkeit erinnert werden? Mit einer kaum merklichen Handbewegung forderte er Chuu'un auf, sich bereit zu machen. Auch der Vasall hatte als Junge ein wenig mit den Kou Prinzessinnen zu tun gehabt und war ebenso freudig willkommen geheißen worden wie sein Herr. Unter großem Protest gelang es ihnen, sich von der kichernden Meute loszueisen. „Bei den Rukh, die sind ja immer noch schlimmer, als ein Sack voller Flöhe“, stöhnte der Prinz ermattet. „Dieser Äußerung kann ich nur zustimmen“, pflichtete Chuu'un bei. Dennoch wusste Koumei, dass ihm die Gesellschaft Freude bereitet hatte. Am liebsten wäre er wohl noch länger geblieben. Doch Koumei wollte endlich schlafen. Leider hatten sie wohl den ganzen Tag mit plaudern verbracht, denn der Mond schien zurückhaltend zwischen den Fenstergittern hindurch. Mit einem seligen Gähnen fiel Koumei in die herrlichen Bettlaken des mächtigen Himmelbettes. Gleichgültig, wie schlimm es um Kou stehen mochte, die Aussicht auf eine herrliche Nacht ungestörten Schlafs vertrieb selbst die furchtbarsten Sorgen für einige Stunden. Wie wohltuend, nicht unter den Decken zu braten wie in Balbadd. So ließ es sich aushalten. Es war gemütlich und versprach ungestörte Ruhe. Dachte er. Vor lauter Wohlbehagen war ihm nämlich entgangen, dass sich der alte Teppich auf dem Fußboden seltsam aufbeulte. Auch die Bewegung, die langsam in das staubige Ungetüm kam, je weiter er ins Reich der Träume entschwand, bemerkte er nicht. Und als schließlich eine wohlbekannte, drahtige Gestalt über den Boden auf das kaiserliche Bett zu kroch, in den roten Augen böse Absichten blitzend, seufzte der Prinz lediglich im Schlaf. Selbst als ihn eine grobe Hand an der Schulter packte, träumte er davon, dass sich eine Taube in ihr festgekrallt hatte und lächelte zufrieden. Das schadenfrohe Lachen eines gewissen Magi schaffte es ebenfalls nicht, seinen Schlaf zu durchdringen.  Das würde Folgen haben.   *~* Kapitel 39: Zauberei -------------------- ~*~ Der schwarze Magi versuchte gar nicht erst sein Lachen zu dämpfen. Der Zottel war ohnehin viel zu geschafft von seinem ereignislosen Tag und schlief wie ein Toter. Ganz schutzlos lag der Idiot da, ohne seinen Zausel mit dem Bogen, der ihn vor Unholden beschützen könnte. Chuu'un war ein unerträglich steifer Geselle, der es mit der Sicherheit seines Herrn viel zu genau nahm. Doch nun war er fort. Ein dummer Zufall. Perfekt. Und sein Opfer wehrlos. Die Rukh des Prinzen tanzten traumwandlerisch vor Judars Augen. Egal wie sehr er auch die Finger in Koumeis Schulter krallte, den anderen ließ es völlig unbeeindruckt. Hervorragend, alles war wie für seine kleine, aber göttliche Rache geschaffen. Mit einem harschen Befehl brachte er die Rukh seines Königsgefäßes dazu, hektischer zu flattern. So wie der Prinz mit ihm gespielt hatte, fiel dem Magi nur eine angemessene Strafe für ihn ein. Momentan leuchteten dessen Rukh noch in einem reinen Weiß, doch je mehr Judar sich mit ihnen beschäftigte und ihnen Anweisungen gab, die nur ein Magi kannte, verfärbten sie sich zu einem zarten Rosa. Eine scheußliche Farbe. Genauso scheußlich wie Koumei sich fühlen würde, wenn er irgendwann wieder zu sich kommen sollte und merken würde, was es bedeutete, es sich mit Judar zu verderben. Während die kitschige Rosafärbung der Rukh intensiver wurde, kam plötzlich Leben in den Schlafenden. Unruhig wälzte er sich hin und her. Griff blind in die Luft. Bereitwillig schob Judar seine Finger zwischen die seines Opfers. Erbärmliches, hässliches Prinzlein. Wobei, trotz seines vernarbten Gesichts und seiner verschreckenden Ausstrahlung gab es da etwas an ihm, das Interesse in dem Priester weckte, ansonsten hätte er sich wohl kaum mit ihm abgegeben. Schwerfällig flatternde Augenlider belohnten ihn für seine Anstrengungen. Nie war ihm aufgefallen, dass Koumeis Augen dieselbe Farbe wie liebeskranke Rukh besaßen. Na ja, nun besaß er die beste Vergleichsmöglichkeit. Was für ein passender Zufall. „Judar?“, murmelte der Prinz. „Natürlich bin ich es, du dämlicher Zottel“, keifte er, woraufhin sich ein erfreutes Lächeln auf den Zügen des anderen abzeichnete. Der Magi lachte auf. Der Anblick war zu verrückt um wahr zu sein: Sein griesgrämiger Königskandidat lächelte ihn an. Voller Zuneigung, obwohl er sich keinerlei Mühe gab, nett zu sein. Oh, der Trottel würde sich so sehr schämen, wenn er sich irgendwann seines Verhaltens bewusst werden sollte. „Wie schön, dass du da bist, ich habe die ganze Zeit auf dich gewartet“, sagte Koumei.   Judar kicherte. Den hatte es voll erwischt. Wenn der zweite Prinz die Wahl zwischen Schlaf und einer geliebten Person hätte, hätte er für gewöhnlich wohl immer noch sein Bett vorgezogen. Zumindest schlief er lieber, als bei seinen Brüdern zu sein. Es war fast unheimlich, wie sehr ihn der Zauber verändert hatte. Sicherlich würde dieser Bann nicht allzu lange anhalten. Doch das musste ihm reichen, um zu bekommen was er wollte: Einen Dämpfer für den hochmütigen Prinzen. Der ihn wie Dreck behandelt hatte. Gedemütigt und weggestoßen. „Wie schön, dass du mit dem Schlafen auf mich gewartet hast“, keckerte der Magi und ließ sich zu seinem Königsgefäß aufs Bett pumpsen. „Ja, nicht wahr?“ Der Idiot lächelte selig und ließ ihn für keinen Moment aus seinen unnatürlich geweiteten Augen. Seine Rukh platzten regelrecht vor Zuneigung zu ihm. Hervorragend. Koumeis Finger waren untrennbar mit den seinen verwoben. Anscheinend würden sie sich so schnell nicht wieder von einander lösen. „Bleibst du heute Nacht bei mir?“, bat der Prinz und versuchte, Judar näher an sich zu ziehen.   Auf dieses Angebot werde ich zu gerne eingehen. Ich hoffe nur, du hast deinen üblichen guten Schlaf. Dann folgt morgen ein böses Erwachen! „Aber natürlich.“ Er schaffte es einfach nicht, einen Satz herauszubringen der kein höhnisches Kichern beinhaltete. Allerdings kümmerte das den anderen überhaupt nicht. Arglos blinzelte Koumei ihn an und strich über seinen Unterarm. „Das freut mich sehr.“ Dieses völlig unpassende freundliche Lächeln, welches er dem Magi immer schenkte! Unheimlicher Zottel! Plötzlich ruckte dieser so heftig an Judars Arm, dass er Bekanntschaft mit einer mageren Hühnerbrust unter verrutschten Nachtgewändern machte. Ziemlich hart und unbequem, er wollte wieder weg von hier. Keine Chance. Sofort schlang Koumei die dürren Arme um ihn und Judar zuckte zusammen. Kalte Hände strichen über seinen bloßen Rücken. Eine Gänsehaut überfiel ihn. „Lass mich los!“, presste er hervor, aber der Griff verfestigte sich unerbittlich. Koumei drehte sich mit ihm zur Seite, wobei sie beinahe aus dem Bett gefallen wären. „Bleib doch hier, du hast es mir versprochen.“ Judar wusste nicht, was er tun sollte. Dieses seltsame Verhalten begann, ihm unangenehm zu werden. Zum ersten Mal befiel ihn ein ungutes Gefühl bei der Sache. Was, wenn die Schlafmütze gleich völlig von Sinnen über ihn herfallen würde? Ja, Judar hatte keinen Gedanken daran verschwendet, dass dieser Zauber für ihn selbst Gefahren bereithalten könnte. Er vertraute darauf, dass der Zottel zu schwach war, um ihm irgendetwas anzutun, obwohl er es besser hätte wissen müssen. Koumei grummelte irgendetwas Unverständliches und zog ihn noch näher an sich. Seine Augen waren längst wieder zu gefallen. Nein, er würde ihm nichts antun, dazu war er tatsächlich zu schlaff. Der Priester grinste höhnisch. Dieses dumme Königsgefäß. Niemand verscherzte es sich mit seinem Magi! Alles lief nach Plan. Der Zottel würde ihn in den nächsten Stunden nach dem Aufwachen wahrscheinlich auf Händen tragen. Was würde es wohl für einen Aufruhr und böse Zungen im Palast geben, wenn jeder wüsste, dass der schläfrige zweite Prinz ein besonders Interesse an ihrem Hohepriester gefressen hatte? Mit ihm sogar sein Bett teilte? Zu schön, um es sich auszudenken. Koumei würde sich vor Gerüchten nicht mehr retten können. Seine Rache war perfekt. Dass er damit vor allem sich selbst schaden könnte, war Judar in seiner Schadenfreude bedauerlicherweise entgangen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sein Königskandidat auch wirklich schlief und ihm keinen Streich spielte, viel es ihm nicht schwer, ebenfalls im Schlaf zu versinken. Die gnadenlose Umklammerung hatte sich ein wenig gelockert und er merkte, wie erschöpft er war. So ein hinterhältiger Zauber kostete schließlich Kraft. Natürlich bemerkte niemand der beiden Schlafenden, dass unten im Hof eine Kutsche vorfuhr. Ja, die Sache mit Koumei beschäftigte Judar so sehr, dass er sogar für ein paar Stunden die nahende Testamentsverkündung des verstorbenen Kaisers vergaß. Am nächsten Morgen erwachte Judar davon, dass ihm schlanke Hände durch das lange Haar fuhren. Moment… was war mit seinem Zopf geschehen? Verwirrt stammelte er irgendetwas vor sich hin, ehe die Erinnerung überkam und sich ein zufriedenes Lächeln auf seine Züge schlich. Koumei stand also immer noch unter seinem Bann. „Wie schön, dass du aufgewacht bist, Judar…“ Durch die Zimmerfenster drang das Licht eines leicht vorangeschrittenen Morgens, vielleicht hatte der Prinz verschlafen, aber anstatt sich darum zu sorgen flüsterte er ihm grade schnulzige Liebesbekundungen ins Ohr. Herzerwärmend. Wirklich herzerwärmend. Doch der Prinz runzelte unmerklich die Stirn, als erwartete er eine Antwort. Judar gluckste schadenfroh. Er sollte ihm wohl etwas entgegen kommen, damit es später auch wirklich genügend Dinge gab, die er dem anderen vorhalten konnte. Oh ja, er konnte ihm mithilfe der Rukh bald ganz genau zeigen, was er getan hatte. Koumei begann anstelle seiner Haare wieder seinen Rücken zu streicheln und Judar hätte Luftsprünge anstellen können. Was war er doch für ein großartiger Zauberer. Außerdem fühlten die zärtlichen Berührungen sich nicht unbedingt schlecht an. „Ich liebe dich“, murmelte Koumei und legte plötzlich seine Stirn an die des Magi. Dieser wich ein wenig vor dem schlechten Morgenatem zurück, ehe er betont schleimig beteuerte, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte. Koumei lächelte wie ein Verrückter, als Judar ihm über die Wange strich. Sie sahen sich tief in die Augen und Judar hätte sich schütteln können vor Lachen. Der Prinz wirkte von nahem völlig weggetreten. Wie besessen kraulte er den Magi im Nacken, nichts von seiner üblichen Müdigkeit schimmerte durch. Auf einmal ertönte ein leises Knarzen. Verwirrt hielt Judar inne. „Lass mich los!“, befahl er leise. Im Gegensatz zu gestern Abend ließ Koumei ihn ziehen, bedachte ihn aber mit einem enttäuschten Blick. „Ich komme ja gleich wieder“, gurrte er (schon hatte er wieder ein Strahlen auf das Gesicht des Prinzen gezaubert), ehe er lautlos vom Bett glitt, um unauffällig durch den Raum zu schweben. Sogleich bemerkte er, dass die Tür zu dem Schlafgemach einen auffällig kopfgroßen Spalt geöffnet stand. Hatte sie etwa jemand beobachtet?! Im ersten Moment wollte er vor Freude einen Salto in der Luft schlagen, dass Koumei nun wohl nicht nur mit der Peinlichkeit von Judar bloßgestellt worden zu sein zu kämpfen haben würde. Nein, nun würden sicherlich bald alle im Palast wissen, was er hinter verschlossenen Türen trieb. Dann jedoch wurde ihm mit kaltem Schrecken gewahr, dass es hierbei ja nicht nur um den Prinzen ging. Er hing schließlich genauso mit. Verdammt! Da wanden sich wieder zwei Arme um seinen Bauch. Koumei musste im gefolgt sein. Genüsslich vergrub er die Nase in Judars leicht zerzaustem Haar. Er wollte ihn hoffentlich nicht auch in einen ungepflegten Zottel verwandeln! So ein Mist, irgendwie lief die Sache wohl doch nicht so nach Plan, wie gedacht. „Hör auf damit, Trottel“, knurrte Judar, „irgendjemand hat uns gesehen!“ Koumeis Augen weiteten sich, dann sagte er jedoch: „Na und? Was ist daran so schlimm?“ Dem Magi blieb der Mund offen stehen.  Vielleicht hatte er Koumei ein wenig zu viel Hirn gestohlen. „Was daran so schlimm ist? Dass bald jeder in Rakushou von uns weiß! Jeder wird denken, wir wären Geliebte oder so ein verfluchter Quatsch!“ „Aber das ist doch richtig?“, fragte Koumei angstvoll. Hecktisch kratzte er sich am Hinterkopf. „Nein, du Vollidiot!“, keifte Judar. „A-Aber…?“ „Ich habe deine Rukh manipuliert, hast du das nicht gemerkt?“ Das zerklüftete Prinzengesicht glich einer Maske der Verwirrung. Scheiße, da hatte er sich mit seinem Plan selbst geohrfeigt. Jemand würde bald üble Gerüchte über ihn verbreiten, nicht dass es ihn für gewöhnlich kümmerte, aber dieses hier würde ihm dann doch nicht gefallen. Und zu allem Überfluss musste er sich jetzt mit einem liebeskranken Zottel herumschlagen, der scheinbar seine Intelligenz restlos eingebüßt hatte. Was für ein dummer schwarzer  Magi er doch war!   ~*~ Kapitel 40: Entdeckung ---------------------- *^* Gähnend schlurfte Kouha Ren durch die einsamen Korridore des morgendlichen Palastes. Keine Menschenseele begegnete dem kleinwüchsigen Prinzen auf seinem stillen Weg. Wahrscheinlich lag ein Großteil der Beamten und vielleicht sogar der Sklaven oder Diener noch in ihren Betten. Doch er beneidete sie nicht, obwohl er allen Grund dazu gehabt hätte. Gestern Nacht erst hatte er seinen Heimatpalast erreicht und sollte sich eigentlich von der beschwerlichen Reise ausruhen. Hätte zumindest jemand ganz Bestimmtes  an seiner Stelle befunden. Aber der dritte kaiserliche Prinz hing nicht derartig an seiner Nachtruhe, dass es für ihn einem Weltuntergang gleichkam, ein wenig früher aufzustehen. Eigentlich hätte er wirklich noch ein zwei Stunden Schlaf vertragen, doch sein ältester Bruder hatte ihm befohlen, nach Koumei zu sehen. Kouha hatte ihm angemerkt, dass er das am liebsten selbst getan hätte, doch momentan ließen die höfischen Verpflichtungen dem ersten kaiserlichen Prinzen keinerlei Freiraum oder gar Ruhe. Verständlich, der Anlass war ein betrüblicher, den Kouha nur deshalb beiläufig wegsteckte, da er von seinem Vater ungefähr so viel hielt, wie von einem fauligen Pfirsich. An morgendliche Weckbesuche bei dem geliebten Bruder war momentan bei dem ganzen Stress für En nicht zu denken. Sie wären für gewöhnlich auch gar nicht nötig gewesen, wenn dieser sich zur verabredeten Morgenbesprechung gezeigt hätte. Sein seltsamer großer Bruder. Immer musste man auf ihn achtgeben. Es kam immer mal wieder vor, dass der Verschlafene so sehr in seiner Arbeit versank, dass man tagelang nicht mit ihm rechnen konnte. Bei gewöhnlichen Menschen nicht unbedingt ein Problem, vielleicht ein wenig unsozial, aber nicht weiter dramatisch. Trat so etwas jedoch bei dem zweiten Prinzen auf, mussten sie sofort alarmiert sein. Sei es zu den Mahlzeiten, wichtigen Besprechungen, Audienzen und so weiter und sofort. Für gewöhnlich beredeten sie alles wichtige, wenn sie sich bei der Ausführung ihrer Pflichten über den Weg liefen. Das geschah meist mehrmals am Tag und reichte für die begrenzte Freizeit, über die man als wichtiger Mann verfügte, aus. Nur dass Mei es an diesem wichtigen Tag nicht für nötig erachtete, ihnen seine Aufwartung zu machen. Koumei vergaß nämlich nicht nur seine Brüder und andere menschliche Kontakte, sondern auch das Minimum an lebensnotwendigen Vorkehrungen. Kein Essen, kein Trinken, keine Körperpflege, wahrscheinlich noch nicht einmal Schlaf, wenn er ihn jeden Morgen so schrecklich übermüdet im Versammlungssaal zu Gesicht bekam. Vor nicht allzu langer Zeit wäre Mei-Mei beinahe verdurstet, weil er Ewigkeiten über einem wichtigen Vertrag gebrütet hatte. Eine ganze Woche lang. Mit nur einer einzigen Kanne Tee auf dem Zimmer. Irgendwie waren sie alle derart beschäftigt gewesen, dass ihnen das Fehlen des Bruders nicht weiter aufgefallen war. Als sie es schließlich bemerkten und eine verzweifelte Suchaktion gestartet wurde, fanden sie ihn irgendwann vollkommen dehydriert in seinen Gemächern. Auch wenn der junge Prinz keinerlei Skrupel hatte, sich durch endlose Reihen von Feinden nur so hindurch zu metzeln, als er seinen Bruder halb tot und regelrecht fantasierend vor sich liegen gesehen hatte, war ihm doch etwas mulmig geworden. Na ja, immerhin den Vertrag hatte Koumei in seiner Zeit des unfreiwilligen? Fastens bestens ausgearbeitet. Für das Kou Reich konnte sein selbstzerstörerischer Arbeitseifer nur gute Folgen haben. Doch was war nun schon wieder los? Hier herrschte keine Hitze wie in Balbadd und gestern hatte Mei bis zum Abend Zeit mit ihren Schwestern verbracht. Der liebe Mei hatte sich ja nicht (wie schon öfters geschehen) mindestens hundert Jahre nicht mehr blicken lassen. Kouha machte sich trotzdem Sorgen. Wahrscheinlich hatte der ältere sich wieder in seinen Gemächern verschanzt und über der Müdigkeit die Welt vergessen, aber vielleicht war er ja so erschöpft gewesen, dass er einen Schwächeanfall erlitten hatte. Immerhin hatte er eine wichtige Besprechung ausfallen lassen! So lief Kouha nur durch die morgentrunkenen Korridore, bis er endlich das richtige Zimmer gefunden hatte. Sachte klopfte an. Wisperte leise: „Bruder Mei?“ Keine Reaktion. Also beschloss er, einfach die Tür ein wenig aufzuziehen. Nur einen winzigen Spalt. Wenn es ihm gut ging, wollte er seinen Bruder schließlich nicht beim Schlafen stören. Wo er ihn doch immer so dringend zu brauchen schien.  Ja, wenn sich seine Sorge als unbegründet herausstellen würde, würde er sich einfach leise zurückziehen und Kouen beruhigen. Wenn nicht, würde er sehen müssen, was er tun konnte. Vorsichtig schob der junge Mann seinen Schopf durch die schmale Lücke. Zuerst schien niemand dort zu sein. Also spähte Kouha pflichtbewusst wie er war, gründlich in alle Ecken des Raumes. Sofort zuckte er zurück und beschränkte sich auf eine etwas unauffälligere Beobachtungsweise. Was er dort erblickte, ließ die wahnsinnigen roséfarbenen Augen des kleinen Prinzen voller Fassungslosigkeit, welche schnell in ein sensationslüsternes Vergnügen umschlug, funkeln. Sein Vorsatz des schnellen Rückzugs löste sich prompt in Luft auf. Vorsichtig ausgedrückt: Kouha war schockiert. Er hatte alles erwartet. Koumei, friedlich am Schlafen, fleißig am Arbeiten, am Verdursten, Verhungern, am Erfrieren in der herbstlichen Frische. Doch nie, wirklich nie, wäre er auf das gekommen, was er nun beobachtete. Niemals hätte er sich etwas dergleichen vorstellen können. Es niemals erwartet oder gar vermutet. Nicht bei seinem müden Bruder, der immer nur an Schlaf und Arbeit denken konnte. Er konnte es kaum glauben, seinen Augen nicht trauen. Das, was er da sah verstehen? Erst recht nicht. Mei lag zwar in seinem Bett, jedoch nicht etwa brav schlummernd, wie es seinem Gemüt eigentlich entsprach, sondern überraschenderweise ziemlich wach. Nun gut, soweit man das bei ihm behaupten konnte. Nein, im Reich der Träume befand sich der Vermisste eindeutig nicht. Stattdessen lag er auf der Seite, nur halbbekleidet. Die roten Zotteln wirr um sich herum wie ein Feuerkranz. Ungewöhnlich, Nachtgewänder oder im Zweifel seine Alltagskleidung beim Schlafen zu tragen, war für Mei normalerweise das Größte. Nun gut, wahrscheinlich schaffte er es vor lauter Müdigkeit nie, sich auszuziehen, bevor er eindöste. Doch nun lag er beinahe nackt zwischen den weichen Decken. Auf den Lippen ein sanftes Lächeln, welches so gar nicht zu ihm passte. Ja, statt halb am wegdämmern zu sein, wie gewöhnlich, wirkte Mei an diesem Morgen eindeutig glücklich. Während sein entblößter Oberkörper ganz entspannt zwischen den edlen Kissen ruhte, spielten seine schmalen Finger regelrecht betört mit einer feinen Substanz. So schwarz und seidig glänzend. Nein, sein Bruder befand sich nicht alleine in dem ohnehin viel zu großen Bett. Kouha grinste begeistert in sich hinein. Jeder, der ihn so gesehen hätte, hätte einen großen Bogen um den jungen Prinzen gemacht, der mit diesem wirren Blick aussah, wie ein vom Wahnsinn zerrütteter Geisteskranker. Das war einfach zu unglaublich um wahr zu sein! Was war nur mit Koumei geschehen? Dem zotteligen, verwahrlosten Prinzen? Wie kam er auf einmal auf die Idee, sich mit Frauen abzugeben? Eine Spezies, die seinem verwahrlosten Bruder scheinbar vollkommen fremd war. Uninteressant. Vielleicht auch furchteinflößend. Zumindest früher. Was hatte Kouha verpasst? Wie lange ging das schon so? Wenn Mei nun schon sein Bett mit einer von ihnen teilte, musste ihm da eine ganze Menge entgangen sein. Er hätte sich nie träumen lassen, dass der Kerl so etwas wie ein Privatleben führte, an dem seine Geschwister nicht teilhatten. Dabei schien sein Bruder sogar einen halbwegs guten Geschmack zu besitzen. Schwierig zwar, seine Wahl genau zu beurteilen, wenn man eigentlich nur den Hinterkopf der jungen Dame, sowie ellenlanges, leicht gewelltes, rabenschwarzes Haar, welches sich offen bis zum Boden erstreckte, erkannte. Doch unter den seidigen Strähnen ließ sich ein äußerst wohlgeformter Körper erahnen. Schlank und athletisch. Und nicht grade an materiellem Notstand leidend, wenn er sich den goldbehangenen Arm anschaute, der sich auf einmal bewegte, als die Schönheit leise seufzend erwachte. Kouha war höchst interessiert. Wer die Hübsche wohl war? Woher stammte sie? Sie wirkte so exotisch und dennoch vertraut. Eine wirklich ansprechende Frau. Sein Bruder war fast zu beneiden. Wobei… Moment Mal! Die glänzenden, seltsam kindlichen Augen, die vorher beinahe schon vor Staunen überquollen, weiteten sich noch viel mehr, als Kouha plötzlich eine sensationelle Erkenntnis in den Geist schwirrte. Oh, ihm war tatsächlich unglaublich viel entgangen. Das, was er da erblickte, war zu absurd, um wahr zu sein. Nein, zu gut um wahr zu sein! Wieso war ihm das nicht sofort aufgefallen? Er kannte die Gesellschaft seines Bruders nur allzu gut. Und eines wusste er ganz genau: Diese schöne, schwarzhaarige Dame war ganz sicher keine Frau. Und über Reichtum verfügte sie ganz sicher auch nicht. Über ihre Schönheit ließ sich ebenfalls streiten. Derart langes, gepflegtes, tiefschwarzes Haar, gepaart mit schwerem Goldschmuck, der sich nicht einfach so ablegen ließ, verband er eigentlich nur mit einer einzigen Person. Einer Person, der er, vor nicht allzu vielen Tagen, selbst begegnet war und sie mit seiner Nähe belästigt hatte. Oh-ho. Kouha feixte. Da hatten sich aber wirklich zwei gefunden. Der weltfremde, friedfertige Koumei und Judar, der so zerstörungswütige, berührungsscheue Magi. Nie hätte er auch nur einem von beiden zugetraut, etwas von dem anderen zu verlangen, das über die Kooperation von Magi und Königsgefäß hinausging. Doch wenn er sie so betrachtete… sie passten sogar in gewisser Weise zusammen. Vielleicht eröffneten sich ihm grade neue Erkenntnisse über ein paar vergangene Vorfälle. Aber darüber konnte er später nachgrübeln. Was sich vor seinem neugierigen Blick abspielte, zog seine Aufmerksamkeit eindeutig stärker auf sich. Erstaunlich, wie zahm der bissige Hohepriester sich mit einem Mal unter den Händen seines Königskandidaten fügte. Wie genießerisch er sich von Mei durch die seidigen Strähnen und über die nackte Haut streicheln ließ. Wie sachte er die Stirn an die des anderen legte und dessen Berührungen erwiderte. Sich schüchtern kichernd, zumindest in Kouhas Ohren, unverständliche Worte einflüstern ließ. Nie hätte er gedacht, solche Töne aus Judars Mund zu hören. Merkwürdig, bei den beiden konnte er sich keine geschworenen Liebesgeständnisse und schnulzige Zärtlichkeiten vorstellen. Aber was sollte das hier anderes sein? Eigentlich hätte er, als ihr zufälliger Beobachter, längst verschämt verschwinden und seinen Würgreiz mit Mühe unterdrücken müssen. Nicht so Kouha. Im Gegenteil, er kam sogar wieder ein wenig aus seiner Deckung hervor, überzeugt, dass die beiden viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um einem Dritten Beachtung zu schenken, geschweige denn, ihn zu entdecken. Der jüngste Kou-Prinz starrte immer noch wie gebannt auf dieses Schauspiel, das er nicht alle Tage geboten bekam. Es war nichts schlimmes, übermäßig unanständiges, bei dem Eltern ihren Kindern besser die Augen zugehalten hätten, dennoch faszinierte es ihn. Einfach, weil es so unerhört war, einen Magi mit seinem Königsgefäß derart… intim… verbunden zu sehen. Aber vor allem verblüffte ihn, dass die meisten Annäherungen von seinem Bruder auszugehen schienen. Eigentlich hätte er das eher dem Gefallenen zugetraut, der doch sonst auch keinerlei Hehl daraus machte, wenn ihm jemand gefiel und sich sogleich an entsprechende Personen anhängte. Vor allem weil er es umgekehrt niemandem erlaubte. Nun, Mei anscheinend schon. Seltsam, den sonst so aktiven und brutalen Magi nahezu unterwürfig zu sehen. Grade, als Kouha sich zu fragen begann, ob er wohl heute noch einen Kuss oder gar noch mehr zwischen einem Magi und  seinem Königskandidaten in ihrem natürlichen Lebensraum dokumentieren durfte, stolperte er. Mist, er hatte sich zu weit vorgebeugt! Verdammte Sensationsgier! Zwar gelang es ihm grade noch, sich zu fangen, bevor er irgendwo gegen gestürzt wäre, doch der Holzboden knarzte trotzdem unter seinen Füßen. Leise, aber doch verräterisch. Die gemurmelten Worte verstummten abrupt. Oh, oh. Sie hatten etwas gehört! Ja, dem Quietschen nach zu urteilen, hatte sich jemand just in diesem Moment aus dem Bett erhoben. Kouha zuckte zurück. Nur fort von dem verräterischen Türspalt. So schnell er nur konnte, trat er den Rückzug an. Versuchte gleichzeitig zu schleichen und zu rennen. Hoffentlich hatte ihn niemand gesehen! Endlich, der Flur machte einen Knick. Mit einem wahnsinnig überdrehten Lachen, eine Hand fest auf seine rutschende Mütze gepresst, und wehenden rosa Haaren schoss er den Gang entlang, während langsam Leben in den Palast kam. Oh, nun hatte er wahrhaftig etwas, über das er Kouen Bericht erstatten musste. Sofort! Sein ältester Bruder würde Augen machen! „Bruder En, Bruder En!“, brüllte er und schoss wie der Blitz in die Gemächer seines Bruders. Erst als er schlitternd zum Stehen kam, bemerkte er, dass seinetwegen ein Gespräch verstummt war. Böse Blicke bedachten ihn. Anscheinend war er in eine Konferenz zwischen Kouen und seinen Beratern geplatzt. Weshalb tauchte er heute immer zu den unpassendsten Zeiten auf? Nun, er konnte nichts dafür, also war es ein Problem der anderen, falls sie seine Anwesenheit nicht billigten. Mit verschränkten Armen lehnte er sich an eine der teppichbehangenen Wände. Wie furchtbar der ganze Palast in Aufruhr war! Nun gut, Kouha konnte das verstehen. Er selbst wäre in diesem Moment lieber wieder in Magnostadt, da hatte er sich immerhin von Gyokuen fernhalten können. Andererseits hatte er sich auf seine Brüder gefreut. Doch wie es schien, beruhte dies nicht auf Gegenseitigkeit. En fand wie üblich keine freie Sekunde und Mei hatte interessanterweise einen amüsanteren Weg gefunden, sich zu beschäftigen. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Kouen sich endlich erbarmte, die Berater fortzuschicken. Sein Gesicht zeigte jedoch keinen erfreuten Ausdruck. Im Gegenteil. Seine gerunzelte Stirn sorgte für tiefe Falten im ganzen Gesicht und für einen Moment erschrak der dritte Prinz darüber, wie alt und geschafft er aussah. Seine Stimme hingegen hatte nichts von ihrer Bedrohlichkeit eingebüßt. Sie brachte sogar den gewaltverliebten Kaisersohn zum Erschaudern. „Kouha! Was fällt dir ein?! Ich hoffe, du hast einen guten Grund für das Stören der Unterredung vorzuweisen!“ Schlagartig befiel ihn ein schlechtes Gewissen. Sein ältester Bruder hatte wirklich genug zu tun und er konnte an nichts anderes denken, als mit ihm über Koumeis Errungenschaft tratschen zu wollen? So sensationell sie auch war, allein die Sache, dass er sich einen Bettgefährten des selben Geschlechts genommen hatte, so unpassend mochte seine Reaktion darauf sein, oder...? Etwas verlegen verschränkte er die Hände hinter dem Rücken. Kouen war der Einzige im ganzen Kou Reich, dem er eine gewisse Art von Respekt oder Ehrfurcht gegenüberbrachte. Doch dieser hatte keinen Nerv mehr für sein Zögern. „Jetzt sag schon!“, blaffte der erste Prinz und erhob sich steif. Das endlose Herumgesitze würde wohl jeden zermürben. Armer En. „Verzeih, mein kaiserlicher Bruder. Ich wollte dich nicht stören. Nun, ich habe nicht nachgedacht.“ Kouens schmale Augen verengten sich düster. „Das ist nichts Neues.“ „Ich… ich weiß. Aber… ich habe eine unglaubliche Entdeckung gemacht, die dich unter anderen Umständen sehr interessieren würde!“, beteuerte er. Erwartungsvoll raufte sich Kouen das feuerrote Haar, zupfte gehetzt an seinem Ziegenbärtchen. Oje, er wird aus der Haut fahren. So wie er unter Stress steht wird er denken, ich sei völlig verrückt geworden. Und wahrscheinlich hätte er damit sogar vollkommen Recht! "Nun… ich habe soeben Bruder Mei einen Besuch abgestattet, weil du es befohlen hast. Er hat nicht geschlafen…“ „Du erlaubst dir einen Scherz. Der einzige Grund, weshalb unser schläfriger Bruder ansonsten seine Anwesenheit verweigert, wäre ein Schwächeanfall. Doch du wirkst nicht im Mindesten um ihn besorgt. Was ist geschehen?“ Kouha wand sich. Vor En konnte man wirklich Angst bekommen. „Tja… das wird dir wohlmöglich nicht  gefallen… Bruder Mei hat sich wohl jemanden ins Bett geholt. Jemanden den wir dort nie vermutet hätten…“, murmelte er und wandte beschämt den Blick ab. Er war so ein bösartiges Ungeziefer, dass er Kouen damit belästigte. Tatsächlich schien dieser die sensationelle Nachricht nicht mit der anfangs erwarteten Aufregung entgegen zu nehmen. „Und deswegen platzt du  ohne Erlaubnis hier herein?“ „Nun ja… bei diesem Jemand handelt es sich zweifelsohne um Hohepriester und Magi Judar…“ Kouha verstummte. Sein Bruder knurrte missmutig. Dann schüttelte er heftig den Kopf. Sein spöttischer Blick verletzte ihn zutiefst, obwohl er es nicht besser verdient hatte. „Kouha, du träumst.“ „Du glaubst mir nicht? Aber das ist die Wahrheit! Ich habe genau beobachtet, wie sie sich gegenseitig ihre Liebesschwüre entgegengehaucht haben. Es war widerlich!“ „Schweig!“, blaffte der Ältere. Dann begann er plötzlich zu lachen. „Eigentlich müsste ich zornig auf dich sein. Wir haben eindeutig besseres zu tun, um uns in das Liebesleben der alten Schlafmütze einzumischen. Dennoch, anscheinend war das hier genau das richtige, um meine miserable Laune aufzufrischen!“ Brüllend vor Lachen schlug er dem zierlichen Kouha auf den Rücken, sodass dieser vor Schmerz ächzte. „Bruder En, ich verstehe nicht!“ „Das was du gesehen hast war nicht Judar. Allein dieser Gedanke… ich gebe zu, er wäre zu lächerlich um wahr zu sein! Die Dame, welche Koumei Gesellschaft leistete, nennt sich Kali. Eine starke Ähnlichkeit zu unserem Magi ist nicht zu leugnen.“ Misstrauisch verschränkte der Kleine die Arme vor der Brust. „Und wer soll diese Kali sein? Ich habe noch nie etwas von ihr gehört, geschweige denn aus Meis Mund! Ich bin mir sicher, dass ich Judar gesehen habe.“ „Immer mit der Ruhe. Solltest du Kali einmal zu Gesicht bekommen, wirst du deinen Irrtum einsehen. Vor etlichen Jahren stand sie als Haremsdame in den Diensten unseres Vaters, bevor dieser auf die Idee gekommen ist, sie Koumei zum Eintritt in die Volljährigkeit zu schenken. Die beiden konnten sich zwar noch nie besonders leiden, aber offenbar hat die Zeit in Balbadd unserem Bruder den Kopf verdreht.“ Falls dies überhaupt möglich war, fühlte sich Kouha noch dümmer als ohnehin. Und er war so begeistert gewesen, einen Skandal im Palast aufgedeckt zu haben. Dabei besaß Koumei einfach nur eine Konkubine, die er jeder Zeit zu sich rufen konnte. Zugegebener Weise hätte er auch dies nie von ihm erwartet, aber seine maßlose Begeisterung musste nun einfach nur jämmerlich wirken. Kouen merkte ihm die Niedergeschlagenheit offensichtlich an, denn er tätschelte tröstend seine Schultern. „Na komm schon, Verwechslungen geschehen. Wenn du darauf bestehst und danach beruhigt bist, kann ich Kali herbeirufen lassen. Sicherlich ist sie mittlerweile wieder aufzutreiben. Lass uns lieber auf die wichtigen Dinge achten. Es steht einiges an Veränderung bevor!“   *^*   Kapitel 41: Ausflucht --------------------- *~* Mit einem mehr als nur schlechten Gefühl torkelte Koumei die Korridore zum Speisesaal entlang. Sein Kopf schien aus Watte zu bestehen. Zugleich lastete er unendlich schwer auf seinen Schultern. Wenn er ihn nicht mit einer Hand stützen würde, würde er wahrscheinlich abbrechen und zu Boden poltern. Was immer Judar mit ihm angestellt hatte, es war zutiefst verstörend. Der dreckige Magi hatte ihn behext, um sich ihm anzunähern! Welch eine Schmach für den zweiten Prinzen des mächtigen Kou Reichs, der darüber hinaus völlig andere Sorgen haben sollte. Nur leider konnte er sich an jede Einzelheit der vergangenen Nacht und des darauffolgenden Morgens erinnern. Wie er Judar festgehalten und ihn für sein Ein und Alles erklärt hatte. Vor allem aber daran, dass irgendjemand sie gesehen hatte! Das würde unter den Dienern eine ebenso beliebte Geschichte werden wie diese von den zwei Turteltäubchen, die Hakuren und Seishuu Ri vor Jahren mehrmals in einer Besenkammer erwischt hatten… Teil davon wollte man nun wirklich nicht sein. Was sollte er jetzt machen? „Mein Herr, nun wartet doch! Es tut mir so leid, könnt Ihr mir mein Versagen noch einmal verzeihen?“ Chuu'un bemühte sich nicht zu rennen. Das gehörte sich im Palast nicht sonderlich, aber schließlich tat er es doch, um seinen Prinzen einzuholen. „Ich hätte Euch nicht verlassen dürfen! Ich hätte den Magi unter dem Teppich aufspüren müssen, damit Ihr in Sicherheit gewesen wäret! Solch eine Schande!“ Koumei blieb müde stehen. Was genau bereut er so sehr? Er konnte noch nicht klar denken. Seine Augen flirrten konfus über die braune Haarmähne, welche jeglichen Gesichtszug seines Vasallen verbarg. „Ach, Prinz Koumei, ich bin so unsäglich betrübt über mein Scheitern. Diese Fahrlässigkeit. Möchtet Ihr Euch nicht noch ein wenig ausruhen? Vielleicht solltet Ihr Euch in diesem Zustand nicht in der Öffentlichkeit zeigen. Na kommt, setzt Euch einen Moment“, schlug er vor, als sein Herr vor Müdigkeit und den Folgen des hinterhältigen Zaubers zu schwanken begann. Dankbar ließ Koumei sich von ihm zu Boden helfen. Chuu'un hatte ihn vor einer Stunde benommen und allein in seinen Gemächern liegend gefunden. Auf den harten Dielen, in seinen Nachtgewändern, die ganze Zeit irgendwelche unzusammenhängenden Sätze vor sich hinmurmelnd. Immer wieder gespickt mit Judars Namen. Das hatte dem treuen Vasallen genügt, um sich seinen Teil zu denken. Dieser verfluchte Abschaum von einem Hohepriester! Hier handelte es sich nicht um einen durch Faulheit verursachten Schwächeanfall, sondern um die Nachwirkungen eines bösen Fluchs. Koumei freute sich, dass Chuu'un sich um ihn gekümmert hatte und nicht irgendein sensationsgieriger Sklave. Vermutlich hatte er eher den Eindruck eines tollwütigen Monsters mit Schaum vor dem Mund anstatt den eines Adeligen erweckt. Nun konnte er immerhin wieder laufen. Und langsam sorgte er sich wirklich um die Folgen dieses hinterhältigen Zaubers. Wenn er doch nur wüsste, wer  sie gesehen hatte! Würde dieser Jemand seine Beobachtungen für sich behalten oder wusste bereits der ganze Palast davon? Trauernden Menschen kam doch jede erheiternde Ablenkung recht. „Oh, Chuu'un, was sollen wir nur tun?“, ächzte er und schlug sich die Hände vors Gesicht. Wie sollte er diese Peinlichkeit nur überstehen? Die befremdeten Blicke, den Spott seiner Brüder… er wollte doch nur seine Ruhe haben und ihr Land in eine bessere Zukunft führen. Womit hatte er diese List bloß verdient? „Chuu'un… sag doch endlich etwas!“, jammerte er und zog an den braunen Haaren, die er erreichen konnte, weil der Vasall sich besorgt neben ihn gehockt hatte. „Den Magi auf möglichst grausame Art und Weise zur Strecke bringen?“, schlug er beflissen vor. Überrascht starrte der zweite Prinz den ansonsten so gefassten Mann an. Dann lachte er leise. „Eine hervorragende Idee, wenn wir ihn und seine Talente nicht noch brauchen würden. Durch seinen Zauberbann hat er bewiesen, dass er große Macht besitzt.“ „Er hat Eure Ehre verletzt und dafür gesorgt, dass irgendjemand es bemerkt hat. Falls es ein Dienstmädchen war, wird diese Information bald das gesamte Koureich durchwandern“, gab Chuu'un zu bedenken. Wie vernünftig er sich sogar bei der Unterbreitung solcher Schwachsinnigkeiten anhörte! „Nun hör mal, daran wird der Tod eines unleidlichen Magi auch nichts mehr ändern können“, tadelte Koumei, ein bisschen entsetzt über die Kaltblütigkeit des anderen. „Ich wüsste auch nicht, ob wir ihn überhaupt in einem Kampf besiegen könnten…“, sinnierte er dann doch. Sein Vasall kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Ihr habt Recht, wir brauchen einen besseren Plan. Wie wäre es, wenn Ihr Euch einfach so verhaltet wie immer und die möglicherweise aufkommenden Gerüchte ignoriert? Schließlich ist es nicht sicher, ob sich die Nachricht ausbreiten wird.“ Vorsichtig, um keinen stechenden Kopfschmerz auszulösen, nickte Koumei. Eigentlich war dies die einzige Option. Alles abstreiten, verdrängen, ignorieren, die Wachen vor seinen Gemächern verstärken, Judar meiden. Vornehmlich letzteres. Murrend versuchte er, sich zu erheben. Sofort stützte Chuu'un ihn. Seiner Hilfsbereitschaft zu Folge musste Koumei einen erbärmlichen Anblick bieten. Sein armer Kopf, eigentlich hatte er nach diesem brutalen Übergriff eine Sonderration Schlaf verdient. „Nein“, meinte der Vasall, der offenbar seine sehnsüchtigen Gedanken erraten hatte, „wir gehen jetzt schön zu Euren Brüdern und entschuldigen uns für Euer Fernbleiben von der verabredeten Zusammenkunft. Ich habe Euch nicht umsonst wieder einigermaßen hergerichtet.“ Koumei stöhnte unwillig. „Ohne dich könnte das Leben so viel entspannter sein, du behandelst mich wie ein Kleinkind…“ Chuu'un schüttelte seine Mähne. Wahrscheinlich amüsierte er sich grade köstlich über seine geistige und körperliche Umnachtung, die einfach nicht vollständig verschwinden wollte.  Oder er dachte genau das Gleiche von Koumei. Ja, das würde es wohl sein, denn der arme Vasall wurde mal wieder viel zu stark in Tätigkeiten eingespannt, die für gewöhnlich einfache Diener regeln mussten. Wie erwartet fiel der Empfang im prachtvollen Speisesaal recht unterkühlt aus. Kouen thronte bedrohlich am hinteren Ende der Tafel und schob Schriftrollen hin und her. Er würdigte seinen kleinen Bruder keines Blickes. Wahlweise neben oder über ihm schwebte das schwarze Grauen. Judar funkelte den Neuankömmling böse, beinahe hasserfüllt an, was Koumei nicht nachvollziehen konnte. Dieser Magi trug schließlich die alleinige Schuld an ihrer misslichen Lage, doch momentan gab es noch keinerlei Anzeichen darauf, dass irgendjemand von ihnen erfahren hatte. So beschloss er, ihn mit Missachtung zu strafen. Als er dachte, dass es momentan niemand gäbe den er derart weit fort wünschte, wie den dreckigen Hohepriester, ertönte in seinem Rücken ein verstörendes Kichern. Erschrocken fuhr er herum, glücklich über Chuu'uns Deckung. Hinter ihm hatte sich der wandelnde Albtraum seiner dahinziehenden Kindheit aufgebaut. Kali, die Haremsdame, welche ihn an seinem sechzehnten Geburtstag das Fürchten gelehrt hatte. Natürlich teilten sie mittlerweile nicht mehr eine derartige gegenseitige Abneigung wie damals, aber von Zuneigung zu sprechen wäre falsch. Heute trug sie ein Oberteil welches Judars Kleidungsstil alle Ehre machte. Wie üblich wehte um ihre Beine ein langer Rock, während ihr Bauch unzüchtig hervorblitzte. Ihr langes, offenes, schwarzes Haar konnte getrost den Boden fegen. Koumei heulte innerlich. Womit wollten diese Tage ihn noch quälen? Kali spürte sein Unwohlsein. Natürlich, dafür hatte sie einen sechsten Sinn. Sogleich verzog sich ihr hübsches Gesicht zu einer spöttischen Fratze: „Ach, das Kaiserpack ist wieder in der Stadt. Voll versammelt und so eigenwillig wie eh und je.“ „Falls du lieber deine Ruhe hättest, kannst du gerne wieder gehen. Ich habe dich jedenfalls nicht eingeladen“, brummte Koumei, ehe etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Erfreulicherweise waren die drei Schreckgestalten nicht die einzigen Anwesenden in diesem Raum. Kouha musste gestern Nacht oder heute früh aus Magnostadt angekommen sein, denn nun saß er fröhlich mit den Beinen baumelnd auf der anderen Seite des großen Tischs. Sobald er Koumei entdeckte, glitt er von der hölzernen Platter herunter und stürmte auf ihn zu. „Bruder Mei!“ Die herzhafte Umarmung drückte ihm beinahe die Eingeweide heraus. Eindeutig zu viel unerbetene menschliche Nähe in den letzten Tagen. „Ich habe dich so sehr vermisst!“, jauchzte Kouha und machte keinerlei Anstalten ihn loszulassen. Leider war der zweite Prinz diese Liebesbekundungen von dem Jüngsten im Bunde gewohnt. „Ich freue mich auch, dich wiederzusehen“, japste er und versuchte sich von ihm zu lösen. Endlich gelang es ihm, Kouha zurück zu schieben und die dünnen Ärmchen ließen wehleidig von ihm ab. Dafür blitzten ihn nun zwei rötliche Augen begeistert an. „Hast du eine gute Nacht gehabt, Mei Mei?“ Es benötigte keine Sekunde, um den heimlichen Beobachter zu entlarven. „Du?!“, wäre es ihm fast herausgerutscht, ehe er im letzten Moment die Lippen aufeinanderpresste. Bei den Rukh, von allen Menschen, die diese unschöne Begebenheit hätten erblicken können, war sein kleiner Bruder der schlimmste. Kouha liebte Klatsch und Tratsch, beinahe ebenso sehr wie Junjun, Jinjin und Reirei. Nur konnte man Worte nicht schlagen, also zog er insgesamt wohl seine Dienerinnen vor. „Willst du mir gar nichts davon erzählen? Och bitte, Mei.“ „Was sollte ich dir erzählen wollen? Wovon ich geträumt habe?“ Sein Herz begann zu rasen. Gleich würden alle wissen, dass er, der zweite Prinz des mächtigen Koureichs mit respektlosen Magis verkehrte. Kouha verengte die Augen. „Wieso tust du so ahnungslos? Ich habe gesehen, dass du nicht alleine warst. Weißt du, zuerst war ich ganz begeistert, weil ich dachte, dass du Judar zu dir geholt hättest, was übrigens eine beachtliche Leistung gewesen wäre, aber dann hat mir Kouen diese Kali hier vorgestellt und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich mich vertan habe. Das ist zwar nicht so spannend, aber interessant ist es dennoch.“ „K-Kali?“, stotterte er. Sein Gehirn musste erst einmal mit diesen unerwarteten Informationen zurechtkommen. Sein kleiner Bruder bespitzelte ihn, war auf die richtige Fährte gelangt, nur um sogleich von ihr abzulassen? Und die streitsüchtige Haremsdame spielte dabei auch noch mit? Eigentlich würde es besser zu ihr passen, wenn sie Kouhas Irrtum richtigstellen würde. Aber sie wirkte vollkommend überzeugend und hatte stolz den Kopf erhoben. Vielleicht hatte sie Angst, nutzlos zu sein und deshalb verbannt zu werden? Ach, sollten sich die Rukh um ihre Gefühlswelt scheren, ihn hatte sie in der Vergangenheit viel zu oft dank ihrer spitzen Zunge verletzt. „Ja, Kali! Mei, ich bin sauer! Und irgendwie freue ich mich auch für dich. Du hast mir nie von ihr erzählt! Ich hätte sie gerne kennengelernt! So eine nette Dame!“ Das glaube ich dir sofort. Vom Wesen her könntet ihr zusammen passen, dachte er. Dann kam plötzlich die Erleichterung. Konnte es wirklich sein, dass sie ihn freiwillig deckte? Warum? Verwirrt suchte er den Blick der jungen Frau, doch diese schenkte ihm lediglich ein rätselhaftes Lächeln. Es konnte entweder bedeuten: "Ich hege keinerlei Groll gegen dich." oder "Jetzt stürz dich schon vom Palastdach!" „Mei, jetzt antworte mir! Wieso verheimlichst du vor mir, dass du eine Konkubine hast? Ich denke, zwischen uns gibt es keine Geheimnisse?“ Judar, der sich zuvor unauffällig verhalten hatte, stieß ein höhnisches Glucksen aus, welches nach einem Rippenstoß von Kouen sogleich verstummte. Dieser elende, kleine... egal, sein Bruder hatte jegliches Theater rechtzeitig unterbunden. Der erste Prinz kümmerte sich ansonsten nicht um das Spektakel um ihn herum. Irgendwie stimmte dieser Umstand Koumei misstrauisch. „Nun… das tut mir Leid… es hat sich nie ergeben…“, erwiderte er, höchst irritiert, dass sein jüngster Bruder plötzlich derart an seinem Leben teilhaben wollte. Es war ihm unangenehm. Denn Geheimnisse hatte er vor der halben Portion massenweise, was hauptsächlich an Kouhas geringem Alter lag. Langsam entwuchs der Junge den kindlichen Allüren, doch für seine älteren Geschwister würde er immer der kleine, unbeherrschte Kaisersohn bleiben. Ebendieser verschränkte nun beleidigt die Arme vor der Brust. „Ich wusste, dass ihr mich ausschließt, weil ich nicht die gleiche Mutter habe“, schniefte er plötzlich. Herrje, die Aufregung und Sorge um den Tod ihres Vaters traf jeden auf eine andere, nervtötende Weise. Während Kouha bereits kummervoll nach seinem Messer tastete, um irgendjemanden für sein Leid büßen zu lassen,  ertönte plötzlich ein energisches Quietschen. Alle Anwesenden zuckten zusammen, Chuu'uns Hand zuckte nach einem Pfeil, aber es war nur Kouen, dem es reichte. Er hatte seinen Stuhl zurückgeschoben. „Jetzt reißt euch alle mal zusammen“, knurrte er finster. „Ich versuche hier zu arbeiten und das solltet ihr ebenfalls tun. Stattdessen lässt du, Kouha, die arme Kali hierher schleifen und niemand bemüht sich darum, das zu tun, was in unserer momentanen Situation angemessen ist! Was seid ihr? Alte Waschweiber oder Prinzen?“ „Aber du hast Kali doch hergerufen, weil ich dir nicht glauben wollte, wie ähnlich sie Judar sieht!“, protestierte Kouha entrüstet. „Schweig! Du hast schon genug Unheil angerichtet!“, donnerte Kouen und packte den kleinen grob am Arm. Das Messer landete klirrend am Boden. „Wisst ihr was, alle außer Koumei und seinem Wächter verlassen nun diesen Saal. Alle, besonders du solltest meinen Befehlen nun Folge leisten!“, bellte er, als Judar einen gelangweilten Salto schlug, aber keine Anstalten machte, auf ihn zu hören. Anscheinend hatte der Magi sich wieder von seinem Schreck heute Morgen erholt. Nach einer halben Ewigkeit hatte sich die streitlustige Gesellschaft widerstrebend zerstreut, natürlich nicht ohne Koumei mit bitterbösen Blicken zu bedenken. Judar wirkte, als würde er Koumei am liebsten auflauern und bei der günstigsten Gelgenheit umbringen. Nur Kali zwinkerte ihm schalkhaft zu. Wahnsinnige Hexe. Doch dann waren sie endlich fort. Nur noch die beiden ältesten Prinzen samt Chuu'un saßen sich an der Tafel gegenüber. Erleichtert, nicht mehr von Kouha über Kalis Qualitäten ausgequetscht zu werden, seufzte Koumei laut auf. Er erhielt ein einfaches Frühstück und schon gefiel ihm das Leben wieder besser. Genüsslich ließ er sich den Reis auf der Zunge zergehen. Daraufhin schob Kouen endlich seine Papiere zur Seite und maß ihn durchdringend. Sofort wurde der Jüngere wieder nervös und wäre wohl Hals über Kopf in seine Gemächer geflohen, wenn Chuu'un ihm diesen Fluchtweg nicht versperrt hätte. „Du schuldest mir etwas“, bemerkte der erste Prinz leise. Stäbchen klapperten auf den Boden. „Wie bitte, mein königlicher Bruder?“ Kouen lachte schallend, ehe er die Stimme senkte. „Du glaubst nicht ernsthaft, dass Kali von sich aus derart kooperativ gewesen ist, oder?“ Koumei spuckte beinahe seinen Tee über den Tisch. „Ich… verstehe nicht?“ „Oh, der schlauste Mann des gesamten Kaiserreichs versteht nicht? Deine Lügen sind so jämmerlich wie immer. Du enttäuschst mich. Ich weiß, dass Kouha die Wahrheit gesprochen hat. Schließlich bist du an dieser Haremsdame nicht interessiert. Die Sache mit dem Priester überrascht mich zugegebener Weise, stimmt mich ein wenig besorgt, aber nach der Sache mit Hakuren… Du hast zwar nie etwas Eindeutiges durchscheinen lassen, aber nun wird mir einiges klarer.“ Koumeis schmale Augen waren so weit aufgerissen, als wollten sie ihm gleich aus dem Kopf fallen. Sein Bruder wusste von ihm und Hakuren?! Und von ihm und Judar? Er würde wahrlich ein guter Herrscher werden, wenn er so viel mitbekam. Egal wie peinlich es ihm eigentlich war, er verspürte zusätzlich einen widersprüchlichen Stolz auf den anderen. Er hatte Kouen nie für sonderlich aufmerksam oder feinfühlig gehalten. „En, ich…“ „Schon gut.“ „Nein, Judar hat…“ Doch sein Bruder schüttelte lediglich den Kopf. „Es geht mich nichts an und es interessiert mich auch nicht. Allerdings hoffe ich, dass du in Zukunft mehr Vorsicht walten lässt. Du kannst so unvernünftig sein, obwohl du so klug bist. Bitte verschwende deine Talente in Zukunft nicht mehr an solch einen Unfug. Ich brauche dich an meiner Seite, besonders in der kommenden Zeit. Sie verspricht mehr als anstrengend zu werden und ich befürchte, Mutter wird uns einige Schwierigkeiten bereiten.“ Sein Gesicht zeigte plötzlich einen warmen Ausdruck tiefer Verbundenheit und der Jüngere wäre beinahe in Tränen ausgebrochen. Wie lange hatte er diese Emotionen nicht mehr erblicken dürfen? Jahre? Unwillig schnalzte Kouen mit der Zunge. „Nun schau mich nicht so rührselig an. Es war kein großer Akt oder Zeitaufwand, Kali davon zu überzeugen, dich zu decken. Ein kleiner Hinweis auf die unverhältnismäßigen Lebenshaltungskosten einer untätigen Konkubine und schon war unsere wilde Raubkatze ganz fügsam. Außerdem ist die Ehre der Familie ein wichtiges Gut, das bewahrt werden muss. Kouha mag ein lieber Kerl sein, aber manchmal ist sein Verhalten sehr zerstörerisch. Und Judar… nun… mit dem haben wir wohl noch ein Hühnchen zu rupfen. Meinst du nicht auch?“ Ergeben nickte Koumei. Am liebsten wäre es ihm, wenn er den Priester für die nächsten Jahre nicht mehr sehen müsste. Er wusste nicht, das ihm dieser Wunsch bald erfüllt werden sollte. „Ich danke dir, mein Bruder und König. Ich danke dir!“ Kouen schmunzelte, ehe er sich den Bart zwirbelte. „Danke es mir am besten, indem du weniger verschläfst, vor allen Dingen in wichtigen Situationen.“ „Natürlich, ich stehe wirklich tief in deiner Schuld.“ „Nicht doch und nun will ich kein Wort mehr von dieser ganzen Angelegenheit hören. Es gibt wichtigeres zu tun.“ „Jawohl, En. Du bist der Beste.“ Koumei sank erleichtert und erschöpft zugleich auf dem Esstisch zusammen. Auf seinen großen Bruder war Verlass, was immer auch geschehen mochte, gemeinsam konnten sie es durchstehen. Auch das drohende Unheil, welches nun wie eine schwere Gewitterwolke über dem Koureich schwebte. Die Familie ging in einem derart mächtigen Reich eben vor. Kouen schritt zu ihm hinüber. „Das wusste ich schon immer. Aber genug davon. Jetzt wollen wir erst einmal unseren Vater verabschieden!“   *~* Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)