Was die Hitze des Sommers nicht alles bewirken kann... von Mondsicheldrache (The Vessel and the Fallen 1) ================================================================================ Kapitel 36: Pfirsichkerne ------------------------- //_*\ Wie Chuu'un bereits erwartet hatte, hob sich Koumeis Laune auch bei der Mittagsmahlzeit kein Bisschen. Die drei Bediensteten hatten in einem hübschen, kleinen Raum einen niedrigen Sandelholztisch vorbereitet und den Boden mit roten, goldbestickten Sitzkissen bedeckt. Zur stillen Freude des Vasallen durfte er ebenfalls mitspeisen. In seiner Position nicht immer eine Selbstverständlichkeit, so hatte er bei Banketten unter den kaiserlichen Hoheiten meist hinter dem Stuhl seines Herrn zu stehen und auf Befehle zu warten. Da allerdings der Verwalter und sogar die beiden Frauen mit ihnen aßen, war es ihm eindeutig auch gestattet. Während die drei Diener auf der Fensterseite saßen, durch welches weiches Spätsommerlicht in den Raum flutete, hatten er und Koumei ihnen Gegenüber Platz genommen. Dafür, dass das Anwesen recht verkommen wirkte, hatten sich die Bediensteten mit dem Essen viel Mühe gegeben und verhältnismäßig viele Gerichte aufgetragen. Es gab Reis, süß eingelegte Sauerkirschen, einen herzhaften Getreidebrei mit Bambussprossen, Wasserkastanien und Lotuswurzelstreifen, sowie Schweinefleisch in Pflaumensoße, welches Koumei allerdings mit einer derartigen Abneigung betrachtete, dass Chuu'un sich für dieses hochnäsige Verhalten schämte. Niemals hätte er den Prinzen als eingebildet bezeichnet, doch die Erziehung, die einem Kaisersohn oder zumindest einem jungen Adligen unweigerlich zu Teil wurde, hatte selbst bei einem ehemals schüchternen, lieben Jungen unleugbare Spuren hinterlassen. Koumei war einfach gewohnt, dass alles zu seiner Zufriedenheit geregelt wurde und wenn nicht, zeigte er eben seine Ablehnung. Dennoch zwang sich der Bogenschütze, die Ruhe zu bewahren, wie es ihm seit frühester Kindheit anerzogen worden war. Leider wurde seine Beherrschung arg auf die Probe gestellt, als Tekkyo Ki mit dem Verteilen der Speisen begann. Als „Gastgeber“ fühlte er sich verpflichtet, den beiden Höhergestellten die schönsten Stücke darzubieten. Solange es bei Reis, Obst und Gemüse blieb, benahm Koumei sich erträglich, dankte höflich und bemühte sich sichtlich um eine etwas aufgewecktere Miene als sonst. Er aß sogar mit gesundem Appetit und sprach einmal tatsächlich ein Lob aus, da das Essen wirklich ausgezeichnet schmeckte. Doch als der Gutsverwalter beim Fleisch angelangte, wehrte Koumei ungehalten ab und stieß dessen Hand beiseite - ob aus Versehen oder absichtlich, war nicht ersichtlich - was dazu führte, dass die fruchtige Soße auf den Tisch tropfte. Erschrocken über die heftige Reaktion des Prinzen rutschte Tekkyo nun auch noch das Fleisch aus den Stäbchen, sodass etwas von dem fettigen Bratensaft auf Koumeis Robenärmel spritzte. Der Blick, den er daraufhin erntete, war absolut tödlich. Gepaart mit der eisigen Stille, die von dem Herrn ausging, äußerst bedrohlich. Während ihr Vater noch starr vor Schreck auf den dunklen Soßenfleck auf dem weißen Stoff starrte, warf sich Xiiri eilig zu Boden und beteuerte ihr Bedauern. Chuu'un war mäßig entsetzt. Natürlich konnte der Vasall gut nachvollziehen, warum der Prinz kein Fleisch mehr zu sich nahm, doch derart unverschämt musste man sich als Würdenträger nicht verhalten. Es verstieß gegen die Ehre der Familie Ren, das hatte ihm sein Vater damals immer wieder eingebläut, auch wenn dies bedeutete, dass die Kinder des Kaisers stetig Regeln missachteten. „Mein hochwohlgeborener Herr, ich flehe euch an, verzeiht meinem Vater diese Ungeschicklichkeit, ich bin untröstlich! Wenn ihr erlaubt bringe ich euch umgehend ein neues Gewand!“ „Habt ein Einsehen mit ihm, mein Prinz“, stimmte auch Jiu-Jin ein, was Chuu'un stumm befürwortete. Nicht dass Koumei irgendjemanden wegen solch einer Lappalie bestraft hätte, aber bei dem Groll, den er bereits gegenüber dem Mädchen hegte, konnte man sich nicht sicher sein, ob dieser Unfall lediglich ein Tropfen auf dem heißen Stein war. Vielleicht würde er sofort verdunsten, doch irgendwie glaubte der Vasall nicht recht daran. Der Prinz nickte auf diese panischen Unterwürfigkeiten hin nur müde. Dann erhob er sich raschelnd. Verblüfft über so viel schlechtes Benehmen blickte Chuu'un zu ihm auf. Sein Herr wirkte merkwürdig geschafft. Ziemlich blass. Ob es ihm nicht gut ging? „Ich begebe mich für einen Moment ins Freie“, erklärte er steif und schritt ohne sich nach irgendjemandem umzublicken hinaus. Der hoheitliche Abgang führte zu fragenden bis hin zu ängstlichen Blicken. Tekkyo Ki schüttelte voller Furcht den Kopf und beteuerte immer wieder seine Dummheit, während sich die beiden Frauen einfach nur über Koumeis merkwürdiges Verhalten wunderten. Kaum war die Tür mit einem lauten Knall hinter dem Prinzen zugefallen, sprang Chuu'un auf und hetzte ihm hinterher. „Mein Herr! Wartet!“, rief er besorgt, wenn auch mit seltenem Ärger in der Stimme und erwischte ihn kurz vor der Terrasse, die in Richtung der Nebengebäude des Anwesens lag. Koumei blieb tatsächlich stehen und wandte sich zu ihm um. Der Ausdruck in seinen rötlichen Augen, die er zu winzigen Schlitzen verengt hatte, war fürchterlich, voller Zorn. Nun, offensichtlich hatte er keine gesundheitlichen Probleme. Chuu’un schauderte innerlich, ignorierte die Feindseligkeit und meinte möglichst unbewegt: „Wieso kehren wir jetzt nicht einfach zu den anderen zurück und vergessen das Ganze?“ „Weil deren jämmerliches Gehabe unerträglich ist“, erwiderte Koumei emotionslos, was den Vasallen an sich selbst erinnerte. „Es war gewiss nicht ihre Absicht, Euch zu kränken“, beruhigte der Bogenschütze ihn, „außerdem haben sie sich doch entschuldigt. Gewiss ist ihnen noch nie zu Ohren gekommen, dass Ihr kein Fleisch essen könnt.“ „Nein, sie kriechen um uns herum wie schlecht dressierte Hunde, um uns nur ja alles recht zu machen. Genau das ist unerträglich. Sag mir nicht, dass du dich mit diesen Speichelleckern abgeben möchtest! Ach, ich vergaß, dass du ja dieses junge Dienstmädchen ganz reizend findest! Muss herrlich für dich sein, wenn dir in diesem Alter eine junge Frau mal wieder schöne Augen macht“, schnaubte Koumei und setzte seinen Weg nach draußen unbeirrt fort. Schockiert starrte Chuu'un auf den beleidigt wippenden Pferdeschwanz, der sich immer weiter von ihm entfernte. Was für eine boshafte Unterstellung! Sie hatte nichts mit der Wahrheit gemein! Zumal er mit seinen dreißig Jahren noch lange nicht alt war! Allerdings unterstich es nur seine Vermutung, weshalb Koumei die Tochter des Verwalters nicht leiden konnte. „Prinz Koumei!“, rief er wieder, aber dieses Mal drehte sich der andere nicht mehr nach ihm um, sondern stapfte stur zur Tür hinaus. Pflichtschuldig folgte ihm der Vasall. Da das Anwesen nicht sonderlich gut bewacht war, konnte er ihn nicht einfach vollkommen allein durch den Garten streifen lassen. Immerhin hatte er seinen Fächer dabei, doch bei einem plötzlichen Angriff wäre Dantalion zu schwerfällig, um ihm das Leben zu retten. Da brauchte es schon die Künste eines versierten Bogenschützen. Sobald Koumei an die frische Luft hinaus trat wurde er langsamer, lief jedoch immer noch weiter. Wahrscheinlich wollte er wieder in irgendeinen entlegenen Winkel des Gartens flüchten, um Chuu'un zu provozieren. Doch kaum stand der Vasall selbst außerhalb des schützenden Gebäudes, lief ihm ein kalter Schauder über den Rücken. Irgendetwas beunruhigte ihn, als hinge eine schwarze Aura drohend über ihnen. Angespannt tat er einen weiteren Schritt in Richtung des flüchtenden Prinzen, doch daraufhin verdichtete sich das Gefühl des Unheils so stark, dass er innerhalten musste. Gleich würde irgendetwas Ungutes geschehen. Mit rasendem Herzen suchte er den Himmel nach der unsichtbaren Bedrohung ab, konnte aber nichts entdecken… außer… einer Wolke schwarzer Rukh. Er hatte noch nie derart viele von ihnen wahrgenommen. Ob es an seinen veränderten Augen lag? Egal, was war das? Hektisch sah er hinüber zu Koumei, der sich vollkommen unbekümmert von ihm entfernte. Dann riss er sich den Bogen von der Schulter. Die schwarzen Rukh schossen vom Himmel herab. Chuu'un wusste, dass er zu spät reagiert hatte. „Vorsicht, Koumei, über Euch!“, brüllte er und schoss einen schlechtgezielten Pfeil in die wirbelnde Schwärze hinein. Verwundert blickte sich der Prinz nach ihm um. Hatte den Ernst der Lage nicht ansatzweise begriffen. Dann prallte mit voller Wucht ein Pfirsichkern gegen seine Schläfe. Koumei taumelte überrumpelt und fiel erst einmal ins Gras vor Schreck. „Au…“, nuschelte er und rieb sich unbeholfen die Stirn, schien gar nicht zu begreifen, woher er so plötzlich attackiert worden war. Keine zwei Herzschläge später kniete Chuu'un neben ihm. Je nachdem konnte selbst ein scheinbar harmloser Pfirsichkern große Schäden hinterlassen, abhängig davon, mit welcher Wucht er abgefeuert worden war. Dieser Treffer hatte nicht ungefährlich ausgesehen. „Alles in Ordnung, mein Herr? Geht es Euch gut? Habt Ihr Schmerzen?“ Hastig schob er etliche zottelige rote Haarsträhnen beiseite, um die heftig gerötete Stelle an Koumeis Schläfe zu untersuchen. „Oh, Chuu'un… “, murmelte dieser überrascht über sein plötzliches Auftauchen. „Was machst du da?“, fragte er perplex und drückte die besorgten Hände des Vasallen zur Seite. „Nachschauen, ob Ihr euch verletzt habt“, erklärte dieser erleichtert, dass der Kopf seines Herrn noch in einem Stück und bis auf die Rötung, die sich wohlmöglich bald zu einer Beule auswachsen würde, unbeschädigt war. „Na, hoffentlich hat sich der olle Zottel ordentlich den Schädel gespalten!“, keifte es mit einem Mal über ihnen. Sprichwörtlich aus heiterem Himmel schlug noch ein abgekauter Pfirsichkern neben ihnen ein und landete mit einem Rascheln im hohen Gras. Beim schadenfrohen Klang dieser gehässigen Stimme schnellte Chuu'un herum. Und tatsächlich: Ungefähr eine Baumlänge über ihnen schwebte die Person, die er momentan am wenigsten von allen sehen wollte. Judar. Der unerträgliche Hohepriester des Kou Reichs und Magi in Personalunion. Nicht zu vergessen ein ganz besonderes Ärgernis im Verhältnis mit seinem Herrn. Chuu'un verabscheute nur wenige Menschen so tief wie diesen unterbelichteten Kerl. Ruckartig riss er einen weiteren Pfeil aus seinem Köcher und legte an. Dieser unflätige Bengel sollte sich gut überlegen, ob er weitere dumme Worte ausspeien oder sie noch einmal mit seinen widerlichen Geschossen malträtieren würde, wenn er überleben wollte. Und vor allem sollte er sich von Koumei fernhalten, den er anscheinend mit seinem unverschämten Gehabe auf Abwege trieb. „Wie kommst du hierher?“, fragte er, die Ruhe in seinem Satz nur mühsam vorgetäuscht. „Ach, da ist ja auch die zauselige Kammerzofe! Musst du eigentlich immer noch die Aufgaben einer gewöhnlichen Dienerin ausführen?“, spottete der schwarze Magi statt einer Antwort und verschränkte die Arme vor der Brust. Chuu'un ging nicht auf die Provokation ein, sondern stellte sich fest entschlossen vor Koumei, der auf ihn immer noch zu benommen wirkte, um mit der Situation zurechtzukommen. „Was möchtest du von meinem Herrn?“, fragte er nüchtern. Am besten gar nicht erst auf die Provokation eingehen… Der schwarzhaarige junge Mann über ihnen verengte zornig die Augen. „Vergeltung!“, bellte er. Wofür das denn? Hat er jetzt vollkommen den Verstand verloren? Judar war schon immer ein seltsames Kind, aber seit er im Mannesalter ist, benimmt er sich immer merkwürdiger. Doch offenbar hatte Judar noch nicht alle Tassen in seinem Schrank verloren und brabbelte vollkommenen Unsinn vor sich hin, denn Koumei stieß plötzlich ein belustigtes Schnauben aus. Nun, eigentlich klang es eher bitter oder… schadenfroh. Zwischen den beiden war wohl etwas unschönes vorgefallen. „Wie man sieht, bist du wieder gesund und munter von deinem Ausflug in den Baumwipfel im Palast zurückgekehrt, Priester“, sprach er schneidend. Falls es möglich war, verfinsterte sich sein Blick noch weiter. Anscheinend hatte er nicht das Verlangen danach, sich mit Judar abzugeben, was Chuu'un seltsamerweise erleichterte. Vielleicht herrschte doch kein so gutes Verhältnis zwischen dem Magi und seinem Königsgefäß. Hoffentlich, denn dies konnte Koumei nur zu Gute kommen. In seinem Alter sollte man sich nicht mehr mit solchen Kindsköpfen herumärgern müssen. Doch genau dies tat sein Herr grade und scheinbar mit nicht wenig Genuss: „Was ist denn los mit dir, hat es dir die Sprache verschlagen? Dort oben war es wohl kaum so gemütlich wie in einem Bett“, höhnte er. Ja, wenn Koumei einmal an einem Punkt angelangt war, an dem er richtig sauer wurde, konnte er sehr hämisch reagieren. „Was du nicht sagst, du dämlicher Zottel! Dank dir habe ich mir beinahe sämtliche Haare ausgerissen! Du kannst froh sein, dass ich deine Dummheit überlebt habe!“, fauchte Judar und zappelte böse in der Luft herum, genau wie man ihn kannte. Chuu'un überfiel das jähe Bedürfnis, ihn mit einem kurzen Pfeilschuss durch den Hals zurück auf den Boden der Tatsachen zu holen. Zum Glück merkte ihm niemand das mörderische Verlangen an. Nein, Koumei und Judar waren viel zu sehr mit einander beschäftigt, um ihm noch besonders viel Aufmerksamkeit zu schenken. „Nun, froh über dein Weiterleben bin ich gewiss, ansonsten hätte ich wohl die alleinige Verantwortung für deinen Tod tragen müssen“, entgegnete Koumei ungerührt. „Halt die Klappe, widerlicher Kerl! Du bist doch an allem Schuld! So respektlos geht man nicht mit seinem Magi um!“ „Mit seinem kaiserlichen Königsgefäß könnte man sich ebenfalls ein wenig gesitteter unterhalten…“ „Das interessiert mich nicht! Ich bin nicht hierhergekommen, um mit dir Tee zu trinken wie zwei alte Hexen! Warum bist du überhaupt mit diesem blinden Zausel an diesem scheußlichen Ort? Und wie kommt es, dass du diesen steifen Spießer zu deinem Vasallen ernannt hast? Wenn ich all die Jahre mit diesem Zausel verbracht hätte, wäre ich direkt nach Sindria ausgewandert!“ Nette Spitznamen, Zottel und Zausel. Chuu'un musterte den vermessenen Magi. Schon allein dieser spärliche Kleidungsstil signalisierte, dass Judar nicht die Klasse eines ehrbaren Mannes besaß. Er war wirklich kein Umgang für seinen Herrn! Dennoch genoss der Kerl hohes Ansehen in Kou. Wie hinderlich. Obwohl es ihn sehr in den Fingern juckte, steckte Chuu'un seinen Pfeil zurück in den Köcher und hängte sich den Bogen wieder über die Schulter. Dafür ergriff der Prinz wieder das Wort: „Über einige der angesprochenen Angelegenheiten sollten wir uns vielleicht unter vier Augen unterhalten, nicht wahr, Priester?“ Alles in Chuu'un krümmte sich bei diesem Satz zusammen. Koumei warf ihm einen eindeutigen Blick zu. Er war unerwünscht. Wie schmerzhaft. „Lass uns eine Weile alleine.“ „Aber mein Prinz-“ „Du hast meinen Befehl gehört.“ Zähneknirschend nickte der Vasall. Es war ihm nicht geheuer, Koumei mit diesem Bastard alleine zu lassen. Beide wirkten sehr schlecht aufeinander zu sprechen, den einen befähigten die Rukh tödlichste Zauber zu vollbringen, der andere konnte – sofern er die Zeit dazu bekam – einen Teleportationszauber dafür nutzen, um sein Gegenüber der Länge nach zu zerteilen. Eine gefährliche, äußerst explosive Kombination. Normalerweise lag Koumeis Reizschwelle zwar extrem hoch, er versteckte sich lieber, als zu kämpfen, aber mittlerweile wollte Chuu'un für nichts mehr garantieren, vor allem nicht für die Sicherheit des daher geflogenen Magi. Er selbst als schlichtender Ruhepol wäre eine durchaus sinnvolle Ergänzung gewesen. Zur Not hätte er Judar einfach erschossen, wenn er durchdrehte. Ja, für gewöhnlich verfügte der Bogenschützte über eine friedlich-gelassene Persönlichkeit. Nun jedoch wäre er seinem Herrn am liebsten nicht mehr von der Seite gewichen. Aber natürlich konnte er einem derart entschiedenen Befehl nicht zuwiderhandeln. Ein wenig betroffen machte er sich auf den Weg zurück zum Essen. Am besten würde er sich bei der Dienerschaft für Koumeis unwürdigen Abgang entschuldigen. Doch er kam nicht weiter als bis zur Eingangstür, weil er dort mit Xiiri zusammenstieß. Das Dienstmädchen stieß ein erschrockenes Kieksen aus und landete hinterrücks auf dem Boden. Auch das noch. „Verzeiht, Fräulein, darf ich Euch aufhelfen?“, fragte er verlegen und ergriff ihre Hand, um sie wieder auf die Beine zu ziehen. Was für ein Glück, dass Koumei grade anderweitig beschäftigt war, dachte er erleichtert. Sein Herr hätte ihm sicher unterstellt, absichtlich in das Mädchen hineingelaufen zu sein. Aber offensichtlich war sie ebenso der Meinung, die Verantwortung für die Kollision zu tragen: „Oh, Herr Chuu'un, verzeiht mir bitte, ich habe Euch nicht kommen hören“, entschuldigte sie sich schüchtern und schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln, das dem verletzten Vasallen das Herz erwärmte. „Keine Ursache, wertes Fräulein. Ich hätte selbst auf den Weg achten können, dann hätte ich Euch rechtzeitig erblickt. Habt Ihr Euch wehgetan?“ „Nein, nein, danke der Nachfrage, aber alles ist in Ordnung“, beteuerte sie nervös, während sie sich verlegend die Hand rieb, die der Vasall zuvor berührt hatte. Sie war wahrhaft ein fragiles Geschöpf. Nur leider wirkte sie viel zu verunsichert, um ein unverfängliches Gespräch unter Leidensgenossen zu führen. Dabei erschien sie auf den ersten Blick wie eine gute Gesprächspartnerin. Höflich, zurückhaltend und intelligent genug, um sich eine eigene Meinung bilden zu können. „Darf ich fragen, wo sich der verehrte Prinz befindet?“ Chuu'un seufzte leise. Heute war es wohl um seine Nüchternheit geschehen, Koumei hatte ihm in den letzten Wochen entschieden zu viel abverlangt. „Er führt ein vertrauliches Gespräch mit dem Hohepriester unseres Reiches. Offenbar ist dieser ebenfalls angereist“, berichtete er, wobei er seinen Unmut wohl nicht gut genug verbarg, den die junge Frau runzelte nachdenklich die Stirn, wagte jedoch nicht, weiter nachzuhaken. Das war ihm sehr sympathisch. „Möchtet Ihr vielleicht einen Becher Tee?“, bot Xiiri nach einer Weile des betretenen Schweigens an. „Vielen Dank, sehr gerne. Ein warmer Tee ist mir immer willkommen“, antwortete er und ließ sich auf einer Bank unter dem überstehenden Dach des Hauses nieder. Die Aussicht auf den herbstlichen Garten beruhigte sein gereiztes Gemüt ein wenig. „Dann bereite ich ihn grade zu und bringe ihn Euch. Darf ich Euch danach ein wenig Gesellschaft leisten? Wisst Ihr, es kommen so selten andere Leute hierher und es ist schön sich mit jemandem zu unterhalten, den man nicht Jahr um Jahr jeden Tag zu Gesicht bekommt. Außerdem macht Ihr den Eindruck, Herr Chuu'un, als wüsstet Ihr genau, wie es sich als Diener lebt. Verzeiht, wenn ich Euch mit diesen Worten kränke, gewiss seid Ihr von viel höherer Geburt, als jeder derzeitige Bewohner dieses Anwesens.“ Ehe er sie beruhigen konnte, dass sie ihn keinesfalls beleidigt hatte und er sich über ein wenig Gesellschaft sehr freuen würde, verneigte sie sich vor ihm und wuselte unter raschelnden Gewändern davon. Nun, wenn Koumei sich eine „Unterhaltung“ suchte, würde Chuu'un es ebenfalls so handhaben, gleichgültig was der Prinz darüber dachte. Sein Vasall hatte nicht vor, Ungehorsam zu zeigen, sondern sich wie ein gesitteter Mensch zu benehmen und höfliche Konversation zu betreiben. Ob er dasselbe in diesem Moment von seinem Herrn behaupten könnte, wagte er stark zu bezweifeln. //_*\ *~* Koumei stapfte verdrießlich durch das hohe Gras voran, sich Judars unheilvoller Präsenz unangenehm bewusst. Die Schmerzen an der Stelle seines Schädels, wo ihn der Pfirsichkern getroffen hatte, machten das Gehen nicht grade erträglicher. Der schwarze Magi schwebte mühelos hinter ihm her, ohne sich um die hinderlichen Halme kümmern zu müssen. Dieser vermessene Mistkerl. Was dachte er sich dabei, hier aufzutauchen und ihn zu belästigen? Hatte er ihm nicht deutlich genug klargemacht, dass er ihn nicht länger in seiner Nähe haben wollte? Sicherlich hatte er Kouen nach dessen Ankunft in Rakushou ausgehorcht, weshalb er ohne seinen jüngeren Bruder dort angekommen war. Bestimmt hatte Kouen ihm seinen Aufenthaltsort unbekümmert verraten. Er hielt Judars gefährliches Getue beinahe für drollig und nicht der Rede wert. Dabei war es riskant, dessen unberechenbare Natur zu unterschätzen! Dieser Magi war einfach unverbesserlich. Irgendwann würde er es noch schaffen, dass wegen seinen unüberlegten oder vielleicht eher sorgfältig platzierten Äußerungen ein großer Krieg zwischen Kou und anderen Weltmächten ausbrach. Koumei konnte diese ungehobelte Art nicht ertragen. Was erhoffte der Heißsporn sich überhaupt von diesem Zusammentreffen? Wollte er ihn lediglich ärgern oder sich vielleicht mit ihm aussprechen? Letzteres hielt Koumei bei Judar für mehr als unwahrscheinlich, denn das zur Weißglutbringen von Menschen gehörte zu den Lieblingsbeschäftigungen des Priesters. Schließlich beschloss der zweite Prinz, dass sie sich weit genug vom Haupthaus entfernt hatten. Unter einem alten Kirschbaum hielt er an und drehte sich mit entnervter Miene zu Judar um, der sich lässig zu Boden fallen ließ. Dabei entging Koumei nicht, dass er vorsichtshalber seinen Zauberstab umfasst hielt. Feigling. Zuerst große Töne spucken und dann den Schwanz einziehen. Schlimmer als Seishuu Ri. „Was glotzt du mich so an, hässlicher Zottel?“, kreischte Judar und fuchtelte wütend mit dem Stab in der Luft herum. Koumei biss die Zähne zusammen. Eigentlich war er an diesen Ort gekommen, um ein wenig Frieden zu genießen, aber dieser Wunsch würde offenbar nie erfüllt werden. Schon gar nicht mit dem Priester an seiner Seite. „Hey, ich hab‘ dich was gefragt!“ „Mhm…“, nickte er und funkelte ihn unter gesenkten Lidern hindurch an. Jetzt glotzte er wohl wirklich, was allerdings eher der Einschüchterung dienen sollte. Angeblich wirkte er ja immer so furchteinflößend mit seinen schmalen Augen und dem wilden Dämonenhaar. „Läufst du mir nach?“, wechselte er betont gelangweilt das Thema, weil er es überraschenderweise genoss, Judar zu reizen. Wenn der Magi ihn angriff, würde ihm das irgendeinen Vorteil einbringen? Mehr Ruhe vielleicht? Eine Woche Bettruhe? „Ha, das hättest du wohl gerne!“ „Du hast eben selbst gesagt, dass du Vergeltung möchtest.“ „Hä? Habe ich das gesagt? Kann mich nicht erinnern, aber ja, fändest du es etwa lustig in einem verdammten Baum festzustecken und dann der alten Hexe Gyokuen vor die Füße zu fallen?“ Koumei hob milde erstaunt, eigentlich eher belustigt, die Augenbrauen. Da hatte er sich wirklich etwas Passendes für den aufmüpfigen Kerl ausgedacht. „Die Kaiserin hat deine unglimpfliche Situation also bemerkt?“, hakte er arglos nach. „Natürlich!“, fauchte Judar. „Und dann wollte sie wissen, was ich so lange in Balbadd getrieben habe.“ „Aha“, machte der Prinz und wandte sich desinteressiert einem hübschen Strauch zu, der orangene Vogelbeeren trug. „He, Zottel, hör mir gefälligst zu! Das was du mir angetan hast, wirst du noch bereuen! Du wirst dir wünschen, nie geboren worden zu sein!“, zischte der Schwarzhaarige und schleuderte seinen langen Zopf nach hinten. Seine Augen funkelten derart wahnsinnig und feindselig, dass Koumei wahrscheinlich in Todesangst verfallen wäre, wenn er den jungen Mann und seine furchtbaren Ausdrücke nicht bereits als kleinen Jungen kennen und verachten gelernt hätte. Solch ein verzogenes Balg hatte es nirgendwo sonst in Kou gegeben. „Zweifelsohne, aber vielleicht bereue ich meine Tat bereits in diesem Moment. Wie es scheint hat sie unliebsame Auswirkungen.“ „Oh ja!“ „Und was hast du jetzt vor?“ Judar verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. „Geht dich gar nichts an, alter Zottel!“ Koumei zuckte teilnahmslos mit den Schultern und drehte sich weg. Ob er jetzt endlich seine Ruhe bekommen könnte? Er wollte sich unter einen netten Baum niederlassen und ausspannen, bevor es nach Rakushou ging. Jetzt würde das wohl kaum möglich sein. Judar war solch ein ätzender Plagegeist… Plötzlich zuckte er zusammen und schwankte bedrohlich. Etwas Schweres sprang ihn von hinten an wie ein Tiger seine Beute. Er konnte sich kaum noch aufrecht halten. „So, du nutzloser Prinz, das hast du jetzt davon!“, knurrte Judar und klammerte sich verbissen an seinen Schultern fest, einen Arm um Koumeis Hals und die Beine in der schlabbrigen Hose um seine Hüften geschlungen. Überrumpelt strauchelte der Prinz. Vergeblich kämpfte er gegen die unfreiwillige Umklammerung an. „Lass. Mich. Los!“, keuchte er aufgebracht und versuchte unter Aufbietung seiner letzten Kräfte den aufdringlichen Magi abzuschütteln. Was denkt der sich eigentlich? Doch leider führte dies nur zu noch mehr Schwankungen. „Pass doch auf!“, beschwerte sich der Jüngere und krallte sich noch nachdrücklicher an Koumei fest. Vielleicht merkte er jetzt, was für eine dumme Idee er gehabt hatte, einen derart klapprigen Menschen anzufallen. Sicherlich wollte er nicht herunterfallen… Letzten Endes geschah jedoch das unvermeidliche: Koumei bekam durch Judars Würgegriff langsam Atemnot, wankte noch stärker und schon klappten ihm einfach die Beine weg. Dann landeten sie im hohen Gras. Koumei verstand nicht so recht, weshalb er sich gierig nach Luft ringend am Boden wiederfand. Schon gar nicht mit der Nase zwischen allerlei wucherndem Unkraut. Noch dazu drückte ihn ein ziemlich großes Gewicht noch tiefer in die Pflanzenbüschel, während sich etwas Hartes in seinen Magen bohrte. Wenn seine Kleidung nicht ohnehin schon durch die Pflaumensoße vom Mittagessen ruiniert war, dann eindeutig jetzt durch die Grasflecken. Großartig, herrlich. Ein spitzer Halm kitzelte ihn an der Nase und er nieste heftig. Das wurde ja immer besser. Vielleicht sollte er sich diesen Ort einfach schön schlafen. Plötzlich regte sich die schwere Last auf seinem Rücken. Eine grobe Hand grub sich in sein Haar, kratzte über seine Kopfhaut und riss seinen Schädel wütend in den Nacken. „Was kannst du eigentlich?! Geh runter von meinem Arm oder willst du ihn zerquetschen?!“, grollte Judar böse. Obwohl Koumei dessen Gesicht nicht sah, wusste er, dass er grade mit brennenden Blicken bedacht wurde. Nicht sonderlich angenehm. Irgendwann beschloss er, dass er nicht daran schuld sein wollte, wenn der Arm des Hohepriesters abstarb und stützte sich mühsam und unter übertriebenem Stöhnen auf die Ellenbogen. Ohnehin war es so bequemer für ihn. Kaum verschwand sein Gewicht von dem Arm, riss Judar ihn maulend an sich und plumpste neben Koumei ins Gras. „Du bist wirklich ein jämmerlicher Prinz!“, stellte er mit glühenden roten Augen fest und zog noch einmal bekräftigend an dessen Haaren. Koumei krümmte sich, um dem Schmerz in seiner Kopfhaut zu entgehen, mit mäßigem Erfolg. Womit hatte er diese Gewalteinwirkung nur verdient? Sollte er sich etwa wehren? Er hatte keine Lust darauf. Wollte einfach nur ungestört entspannen… Aber mit dieser schrecklichen Hand in seinen Zotteln war dies unmöglich. Er wusste nicht wie ihm geschah. Ächzend folgte er dem unerträglichen Zug und plötzlich war Judar über ihm und rammte die Lippen, beziehungsweise seine Nase, so hart gegen die seine, dass Koumei Sternchen sah. Seine Reaktionen waren nie die schnellsten gewesen und so brauchte er sehr lange, um nach dem Abklingen des gröbsten Schmerzes zu realisieren, was grade passierte. Dieser unflätige Magi saß auf seinem Bauch und küsste ihn, als hätte er nie etwas anderes getan! Dabei hatte Koumei ihm doch zu verstehen gegeben, dass er nichts von ihm wissen wollte! Oder nicht? Zu verwirrt, um irgendetwas zu tun, ließ er zu, dass der Priester die Finger immer tiefer in seinen Haaren vergrub. Währenddessen saugte Judar so heftig an seiner Unterlippe, dass er dann doch regelrecht Angst um sie bekam. Wie konnte man nur so ungestüm und widerwärtig sein? Was dachte er sich eigentlich dabei? Hier im Garten konnte jederzeit ein Beobachter vorbeikommen. Wäre es Chuu'un, wäre dessen Missgunst gegenüber dem dummen Priester endlich berechtigt. Kurzentschlossen grub er seinerseits die Hände in das schwarze Haar. Zuerst zupfte er protestierend daran, entschied sich aber sogleich für ein heftiges Rucken, bis er es irgendwie schaffte dieses aufdringliche Etwas von seinem Mund fortzuzerren. „Was machst du?!“, keifte Judar zornig. Koumei gab keine Antwort. Schweratmend musterte er den Magi. Nicht dass sein Äußeres nicht attraktiv auf ihn wirkte, aber… das war eben auch schon alles. Er hatte nicht das Gefühl, dass Judar zu mehr taugte, außer ein paar lächerlichen Küssen, die nichts in ihm auslösten. Mit Ausnahme von diesem Nachmittag in Balbadd und ihr betrunkenes Zusammentreffen, über dessen weiteren Verlauf er den Priester immer noch nicht aufgeklärt hatte. „Sollte ich nicht lieber dich fragen, weshalb du auf einmal so anschmiegsam bist?“ „Du hast damit angefangen!“ „Findest du? Ich dachte ich hätte deutlich gemacht, dass das keine gute Idee war?“ „Meinst du? Bei dir weiß man ja nie, dämlicher Zottel!“, spie Judar verächtlich aus. Das war nicht mal so weithergeholt. Koumei nickte träge. Dennoch… er hatte beschlossen, sich von seinem Hohepriester vorsorglich fernzuhalten. Es behagte ihm gar nicht, dass dieser jetzt trotz ihres Zwistes seine Nähe gesucht hatte. „Mh… damit hast du nicht Unrecht. Aber wieso suchst du dir nicht jemand jüngeren, um ein paar Erfahrungen zu sammeln?“ Und zwar am besten jemanden der nicht in einer verwandtschaftlichen Beziehung zum Kaiser steht, fügte er im Geiste noch hinzu. Die einzig Akzeptable aus der Familie wäre Kougyoku gewesen, aber obwohl sie Judar mochte, gönnte Koumei seiner Halbschwester etwas Besseres als diesen kriegsbesessenen Taugenichts. „WAS?!“ Judar, der immer noch auf seinem Bauch saß, stemmte die Fäuste in die Seiten. „Erst fällst du über mich her, dann stößt du mich weg, was willst du eigentlich?“ Gute Frage. Er wusste nur eines, das er wirklich wollte, aber das konnte er nicht bekommen. Nun, er wusste ebenfalls, dass er Judar nicht als Ersatz für Hakuren haben wollte. Er wollte ihn überhaupt nicht. Schon als Magi war es mit ihm kaum auszuhalten und obwohl er sich in einigen Situationen durchaus zu ihm hingezogen gefühlt hatte, war er sich sicher, dass ihm seine Gefühle was das betraf grausame Streiche spielten. Wie sehr würden sie erst aneinander geraten, wenn… nein, daran sollte er gar nicht erst denken. Judar war zu kindisch und unerfahren, was wahrscheinlich auch an seinem Alter lag. Koumei fand es überhaupt nicht verlockend, derjenige zu sein, der die Führung übernahm und den ungestümen Trottel bändigen musste, um sein eigenes Wohl zu gewährleisten. Ab und an tat er Kouen zwar diesen Gefallen in Schlachten und bei Strategieplanungen, doch eigentlich gehorchte er lieber, als zu befehlen. Das war oft weniger anstrengend. „Geh von mir runter“, seufzte der Prinz nach einer Weile des Schweigens. Die Luft zwischen ihnen blitzte regelrecht vor unterdrückter Spannung, aber Judar blieb nichts anders übrig, als zu gehorchen. Ungehalten sprang er auf. Irgendwie tat er Koumei Leid, offenbar hatte er den Magi mit seiner harschen Abfuhr tiefer getroffen, als erwartet. „Auf nimmer widersehen, blöder Zottel! Ich hoffe du zerschneidest dich irgendwann selbst mit deinen blöden Teleportationskreisen!“, spie Judar aus und sprang ungestüm in den Himmel, ehe er mit wehender Kleidung davon flog. *~* Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)