Was die Hitze des Sommers nicht alles bewirken kann... von Mondsicheldrache (The Vessel and the Fallen 1) ================================================================================ Kapitel 29: Unverhoffte Hochzeitsnacht -------------------------------------- Unverhoffte Hochzeitsnacht (Traum) *~* „In Anbetracht der Tatsache, dass du die letzten Wochen unermüdlich deinen Beitrag zur Umgestaltung Balbadds geleistet hast, darfst du dir einen Tag freinehmen.“ Überrascht und träge hob Koumei den Kopf von seinem Schreibtisch. Das warme Holz war eine furchtbar harte Unterlage. Sein Schädel fühlte sich an, als wäre er mit nichts als Watte gefüllt. Verwundert blickte er zu Kouen hinauf, der mit einem beinahe freundlichen Ausdruck im sonst so strengen Gesicht auf ihn herunter sah. „Nein, du musst dir sogar einen Tag freinehmen“, präzisierte der erste Prinz und legte ihm eine schwere Hand auf die Schulter. „Du hast die dritte Nacht in Folge durchgearbeitet. Auf Dauer kann das nicht funktionieren. Die Erschöpfung ist dir anzusehen und ich kann es dir nicht verübeln, wenn du danach über deinen Schriftrollen einschläfst. Du siehst schlecht aus.“ „Danke, du auch“, murmelte Koumei und versuchte wenigstens die kurzen Augenblicke in Kouens Anwesenheit wach zu bleiben. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er über den Papieren eingedöst war. An irgendeinem Punkt der durchwachten Tage und Nächte war seine Müdigkeit verflogen und hatte einer aufgestachelten Wachheit platzgemacht. Natürlich hielt diese nicht ewig an. Jetzt, wo er aus dem unvermeidlichen Sekundenschlaf erwachte, spürte er den Preis, welchen er für die entbehrungsreichen Stunden zahlen musste. Seine düster umschatteten Augen ließen sich kaum mehr offenhalten und er zitterte am ganzen Körper. Sein Haar war zerzaust wie üblich und seine tintenfleckigen Gewänder bedurften einer gründlichen Wäsche, genauso wie er selbst. Kouen bot einen ähnlichen Anblick, seine tiefschwarzen Augenringe hielten problemlos mit Koumeis mit und seine heisere Stimme kündete von einer stressreichen Zeit ohne Ruhepausen und viel Bedarf, seine Untergebenen zusammenzustauchen. Abgesehen davon wirkte er recht gepflegt: Der Ziegenbart immer noch säuberlich gestutzt, das Haar und die Kleidung gewaschen. Im Gegensatz zu seinem Bruder musste er stets gut oder wenigstens vorzeigbar aussehen, da er sich mit allerlei Menschen zu beraten hatte. Wenn man jedoch tagein tagaus nur Chuu'un in seiner Nähe duldete, bestand natürlich nicht der gleiche Bedarf hoheitsvoll zu wirken. „Also, schlaf ein paar Stunden oder von mir aus den ganzen Tag. Ich werde mich nun ebenfalls in meine Gemächer zurückziehen und ein wenig ruhen“, beschloss Kouen. Oh, diese verlockenden Worte klangen wie Musik in Koumeis Ohren. „Vorher solltest du dich allerdings waschen“, stellte der Ältere naserümpfend fest. Etwas anderes war nicht zu erwarten. En ist immer so peinlich auf ein kaiserliches Auftreten bedacht… Als Kouen aus der Schiebetür trat, hörte der kleine Bruder, wie er polternd nach Dienerinnen verlangte. Offenbar traute er Koumei nicht zu, sich selbst um das Bad zu kümmern. Nicht dumm, denn wenn es nach diesem ginge, wäre er schnurstracks zu seinem Bett getaumelt und hätte sich in die herrlichen Laken sinken lassen. Natürlich gefiel solch unvornehmes Benehmen Kouen nicht. Aber wieso rief er statt Chuu'un die groben Frauen? Einige Zeit später lag der zweite Prinz endlich in seinem geliebten Bett. Wie gewöhnlich hatten die Dienerinnen ihn nicht mit Samthandschuhen angefasst und seine Haut brannte höllisch von der Kirschseife, die ihm zu allem Überfluss auch noch in die Augen getropft war. Sich baden zu lassen hatte definitiv seine Nachteile. Na gut, die Vorteile lagen ebenfalls auf der Hand… Immerhin waren seine Haare beinahe getrocknet, so konnte er bequem dösen. Die Frauen hatten ihn sogar in ein Nachthemd gezwängt. Viel zu heiß, aber solange er liegen konnte, kümmerte ihn das nicht. Die dicke Decke hatte er sich lediglich über die Beine gebreitet, um nicht an einem Hitzschlag zu sterben. Ganz ohne Laken konnte er leider nicht die volle Erholung aus seinem Schlaf schöpfen. Alles in allem fühlte er sich jedoch äußerst wohl, da ein ruhiger Tag ohne jegliche Verpflichtungen vor ihm lag. Die Sonne versteckte sich noch hinter den Dächern der Stadt und er war wirklich sehr müde. Nur Chuu'un hielt ihn vom Schlafen ab. Sein Vasall fuhrwerkte lautstark mit einer Teekanne herum. Er hatte darauf bestanden, dass sein Herr vor dem Ausruhen noch etwas Flüssigkeit zu sich nahm. Fast wie eine überfürsorgliche Mutter. Schließlich überreichte er Koumei eine Tasse kalten Kräutertees. Es musste eine einschläfernde Mischung sein, nicht das übliche aufputschende Getränk, welches die Lebensgeister erquicken sollte, zumindest spürte er, wie er automatisch immer müder wurde. Das milde Aroma der frischen Kräuter zerging ihm angenehm auf der Zunge. Das seltsame Gebräu schmeckte beruhigend und so konnte der Prinz die leere Tasse nur noch Chuu'un in die Hand drücken, ehe er in einen tiefen Schlaf verfiel. ~ „Mei, Mei! Steh auf!“, jaulte eine piepsige Stimme in sein Ohr. Schwächlich zuckte er mit den Beinen, wollte weiterschlafen. Die Müdigkeit drückte ihn regelrecht zu Boden und sein Gesicht versank quälend langsam in den weichen Kissen. Doch die hohe Stimme gab einfach keine Ruhe. „Bruder Mei!“, fiepte sie und winzige Hände gruben sich fordernd in sein Haar. Judar? Nein, der konnte es nicht sein. Ansonsten wäre die Luft von Pfirsichduft geschwängert gewesen. Kraftlos blinzelte er in das Zwielicht, welches in seinem Zimmer herrschte. Plötzlich durchfuhr ein scharfer Schmerz seine Schulter. „Au!“, wimmerte er und riss nun doch endlich die Augen auf. Erschrocken verdrehte er sich und blickte zu seinem kleinen Bruder auf, welcher wie ein jagender Tiger auf seinem Rücken saß. Ein Rinnsal Blut tröpfelte dessen Kinn herab. Hatte er ihn gebissen? Noch halb im Tiefschlaf versunken, wusste er nicht, was er mit diesem Anblick anfangen sollte. Erneut zuckte heftiger Schmerz durch seinen Körper, doch jetzt riss Kouha wieder an seinen Haaren. Kläglich versuchte Koumei sich der Qual zu entziehen, indem er sich zur Seite drehte, aber das schickte nur einen brennenden Stich durch seine Schulter und Schwindel in seinen Kopf. Ein gepeinigtes Winseln entwich ihm. Er fühlte sich so schwach, das Fieber hatte ihn vollkommen ausgezehrt und nun diese blutende Bisswunde... Trotzdem sollte er aufstehen? Er war so zittrig und entkräftet, dass er die vergangenen Wochen ohne Hilfe keinen Schritt hatte gehen können. Jetzt würde dies nicht besser funktionieren. Am liebsten hätte er losgeheult. „Geht es dir wieder besser?“, fragte der kleine Junge und blickte ihn aus seinen riesigen, rosafarbenen Augen an. Obwohl Koumei bereits die Tränen in die Augen stiegen, presste er die Zähne zusammen und nickte tapfer. Die Lüge entlockte dem kleinen Kouha ein glückliches Lächeln. „Mei… ich hatte Angst ohne dich…“, murmelte er erleichtert und schlang seine dünnen Ärmchen um Koumeis Hals, wobei seine Finger die neue Verletzung streiften. Koumei verkrampfte sich und konnte einen gedämpften Schrei nicht verhindern. Wie üblich kümmerte sich Kouha nicht um seinen Zustand, sondern klammerte sich an ihn, als wollte er ihn nie mehr loslassen. Der Achtjährige vergrub sein Gesicht in Koumeis Halsbeuge und seufzte, als fiele die Last der ganzen Welt von seinen Schultern. Dann jedoch fuhr er plötzlich hoch. „Bruder, ich sollte dich wecken!“, fiel ihm wieder ein. „W-Warum?“, wimmerte der Ältere und spürte das Blut, welches langsam seinen Rücken hinunter lief. Der Kleine sah ihn an, als wäre er verrückt oder senil geworden. Vielleicht gleich beides auf einmal. „Hakurens Hochzeit! Weißt du das etwa nicht mehr, Mei-Mei?“ Die unbekümmerten Worte entlockten ihm ein Keuchen, wie ein Schlag in den Magen. Die Tränen ließen sich kaum noch aufhalten. „Heute schon?“, flüsterte er matt, während ihn die Erinnerung mit groben Fängen überfiel: Kouha hatte Recht. Bebend setzte er sich auf. Alleine diese kleinen Bewegungen zeigten ihm, dass er keinen Funken Kraft mehr besaß. Die Krankheit hatte alles aufgezehrt, nur noch eine leere Hülle zurückgelassen. Und was ihm bevorstand verbesserte seinen Zustand nicht grade: Heute würde er Hakuren wiedersehen. Nach all den Wochen, in denen sein Cousin kein Lebenszeichen von sich gegeben, seine Brieftauben ignoriert und ihn nicht einmal besucht hatte, würde er seiner Hochzeit beiwohnen müssen. Ihn wie der Rest der Gäste beglückwünschen, als bestünde zwischen ihnen kein engeres Band als das von einander wohlgesinnten Vettern. Er wäre gezwungen, mit anzusehen, wie der zweite Prinz seine Braut, die er nie zuvor gesehen haben sollte, küssen und umwerben würde. Durfte keine Miene verziehen, nur mit seinen erbärmlich zitternden Beinen in gebührendem Abstand daneben stehen und sich erinnern, wie weich und fest zugleich sich Hakurens Lippen auf den seinen angefühlt hatten. Wie schrecklich. Unerträglich. Das würde er nicht überstehen. Er schaffte es ja nicht einmal, sich aus dem Bett zu erheben. „Mei!“, rief Kouha plötzlich entsetzt aus. „Du blutest!“ Als ob er nicht wusste, wie heftig er zugebissen hatte. Koumei nickte nur. Die Wunde schmerzte furchtbar, aber noch mehr schmerzte sein Herz. Als hätte Hakuren es in kleine Fetzen zerrissen und sie an die Krähen im Palastgarten verfüttert. Hinter diesem freundlichen, harmlosen Grinsen hatte nichts außer Eigennutz gesteckt. Doch sein Bruder gab keine Ruhe. Mit schockiertem Ausdruck berührte Kouha den Biss und zeigte seine blutige Hand Koumei, der nur gelähmt auf die rote Flüssigkeit starren konnte. Sofort schossen grausame Assoziationen durch seinen Geist. Glücksfarbe… Rubinfarbene Tropfen fielen auf das blütenweiße Bettlaken wie Chrysanthemenblüten. Langes Leben, Herbst… Wie passend. Schon lange fühlte er sich, als könnte er vom Glück nicht weiter entfernt sein. Da schrie Kouha auf. Das Blut in seiner Hand begann Blasen zu werfen. Brodelte. Der unangenehme Geruch nach Eisen erfüllte die Luft. Betäubt beobachteten die Brüder, wie die Flüssigkeit immer heftiger in Wallung geriet und als rötlicher Nebel in die Luft stieg. „M-Mei? Mach das weg!“, jammerte Kouha und reckte die befleckte Hand so weit von sich fort wie möglich, während er die andere panisch in Koumeis Seite krallte. Ohne Erfolg. Der Dunst verdichtete sich, sein Geruch bohrte sich regelrecht schmerzhaft in die Nase und eine wohlbekannte Gestalt schälte sich heraus. Das Blut verschwand. „B-Bruder En?“, fragte Kouha verschüchtert, immer noch an Koumei gedrückt. Doch der Älteste ging gar nicht auf den Kleinen ein. „Trödelt nicht“, meinte er streng. „Heute wird ein wichtiger Tag, wir dürfen auf keinen Fall zu spät anreisen.“ Und dann verschwand alles im roten Nebel. ~ Ehe Koumei in Panik ausbrechen konnte, fand er sich an einem vollkommen neuen Ort wieder. Finsternis. So sehr er auch die Augen aufriss und blinzelte, er konnte sie nicht durchdringen. Lautes Rumpeln, unerträgliches Prasseln und Donnern. Heftige Stöße rüttelten ihn von allen Seiten mitleidlos durch und warfen ihn schließlich gegen etwas Hartes. Holz? Eine Wand? Doch sogleich wurde er wieder zurückgezogen und prallte gegen eine kräftige Schulter. Vertraute Hände hielten ihn fest und schafften es, ihn ein wenig zu erden. Verwirrt starrte er in die Schwärze, ehe seine Begleitung mit dem Reden begann: „Bist du wieder aufgewacht?“, fragte Kouen, der neben ihm in der rumpelnden Kammer saß. Der Jüngere nickte, schob ein schwaches „ja“ hinterher, als er bemerkte, dass in dieser Dunkelheit keinerlei Bewegung zu erkennen war. Dabei hatte er keine Ahnung, ob er wirklich geschlafen hatte… „W-Wo sind wir?“ „Auf dem Weg zur Hochzeit natürlich“, gab sein Bruder zurück, als wunderte er sich über Koumeis Vergesslichkeit. „Sch-schon?“ Mit einem Mal verstand er, weshalb sie die ganze Zeit durchgeschüttelt wurden: Sie befanden sich in einer Kutsche und befuhren eine schlecht ausgebaute Straße. Die Erkenntnis bahnte sich verstörend langsam ihren Weg. Er fühlte sich derart ausgelaugt, nicht nur körperlich hatte die Krankheit ihn gezeichnet. Furchtsam rückte er näher an Kouen heran und umfasste dessen starken Arm. „Warum ist es so dunkel?“, flüsterte er angstvoll. Der Ältere blickte auf ihn herab. Lediglich seine roten Augen glühten dämonisch in dieser unheimlichen Lichtlosigkeit. Koumei zuckte unter dem bedrohlichen Blick zusammen. Doch Kouen schien dies nicht zu bemerken. „Sieh nach draußen“, seufzte er und plötzlich schob er den Vorhang vor dem winzigen Fenster der Kutsche fort und hob Koumei hoch, sodass er hinaus spähen konnte. Doch dort herrschte ebensolche Düsternis wie in der winzigen Kammer. Das Klackern der Pferdehufe wurde von strömendem Regen übertönt, der gewaltsam auf das Dach stürzte, als wollte er es zertrümmern und einen Anschlag auf die Insassen verüben. Dicker, schwarzer Nebel waberte zusätzlich über die undurchschaubare Szenerie vor dem Fenster. Obwohl sie sich spürbar bewegten, änderte sich die Aussicht kein bisschen. Lediglich der undurchdringliche Nebel und tiefhängende Regenwolken. Der muffige Geruch nach aufgeweichter Erde und nassem Stein zog in die Kutsche hinein und erinnerte ihn, dass er die ganze Zeit über gefröstelt hatte. „Mir ist kalt“, wimmerte Koumei und prompt war da Kouha, der sich auf seinen Schoß warf und die Arme um ihn wand. Angstvoll stieß er hervor: „Bruder Mei! Stirbst du jetzt?“ Verstört verneinte Koumei, wie kam sein kleiner Bruder nur immer auf derart absurde Gedanken, und Kouha drückte ihn erleichtert. Augenblicklich pochte seine Schulter, doch dieses Mal floss kein Blut mehr. Und wieder verschwamm der Moment, um sich im Nichts aufzulösen. ~ „Seid gegrüßt, Ren Kouen. Es ist mir eine Ehre, Euch an diesem besonderen Tag willkommen heißen zu dürfen.“ Bereits das erste Wort der beiden Sätze ließ Koumeis Herzschlag aussetzen. Diese wohlbekannte Stimme, jetzt so unpassend förmlich und gestelzt, veranlasste ihn zum Schlottern. Nicht vor Abneigung oder Angst, sondern vor unstillbarer Sehnsucht. Was war nur mit ihr geschehen, dass sie ihren fröhlichen, unbekümmerten Ton verloren hatte? Langsam öffnete sich auch der Rest seiner Wahrnehmung: Er stand neben Kouha im Empfangssaal des kaiserlichen Palastes in Rakushou, wo Hakuren sie zu den heutigen Feierlichkeiten willkommen hieß, wie es die Tradition verlangte. Es war so falsch, seinen Cousin derart ernst sprechen zu hören. Sobald Kouen den Gruß erwidert hatte, raste Koumeis vorher kaum vorhandener Herzschlag aus heiterem Himmel los wie ein fliehendes Pferd, als hätte er es erst jetzt realisiert: In einem Wimpernschlag würde er seinem Geliebten wieder gegenüber stehen. Diese Situation erfüllte ihn mit quälender Unsicherheit. Sollte er sich freuen, oder die Begegnung fürchten? Wie würde sich Hakuren verhalten? Ebenso unbewegt wie bei Kouen oder würde er ihm durch irgendwelche verborgenen Zeichen signalisieren, dass er immer noch so unermesslich viel für ihn empfand, wie er damals unter den Brombeerbüschen beteuert hatte? „Ich grüße Euch ebenfalls, Ren Koumei.“ Der Angesprochene fuhr zusammen. Keine Zeit mehr zum Nachdenken. Zitternd, nicht nur vor Schwäche, hob er den Kopf und blickte in die tiefblauen Augen des Menschen, der ihm im Leben am wichtigsten war. Viel zu lange hatte er geglaubt, dass es seinem Gegenüber ebenso ging. Doch anscheinend hatte er sich getäuscht. Die eisige Teilnahmslosigkeit in dem sonst so offenherzigen Gesicht versetzte ihm einen Stich in die Brust. Hakuren musste ein noch viel besserer Schauspieler als er sein, um sich derart glaubhaft verstellen zu können. Der Schmerz raubte ihm beinahe den Atem. Er wusste, dass er antworten musste. Versuchte es, doch kein Ton drang aus seiner Kehle. Er konnte nichts erwidern. Am liebsten wäre er auf der Stelle zusammengebrochen und hätte nie wieder auch nur einen Muskel gerührt. Hakuren schien gar nicht zu registrieren, dass noch etwas fehlte, ging direkt zu Kouha über. Als der Saal um sie auseinanderbrach und Koumei in undurchdringliche Schwärze fiel, wollte er nur noch sterben. Warum nur hatte er diese schwere Krankheit überleben müssen, wo ihn hier ohnehin nur Leid erwartete? ~ Verblüfft fand er sich in einem festlich geschmückten Saal inmitten einer unübersichtlichen Menschenmenge wieder. Auf einem kleinen Podest stand Hakuren in traditionellen roten Hochzeitsgewändern; neben ihm eine junge Frau in einem strahlend weißen Kleid, welches sich von der in Kou gewohnten Mode ungehörig abhob. Obwohl er es nicht mitbekommen hatte, weder etwas hören, noch die Gesichter der beiden sehen konnte, wusste Koumei, dass sie nun Mann und Frau waren. Aber warum ertönten dann keine Beifallsrufe und lautstarke Glückwünsche? Plötzlich hob die Braut den Blick und ihre rötlichen Augen fanden ihn in der namenlosen Masse, ohne auch nur nach ihm zu suchen. Koumei keuchte erschrocken auf. Er blickte in das Gesicht seiner zweitältesten Schwester Koujaku, die ihm ein triumphierendes Lächeln schenkte. Aber… das war doch seltsam, nein, unmöglich! Sie schien es zu sein und irgendwie doch im Leib einer anderen zu stecken. Ihr Haar war pechschwarz, der Körper höhergewachsen und schlanker, die Gestalt einer Fremden. Doch ihre Augen starrten ihn unbarmherzig an, ihr Mund verzog sich schadenfroh und ihre Nase ragte so hoch in die Luft wie immer. Ein Dämon, der sich seine Schwester als Opfer gesucht hatte, oder ein Zufall? Koujaku hatte Hakuren immer gerngehabt. Fast so gerne wie Koumei. Wo war überhaupt seine restliche Familie? Hektisch wandte er sich um, warf den Kopf hin und her. Ohne Erfolg. Er fand sie nicht, war vollkommen alleine mit dem jüngst vermählten Ehepaar. Stand neben unbeweglichen Säulen aus Fleisch und Blut, die dennoch keinerlei Leben in sich trugen. Ohne es zu bemerken ballte er die Hände zu Fäusten. Was ging hier nur vor? Da sah er versehentlich zu Hakuren hinüber, dabei hatte er sich geschworen, ihn nie wieder anzuschauen. Diese Kälte konnte er einfach nicht noch einmal ertragen. Doch als sich ihre Augen trafen, zwinkerte er überrascht. Spielte ihm das Licht boshafte Streiche? Nun lag ein vollkommen anderer Ausdruck auf dem Gesicht des zweiten Prinzen. Merkwürdig und nicht einzuordnen. Nicht länger unbewegt von seiner Anwesenheit. Auch nicht liebevoll. Dennoch so intensiv, dass dessen scharfer Blick direkt in seine Seele zu stechen schien. Koumei erschauderte voller Unbehagen. ~ Von einem Moment auf den anderen saß er an einer riesigen Festtafel. Es regnete immer noch in Strömen, das ohrenbetäubende Prasseln der riesigen Tropfen stellte den einzigen Lärm da. Moment. Eigentlich herrschte bei derartigen Banketten stets ein unerträgliches Stimmengewirr! Doch nichts war zu hören. Lauter gesichtslose Gäste saßen regungslos auf ihren Plätzen. Einige hielten die Essstäbchen erhoben, manche tranken Reiswein oder Pflaumenlikör aus goldenen Bechern, anderen rann Bratensoße aus den Mundwinkeln. Diener und Sklaven, die eher Wachsfiguren glichen, verharrten mitten in der Laufbewegung, um den Anwesenden leere Schüsseln vorzusetzen. Schwankend erhob Koumei sich von der Bank. Unsicher machte er ein paar Schritte, deren Hall vom tosenden Regen verschluckt wurde. Keine der stummen Figuren bewegte sich, niemand zeigte eine Reaktion. Unheimlich. Zitternd taumelte er aus dem Raum, fand sich in einem unbekannten Gang wieder, irrte über unendliche Korridore, bis ihn eine grobe Hand am Kragen packte und in den Schatten einer Säule zerrte. Der Jungen wusste nicht, wie ihm geschah. Schlaff hing er im Griff der anderen Person, nicht einmal verstört, sondern einfach nur… müde. Wenn jemand ihm Schaden zufügen wollte, würde dieser es jetzt ohne jegliche Gegenwehr schaffen. Sollte er doch, was kümmerte es ihn noch? „Mei…was ist los?“, hauchte es in sein Ohr und viel zu vertraute Lippen lagen an seinem Hals, ehe er reagieren konnte. Sein Herz machte einen heftigen Satz. Wie leicht er zu beeinflussen war! Starr vor Schreck erblickte er seinen Cousin, nach dem er sich die ganzen letzten Wochen so schrecklich gesehnt hatte. Weshalb hatte er ihn grade erst erkannt? Irgendetwas stimmte nicht mit ihm, so dumpf wie er alles um sich herum wahrnahm. „H-Hakuren?“ Der Prinz rückte von ihm ab, um ihn gründlich mustern zu können. „Warum so überrascht?“ In seinen Augen leuchtete etwas, das an gleißende Sonnenstrahlen auf dem Grund eines glasklaren Sees erinnerte. Jähe Wärme durchflutete Koumeis Brust. Es war pures Glück. Erleichterung. „Ich-Ich dachte du magst mich nicht mehr!“, stieß er hervor und hielt sich sogleich für furchtbar kindisch. Die Freude, die mit dem Blut durch seine Adern schoss, ließ sich kaum mehr zügeln, am liebsten wäre er Hakuren heulend um den Hals gefallen. Diesem schien es ähnlich zu gehen, doch er strich lediglich liebevoll über Koumeis Wange und platzierte zärtliche Küsse auf seiner vernarbten Nase. Ach… wie gut es sich anfühlte, ihn wieder bei sich zu haben. Zaghaft legte er seine Arme um den anderen, hielt sich an ihm fest, um ihn nie wieder zu verlieren. Aber sogleich durchzuckte ihn ein mahnender Gedanke: Wie kam Hakuren auf die Idee, ihn hier abzufangen, als wäre nichts gewesen? Wollte er ihn wieder so schrecklich verletzen wie bei ihrer Begrüßung? Außerdem… dieser Ort… Jederzeit konnten Leute hier vorbei kommen und sie beobachten! Und der Prinz verhielt sich so, als hätten sie keinerlei Störung zu befürchten. Das konnte er doch nicht tun! Er dürfte ohnehin gar nicht in Koumeis Nähe sein, ihn gar nicht erst so sehnsuchtsvoll betrachten, schon gar nicht berühren und auf gar keinen Fall so drängend küssen! Nicht jetzt, wo er bei seiner frischverheirateten Ehefrau sein sollte… „Sie will mich nicht sehen. Sie ist unpässlich. Da siehst du mal, wie wild alle auf diese verfluchte Ehe sind“, murmelte Hakuren und drückte ihn mit seinem Gewicht gegen die Wand. So warm und schwer. „Und überhaupt… ich will sie ebenfalls nicht sehen“, fügte er dann unerwartet trotzig hinzu, als Koumei versuchte, ihn von sich wegzuschieben. Hakuren blieb an Ort und Stelle. Die gemaulten Worte passten nicht zu seinem entschiedenen Verhalten. Koumei wusste nicht mehr, was er davon halten sollte. Doch die offensichtlichen Bedenken brachen einfach aus ihm heraus: „Und jetzt brauchst du jemanden mit dem du deine Hochzeitsnacht verbringen kannst und hast dich erinnert, dass dein kleiner, dummer Cousin, den du heute das erste Mal seit einer halben Ewigkeit wieder siehst, eine gute Alternative wäre?“ Hakuren wich zurück. Er starrte ihn an, als wäre er verrückt. „Was denkst du von mir?“, fragte er mit einem Mal gekränkt, wenngleich mit einem hintergründigen Flackern in den Augen. Schlechtes Gewissen? „Ich habe dir doch immer geschrieben, aber du hast mir ja nicht geantwortet. Na ja, du warst ja krank, aber trotzdem. Geht es dir eigentlich wieder besser, Meichen?“ Der Rothaarige blinzelte verblüfft und nickte. Nie hatte er auch nur einen Fetzen von einem Brief des anderen zu Gesicht bekommen. Außerdem war er doch derjenige, der vergeblich Tauben geschickt hatte. Empört protestierte er und erntete ein ungläubiges Schnauben von Hakuren. „Irgendjemand muss die Briefe abgefangen haben!“, erkannte der Prinz kopfschüttelnd. „Aber wer sollte das tun?“ „Keine Ahnung, aber wir sollten ihm schnellstens eine Lektion erteilen!“, grollte der Ältere. Er verhielt sich so seltsam. Und dennoch. Das hier war unverkennbar sein Hakuren. Es tat so unfassbar gut, ihn endlich wieder zu erreichen, nein ihm endlich wieder gegenüberzustehen. „Ist doch mittlerweile egal“, befand Koumei und entspannte sich ein wenig, weil er langsam wieder Vertrauen fasste. Er erhielt ein weiches Lächeln. Eine lange entbehrte Regung, die auf seine Seele wie Medizin wirkte. „Tut mir leid, dass ich dich heute Morgen nicht wärmer empfangen konnte, aber ich wollte uns grade an diesem Tag nicht in unnötige Schwierigkeiten bringen“, gestand der Prinz und sah einfach nur noch traurig aus. Sein Cousin konnte dies plötzlich nachvollziehen, obwohl er vorhin so gekränkt gewesen war. Es musste schlimm sein, zu heiraten. Vor allem eine Frau, die aussah wie Koujaku, aber außer ihm schien dies niemandem aufgefallen zu sein. Egal, er stand endlich wieder dem Mann gegenüber, den er die ganze Zeit schändlich vermisst hatte und das Missverständnis zwischen ihnen schien sich grade dankenswerterweise in Luft aufzulösen. Sicherlich konnten sie ein anderes Mal noch tieferreichende Schwierigkeiten klären, jetzt wollte er nur in der Nähe des anderen sein und sie genießen. Das Gefühl, nicht einfach durch irgendeine dahergelaufene Prinzessin ersetzt worden zu sein, war unbeschreiblich erleichternd. Mit einem Mal schaute Hakuren verlegen drein. „Ich glaube ich habe noch etwas gut zu machen, nicht wahr? Komm mit in meine Gemächer, ja?“, bat er vorsichtig. Der Jüngere nickte erfreut. Er wollte fort von diesem Ort, an welchem viel zu schnell jemand unerwünschtes auftauchen konnte. Hakuren führte ihn in sein Schlafzimmer und nachdem er ihm eines seiner Nachthemden zugeworfen hatte, verblieben sie auf seinem herrlich bequemen Bett. Der Glückliche hatte jetzt gleich zwei davon. Koumei fände es toll, zwei Betten zu besitzen. Seufzend lehnte er sich an Hakuren, der sofort wieder mit dem seligen Lächeln begann. Er schien sich ernstlich über seine Anwesenheit zu freuen, Koumei konnte es noch gar nicht richtig glauben. Ihn selbst berauschte diese Nähe regelrecht. Hakuren umfasste fast schüchtern seine Hände, als wäre er sich nicht sicher, ob sein Cousin es zulassen würde, wo er sich von seiner Überraschung erholt hatte. Doch Koumei wäre niemals eingefallen, sie ihm zu entziehen. Er wusste nicht, wann er sich das letzte Mal so vollständig gefühlt hatte. Es musste eine ganze Weile her sein. Sie sprachen wenig, der Prinz erzählte nur wortkarg von seiner neuen Frau, doch er hatte noch keine nennenswerte Gelegenheit gehabt, sich besser mit ihr bekannt zu machen. Also blieb es bei einigen vagen Sätzen. Irgendwie stimmte Koumei dieser Umstand milder, es nahm ihm das Gefühl an zweiter Stelle zu stehen. Hakuren liebte ihn immer noch, das hatte er ihm deutlich gemacht und beteuerte es nun immer wieder und wieder, bis der Rothaarige es fast nicht mehr hören konnte. Der Prinz zog ihn auf seinen Schoß, lehnte sich mit dem Rücken in seine Kissen und streichelte ihn behutsam, unternahm aber keine weiteren Annäherungsversuche, als müsste er sich Koumeis Zutrauen erst wieder erarbeiten. Dieser lehnte seine Stirn an dessen Brust und genoss die liebevollen Berührungen. Er hatte sich so sehr nach ihnen gesehnt und fast vergessen, wie gut sie sich anfühlten. Der vertraute Geruch tat sein Übriges, um ihn einzulullen. Schnell kam es ihm vor, als hätten zwischen ihnen nie diese traurigen Missverständnisse gestanden. „Bleib bei mir, bitte“, meinte Hakuren irgendwann und gab ihm einen Kuss, der schon sehr überzeugend war. Koumei lächelte und schmiegte sich glücklich an ihn. „Wenn du das befiehlst.“ Er fühlte sich so wohl und sicher, wie schon lange nicht mehr. Sein Cousin nickte fest entschlossen. „Ja, das werde ich. Anders kann ich es hier kaum mehr aushalten. Du weißt nicht, wie sehr ich es bereue, dich an deinem Geburtstag nicht einfach entführt zu haben. Wir hätten irgendwo hingehen können, wo uns niemand gefunden hätte. Dann hätte sich auch niemand an unserem Beisammensein gestört.“ Der Jüngere wusste nicht, was er antworten sollte. Wäre diese Prinzessin doch nie hier her gekommen, dann hätte er Hakuren für immer für sich alleine gehabt und sie müssten sich keine lächerlichen Wunschszenarien ausmalen. „Woran denkst du?“, fragte Hakuren und zwang ihn, den Blick zu heben. Die Augen des Prinzen schienen vor lauter Gefühlen beinahe überzuquellen. Doch das Bedauern verdrängte jegliche andere Empfindung in ihnen. „Ich habe einen Fehler gemacht, nicht wahr?“, bekannte er. „Ich hätte dich nicht dazu überreden sollen, mit mir zu schlafen. Das war das dümmste, was ich tun konnte. Dabei habe ich ganz genau gewusst, dass du es nicht möchtest, ist doch so. Du hast geweint und das tust du nur verdammt selten. Du hast nur nachgegeben, weil ich dich dazu gedrängt habe! Ich hätte dir mehr Zeit lassen sollen, ein paar Wochen mehr, aber die hatte ich nicht. Ich bin so dumm und-“ „Schon gut, Ren.“ „Du tust immer so, als wäre nichts gewesen. Warum?“, fragte er und sah so betroffen und wütend auf sich selbst aus, dass man nur Mitleid empfinden konnte. Koumei zuckte die Schultern und drückte sich dichter an den anderen. Er mochte es nicht, wenn Hakuren sich Selbstvorwürfe machte, das passte nicht zu ihm. Er sollte lieber dämlich vor sich hin grinsen und seine gute Laune auf sein Umfeld übertragen, wie er es gewöhnlich zu tun pflegte. „Es ist vorbei, oder nicht? Du kannst ohnehin nichts mehr daran ändern.“ „Und das bedaure ich so sehr! Ich habe immer nur meine eigenen Bedürfnisse im Blick und das tut mir so unerträglich leid!“, presste Hakuren gepeinigt hervor. „Verständlich“, seufzte Koumei, der nicht wusste, was er erwidern sollte. Zu sagen, dass es ihm nicht leidtun musste, wäre wohl eher gelogen gewesen. Letzten Endes fand er Hakurens Schuldgefühle allerdings einfach nur hinderlich. Sie konnten sich ein andermal aussprechen. Sowieso war es viel schlimmer, dass sie sich wochenlang nicht mehr gesehen hatten. Als er krank gewesen war, hätte er den Prinzen so sehr gebraucht, war so traurig gewesen, dass er an diesem Morgen alleine und verlassen aufgewacht war. Aber er wollte heute Abend nicht mehr reden. Konnte es nicht mehr. Dieser Tag war so seltsam gewesen… doch jetzt… jetzt war er hier bei Hakuren und alles war wieder gut. Zumindest für den Moment. Die beiden verbachten gefühlte Stunden miteinander, die ganze Zeit über in der gleichen Position, obwohl diese nicht sonderlich angenehm war. Es kümmerte keinen der beiden, zu schön war dieses Wiedersehen. Der Prinz raunte ihm seine üblichen Liebesschwüre entgegen, welche der andere erstaunlich freudig entgegen nahm. Was sollte er auch anderes tun, er lag bereits im Halbschlaf in seinen Armen. Doch plötzlich donnerte ein rotbrauner Schatten in den Raum. Der Prinz und Koumei zuckten voller Schrecken zusammen. Ein riesiger Blitz aus geballter Wut und Energie baute sich bedrohlich vor ihnen auf. Unter schrecklichem Brüllen packte er Koumei im Nacken. Ein heftiger Ruck ging durch seinen Körper, dann flog er regelrecht durch die Luft. Der Aufprall am Boden sandte dumpfe Schmerzen durch seinen Leib, Blut strömte aus der Bisswunde, welche Kouha ihm am Morgen hinterlassen hatte und die Qual nahm ihm den Atem, als würde er gleich ersticken. Er sah nur noch Hakuren, hörte seine aufgebrachten Rufe und erkannte seinen Vater, der sich zornesrot im Zimmer aufgebaut hatte, bevor die Welt vor seinen Augen in finstere Schlieren zerfaserte. ~ *~* Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)