Fortune Files von Elnaro ================================================================================ Rova Bonus 1: Familiärer Klärungsbedarf --------------------------------------- Ihrer Ankündigung entsprechend, brach Lyz das Studium der sozialen Arbeit ab. Ihr darin erworbenes Wissen wäre nicht das Schlechteste für den Verein gewesen. Da wir uns dessen Leitung aber weitestgehend entledigen konnten, brachte diese Studienrichtung allenthalben fraglichen Nutzen mit sich. Der SOLV Hauptsitz wurde stattdessen solide unter Angelines Führung verwaltet. Sie fand sich überraschend gut in ihre Rolle ein und bewies durchaus Schneid. Mir war zu Ohren gekommen, dass sie mich intern als Druckmittel einsetzte, was aber vollkommen in Ordnung ging. Lyz zog dementsprechend vom Studentenwohnheim in meine Villa. Alexander, den ich zu meinem Berater erhoben hatte, ebenfalls. Eine abgebrochene Ausbildung bedeutete für meine Frau jedoch nicht, dass wir ihre Bildung hintanstellten. Da sie als Führungsperson über ein möglichst breites Überblickswissen verfügen musste, erhielt sie jeden Nachmittag Privatunterricht. Dabei ließ sich tadellos auf Alexanders Grundlagen aufbauen, die er ihr aus eigenem Antrieb beigebracht hatte. Besonders große Fortschritte erzielte Lyz aber nicht während ihres nachmittäglichen Unterrichts, sondern vormittags, wenn sie mich bei Regierungsangelegenheiten unterstützte. In ihr schlummerte eine kühle Denkerin und Taktikerin, hervorragend für ihre zukünftige Position in einer Doppelspitze mit mir. Scheinbar verstand sie sich darin, Elisabeths Einfluss in eine positive Dynamik umzuwandeln, ähnlich wie sie es auf der Vollversammlung getan hatte. Schwere Entscheidungen unter großem Druck zu treffen sowie durchzusetzen, bereitete ihr kaum Schwierigkeiten. Sorgen darum, dass Lyz' Geist verdrängt werden könnte, machte ich mir von daher keine mehr. Aus Mangel an Alternativen bezog ich Alexander von nun an in sämtliche Regierungsgeschäfte ein. Vicco, dieser hinterhältige Halunke, hatte mein Vertrauen missbraucht und unter all den Wölfen um mich herum, stellte mein Diener denjenigen dar, den ich am besten einschätzen konnte. Ich wusste inzwischen nicht nur, was von ihm zu erwarten, sondern auch, wie ich ihn zu nehmen hatte. Seine ungestüme Art führte zudem bisweilen zu erheiternden Momenten, die mich die Lasten meiner Bürde vergessen ließen. Ich empfand eine gewisse Faszination für die einzigartige Kombination seiner Eigenschaften. Eitelkeit, Gier sowie Zielstrebigkeit, gebündelt in einem kräftigen Körper und einem wachen Geist, allerdings kaum mentaler Macht. Selbstverständlich war er dem gemeinen Volk überlegen, interessanterweise aber auch dem Adel und in gewisser Weise sogar mir. Dieses nahezu unerschöpfliche Potential offenbarte er, wenn es darauf ankam. Ihn an seine Grenzen zu treiben, empfand ich stets als höchst unterhaltsam. Der Tatendrang meiner beiden neuen Villabewohner war kaum zu bremsen. Meine Liebste organisierte ein Putzkommando, welches das Erdgeschoß in Ordnung brachte. Schnell stellte sie allerdings fest, dass es mit einer bloßen Reinigung nicht getan war und plante eine umfassende Renovierung, sowie neue Innenausstattung. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich auch den Garten und die Fassade vornehmen würde. Für mich fühlten sich ihre Aktionen wie eine Reinigung meines Geistes an. Etwas Befreienderes konnte ich mir kaum vorstellen. Unglaublich, aber wahr. Mir gefiel mein neues Leben, in dem ich zwar weniger Gelegenheit für die Forschung fand, sie aber mitnichten aufgeben musste. Konferenzen waren allerdings sehr wohl passé, schon wegen meiner ausbleibenden Alterung, die zunehmend Probleme verursachte. Ich wusste immer, dass dieser Tag einmal kommen würde. Nach unserem ersten, überraschend erfolgreichen Familienrat in der Villa, nahmen Magna, Vicco und Daric an den folgenden Terminen lediglich per Video-Live-Schaltung teil, wobei dies den regen Diskussionen keinen Abbruch tat. Nach wie vor blieb ich gesetzlichen Veränderungen gegenüber skeptisch. Jede Öffnung bedeutete einen Machtverlust für uns Lucards und doch hatte ich einsehen müssen, dass die maximale Tragfähigkeit des alten Systems erreicht war. Ich, meine Liebste und auch mein Berater saßen auf zwei elfenbeinfarben Couches verteilt gegenüber in meinem ehemaligen Gemach in der ersten Etage. Lyz hatte es zu einem modernen Büro für uns drei umgestaltet. Unsere Augen richteten sich auf die Videoleinwand neben uns, auf der gerade Daric ankündigte, sprechen zu wollen, ein seltenes Ereignis. Er hatte informellen Redeanteil angemeldet, den er unbedingt vor, statt wie üblich, nach der offiziellen Ratssitzung verkünden wollte. Irgendetwas musste ihm mächtig zusetzen. Ungeduld gehörte jedenfalls nicht zu seinen Eigenschaften. So unvorstellbar es auch sein mochte, wirkte er noch steifer als sonst. Er sprach mit undeutbar versteinerter Miene, zunächst aber nicht mit mir, sondern mit Vicco. "Victor, du hast einen bedeutenden Schritt zur Stärkung der Familie Lucard getan, den ich nicht nur respektiere, sondern gleichfalls unterstützte. Damit hast du mich und meine Frau Corella inspiriert." Ich spürte, dass weder Lyz noch Alexander folgern konnten, worauf er hinauswollte, doch auch Vicco reagierte überrascht. "Ein Lob aus deinem Munde ist eine wahre Rarität, David. Ich nehme an, du beziehst dich auf meine Kinder?" Natürlich tat er das. Für seinen gemeinsamen Verrat mit Magna würde er wohl kaum Anerkennung vom integersten Mitglied der Familie ernten. Vicco konnte von Glück reden, dass eine von Darics Stärken darin lag, vergeben zu können. Anders als ich und somit sein größter Kontrast zu mir. Worauf Daric also tatsächlich anspielte, war Viccos Schritt, all seine Nachkommen offiziell als Lucards anerkannt und unsere Familie deutlich vergrößert zu haben. Obwohl er mir niemals eines seiner zwölf Kinder vorgestellt hatte, sah auch ich einen schweren Fehler darin, ihnen unseren Namen zu verwehren. Kinder zur Ruhigstellung aufmüpfiger Frauen zu missbrauchen, empfand ich stets als Unart, die uns nicht würdig war. Mit der Korrektur dieses Fehlers hatte er das größte Unrecht seines Lebens aufgewogen. Daric schien sich nun in seiner monotonen Erklärung eher mir, als dem vom Lob entzückten Vicco, zuzuwenden. "Leichtfertiges Umgehen mit etwas unbezahlbar Wertvollem wie unseren Kindern, ist mir unverständlich. Wenn ich zurückblicke, teilt sich mein Leben in die Zeit vor und jene nach Sarinas Geburt. Sie war mein und Corellas größter Schatz, deshalb gedenken wir, diesen Schritt zu wiederholen." Eine Ankündigung also. Ich erinnerte mich daran, wie der Erstgeborene auch schon vor Saris Zeugung vor 19 Jahren bei Alucard um Erlaubnis gebeten und uns darüber informiert hatte. Ich wusste, dass dies seine Art war, mit persönlichen Entscheidungen umzugehen. Warum er es tat, blieb mir jedoch schleierhaft. "Selbstverständlich begrüße ich die Aussicht auf ein weiteres Kind zwischen euch", ermutigte ich ihn, obwohl mich seine Familienplanung strenggenommen nichts angehen sollte. Da ich Lyz' Unruhe neben mir spürte, fuhr ich ihr besänftigend über den Rücken. Sie musste begreifen, dass Daric keinen Groll mehr gegen sie hegte. Andernfalls hätte er dieses Thema nicht auf diese Art vor ihr angesprochen. In der Sitzung klärten wir einige Details zur Prüfung von Konvertierungsanfragen, die auf Viccos Tisch, oder besser, dem seines Sohnes Octavian, lagen und abgewiesen werden sollten. Unerfreulicherweise kramte er danach erneut das Thema menschliche Partner zum Blutverzehr hervor, obwohl wir uns bereits in der ersten Sitzung dagegen entschieden hatten. Die meisten Wortmeldungen waren nicht der Rede wert, bis Lyz etwas beisteuerte. "Wenn wir keine Kapazitäten haben, um jedermann zu prüfen, warum genehmigen wir dann nicht alle Anträge und reagieren erst, wenn es Verstöße gibt? Jeder erhält die Freiheit, einen menschlichen Partner zu haben. Wer sich richtig verhält, darf ihn behalten. Für Verstöße gibt es eine Meldepflicht. Jeder Mitwisser, der schweigt, verliert sein Anrecht ebenfalls." Vicco ging zuerst darauf ein. "Ein solches System schafft ein Klima des Misstrauens. Doch dies einmal außen vorgelassen, was tun wir deiner Meinung nach mit dem Menschen, der zuerst in unsere Gesellschaft eingeführt und dann wieder abgestoßen wurde?" "Wenn ihn keiner will, ist er zu gefährlich für uns", antwortete sie trocken, als habe sie die Tragweite dieser Aussage nicht verstanden. Auch Magna schien so zu denken wie ich, denn sie bohrte nach. "Was soll das heißen, Lyz? Loyalisten machen keine Gefangenen, so wie ich es tue. Willst du etwas daran ändern?" "Gefangene? Nein, ich meinte eigentlich, dass sie wie Verräter eingestuft werden sollten", beantwortete meine Frau die Frage ihrer Mutter auf radikale Weise. Dass sie sich damit auf eine Exekution bezog, bewies auch ihre aufsteigend brodelnde Aura. Das Schweigen lag länger auf uns als sonst. Alexander, der uns gegenübersaß, platze fast vor Besorgnis über diese Äußerung. Als stiller Berater hatte er während der laufenden Sitzung zwar eigentlich den Mund zu halten, doch das schaffte er nicht. Immerhin dämpfte er seinen Ton. "Lyz! Du warst selbst ein Mensch und schlägst das ernsthaft vor?" "Verstehst du nicht? Gerade, weil ich einer war, muss dieser Vorschlag von mir kommen. Nur ich war der Niedertracht der Menschen ausgesetzt. Ich weiß besser, wovon ich rede, als ihr alle zusammen. Ein fallengelassener Mensch wird alles daransetzen, uns eins auszuwischen. Was kümmert es ihn, dass es alle von uns trifft, wenn er uns verrät?" Lyz' Wunden mussten tiefer sein als ich dachte, wenn sie so etwas ohne jedes Mitgefühl von sich gab. Gegen drei Ratsmitglieder und mein vernunftgeprägtes letztes Wort konnte sie sich mit ihrer Verbitterung jedoch nicht durchsetzen. Alles war besser, als Menschen zu exekutieren. Diese barbarischen Zeiten hatten wir wahrlich hinter uns. Ich fuhr ihr beschwichtigend über den Rücken, wodurch sie fröstelte. "Der Graf hätte an diesem Vorschlag seinen Gefallen gefunden, aber nicht ich, Lyz. Lieber nehme ich Magnas Vorbild an und errichte Gefängnisse." "Bleiben wir beim Thema Graf. Er verlangt seit deiner Machtübernahme nach dir. Du musst Vater langsam unter die Augen treten, Robert!", überspielte Vicco und leitete damit ein Thema ein, durch das ich mir genervt an die Schläfe griff und fauchte: "Ich weiß…" "Auch mich erreichen seine Weisungen. Wöchentlich steht einer seiner Boten an meiner Schwelle", meldete sich nun auch Daric, der sich wie immer nur dann steuernd einschaltete, wenn er meinte, dass er benötigt wurde. Die einzige Meinung zu Alucard, die mich interessierte, war allerdings die meiner Schwester. Nur ihr hatte er noch schlimmer mitgespielt als mir. "Magna", forderte ich sie auf, auch wenn ich wusste, dass sie am liebsten auf sein Grab spucken würde. In ihren Augen loderte die Flamme des Hasses heller als in mir. Sie hatte allen Grund dazu. Nicht nur meine, auch ihre Mutter hatte er getötet. Den Schmerz, den ihr dieses Scheusal darüber hinaus in ihrer Jugend angetan hatte, konnte ich aber nicht einmal ansatzweise nachfühlen. Mich hatte er nur vernachlässigt, sich an ihr jedoch tätlich vergangenen. "Lass ihn verrotten!", zischte sie, doch Lyz, die von all seinen Gräueltaten wusste, sogar selbst um ein Haar von ihm getötet wurde, schüttelte den Kopf. "Ich musste mich meinen Eltern stellen, Rova, also musst du es auch!" "Jop", hörte ich gedämpft von meinem Berater. "Also gut", lenkte ich ein. "Ich gehe, aber Magna, falls er es wagt, mir etwas befehlen zu wollen, bringe ich die Sache zu einem Ende." "Das wirst du nicht!", brüllten die Lautsprecher übersteuernd mit Viccos Stimme. Von meinem ältesten Bruder sah ich nur noch Brust- und Bauchpartie auf dem Bildschirm, als wolle er durch die Kamera hindurch zu mir springen. Meine Schwester nickte mir hingegen entschlossen zu. Da meine Brüder begannen, beide durcheinander zu brüllen, beendete ich die Übertragung kurzerhand. Videokonferenzen hatten ihre Vorteile. Keine drei Sekunden später erschallte das Klingeln meines Telefons, das ich auf stumm schaltete. "Rova, überleg dir das gut", riet Alexander, um Fassung bemüht, was ich mit einem Schnauben beantwortete. Was wusste er schon davon, wie es sich anfühlte, einen kaltherzigen Dämon zum Vater zu haben? Er ahnte nicht einmal, wie oft ich Alucard in meiner Vorstellung in seine Einzelteile zerrissen hatte und auch nicht, wie intensiv ich dies genoss. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)