Fortune Files von Elnaro ================================================================================ Rova 8: Vergessener Kuss ------------------------ Ich flog mit meiner Gefolgschaft nach Lanobre, eine französische Kleinstadt im Landesinneren, in der sich Viccos neuester Grundbesitz befand. Wieder einmal hatte ihn ein Kaufrausch gepackt, in dessen Folge er ein komplettes Grundstück, inklusive mehrerer Gebäude, für nur einen einzigen Anlass erstand. Mein Bruder empfand Schlösser als übergroßen Kunstgegenstand, mit dem er Handel betrieb. Vorwerfen konnte ich ihm das nicht, da er die Objekte später verlustfrei oder gar mit Gewinn weiter veräußerte. Ein ungeschulter Taxifahrer sprach uns bei unserer Ankunft am Château auf Französisch an, als ob ich dieser Sprache mächtig sei. Dilettant! Neben perfektem Deutsch, sowie Englisch und einem behäbigen Rumänisch, beherrsche ich in anderen Sprachen nichts weiter als Floskeln. Über diesen Fehler hätte ich hinwegsehen können, wäre das prächtige Prunkschloss am Stausee nicht von einer nebst erbauten Kapelle beleidigt worden. Langsam beschlich mich der Gedanke, Vicco tat dies alles aus voller Absicht heraus. Noch schöner wurde das Ganze, als sich meine Frau noch immer von einem Aufeinandertreffen mit meinem Bruder beeindrucken ließ. Das setzte mich unter Zugzwang, der meinen Kampfgeist weckte, ein unerwartet positiver Anschub. Während ich mich vorsichtig an Lyz annäherte, verbrachte Alexander seine Zeit mit den Bediensteten der geladenen Fürsten, Herzogen und Grafen, die sich um ihn scharten wie Motten um das Licht, bemerkenswert. Zufall war seine Anziehungskraft sicher keine. Das musste ich mir inzwischen eingestehen. Er war beileibe nicht der unüberlegt handelnde Heißsporn, für den ich ihn zu Anfang hielt. Stattdessen ergänzte er meine Fähigkeiten außergewöhnlich gut, während er über das Durchhaltevermögen verfügte, meine Launen abzufedern. Zudem war sein Rat, aufgrund seiner überdurchschnittlichen Achtsamkeit, nicht zu unterschätzen. Mit anderen Worten, ich begann ihn zu mögen, nicht aber zu vertrauen. Vicco verfügte ebenfalls über ein hohes Maß an Achtsamkeit, die bei ihm jedoch durch kalte Vorausberechnung zum Übel wurde, was er direkt bewies, als er meine Frau noch an diesem Abend in sein Schlafgemach einlud. Lyz schien von seinem Angebot zunächst angetan, war aber davon zu überzeugen, es nicht zu tun. Stattdessen tat ich es. Mit dem Ziel, ihm die Leviten zu lesen, klopfe ich an Viccos doppelflüglige Zimmertür. Er öffnete, typisch für ihn, nur mit einem Seidenmantel bekleidet. "In diesem Aufzug wolltest du Lyz empfangen?" "Was dagegen?", hauchte er amüsiert, doch ich spürte genau, wie enttäuscht er war, dass nicht sie vor seiner Tür stand, sondern ich. Mit dem Gefühl des Triumphs ging ich an ihm vorbei, setzte mich auf einen der türkis gepolsterten Stühle, die wahrscheinlich aus der Zeit des Rokokos stammten und schlug die Beine übereinander. Ein paar Einzelheiten in Viccos Plan warfen bei mir immer noch Fragen auf. "Dir ist bekannt, dass wir übermorgen Vollmond haben?" "Selbstverständlich", säuselte er süffisant, während er die große Flügeltür hinter mir schloss. In mir keimte ein tiefes Unruhegefühl. Ich kannte Viccos Philosophie der Körperflüssigkeiten, die auch mit den Mondphasen im Zusammenhang stand. Seiner okkulten Überzeug nach, mussten bei einem Aufnahmeritual drei Flüssigkeiten ausgetauscht werden, damit es vollständig wäre, doch es war ausgeschlossen, dass ich dafür meine persönlichen Grenzen überschritt. "Ich schlafe nicht vor aller Augen mit ihr", stellte ich klar, doch er wusste bereits mehr, als ich ihm mitteilen wollte. "Du schläfst derzeit gar nicht mit ihr. Dafür sprechen mehrere Indizien. Wovor hast du Angst, Robert? Davor, sie zu verlieren, wenn sie dir zu nahe kommt?" Er setzte sich auf eine derart anbiedernde Weise auf die Tischplatte vor mich, dass dadurch der seidig glatte Tagesmantel von seinen Oberschenkeln glitt. Ohne Weiteres hätte ein geneigter Betrachter auf die Innenseite seiner Schenkel blicken können. Warum Vicco dieses frivole Gehabe nicht einmal dann sein lassen konnte, wenn er sich mit seinem Bruder unterhielt, war mir schleierhaft. Ich konnte mir jedoch lebhaft vorstellen, welche Wirkung dies auf meine Frau gehabt hätte. Der Schlund der Verzweiflung tat sich angesichts dessen vor mir auf. "Ich zerbreche, wenn du sie mir stiehlst." "Dann hör auf, sie hinzuhalten, Robert. Auch wenn dir mein Mitgefühl für dein inneres Dilemma sicher ist, werde ich diese einmalige Gelegenheit nicht verstreichen lassen." Das wusste ich selbst. Angespannt fuhr ich mir durch die Haare, stand auf und lief in seinem geräumigen Zimmer auf und ab, bis ich ihn anklagte. "Nichts von dem, was hier passiert, ist Zufall. Du hast uns von den Evanes überwachen lassen und den perfekten Zeitpunkt abgepasst, um Lyz von mir zu trennen, nicht wahr? Verstehst du denn nicht, was du mir damit antust?! Ein schöner Bruder bist du!" Auch Vicco stellte sich nun aufrecht. Sein selbstgefälliges Lächeln war ihm vergangen. "Dein Selbstmitleid wirkt wie ein Störsender auf dich. Erkenne endlich, dass du längst hast, was du wolltest, eine Frau, die du lieben kannst und einen Vater, der sie akzeptiert. Ergo frage ich dich, was du damit bezweckst, Ellys hinzuhalten. Wie ich das sehe, benötigt sie meine Unterstützung viel dringender als du." Selbstmitleid? Was für eine Unverschämtheit, meine Probleme derart herunterzuspielen. Von ihm hatte ich keine Hilfe zu erwarten. "Verdammter Egoist!", spie ich aus und verließ sein Gemach wutentbrannt. Am darauffolgenden Morgen erreichten auch Daric und Corella das Château. Mein ältester Bruder hatte die Trauer über den Verlust seiner Tochter Sari weitestgehend hinter sich gelassen, seine Frau wies hingegen noch deutliche Spuren auf. Derart hysterisch hatte sie sich noch niemals vor mir aufgeführt. Immerhin trug er es mit Fassung, denn obwohl die Missgunst in Corellas dürres Gesicht geschrieben stand, erhob Daric keinen Einspruch gegen Lyz' Berufung. Dass dieses Vorzeigepaar nicht harmonierte, war selten, aber gut für mich. Zumindest vor diesem Bruder hatte ich nichts zu befürchten. Das Fest begann mit nicht nennenswerten Gesprächen mit Viccos handverlesener Noblesse, bis ein Zwischenfall mit meinem Diener dafür sorgte, dass Lyz den Saal noch vor dem Ritual verließ und draußen auf Vicco traf. Sollte dieses Aufeinandertreffen ein Angriff auf unseren Verbund gewesen sein, war er kläglich gescheitert. Alles, was mein intriganter Bruder von meiner wundervollen Frau erhielt, war eine verdiente Ohrfeige, die den schönsten Klang hatte, den ich mir vorstellen konnte. Eine bessere Bestätigung, dass ich mir nichts vorzuwerfen hatte, konnte mir Lyz nicht geben. Sie war eben doch für mich geschaffen. Trotz des Intermezzos glückten Ritual und Rede, wenngleich Alexander kurze Zeit später spurlos verschwand und mich damit den Abend über an Lyz kettete. Ein ungewöhnliches Verhalten von ihm, das ganz und gar nicht in meinem Sinne war, wo es doch eigentlich seine Aufgabe sein sollte, meine vom Blut berauschte Lyz zu beaufsichtigten. Anfangs stellte das noch kein zu großes Problem dar, da sich die geladenen Herrschaften zumindest im Festsaal ausnahmsweise einmal nicht wie brünstige Tiere verhielten, doch ihre Disziplin hielt nicht lange an. Direkt vor unseren Augen glaubte sich Baroness Fredine ihres weißen, ohnehin schon leichten Kleides entledigen, auf einen Tisch setzen und den erstbesten Mann zwischen ihre Schenkel locken zu müssen. Nicht ohne Grund trug sie den Beinamen "Qadesch", der ägyptischen Göttin der sexuellen Ekstase. Unübersehbar fand sie ihr stilistisches Vorbild in Nofretete, dunkles Haar, schwarz bemalte Augen und auffälliger Goldschmuck, wenngleich dies keinen Hinweis auf ihr Alter gab, das bei etwa 80 liegen musste. Selbst wenn Vicco Orgien, wie die von ihr ausgelöste, üblicherweise zur fortgeschrittenen Stunde erlaubte, musste ich diese Frivolität gewiss nicht dulden. Besonders nicht in Anbetracht Lyz' unübersehbaren Interesses an diesem Vorfall, den sie nur zu gern mit mir nachgespielt hätte. Eine wiederholte Ermahnung genügte der geilen Pharaonin nicht und da auch sonst keiner dieser arroganten Pinkel bereit war, grob gegenüber der opulenten Aristokratin zu werden, blieb nichts anderes, als sie gewaltsam von ihren Liebhabern zu trennen. Impulsiv stürmte ich los und schleifte diese Edelhure grob am Arm gepackt aus dem Festsaal. "Hoheit!", echauffierte sie sich, während ich sie in den Vorraum des Festsaals zerrte. Lyz zurücklassen zu müssen, gefiel mir zwar gar nicht, erschien mir aber als notwendig. Draußen angekommen schubste ich die nackte Baroness gegen ein Pärchen, das zwischen zwei Türen zu angrenzenden Räumen miteinander wie Äffchen kopulierte. "Ich habe mich klar ausgedrückt, dass dies hier keines von Victors Lustfesten ist!", fuhr ich die drei an. Prompt wich das Paar auseinander und verschwand sofort, Baroness Fredine ließ ich jedoch nicht so billig davonkommen. Sie hatte es zu weit, nämlich vor meiner Liebsten, gerieben und bekam nun meinen Zorn zu spüren. Mit einer dunklen Aura Schritt ich auf sie zu, bis sie ihren Rücken von selbst gegen die bebilderte Wand zwischen den beiden Türen presste. "Das, Baroness Fredine, ist unentschuldbar!", zischte ich, doch sie säuselte mir mit einem hauchrigen Ton durch ihre rot bemalten Lippen entgegen, als spiele sie ein von Vicco verfasstes Theaterstück. "Das ist es wohl, Prinz Robert! Schuld ist die von Eurem deliziös duftenden Blut geschwängerte Luft, die wie ein Aperitif auf mich wirkt. Ich hoffte, diese Wirkung auf Euch zu reflektieren, wenn Ihr versteht." "Hat mein Bruder Euch dazu angestiftet?", seufzte ich. Theatralisch schwenkte sie eine Hand zu ihrer entblößten Brust, was meine Aufmerksamkeit auf ihren kurvigen Körper lenkte. Eine so reizvoll weibliche Statur wie ihre, war unter Vampiren selten zu finden und deshalb umso begehrter. Vielleicht glaubte sie deshalb, mit ihrer devoten Antwort etwas bei mir ausrichten zu können. "Aber nein, wo denkt Ihr hin?! Mein Interesse konzentriert sich ungleich stärker auf Euch, Hoheit." "Wenn Ihr mir zu gefallen versucht, dann unterhaltet Euch mit mir über Biochemie. Euer Verhalten ist unverzeihlich. Ich werde Euch von künftigen Festlichkeiten ausschließlich." Das überraschte sie nicht nur, sondern traf sie auch an ihrer verletzlichsten Stelle, schließlich war sie als Vorstandsvorsitzende einer Bank auf gute Kontakte angewiesen. Dass Vicco seine Darlehen unter Umständen künftig von einem anderen Kreditinstitut beziehen musste, kümmerte mich allerdings wenig. Vermutlich geriet die nackte Pharaonin, eben weil sie sich deshalb in der Rangordnung überschätzte, nun außer sich. "Ihr wollt mich Exkommunizieren? Das ist Willkü-!" "Passt auf, was Ihr sagt, Baroness. Lasst aus einem schweren Verstoß gegen die guten Sitten keinen Hochverrat werden!", unterbrach ich sie. "Hoheit, ich…! Na schön, wenn Ihr mir schon Derartiges androht, möchte ich offen über meine Beweggründe sprechen. Nachdem Ihr Eure hinreißende und offenkundig willige Gattin sogar nach dem Blutaustausch kaum berührt habt, Gelüste es mir danach, Euch zu reizen. Das Gerücht, Eure Hoheit wärt gar nicht an Frauen interessiert, wird sich auch nach diesem Abend nicht zerschlagen." Ein Experiment? Nein, das war eine Lüge, auch wenn ich die Wiedergabe meiner eigenen Gerüchte schätzte. "Ihr glaubt, ein Lucard sei nicht imstande, seine Triebe zu überwinden? Weit gefehlt, Gnädigste. Nun zieht Euch etwas an und seht dies als Verwarnung. In meiner Gegenwart dulde ich in Zukunft keine Unzucht mehr. Victors Anweisungen an Euch sind unerheblich. Er wird Euch nicht gegen mich schützen können, wenn es zum Konflikt kommt." "Ich sagte doch bereits, dass dies nicht von Prinz Victor initiiert wurde", log sie dreist und verärgerte mich damit erneut. Ich verspürte nicht wenig Lust, ihr dafür meine Krallen an die Brust zu setzen, nur leider war sie keine meiner Angestellten, sondern ein nützlicher Unternehmenskontakt. Dass sie dem Adel angehörte, interessierte mich hingegen weniger. "Noch eine weitere Lüge von Euch, Baroness und ich lasse meine Willkür walten. Habt Ihr verstanden?!" Sie verbeugte sich elegant und lenkte ein. "Ich habe verstanden, mein Prinz. Ich kann es mir nicht leisten, zwischen die hoheitlichen Fronten zu geraten und möchte auch kein Teil einer geplanten Intrige sein." "Intrige?", platzte mir heraus. Wieso benutzte sie dieses Wort? Das war ein Hinweis! Ich musste sofort zurück zu Lyz. Diese Frau war nicht darauf angesetzt, mich zu verführen, sondern mich aus dem Saal zu locken und dann in ein Gespräch zu verwickeln! Sofort eilte ich zurück in den Festsaal, in dem niemand Notiz von Viccos schwerwiegendem Verbrechen nahm. Dieses Scheusal klebte bereits an den Lippen meiner Frau, seine Hand tief zwischen ihren Beinen versunken. Mit einem Ausbruch wütender Aura packte ich nach seiner Schulter und riss ihn so kräftig von Lyz weg, dass er taumelte. Da meine Krallen in der Spitze seines voluminösen Hemdkragens hängengeblieben waren, zerriss ich diesen unbeabsichtigt. Vicco schien über meine Härte derart schockiert, dass er mich nur wortlos anschaute. Sichtbar benommen berührte sich Lyz an der Stirn, als ob sie von Kopfschmerzen geplagt würde. Sie schien nicht wirklich bei sich zu sein. "Das Fest ist beendet, Vicco! Schick deine Gäste nach Hause!", blaffte ich, um Contenance bemüht. Er richtete sich vor mir auf und bestätigte mir diese Anweisung, während er sich genüsslich die Finger ableckte. Allein für diese Geste hätte ich seine Schulter mit meinen Krallen durchbohren müssen. Ich schob mich an ihm vorbei zu meiner Frau, die mich ansah, als verstünde sie nicht, was gerade passierte. Vollständig begriff auch ich es nicht. Entfaltete mein Blut sogar in gefiltertem Zustand eine den Geist versklavende Wirkung? Wenn dies zutraf, sollte Lyz allein auf mich fixiert sein, was sie nicht war. Auf welche Weise sie von Vicco gefügig gemacht wurde, verstand ich erst, als ich sie auf meine Arme hob und geringe Spuren seines Bluts in ihrem Atem roch. Ich konnte nur spekulieren, welche Auswirkungen das auf sie in Zukunft haben würde. "Hattest du vor, das Ritual aus gekränktem Stolz an ihr zu wiederholen? Lucardblut vermag den Geist zu brechen, ist dir das nicht bekannt? Verdammt Vicco, wenn sie durch dich bleibende Schäden zurückbehält, ziehe ich dich zur Rechenschaft!", knurrte ich meinem Bruder zu, an dem ich danach vorbeilief. "Bleibende… Schäden?", wiederholte er perplex. Seinem geschockten Ausdruck zufolge hatte er sich in seiner Selbstsucht nicht die Mühe gemacht, an mögliche Folgen seines Handelns zu denken. Auf dem Weg zu ihrem Schlafgemach hatte Lyz ihren Kopf an meine rasant pochende Brust gelegt und hauchte, mitten auf der Wendeltreppe: "Rova? Warum trägst du mich? Bin… ich auf dem Fest eingeschlafen?" Ich musste tief durchatmen, bevor ich ihr Antwort gab, immerhin galt meine Wut allein meinem Bruder. Was Lyz gegen seine Annäherungen tat, wenn sie nicht berauscht war, hatte sie mir schließlich nur wenige Stunden zuvor bewiesen. Oben angekommen setzte ich sie auf ihrem übertrieben verzierten, barocken Himmelbett ab. Ich schwieg für einen Moment, um Kräfte zu sammeln und fragte sie anschließend so ruhig ich konnte: "Was ist das Letzte, an das du dich erinnerst, mein Herz?" Wenngleich sie kaum bei Sinnen war, lief sie rot an, ein eindeutiges Zeichen für eine lebhafte Erinnerung. Lyz antworte sogar. "Ich habe etwas Komisches geträumt. Vicco kam darin vor. Er hat mich gegen meinen Willen... geküsst." Zumindest war sie ehrlich. Aber selbst, wenn sie das alles nur für einen Traum hielt, durfte ich ihr diese Erinnerung nicht erlauben. Ich nutzte die Fähigkeit meines Blutes, kombiniert mit meiner Hypnosetechnik, um sie davon zu entledigen. "Aber Lyz, Vampire träumen nicht. Du leidest unter einem Rausch, verursacht von meinem Blut. Wahrscheinlich haben sich nur deine tiefsten Ängste manifestiert. Ich erkläre dir, was wirklich passiert ist. Du erinnerst dich an das Ritual, an Viccos kurzes Gespräch mit mir. Das Fenster stand offen, doch der seichte Windhauch half dir nicht. Aus diesem Grund habe ich dich auf dein Zimmer begleitet und hier sind wir nun." Sie schloss die Augen und berührte dann andächtig ihre Lippen. "Das war alles?" Der Nebel in ihrem Kopf lichtete sich, nun wo ich sie aus der Dunstwolke des Buffets herausgeschafft hatte. Sie erholte sich besser als gedacht. "Ja, das war alles." Um ihre haptische Erinnerung an die Berührung von Viccos Lippen, als auch seinen Geschmack zu ersetzen, küsste ich sie notgedrungen, so schwer mir dies in so kurzer Abfolge zu ihm fiel. Das entspannte sie. Meine Manipulation schien von Erfolg gekrönt, denn Lyz krabbelte anschließend mild lächelnd von selbst unter ihre Bettdecke. "Ich bin erleichtert, dass das Fest vorbei ist und super happy darüber, dass wir beide endlich auch offiziell zusammen sind. Ab sofort bin ich Lyz Lucard… unglaublich." Diese Frau brach mir das Herz mit der Diskrepanz zwischen dem, was ich gerade erlebt hatte und dem, was sie auf diese liebliche Weise säuselte. Wie sollte ich jemals Heilung finden, wenn meine Wunden immer wieder neu aufgerissen wurden? Niemand verstand mich. Ich fühlte mich unendlich einsam. Die warme Morgensonne brachte Linderung. Vicco hatte mit dieser penibel geplanten Aktion rein gar nichts erreichen können und meine Sorge um Lyz' freien Willen war verflogen. Sie war viel zu stark, als dass sie sich von solch geringen Blutmengen überschreiben ließ. Bevor sie aus dem Schlaf erwachte, hatte ich mir noch Alexander vorzunehmen, den ich deshalb wecken ging. Schließlich hatte seine Abstinenz Viccos Vorstoß überhaupt erst möglich gemacht. Ich klopfte an der alten Holztür zu seinem Kabuff im Dachgeschoss und war nach dem Öffnen überrascht, noch ein zweites schlichtes Holzbett darin vorzufinden. Alexander, nur mit einer Hose bekleidet, stand gerade auf, als er den Kopf zu seinem Zimmergenossen drehte. "Rova! Das da ist Mario. Diener des Grafen Braida von Ronsecco und Cornigliana. Hab ich das richtig gesagt?" "Cornigliano", verbessere der verschlafene Lump im Bett auf der rechten Seite. Es dauerte einen Augenblick, bis er bemerkte, wer in seinem Zimmer stand. Erst rieb er sich die Augen, dann schmiss er die Filzdecke von sich, hüpfte hoch und stieß sich dabei den Kopf an einem Holzbalken. Dieser Diener stellte sich noch ungeschickter an als meine Angestellten und das sollte schon etwas heißen. "Gu-guten Morgen, Hoheit!", rief er und stand stramm, als sei er beim Militär. Vielleicht verlangte sein Herr so etwas von ihm. Mir wäre es viel zu anstrengend, meinen Untergebenen starre Standards zu lehren. Ich setzte voraus, dass sie die nötigen Umgangsformen bereits beherrschten, wenn sie bei mir arbeiten wollten. Ich hob nur die Augenbrauen und ging wieder hinaus. Sofort folgte mir Alexander die Holzstufen nach unten, ohne sich etwas angezogen zu haben. An seinem linken Oberarm bemerkte ich eine Kratzspur, die er mir ohne Nachfrage erklärte. "Du weißt nicht, was hier gestern los war. Ich wurde belagert von Frauen und Männern aus höchsten Kreisen. Echt, die haben mir sogar Geld geboten, als wär ich 'n Gigolo. Ich konnte mich gerade so losreißen und hab dann das Weite gesucht." Ich seufzte und stellte mich im nächsten Vorraum an eines der großen Fenster, aus dem ich auf den in der aufgehenden Sonne glänzenden Stausee sah. "Wenn dir so etwas zustößt, erstatte mir Bericht!" Er blieb hinter mir stehen und rechtfertigte sich. "Das hätte ich nur mit Gewalt geschafft. Gegen Adlige, Rova?" Ich verstand sein Dilemma in gewisser Weise, doch als Lyz' Leibwächter hätte er sich etwas anderes einfallen lassen müssen. Obwohl er versagt hatte, wollte sich jedoch keine Aggression gegen ihn in mir regen. Vielleicht weil ich ahnte, dass er mir Trost spenden konnte, wenn ich es zuließ. Schon einmal war ich diesen Schritt gegangen, mich Alexander, statt Vicco anzuvertrauen und es hatte sich nicht als Fehler erwiesen und doch konnte ich es nun nicht mehr. Alexander wusste schon zu viel über mich, mehr als jemals jemand vor ihm, der nicht Mitglied meiner Familie war. Aber warum fühlte es sich dann nicht falsch an? Mit dem Gefühlsleben des Herrn sollte ein Diener doch nichts zu schaffen haben. Das brachte mich so durcheinander, dass ich nicht einmal mehr über die Kraft verfügte, mich zu ihm umzudrehen und ihn anzusehen. "Geh deine Sachen packen! Wir reisen in zwei Stunden ab." "Kein Problem, ...Rova. Ist mit dir… alles okay?", fragte er vorsichtig und nun bemerkte auch ich eine Handvoll Krähen vor dem Fenster. Wie lästig! Also gut, da ich meinen Schmerz nicht verbergen konnte, verriet ich ihm ein paar unbedeutende Dinge. "Ihre Jugend macht mir zu schaffen. Sie giert nach Blut, verliert die Nerven und… verhält sich ungezügelt. Ich liebe sie, aber das laugt mich aus." "Junge Vampire sind nicht so deins, ich weiß. Ich bemühe mich, ihr das schnell abzugewöhnen." "Gut", bestätigte ich ein wenig erleichtert und schickte ihn weg. Auch die Vögel verschwanden. Der Junge hatte mich tatsächlich wieder einmal beruhigt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)