Fortune Files von Elnaro ================================================================================ Alex 4: Wie ein Diener seine Rolle akzeptiert --------------------------------------------- Die zweite Woche, die ich Lyz von diesem klaustrophobisch kleinen Transporter aus beobachten musste, verkraftete ich schon besser als die erste. Zwar ließ sich meine Niedergeschlagenheit nicht gänzlich abschütteln und ich fühlte mich nach wie vor mies, wenn sie weinte, aber ich war über den Berg, immerhin hatte ich ein Ziel vor Augen. Sobald ich hier raus war, würde ich der Kleinen richtig schön auf den Wecker fallen, damit wir beide etwas anderes zum Nachdenken bekamen als immer nur Sari. Mich packte eine Vorfreude wie schon lange nicht mehr. Wie auch immer das der Lucard angestellt haben mochte, lag mein Zimmer im Studentenwohnheim direkt neben dem von Lyz. Vermutlich hatte er mal wieder jemanden bestochen. Durch Rova lernte ich, dass jeder Mensch käuflich war, nur die Beträge unterschieden sich. Wir Vampire waren da anders. Bei uns kam es eher darauf an, womit man sein Geld verdiente, nicht wie viel. Ich war froh, aus der WG ausziehen zu können, die ohne Pete im Grunde genommen nur noch eine Wohnung war. Durch meine Zeit im Internat besaß ich nicht viel und trotzdem überraschte es mich, dass mein ganzes Hab und Gut in nur einem Koffer und einem Rucksack Platz fand, zumindest wenn ich die Lederjacke und die Stiefel am Körper trug. Ich war eben Minimalist. Ich räumte gerade gedankenverloren meine wenigen Shirts, die meisten davon mit Aufdrucken von Bands, die ich gut fand, in den einzigen Schrank dieser Hutschachtel von Zimmer, da trat mein Herr über die Schwelle. Eigentlich war ich mir recht sicher, die Tür abgeschlossen zu haben, doch da musste ich mich geirrt haben. Rova lief angespannt jede Ecke meines kleinen, billig möblierten Raums ab, womit er schnell fertig war, und blieb dann vor dem Fenster stehen. Er sah geistesabwesend hinaus auf den Innenhof, während er mir meine Instruktionen gab. „Die Observation hat ihr Ende noch nicht gefunden. Du darfst ihr das ab sofort ganz offen kommunizieren. Sie soll wissen, dass ich ein Auge auf sie habe. Halt sie in ihrer Studienzeit davon ab, Freundschaften zu schließen, aber bleib auch selbst auf Distanz. Wenn sie Probleme bekommt, sag mir Bescheid, anstatt sie selbst mit ihr zu lösen. Ich bin immer für sie da, also zögerte nicht, mich zu rufen!“ Na danke, Herr Lucard, für diesen unmöglichen Auftrag. Wahrscheinlich wollte er mich scheitern sehen. Ich wies ihn auf die fehlende Logik hin. „Wir studieren Soziale Arbeit. Sie wird unweigerlich in den Kontakt mit anderen kommen. Zusammenarbeit und so…“ „Lass dir was einfallen! Du hast freie Hand in deinen Mitteln. Hauptsache das Ergebnis stimmt“, sagte er, kam auf mich zu und blieb viel zu nah vor mir stehen, doch ich wich nicht zurück. Er war sogar so nah, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spürte und ihm tief in seine gefährlich funkelnden Augen blicken musste. Scheiße war das eindrucksvoll. „Ich rate dir, werde dem Ruf deiner Familie gerecht, Alexander!“, fauchte er, was meinen Puls ordentlich in die Höhe trieb. Er hätte auch gar nichts zu sagen brauchen, denn seine bedrohliche Aura reichte alleine schon aus. Ich musste erst einmal tief durchatmen. Dieser Mann war einfach grandios. Ich würde ihm beweisen müssen, dass ich es wert war, unter ihm dienen zu dürfen, auch wenn ich so meine Schwächen hatte. Mit einem merklich angespannten Ausdruck entließ er mich. Er war schon dabei, mein Zimmer zu verlassen, als ihm noch etwas einfiel. „Ach ja, sorg dafür, dass das mit dem Austauschstudenten klar geht!“ Austausch-? Ah, natürlich. Ein Überwacher für den Überwacher... Rova vertraute mir also doch nicht so sehr, wie ich dachte und er tat wahrscheinlich auch gut daran. Irgendwie traute ich mir selbst nicht mehr so recht über den Weg, seit ich durch den Geruch von Lyz' Blut die Kontrolle über mich verloren hatte. Endlich war der erlösende Studienalltag da, bei dem ich Lyz erst wirklich kennenlernte. Wie ich es mir vorgestellt hatte, lenkten wir uns gegenseitig von Sari ab, ein Segen nach zwei Wochen Isolation. Ich hatte hohe Erwartungen in das Prinzesschen, die es sogar noch locker übertraf. Aus der Nähe betrachtet, fand ich sie nämlich noch viel niedlicher und gleichzeitig anmutiger als aus der Entfernung. Jede Bewegung, jede noch so kleine Geste, alles war aufeinander abgestimmt wie in einem sinnlichen Tanz. Wenn sie schrieb oder an irgendwas herumspielte, konnte ich mich glatt darin verlieren, ihre Hände zu beobachten. Egal was sie berührte, glitten ihre Finger so geschmeidig darüber, als würde sie diesen Gegenstand liebkosen. Das war manchmal schon ein wenig erregend für mich. Ich liebte es, Zeit mit ihr zu verbringen und konnte nicht anders, als sie immerzu zu necken, um das knuffige Schmollgesicht zu sehen, welches sie dann zog. Eigentlich wollte ich meine Zuneigung zu ihr nicht zu offensichtlich raushängen lassen, aber schon nach wenigen Tagen wurde mir klar, dass sie es sowieso nicht bemerkte. Ich brauchte mich also nicht zurückzuhalten. Leider überraschte sie mich nicht nur mit positiven Eigenschaften. Mir fiel auf, dass sie viel weniger selbstbewusst war als ich dachte. Manchmal überspielte sie ihre Unsicherheit mit einem falschen Lächeln, das ihr wohl ihre idiotischen Eltern beigebracht haben mussten. In diesen Situationen griff ich meist ein und versuchte ihr zu zeigen, dass sie es nicht nötig hatte, sich zu verstellen. Ich mochte es einfach nicht, wenn sie das tat. Noch schlimmer fand ich es aber, wenn sie mich nach Rova ausfragte. Natürlich verstand ich sie, aber das machte die Sache nicht wirklich besser. Dieser Sadist von einem Herrn hatte seinen Befehl, ihr nichts über unsere Natur zu verraten, nämlich nie widerrufen. Was sollte ich ihr also sagen? Immerhin gab er mir eine andere Freiheit, die ich schamlos ausnutzte. Wie verteidigte man ein überaus attraktives Mädchen am leichtesten vor spätpubertären Kerlen? Natürlich, indem man entweder ihren wachsamen Bruder, oder noch viel besser, ihren besitzergreifenden Freund mimte. Schon nach zwei Tagen gab sie keine Widerworte mehr. Als hätte ich sie wirklich erobert, stellte ich das offensichtlich heißeste Mädchen auf dem Campus so offensiv als meine Freundin vor, dass es allen schon zu den Ohren herauskam. Auf diese Art ließ sie sich ziemlich einfach vor sämtlichen Kontakten abschirmen. Ich brauchte kein Wahrsager zu sein, um zu wissen, dass Rova hohe Leistungsanforderungen an seine Frau stellte, doch Lyz brachte die Aufmerksamkeitsspanne einer Stubenfliege mit und träumte ständig in den Vorlesungen vor sich hin. Aus diesem Grund entschloss ich mich, ihr spielerisch die oberste Grundregel eines jeden Dieners beizubringen: die Wachsamkeit. Immer wenn ich bemerkte, dass sie geistig vom Unterricht abdriftete, zog ich an einer Strähne ihrer langen rotbraunen Haare. Zweimal schon hatte sie das zu einem erschrockenen Quieken verleitet. Wenn sich dann einige Studis zu ihr drehten, verkroch sie sich vor Scham mit knallrotem Gesicht in ihren Armen, die sie auf dem Tisch liegen hatte. Ich hätte sie fressen können, so niedlich war das, aber noch mehr, als es Wirkung zeigte. Fast schon zu schnell begann sie von selbst zu merken, wenn sie die Konzentration verlor und sah dann erschrocken zu mir, ohne dass ich etwas zu tun brauchte. So konditionierte ich das Prinzesschen aufs Zuhören. Mein Gedanke dahinter war, dass sie sich so viel wie möglich aus den Vorlesungen mitnahm, damit ich nicht kurz vor der Prüfung mit ihr büffeln musste. Ihre Leistungen würden schließlich auf mich zurückfallen. Meine Rolle als ihr Freund fühlte sich verdammt echt an, aber das war sie nicht. Die Erkenntnis darüber, eine Lüge zu leben, beendete meinen anfänglichen Höhenflug schon nach einer Woche. Lyz und ich waren gerade auf dem Heimweg von der Semesterauftaktparty. Der Abend war alles andere als jung und das süße Prinzesschen vom Alkohol berauscht, was sie in eine ausgelassene Stimmung versetzt hatte. Meine Zuneigung zu ihr zerriss mich fast. Sie konnte nichts dafür. Ich selbst war es, der mir den letzten Nerv raubte und doch entlud ich meinen ganzen Selbsthass an ihr. Ich hörte erst auf, sie zu beleidigen, als sie wegen mir zu Weinen anfing. Scheiße! Ihre Tränen waren berechtigt, denn ich Trottel hatte ihr an den Kopf geworfen, dass ich sie auf Rovas Befehl hin töten würde, was nicht stimmte. Kaum ausgesprochen, hasste ich mich dafür, doch es ließ sich nicht mehr zurücknehmen. Mein Herz schmerzte so stark, dass ich zu allem bereit gewesen wäre, um sie wieder aufzubauen. Vielleicht hätte unser Schicksal einen anderen Lauf genommen, wäre nicht in genau diesem Moment Peter aufgetaucht. Ich ließ ihn nicht lange schwafeln, bevor ich Lyz ins Wohnheim schickte, das wir schon sehen konnten. Ich rechnete ihm hoch an, dass er den Anstand besaß, abzuwarten, bis sie aus der Schusslinie war, bevor es ernst wurde. So viel Rücksicht von ihm überraschte mich. „Du bist wie Rovas aufmüpfiger Welpe. Wach endlich auf, Alex! Wenn dein feines Herrchen davon erfährt, dass du in die Göre verknallt bist, legt er dich um“, rief mir Pete durch die vorher noch so stille Dunkelheit der Nacht zu. Er musste das Offensichtliche anscheinend unbedingt aussprechen. „Ach, was du nicht sagst, Schlaubi Schlumpf“, entgegnete ich wenig geistreich. Er kam mir ein paar Schritte entgegen und grinste gespielt mitfühlend, soweit ich es im Schein der Laterne erkennen konnte. „Mann, du leugnest es ja nicht mal. Tse, wie ich dich kenne, hast du sie hinter seinem Rücken schon geknallt.“ „Hast du den Abtrünnigen etwas über sie erzählt?“, überging ich ihn und verging fast in der Vorstellung, seine Vermutung entspräche der Wahrheit. Ich korrigierte sie nicht, weil es mir eigentlich ziemlich egal war, was er dachte, solange er mich nur nicht bei Rova verpfiff. Sein leidender Blick nahm nun genervte Züge an. „Hör doch endlich mal mit diesem Loyalitätsschwachsinn auf, Alex. Ich meinte das vorhin ernst. Wir sind nicht abtrünnig, kapier das endlich! Wir leben nach den Traditionen, den alten Werten, ohne diesen beknackten Blutsauge-Verboten. Trotzdem sind wir keine Gesetzlosen. Wir verletzen keine Menschen und wir jagen auch keine. Diese Scheiße propagieren die Lucards, aber das sind alles dreiste Lügen. Wir bekommen was aus 'ner Blutbank, genau wie ihr oder haben einen menschlichen Partner, der uns ernährt. Mann, das ist doch genau das, was du willst oder etwa nicht?“ „Was für ein Schwachsinn! Was glaubst du, woher das Blut aus der Blutbank der Abtrünnigen kommt?“, schnauzte ich zurück und wendete meinen Blick von ihm ab. Ich konnte nicht leugnen, dass er mich ein wenig durcheinanderbrachte, doch das wollte ich ihn nicht sehen lassen. „Weiß ich ehrlich gesagt nicht, aber ich frag nach. Wenn du mit der Antwort zufrieden bist, dann wechselst du, okay? Die sind alle nett, aber meinen besten Kumpel an Bord zu haben, wäre schon geil. Wenn die Göre deine Freundin ist, dann bring sie eben mit. Ich schwör, dann lass ich sie in Ruhe. Aber ich sag dir, wenn sie nur Rovas Alte ist, werde ich mich nicht zurückhalten.“ Er stand inzwischen direkt neben mir. Zugegeben überraschte er mich immer mehr, denn als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, schäumte er vor Wut fast über. Die drei Wochen mussten ihm gutgetan haben. Vielleicht waren die Abtrünnigen wirklich nicht so schlecht wie ihr Ruf, aber selbst wenn, beeinflusste mich das nicht. Ich diente Rova schließlich aus der Überzeugung, dass er der Mächtigste unter ihnen allen war und nicht aus einer Laune heraus. „Nochmal Pete“, begann ich zu drohen, „hast du denen etwas über Lyz erzählt?“ „Wechsle und ich sag es diii…-“ Mitten im Satz packte ich ihn am Oberarm und zerrte ihn an mich heran. Ich war stärker als er und drückte ihn nach unten. Wimmernd stemmte er sich dagegen. „Alter, du benimmst dich wie dein Herrchen!“ Er löste sich von mir, weil ich von dieser Aussage verwundert, lockerließ. Das nutzte er, um einen Satz nach hinten zu machen und dann angeschlagen zu fluchen: „Ich komm dir entgegen und dann das? Na gut, dann kämpfen wir eben, aber ich warne dich. Ich hab krasse, total geheime Moves gelernt, mit denen ich dich wegputzen werde.“ Dann stürmte er blindlings auf mich zu. Ich brauchte mich nur vor seiner Faust wegzuducken und meine eigene auf Bauchhöhe zu halten, schon verpasste er sich quasi selbst einen Schlag in die Magengrube. Danach noch ein Kinnhaken, sodass er taumelte und ein Tritt gegen die Füße und er fiel zu Boden. Ich hockte mich vor ihn, packte seinen Kopf, der auf der Seite lag und zog ihn ein kleines Stück nach oben, womit ich ihn zwang, mich anzusehen. „Hast du denen etwas über Lyz erzählt?“, fragte ich nun noch einmal mit Nachdruck, doch er röchelte nur: „Hinterfrag doch mal, … auf welcher Seite… du stehst.“ Dass er wieder nicht geantwortet hatte, machte mich wütend. Ich knallte seinen Kopf auf den Asphalt, was kein besonders schönes Geräusch machte. Seinem Ohr ging es wahrscheinlich schon nicht mehr so gut, dem Blut nach zu urteilen, das nach unten tropfte und sich mit seinen Tränen vermischte. Es war so dunkel, dass ich es kaum sah, aber umso deutlicher roch. Seine Stimme löste sich fast in einem leisen verzweifelten Schluchzen auf. „Ich hab nichts gesagt, … Alex, ich hab denen nichts gesagt.“ „Geht doch!“, brüllte ich ihm wütend entgegen und knallte seinen Kopf ein zweites Mal so heftig auf den Gehweg, dass es ziemlich ungesund knackte. Meine angestaute Aggression entlud sich in diesem Schlag, mit dem ich ihm unbeabsichtigt den Schädel gebrochen hatte. Erschrocken von mir selbst, ließ ich ihn los, stand reflexartig auf und wich von seinem regungslosen Körper zurück. Scheiße, das wollte ich nicht. Ich wusste, dass er wieder auf die Beine kommen würde, aber es war ein beschissenes Gefühl, meinem ehemaligen Mitbewohner und Arbeitskollegen so etwas angetan zu haben. Das bewies wieder einmal, dass Lyz die schlechten Seiten meines Charakters zum Vorschein brachte. Enttäuscht, von seinem Verrat, aber auch meiner überzogenen Härte, rief ich das Aufräumkommando des SOLV und natürlich Rova an. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis ein falscher Krankenwagen kam, um Pete abzuholen. Genervt von allem und jedem, ging ich zurück ins Wohnheim und verfluchte mein Leben. Ich war vorher schon aufgewühlt, aber Pete verschlimmerte die Sache nun noch unnötig. Er hatte die Abtrünnigen bis zuletzt verteidigt, obwohl ich immer gedacht hatte, dass er nur an sich selbst glaubte. Außerdem hatte er Lyz weder verraten noch Verstärkung mitgebracht. Ich musste mir eingestehen, dass er ein besserer Kerl war, als ich immer dachte. Zugegeben war es eine schöne Idee, mir Lyz einfach zu schnappen und zur anderen Seite zu wechseln und trotzdem blieb sie reine Utopie. Diese Frau war für Rova nicht weniger als die Wiedergeburt der Liebe seines Lebens. Nicht einmal seine Schwester, die Anführerin der Abtrünnigen, hatte die Macht, mich vor seinem Zorn beschützen zu können, wenn er ernst machte. Verdammt, es war so selten, dass ein Vampir auf diesen einen Menschen traf, der ihn magisch anzog. Warum musste ausgerechnet mir das passieren? Zwar waren Beziehungen zwischen Menschen und Vampiren auch bei den Loyalisten erlaubt, leider aber nur unter sehr strengen Regeln, die es im Grunde witzlos machten. Vor kurzem erst wurde ein Fall bekannt, bei dem eine Vampirfrau die obersten Gesetze gebrochen hatte. Nach mehreren erfolglosen Anträgen, mit der Bitte zur Konvertierung ihres Mannes, forderte sie in einem offenen Brief eine Lockerung der Gesetze. Bei der monatlichen Leibesvisitation ihres Partners wurden daraufhin angeblich wiederholt Bissspuren von ihr gefunden. Die Lucards verurteilten und exekutierten sie bei der letzten SOLV Vollversammlung vor aller Augen. Querulanten, wie sie eine war, wurden rücksichtslos eliminiert, bevor sie Nachahmer fanden. Bis vor kurzem hielt ich dieses Vorgehen noch für vollkommen richtig. Erst jetzt, wo es mich selbst betraf, berührte mich ihr Schicksal. Da fiel mir wieder Petes Aufforderung ein, ich sollte hinterfragen, auf welcher Seite ich stand… „Auf der Richtigen!“, hätte ich ihm geantwortet, aber woher nahm er das Selbstbewusstsein für so eine Forderung? Direkt am nächsten Tag trat mein Chef zum ersten Mal als unser Dozent auf. Seine Vorlesung hören zu dürfen, empfand ich trotz allem als großes Privileg. Sein Vortragsstil und die Tiefe seines Wissens waren hervorragend und machten ihn aus dem Stand zu unserem besten Dozenten. Das war wohl seine Art, Lyz zu zeigen, dass er für sie da war. Er hatte eine komische Vorstellung von der Entstehung von Zuneigung oder Liebe, aber ich hatte weder den Wunsch noch die Position, ihn über diesen Fehler aufzuklären. Am Resultat würde das ohnehin nichts ändern, denn es war mir vorbestimmt, sie mir vor der Nase wegschnappen zu lassen. Am Abend besuchte er mich in meinem kleinen, schlichten Zimmerchen. Ich zuckte in meinem Bett zusammen, als er von selbst die Tür aufschloss, denn bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich nichts über seinen Zweitschlüssel. „Ich bin hier, um dich über die Lage zu informieren“, erklärte er und kam zu mir, ohne sich die Mühe zu machen, seinen dunklen Mantel auszuziehen. Vor Lyz hatte er mir keine Details über Peters Zustand verraten und ich war ziemlich neugierig. Immer noch etwas verwirrt über sein plötzliches Auftauchen, erhob ich mich aus meinem Bett, während er zu meinem Schreibtisch abbog und meine Mitschriften der Vorlesungen musterte, die ordentlich in beschrifteten Heftern darauf langen. Er strich sanft mit der Hand darüber und sprach währenddessen mit mir. „Ich habe Peter mit Gewalt wecken müssen. Er hat ein Schädel-Hirn-Trauma davongetragen und leidet unter einer retrograden Amnesie.“ „Verstehe“, entgegnete ich knapp. Rova wirkte zufrieden damit, was mich hätte freuen sollen, doch stattdessen fühlte ich mich weiterhin nur schuldig. Er witterte meine Verunsicherung wahrscheinlich, denn er fragte: „Gibt es ein Problem?“, während er sich wirsch zu mir umdrehte. Mir schwirrte immer wieder diese eine Frage im Kopf herum und es war besser, sie zu stellen, um Rova zu beruhigen, bevor er auf dumme Gedanken kam. „Woher kommt das Blut, von dem sich die Abtrünnigen ernähren?“ Er billigte meine Frage und beantwortete sie umfangreich, aber nicht ohne meine Reaktion dabei genauestens zu beobachten. „Hat er dir das Märchen von einer friedlichen Welt erzählt, in der Vampire und Menschen Hand in Hand durch die Nacht spazieren? Magnas Werbelügen reichen bis über den Atlantik, so wie die einer Sekte. Ich will es dir verraten, Alexander. Es stimmt, dass sie die Jagd verboten hat, aber glaub nicht, dass sich die Abtrünnigen deshalb zivilisiert verhalten. Wer es sich leisten kann, hält sich Sklaven, die er im Keller oder sonst wo ankettet und sich ihrer nach Lust und Laune bedient. Für Verweigerer gibt es Blutkonserven, aber meine Schwester unterhält kein Spendennetzwerk, so wie wir es tun. Deren Konserven werden aus Blut von Gefängnisinsassen gewonnen, ein martialischer Gedanke. Ekelerregend, sich davon ernähren zu müssen, findest du nicht auch?“ Ich verzog angewidert das Gesicht, da das klang, als würden sie Menschen wie Vieh behandeln. Auch Pete hätte das nicht gefallen, aber er würde ohnehin nie wieder auf freien Fuß geraten. Dafür wusste er zu viel. Ich sagte nichts dazu, da meine spontane Reaktion vollkommen ausreichte. Rova hielt mich trotzdem fixiert, wohl aber wegen seiner darauffolgenden Frage. „Du hast ihr nichts darüber gesagt, was wir sind, richtig? Ist es ihr gestern Nacht aufgefallen?“, „Nope, glaub nicht oder sie stellt sich dumm“, antwortete ich frei heraus, woraufhin er die Stirn in Falten legte. „Schirmst du sie auch ordentlich nach außen ab, damit sie keine Freundschaften aufbaut?“ „Selbstverständlich!“ Er kam auf mich zu, tippte mir ein paarmal auf die Brust und raunte: „Auch gegen deine?“ „Sie hat Sari umgebracht, wie könnte ich…?“, stammelte ich und log ihm damit dreist ins Gesicht, … scheiße, vielleicht nicht ganz unbemerkt, denn er bohrte seinen Fingernagel unzufrieden in den Stoff meines Shirts und zog daran. Dann beugte er sich zu mir und stoppte erst kurz vor meinem Gesicht. „Ich hoffe es für dich“, hauchte er mir mit tiefer Stimme drohend entgegen. Fuck, war der Typ zum Fürchten! Rova ließ mich überdeutlich spüren, wie schwach ich im Vergleich zu ihm war. Erst danach stieß er mich hart zurück, doch immerhin landete ich auf meinem weichen Bett, das mich federnd abfing. Ich hatte mich noch nicht einmal wieder aufgerichtet, da wendete er sich schon so geschwind zur Tür um, dass sein Mantel hinter ihm in der Drehung wehte. Dass ich eine kinoreife Pose wie diese so aus der Nähe betrachten durfte, war richtig genial. Scheinbar fand ich den Typen sogar cool, wenn er mich aufmischte. Ich hatte eben auch ein kleines Rad ab. Trotzdem war ich froh, als ich sah, dass Rova die Hand schon auf der Türklinke liegen hatte. Leider hielt er inne, anstatt endlich zu verschwinden. Mit dem Kopf ins Profil gelegt, blickte er hinter sich zu mir. Verdammt, dieses Mal war ich mir sicher, dass er meine Lüge durchschaut haben musste, so grottig wie sie war. Meine Alarmglocken übertönten fast seine zaghaft zögerliche Frage. „Was… sagt sie über mich?“ Ich setzte mich wie in Zeitlupe aufrecht hin. Mich beschlich die Gewissheit, dass dies mein Ende bedeutete. Beim SOLV zeigte er seine verletzliche Seite nämlich immer kurz vor einem Ausbruch massiver Aggression. Ich musste ruhig bleiben, keine zu hektischen Bewegungen machen, ihn bloß nicht provozieren. So vorsichtig ich konnte, antwortete ich: „Sie stellt Fragen über dich und den Verein. Ich glaube, sie kapiert nicht so richtig, was los ist. Sie hatte niemanden, um den Schock zu verarbeiten und verdrängt gern die Fakten. Wenn du mich fragst, lebt sie einfach so vor sich hin.“ Rova drehte sich leider wieder vollständig um und lief schnurgerade auf mich zu. Seine Aura war furchteinflößend. Verdammt, irgendetwas an meiner Antwort war falsch, aber was? Ich dachte angestrengt nach. Wieder packte er mein Shirt am Kragen, diesmal aber mit der ganzen Hand und zog mich auf die Beine. Er sah mir tief in die Augen und fauchte mich mit gedämpfter Stimme an: „Du weichst wir aus. Wieso? Was sagt sie über mich?!“ Ich gab alles, seinem Blick standzuhalten und antwortete so selbstverständlich, wie ich konnte: „Ich hab keine Ahnung. Dank dir bin ich nur der Typ, der immer hinter ihr herdackelt. Sowas erzählt sie mir nicht.“ Diesmal war die Antwort besser, denn er schob mich wieder von sich. Trotzdem hielt er mich noch fest, vielleicht falls er es sich noch anders überlegen wollte. „Richtig“, seufzte er nach ein paar verunsichernden Sekunden. Dann lockerte er seinen Griff und klopfte mir beschwichtigend auf den zerknitterten Stoff auf meiner Brust. Er nickte einmal, drehte sich dabei von mir weg und verschwand endlich aus meinem Zimmer. Ich blieb verstört zurück. Mein Herz raste und es dauerte bestimmt eine Viertelstunde, bis ich die Starre überwinden und mich wieder auf mein Bett setzen konnte. Ich sah an mir herunter auf meine Hände, die langsam wieder aufhörten zu zittern. Ganz unwillkürlich ballte ich sie zu Fäusten und schlug mir damit auf die Beine. Ich war mir nicht sicher, ob er mich irgendwann einfach mit einem plötzlichen Hieb auslöschen oder ob er mir nur Angst machen wollte. Nur ein kleiner Fehler und ich würde es vermutlich herausfinden. Scheiße, wieso musste ich mir ausgerechnet einen so unberechenbaren Herrn aussuchen? Die halbe Nacht versuchte ich, sein Verhalten zu ergründen und kam zu einem unerfreulichen Ergebnis. So wie er mich ausgefragt hatte, war er wegen Lyz ziemlich verunsichert. Das bewiesen auch ähnliche Erlebnisse beim SOLV. Vielleicht war seine Selbstsicherheit nur eine Fassade, zumindest wenn es um das Prinzesschen ging. Sie musste ihm unvorstellbar wichtig sein und sobald er mich als Gefahr wahrnehmen würde, bekäme ich einen VIP Platz auf seiner Abschussliste. Meine Uhr tickte, das hörte ich ganz deutlich. Wenn sich nicht schnell irgendein Parameter änderte, würde mich dieser Auftrag mein Leben kosten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)