Lost & Found von robin-chan ================================================================================ Part One -------- Ellie streckte triumphierend die Arme gen Himmel und richtete ein lachendes »Gewonnen!« an ihren Kontrahenten. Dieser schnaufte hörbar und brachte seinen Hengst bereits in die Koppel während Ellie weiter oben auf saß und sich die Freude über das gewonnene Wettrennen nicht verkniff. Erneut war sie die Siegerin und da sie bislang nur einen Bruchteil verloren hatte, zog sie ihren Freund dementsprechend gerne auf. Schließlich lag er in anderen Belangen eine Nasenlänge voraus und machte es meist nicht anders. »Ja, ja«, winkte er ab, »sagen wir, ich habe dir einen Vorsprung gegeben. Würde ich ständig gewinnen, würde ich dir täglich die Laune verderben. Nenn mich einen Gentleman!« Er griente verschmitzt und lehnte mit verschränkten Armen gegen das geöffnete Holztor. »Oh, du bist zu gnädig, Sam!«, äffte Ellie und streckte ihm die Zunge entgegen. »Sieh’s endlich ein, Cal ist unschlagbar.« Und dem konnte Sam nichts entgegen bringen; momentan hatte sie mit Cal das schnellere Pferd und gewann meist um zwei Längen. Nun stieg Ellie selbst vom Pferd, löste noch das Gewehr aus der Halterung und trat an Sam vorbei, der das Tor hinter ihr schloss. Die Abzäunung hatte sie in den letzten Jahren selbst erneuert. Denn manchmal blieben sie länger hier und so brauchten sie den Pferde nicht länger an der Veranda festzurren. Selbst die Stallung hatten sie nach schweiß- und nervenaufreibender Arbeit repariert, sodass sie über Nacht bleiben konnten, ohne Angst haben zu müssen. Beim ersten Besuch in Jacksonville, war Ellie hierher geflüchtet, nachdem Joel sie seinem Bruder übergeben wollte. Einfach so, aus dem ersten Impuls heraus, das sie durchaus in Schwierigkeiten gebracht hatte. Seitdem Ellie nun gänzlich in der Siedlung wohnte, ritt sie oft hierher, hatte – zusammen mit Sam verstand sich – etliche Reparaturen vorgenommen. Besonders nach einem rauen Winter. Das Anwesen gehörte irgendwie ihnen alleine, selten kamen andere hierher. Und fern der Siedlung und des Kraftwerkes, konnten sie unter sich bleiben und wahrlich eine gewisse Freiheit genießen. Daher packten sie jede erdenkliche Möglichkeit beim Schopf. Es war früh am Morgen und Sam blickte gen Himmel empor; schlenderte durch das von der Nacht noch feuchte Gras; dabei blähte er seine Nasenflügel, holte tief Luft. »Riecht nach Schnee«, verließ seine Lippen und sein Blick wanderte weiter über das übersehbare Fleckchen Freiheit. Die Laubbäume hatten mittlerweile fast gänzlich ihre Blätter verloren und der Boden hatte sich in ein Farbenspektakel verwandelt. Bald schon, das spürte er, würde der erste Schneefall einsetzen und dieser würde die Landschaft unter einer weißen Decke einbetten. Er freute sich darauf. Leider bedeutete der Winter weniger Ausritte; weniger Zeit für eine Verschnaufpause innerhalb dieser Oase. Zwar gingen sie weiterhin auf Jagd – und diese Jahreszeit hielt sie besonders auf Trab, denn forderte sie mehr Ausdauer – aber hierher kamen sie kaum. »Sam, seit Tagen riechst du Schnee. Lass dich lieber untersuchen«, neckte Ellie und verspielt boxte sie dessen Oberarm. Brummend verzog er das Gesicht. Vielleicht, aber nur vielleicht, stimmten ihre Worte, aber konnte Sam seine Vorfreude auf die bevorstehende Zeit kaum verleugnen. Und für ihn roch es nach Schnee, es war einfach so. »Wenn nicht heute, dann morgen!«, lachte er, »So, ich hol mal das Werkzeug.« Lieber machte er sich an die Arbeit, als noch länger darüber zu reden, da es am Ende sowieso in eine verspielte, aber nervenaufreibende Diskussion schlitterte. Ellie blickte ihm mit gehobener Braue hinterher. Wie die Male zuvor schenkte sie ihrem besten Freund keinen Glauben. Klar, bald kam der Schnee tatsächlich, doch noch hatten sie ein wenig Zeit. Sams Einbildung konnte sie allerdings verstehen, er liebte den Winter, aber für sie war der Herbst ein weitaus angenehmerer Partner, denn die verschneite Landschaft brachte ungute Erinnerungen zurück an die Oberfläche. Ellie rieb sich die Hände; zwar ließ sich die Sonne blicken, aber noch stand das Anwesen zu sehr im Schatten. An der obersten Stufe blieb sie stehen und ihre Ohren lauschten dem Rascheln der Blätter, die sanft vom Wind umspielt wurden. Fünf Jahre nannte sie Jacksonville ihr Zuhause und obwohl sie sich anfangs an das Leben gewöhnen musste, mochte sie es mittlerweile sehr. Soldaten, Plünderer oder sonstige Fraktionen tauchten selten auf, und selbst wenn, hatten sie alles unter Kontrolle. Die Bewohner waren ein eingespieltes und gut aufgestelltes Team, das jedem Feind das Fürchten lehrte. Jeder erfüllte seinen Part und hielt sich an jene Vorschriften, die ihnen allen das Überleben sicherten. Manchmal kamen die Erinnerungen hoch, doch hatte sie gelernt mit ihnen umzugehen. Mittlerweile hatte sich Ellie gut mit ihrem Leben arrangiert und konnte tatsächlich davon reden, das es schön war. ‹●› Sam atmete flatterhaft; seine Arme hielt er vom Körper. Jede Faser hatte sich auf eine Zerreißprobe hin angespannt und die gesamte Aufmerksamkeit galt einzig und allein dem Eindringling, der sich in der Küche befand. Eine junge Frau, ungefähr in seinem Alter richtete einen Revolver auf ihn. An Schulter und Bauch machte er Verletzungen aus; das Langarmshirt war an jenen Stellen rot getränkt. Selbst im Sitzen war eine krumme Haltung auszumachen und doch, ihre Schusshand zitterte nicht, war vollkommen ungerührt, jederzeit bereit. »Ich bin nicht auf Blutvergießen aus, okay?«, versuchte Sam ins Gespräch zu kommen; ihr verständlich zu machen, dass er nicht auf eine Konfrontation aus war. Zeitgleich durchforstete er seinen Verstand nach dem Fehler. Was hatte er beim Betreten übersehen? Normalerweise achtete er penibelst auf Hinweise, die ein Eindringen aufzeigten. Nichts von dem war Sam ins Auge gestochen. »Mein Name ist Sam, ich kann dir helfen.« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf ihre Wunden. »Ziemlich jung für einen Arzt.« Ein schwaches Grinsen umspielte ihre Lippen. Die Ranch hatte einen soliden Eindruck ausgestrahlt; wirkte in Schuss gehalten, aber nachdem sie alles unter die Lupe genommen hatte, hatte sie niemanden ausgemacht und gedacht, sie konnte sich hier ausruhen, wieder auf Vordermann bringen. Denn ein Haus bot weitaus mehr Schutz als es die Wälder derzeit konnten. Vielleicht eine zu leichtsinnige Entscheidung, wenngleich der junge Mann sie nicht gerade einschüchterte; aber konnte das täuschen. »Hab nie behauptet ein Arzt zu sein. Siehst dennoch … scheiße aus.« Bedacht sank seine rechte Hand. »Ich bin nicht dein Feind«, betonte Sam und beinah in Zeitlupe löste er die Pistole aus der Halterung. Keine einzige Sekunde ließ er die Unbekannte aus den Augen, die jede seiner Bewegungen äußerst aufmerksam beobachtete. Seine Waffe legte er auf den Boden; das Gewehr hatte er im Flur gelassen, er war unbewaffnet. »Draußen wartet eine Freundin. Unsere Siedlung ist nicht weit, dort haben wir einen Arzt.« »Ziemlich hilfsbereit. Du kennst mich nicht«, sprach sie geringschätzig. Zu hilfsbereit ihrer Ansicht nach. Solch eine Hilfestellung kannte sie nicht und machte sie skeptisch. »Bislang hast du nicht geschossen und bei den Unbekannten, die ich kenne, wird erst geschossen und dann gesprochen. Sagt viel über deinen Charakter aus, glaub mir.« Ein Schweigen legte sich über sie, in dem sie sich lediglich in die Augen sah, herausfinden wollte, ob der jeweilige andere sich seine Haltung nicht noch anders überlegte. »Riley«, gab sich die Frau schlussendlich zu erkennen. Ihr Körper schmerzte und bevor sie hier tatsächlich ein Blutbad anrichtete, das ihr selbst am Ende zum Verhängnis wurde – schließlich hatte er sie auf seine Begleitung hingewiesen – ließ sie lieber den Revolver sinken. Bedenken hin oder her. Sam setzte sein allzu bekanntes Grinsen auf, sichtlich erfreut über die Entspannung der Lage. »Ellie!«, rief Sam lautstark während er sich der Frau näherte. Den Blick, dem sie ihm beim Ertönen des Namens schenkte, schien er weitgehend auszublenden. »Lass mal sehen, wir haben Verbandsmaterial bei uns. Bringen wir dich erst mal ins Wohnzimmer.« Er ging in die Knie und fasste bereits nach ihrem Arm, als schnelle Schritte Richtung Küche hallten. »Sam?!« Ellie bog um die Ecke, hatte das Gewehr im Anschlag. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, stockte ihr die Atmung. Jegliche Farbe wich aus ihrem Gesicht und mit geweiteten Augen betrachtete sie den vermeidlichen Grund des Rufes. »Wir haben eine Besucherin und sie ist verletzt«, erklärte Sam das Offensichtliche und schüttelte sacht den Kopf, während er Riley auf die Beine helfen wollte, um ihr ins Nebenzimmer zu helfen. Nachdem sie anfänglich noch mitgeholfen hatte, wurde ihr Körper plötzlich schwer, steckte voller Widerstand. »Hey, so wird das nichts«, scherzte er. Erst auf Rileys geschockten Ausdruck hin, runzelte er die Stirn und ließ im selben Atemzug von ihr ab. »Ihr kennt euch«, stellte Sam verblüfft fest, blickte zwischen beiden Frauen hin und her, die sich regelrecht auf dieselbe Weise betrachteten. Dann war Ellie diejenige, die den Blickkontakt zuerst brach und er hörte wie sie die Luft einzog. Bevor er mehr sagen konnte, schulterte sie das Gewehr und flüchtete. »Ellie!«, rief er hinterher, wollte ihr gerade folgen, als eine Hand seinen Unterarm packte; ihn streng festhielt. »Lass sie.« ‹●› »Hast du etwas von Riley gehört?«, fragte das Mädchen erwartungsvoll. Wenn jemand wusste, wo sich Riley befand, dann Marlene. Schließlich waren die Fireflies von Anfang an ihr Ziel gewesen. Marlene schüttelte den Kopf, nahm ihr jeglichen Hoffnungsschimmer. »Nein, Liebes«, begann die Frau und übte einen sanften Druck auf die Schulter des Mädchens aus, »es schmerzt, aber finde dich lieber mit dem Gedanken ihres Todes ab.« »Vermutlich«, wisperte Ellie, doch konnte sie nicht einfach abschließen, »aber noch ist alles möglich.« Wenn Marlene nichts wusste und Riley spurlos verschwunden war, dann lebte sie vielleicht, denn Riley war alles andere als dumm und fand stets einen Weg. »Ellie, lass sie endlich hinter dir. Denkst du Riley lässt dich grundlos im Stich? Wohl kaum. Und jetzt leg dich schlafen, morgen wollen wir los.« Gänzlich konnten die Worte nicht überzeugen. Leider musste sie trotzdem vergessen. Marlene hatte Recht, die Reise würde länger dauern und beschwerlich werden. Dafür brauchte sie Kraft und müde war sie sowieso nicht gerade leicht handzuhaben. »Und ihr habt sie wirklich nicht gesehen? Niemand von deinen Leuten?« »Ellie, habe ich dich je belogen?« »Nein, tut mir leid … Nacht.« Ellie stieß einen tiefen Seufzer aus und schlurfte davon. Das musste aufhören. Das ständige Hoffen auf eine Rückkehr. Über zwei Monate waren seither vergangen und kein einziges Mal hatte sich Riley blicken lassen. In einer Hinsicht hatte Marlene Recht, grundlos ließ die andere Ellie nicht im Stich. Dafür standen sie sich zu nahe. ‹●› »Nicht schlecht.« Sam schnalzte die Zunge. Sorgsam hatte er Riley ins Wohnzimmer geholfen und kam gerade mit seiner Satteltasche zurück. Von Ellie fehlte jegliche Spur. Entweder hatte sie sich in den Stallungen verschanzt oder sie war in den Wald geflüchtet. Erstere Option gefiel ihm mehr, aber hatte er sich nicht auf die Suche begeben. Ellie war seit jeher seine beste Freundin und er kannte ihre Angewohnheiten sehr wohl. Trotz einem Gefühlschaos fand sie sich zurecht und würde sich nicht von irgendetwas oder irgendjemanden ertappen lassen. Dafür wusste sie zu sehr, was bei einem falschen Schritt auf dem Spiel stand. »Du bist also die Riley«, fuhr er fort und sank auf den kleinen Holztisch vor dem Sofa, auf dem diese nun saß und sich bereits des Shirts entledigt hatte. »Sie spricht von mir?«, fragte Riley ungläubig. Noch immer rang sie mit dem plötzlichen Wiedersehen. Das war unmöglich, dachte sie. Sechs Jahre waren seitdem letzten Kontakt vergangen. Sechs lange Jahre! »Ja, wir unterhalten uns über das Leben vor Jacksonville.« Eine Seltenheit, aber taten sie es an manchen Tagen. Beide mochten die Zeit davor nicht sehr. Erst in der Siedlung schien das Leben, das sie sich oft gewünscht hatten, begonnen zu haben. Dennoch blieb die Vergangenheit nicht unvergessen und verfolgte sie in regelmäßigen Abständen. »Muss gesäubert werden. Was ist passiert?« »Gruppe Banditen«, kam die knappe Antwort; darüber wollte sie nicht sprechen; denn ihr Verstand war einzig und allein auf Ellie konzentriert. Selbst als Sam mit der provisorischen Behandlung begann, ignorierte sie den brennenden Schmerz. Immer wieder stellte sich Riley ein und dieselbe Frage: Wie war das möglich? Ellie ging es gut. Ellie … lebte! »Man sagte mir, sie sei tot«, wisperte sie irgendwann und Sam hörte abrupt auf. Riley schluckte den Kloß, blickte ihn an. »Ich bin fort, habe mein Ziel erreicht – Das Leben als Firefly, yay! – und bei meiner Rückkehr teilte mir Marlene mit, Ellie sei tot.« »Sie wäre beinah gestorben! Dank Marlene!«, entgegnete er gepresst. Sams Wangenknochen stachen hervor. Bei dem Namen zog es ihm den Magen zusammen. »Ellie ist immun, musst du wissen«, erklärte er auf Rileys fragenden Blick hin, »und Marlene wollte sie für Experimente sterben lassen … in der Hoffnung auf ein beschissenes Heilmittel.« Gegen eine Heilung hegte Sam keinen Groll, aber gegen Marlenes damaliges Vorhaben. Ellie dafür zu opfern, ohne handfeste Beweise zu haben, die auf ein Gelingen hinwiesen. Damals, vor fünf Jahren, als er die volle Wahrheit mitbekommen hatte, war er außer sich gewesen. »Entweder lügst du oder sie hat dich nach Strich und Faden verarscht!« Part Two -------- Ellie rannte. Ein Rauschen übermahnte Ellie. Ein Tunnelblick wies den Weg, stetig nach vorne. Sie rannte bis ihr Körper von einem Schweißfilm bedeckt war, bis die Lungenflügel sich wehrend aufbäumten. Bis sie gefährlich ins Wanken kam, die Beine taub von der Belastung und dann, dann verlor Ellie an Geschwindigkeit und sackte schließlich gegen den nächstgelegenen Baumstamm. Japsend rang sie nach Luft. Welch einen verdorbenen Streich spielte ihr das Leben? »Fuck«, wimmerte Ellie verzweifelt. Das war ein harter Tobak. Nach all den Jahren, in denen sie von Rileys Tod fest überzeugt war, konnte sie kaum Worte finden, die das Auftauchen der verlorenen Freundin erklärten. Was war schief gelaufen? Hektisch schlug sie mit geballter Faust den Stamm. Einmal. Zweimal. Dreimal. Jedes Mal wandte sie mehr Kraft an. Viermal. Fünfmal. Sechsmal. Die Haut schürfte auf, Blut quoll hervor. Siebenmal. Achtmal. Neunmal. Zehnmal. Verräterisch bebte ihre Unterlippe. Krampfhaft nahm Ellie einen schweren Atemzug nach dem anderen. Das Schlagen hatte nicht geholfen, ein Schleier bildete sich. Riley lebte. Angeschlagen – von was auch immer – aber sie lebte. Eine alte, klaffende Wunde, die niemals Heilung erleben durfte, schob sich in den Vordergrund. Nie hatte Ellie abgeschlossen. Immer schon – heimlich, ungestört – hatte sich Ellie ein Wiedersehen ausgemalt gehab (Was hatten diese Gedanken geschmerzt?) Nichts von dem war eingetroffen. Denn im Gegensatz zu ihren Fantasien war Ellie getürmt. In ihrer Vorstellung hatte sie stets die Lage im Überblick gehabt, hatte einen lässig wirkenden Spruch abgelassen. Und in jeder Fantasie hätte sie Riley stürmisch in die Arme genommen (Natürlich existierte jene Version, in der sie sich sofort auf sie gestützt hätte und die andere, in der sie Riley mindestens einen heftigen Schlag verpasst hätte, nur um ihren Schmerz aufzeigen zu können). Die Realität zeigte anderes. Ellie hatte ihrerseits einen Tiefschlag erhalten; aus dem Impuls heraus war sie nach draußen in den Wald gestürmt, weil sie den Anblick und zeitgleich die hochgekommenen Gefühle nicht ertrug. Was tat sie nun? Ewig konnte sie nicht hier bleiben und abwarten. Sam kümmerte sich um Riley. ‹●› Sam ließ sich auf dem Tisch, direkt am Rand, nieder. In seiner Rechten hielt er eine Tasse dampfenden Tee, die er vorsichtig an seine Lippen führte; eine zweite Tasse streckte er auffordernd der Besucherin entgegen, die sich mühsam aufrichtete und dankbar die Mundwinkel ein wenig reckte. Seine Augen glitten Richtung Foyer. Ellies Flucht lag bereits mehrere Stunden zurück und so hatte er alleine gearbeitet; hie und da einen Blick riskiert um sicher zu stellen, dass Riley nicht verschwunden war, noch lebte. Tief stachen die Sonnenstrahlen durch die alte Ranch; bald schon würde die Dämmerung in vollem Maße einsetzen und die Nacht würde den Tag verschlingen. Ellie blieb länger fort als erwartet. »Ist die Gegend sehr gefährlich?«, fragte Riley durch die Stille hindurch. Die Tasse hielt sie fest, mit beiden Händen, umklammert. Sie wärmte ihre kalten Fingerspitzen, obgleich Sam ihr eine Decke gebracht hatte, wollte die Wärme nicht vollkommen ihren Körper umschließen. »Ellie kennt ihre Tücken«, entgegnete Sam knapp, spürte jedoch eine aufkeimende Unruhe, die ihn an der Kante hin und her rutschen ließ. »Und? Wie ergeht es dir?«, musste er fragen, musste sich Sam ablenken; denn mittlerweile fragte er sich, warum er nicht nachgelaufen war. »Den Umständen entsprechend.« Was tat sie bloß, kam Ellie zurück? Marlene hatte sie beide nach Strich und Faden hintergangen. Und doch, den Auslöser, den hatte sie sich eingebrockt. Riley war diejenige gewesen, die von einem Tag auf den anderen verschwand, untertauchte und sich den Fireflies anschloss. Vielleicht hätte sie Ellie aufklären sollen, aber hatte sie es nicht gekonnt. Diesen Schritt, den musste sie alleine machen. Nachdem ihr Ellies Tod mitgeteilt worden war, hatte sie sich voll und ganz auf dieses Leben eingelassen. Es waren schwierige Zeiten dabei gewesen, Zeiten, in denen sie der Verzweiflung nahe war, aber hatte Riley stets überlebt. Irgendwie. Um Haares breite. Die Fireflies lagen mittlerweile hinter ihr. Die Gruppierung zerbröckelte. Das Fiasko vor fünf Jahren hatte weite Kreise gezogen; was genau in jener Einrichtung vorgefallen war, wussten wenige. Fakt war, jemand hatte ein Massaker veranstaltet, sogar die Ärzte hingerichtet. Niemand hatte überlebt, hatte ihnen den Schuldigen nennen können. Schon bald sprach man innerhalb der Fireflies vom Auffinden des Militärs. Dass sie hiermit ein Ultimatum gestellt hatten. Manche zogen sich daraufhin zurück. Stiegen aus und suchten einen anderen Weg zum Überleben. Andere arbeiteten weiter an dem, dass ihnen aufgetragen worden war. Eine schwierige Zeit, denn Marlene war nun mal das Aushängeschild gewesen, der Kopf hinter allem, die große Gesuchte. Bis zum heutigen Tag glaubte Riley nicht an die Gerüchte. Denn warum hatte niemand einen Hehl daraus gemacht? Warum hatte man Marlene sofort erschossen, anstatt sie vorzuführen? Drei Jahre hatte sie selbst nach den Tätern gesucht; denn eine Person konnte nicht solch ein Blutbad anrichten und lebend nach draußen gelangen. Jede noch so kleine Spur hatte sie aufgenommen – Ohne Erkenntnisse. Nichts hatte sie gefunden. Und so hatte auch Riley gelernt, sich damit abzufinden und nach vorne zu blicken. Irgendwann brach sie mit den Fireflies, zog alleine umher. Das Überleben hatte sie intus. Vorsichtig nippte sie den Tee und die Stille verblasste. Die Tür flog auf, im selben Tempo wurde sie geschlossen; ein Balken davor getan. Ellie. »Wir bekommen Gesellschaft!«, war alles, das Ellie ihnen sagen musste. Sam sprang auf, griff nach seinem Gewehr. Nur für einen Bruchteil einer Sekunde erlaubte er sich Erleichterung über die Rückkehr seine Freundin zu empfinden. Das schnelle Umschalten hatten sie alle verinnerlicht. Die Anzahl der Feinde war alles, wonach er fragte. »Sieben. Haben wir Glück, haben sie mich nicht bemerkt und machen einen hohen Bogen um die Ranch … bezweifle das. Zwei scheinen verletzt. Bekannte?«, wandte sie die Frage an Riley, die sacht nickte. Die restliche Gruppe, der sie gerade noch entkommen war. Natürlich waren sie nicht spurlos verschwunden. »Ab nach oben«, murmelte Sam und half Riley auf die Beine. »Dort haben wir bessere Karten und schießen kannst du bestimmt noch.« Kurzweilig zierte ein breites Grinsen seine Lippen. »Immer.« Beeilung war angesagt. Und jeden Ruck spürte Riley. Scharf sog sie Luft ein, aber durfte der Schmerz sie nicht behindern, die anderen nicht behindern. Es hieß die Zähne zusammen beißen und sie warf einen Blick zurück. Ellie folgte ihnen, das Gewehr im Anschlag, die Satteltaschen um die Schultern geworfen. »Ist lange her … auf der Ranch sind wir zumeist sicher. Deshalb ziehen wir uns gerne für ein paar Tage zurück. Lieber gehen diese Idioten gegen unsere Siedlung vor oder das Kraftwerk. Die glauben echt, sie hätten eine Chance«, erzählte Sam kopfschüttelnd. »Ein Schlafplatz unter Dach hat jedoch seinen eigenen Reiz.« Ellie schob sich nun an ihnen vorbei; lief in eines der hinteren Zimmer, in dem sie das Waldstück, aus jener Richtung sie kommen mussten, besser im Auge behalten konnte. »Geht schon«, schnaufte Riley und stützte sich an der Wand ab. Sam nickte, schnellen Schrittes verschwand er in dem Zimmer gegenüber. Riley zog ihren Revolver hervor, überprüfte die Munition. Drei Schuss übrig. Sie hatte viel aufgebraucht, drei Mann tödlich verwundet. Jene, die Ellie als verletzt ansah, musste sie wohl im Verschwinden getroffen haben. Ein Glück, das sie nicht die gesamte Gruppe auf einmal gegen sich gehabt hatte. Die kurze Warterei nahm Riley für anderes wahr. Ihr Kopf lehnte an der Wand und durch den Türrahmen hindurch, konnte sie Ellie beobachten. Erkannte die Anspannung ihres Körpers, den ernsten Gesichtsausdruck. Sie musste lächeln. Ellie war erwachsen geworden, nur wenig erinnerte noch an die Züge von damals. »Starren darfst du später«, gluckste Sam ihr ins Ohr. Riley zuckte, blinzelte mehrmals. »Halt die Klappe«, knurrte sie, aber war er im Recht. Grinsend hielt er ihr Patronen entgegen. Das Gewehr trug er um die Schulter, in der anderen Hand hielt er … ja, was hatte er da? »Oh, selbstgebaute, kleine Bomben«, erklärte er auf den fragenden Blick hin. »Wir haben so unsere Verstecke. Du musst auf alles vorbereitet sein. Haben keine große Reichweite, aber in unmittelbarer Nähe können sie einem Körper ordentlich Schaden zufügen. Lustige Dinger – Und natürlich zwei Rauchbomben.« »Sie kommen«, hörten sie nun Ellie. ‹●› Sam kickte abgesplitterte Bretter zur Seite. Frustriert fuhr er durch sein vom Schweiß nasses Haar. Das Aufräumen dürfte eine Weile in Anspruch nehmen. Sie hatten oben abgewartet; natürlich hatte der Feind ihre Anwesenheit sofort registriert. Die Tassen waren noch da gewesen; Werkzeug lag herum. Seine Tasse lag zerbrochen am Boden. Er seufzte. Seine Lieblingstasse. Ellie wischte sich ihre Wange ab. Ein Streifschuss hatte sie erwischt. Ein dummer, unsinniger Fehler. Ein Glück für sie, dass er nicht richtig zielen konnte. »Trauerst du ihr nach?«, meinte Ellie halb ernst, halb im Scherz. »Stella hat mich seit Jahren guten Tee trinken lassen!« »Stella?« Riley hielt sich am Treppengeländer fest, eine Augenbraue schwang sich in die Höhe. »Ja, Stella«, wiederholte Sam und hob die Scherben auf. »Weißt du, Riley, das Überleben und Nichtverrücktwerden hängt von der nötigen Portion Humor ab.« Und von dem hatte er reichlich auf Lager. Die Sonne war mittlerweile unter gegangen. Zwei Lampen erhellten das Wohnzimmer, das ziemlich verwüstet worden war. Sam hievte die Couch hoch. Tätschelte die Lehne. »Hat viel durchgemacht, aber sie bleibt uns treu.« »Gehen wir sie eingraben.« Weder brauchte Ellie Raubtiere, die sich animiert fühlten die Männer in der Nacht zu holen oder vor dem Haus zu fressen, noch den Leichengestank. Auch das gehörte zu ihrem Alltag. »Bei Nacht? Bist du sicher?« Riley war von der Idee nicht angetan. Wer weiß, was sie dort noch erwartete. »Darin sind wir geübt. Wir räumen lieber gleich auf.« Sam streckte sich, seine Knochen knacksten. »Oben ist noch eine Lampe. Dann fühlst du dich sicher besser.« Wieder das Grinsen. Sam trappte durch den Durchgang, der zur Waschküche führte. Dort hatten sie auch Schaufeln. »Würden wir diesen Ort nicht mögen oder ihn nicht länger besuchen, würden wir die Leichen wohl liegen lassen, aber uns gefällt es hier nun mal«, erklärte Ellie die Schultern zuckend, »und ich hoffe sehr, dass das die letzten Besucher waren. Noch so eine Horde und wir müssen früher zurück als geplant. Zwar haben wir Munition gehortet, aber hält sie leider nicht ewig.« Immer wieder hatten sie Vorräte hierher gebracht; sie in Verstecken deponiert, die ein Außenstehender kaum finden dürfte. Fünf Jahre machten erfinderisch. Fünf Jahre in denen sie jedes Fleckchen des Hauses unter die Lupe genommen hatten. Hier waren sie im Vorteil, hier konnte man ihnen nur schwer entgegen treten. »Ob es ihnen gefällt, begraben zu werden?«, hinterfragte Sam, nachdem sie bereits eine gute Stunde am Waldrand gruben. Mit Pferd und Trage hatten sie die Leichen her gebracht. Während er und Ellie das Loch ausgruben, hielt Riley Ausschau. »Mir würde es sehr zusagen. Lieber unter der Erde als im Maul eines Viechs.« »Lieber ein Viech als Infizierte«, stieß Ellie zusammen mit einem Atemzug aus. Schweißperlen rannen ihr Gesicht herab. Die kühle Nachtluft hielt angenehm dagegen. »Erinnerst du dich noch an vor zwei Jahren?« »Die, die wir haben liegen lassen? Pfui Teufel!« Angewidert verzog Sam seine Züge, schüttelte sich. »Deshalb, liebe Riley, verbuddeln wir die Jungs. Das war eine Sauerei. Im Hochsommer haben sie vor sich hin gebrutzelt. Den Gestank kann ich heute noch riechen!« Riley wandte sich ihnen zu, grinste sacht. »Wisst ihr, was ekelerregend ist? Nicht ein paar Kerle, sondern zwei Stockwerke voller dahin modernder Körper. Hitze ist wirklich ein Beschleuniger. Glaubt mir, den Anblick des Verwesungsprozesses, wenn Insekten dahinter sind … den vergisst du nie und von diesem Geruch … von dem fange ich lieber gar nicht erst an!« »Wo ist dir das denn passiert?«, fragte Sam sogleich und stieß die Schaufel neuerlich in die Erde. Eine Pause trat ein, in der Riley den Kopf Richtung Wald drehte. »Salt Lake City«, murmelte sie dann. Erneut kroch die Erinnerung hoch. Sie gehörte zu jenen, die das Massaker mit eigenen Augen sahen. Eine Gänsehaut breitete sich aus, der Schauer lief eiskalt ihren Rücken hinunter. Bilder wie diese waren es, die sie auf ewig heimsuchten. Riley hatte viel gesehen und getan, aber eine Einrichtung der Fireflies auf solch eine Weise auszulöschen, das gehörte nicht zu den alltäglichen Erlebnissen. »Irgendjemand hat alle getötet«, dabei blickte sie aus dem Augenwinkel heraus zu Ellie, »Marlene ist tot. Irgendein Arsch hat sie angeschossen und verbluten lassen.« Ellie erstarrte ruckartig. Salt Lake City hatte bereits ihre Aufmerksamkeit erregt, aber nun, als Riley Marlene ansprach, dämmerte es ihr. »Recht hatte er!«, kommentierte Sam zustimmend. Wer die Geschichte kannte, der kannte den Grund und der wusste, warum er so reagierte. Während er in Jacksonville zurückblieb, hatten sich Ellie und Joel auf die Weiterreise begeben. Nach der Rückkehr hatte er, zusammen mit Ellie, die Wahrheit herausgefunden. Eine Wahrheit, die Ellie in ein tiefes Loch hatte fallen lassen. Alles wegen Marlene, eines dummen Heilmittels wegen. »Fick dich! Du kanntest sie nicht!«, murrte die ehemalige Anhängerin der Fireflies. »Hat sie dir denn nicht erzählt, Ellie sei tot?« Daraufhin erhielt Sam keine Antwort, rümpfte süffisant die Nase. »Zudem habe ich dir bereits gesagt, was sie Ellie antun wollte!« »Klärt mich jemand auf?« Sam warf die Schaufel aus dem Loch, hievte sich selbst hoch und klopfte den Dreck von seiner Hose. »Marlene hat Riley denselben Mist verzapft. Du seist tot und was hat sie dir gesagt? Riley sei tot. Ob ich sie kannte oder nicht, fakt ist, sie war ein Arschloch!« Das ausgehobene Erdloch musste nun reichen und so packte er den ersten Leichnam. »Weißt du, Riley, ich halte nicht viel davon, jemanden für das große Ganze zu opfern. Nur um die Hoffnung auf etwas zu wahren, das es vielleicht niemals geben wird.« Ellie war gerade raufgestiegen, als er den Körper bereits hinunter warf und sich dem nächsten zuwandte. »Du mochtest sie, schon klar, aber nach der Scheiße hat sie … wohl alle haben es verdient.« »Warum habe ich das Gefühl, ihr wisst genauestens Bescheid“, begann Riley und ihre Züge verhärteten sich. »Warst du dort?« Ellie blickte nicht hinüber, sondern sah zu, wie ein Körper nach dem anderen ins Grab fiel. »Die Suche nach ihrem Mörder hat mich drei Jahre gekostet … ohne Erfolg. Ellie!« »Ich kenne die Person, die dahinter steckt und ja. Ich bin dort gewesen. Ein Jahr nach dem du abgehauen bist. Marlene konnte mit nicht dorthin bringen, deshalb hat er sich mir angenommen. Als ihm klar wurde, worauf Marlene von Anfang an abzielte, hatte er sich durchgekämpft um mein Leben zu retten.« Irgendwann – Und bis zu diesem Punkt hatte sie sich durchkämpfen müssen – hatte Joel alles erzählt. Seine Lüge offen zugegeben. Einfach alles. »Für eine kurze Zeit habe ich um sie getrauert. Bis heute tut es mir leid, aber … ich bin dankbar. Besonders da ich nun weiß, welch ein perfides Spiel sie sich erlaubt hat.« Beiden einzureden, die jeweils andere wäre tot. Warum hatte sie das getan? Part Three ---------- Ellie scheute sich nicht, behielt ihre einstige Freundin taxierend im Auge, die sichtlich geschockt vom Geständnis war; der eigene Blick wies ein bedrohliches Lodern auf, denn Ellie bezweifelte, dass das einzig und allein dem Schein der Laterne geschuldet war. An dem Massaker trug sie keine Schuld, Joel hatte entschieden; es war seine Entscheidung gewesen, ihr Leben über das aller zu stellen. Ihr Leben retten, auf das Heilmittel spucken – Joel hatte sie ins Herz geschlossen und hatte sich gegen einen weiteren Verlust gestemmt und Ellie war diejenige, die damit leben gelernt hatte. »Machen wir’s zu, ihr könnt das im Warmen klären«, hörte sie Sam, mit dem kläglichen Versuch die ausgebreitete Spannung zu lösen und ja, es war eine Sache zwischen Riley und ihr, die in Ruhe besprochen gehörte. Nicht hier, nicht am Waldrand, nicht in der Kälte der Nacht. Doch kannte sie Riley, oder Ellie glaubte zumindest, dass sie manches noch immer wusste – Riley hatte ihren eigenen Kopf und war nicht dafür bekannt gewesen, abzuwarten. Das hatte sie auch damals nicht. Als Ellie auf alles vorbereitet war, sich auf Widerstand eingestellt hatte, nickte Riley plötzlich und wandte den Blick ab. Wortlos nahm sie die zweite Schaufel, was Ellies Stirn in Falten legte. In dem Zustand sollte sie eher rasten, aber blieb Ellie deswegen stumm. Die andere war alt genug. »Bist du auf Rache aus, musst du erst an mir vorbei«, war alles, das Ellie sagte und das Thema selbst zur Seite schob, Sam beim Schaufeln beobachtete. Ihr war bewusst, wie sehr Riley Marlene gemocht hatte. Marlene war ihr ein Vorbild gewesen, dem sie immer nachgeeifert hatte. Ellie hatte sie selbst gern gehabt, aber nie, unter keinen Umständen, würde sie Joel ausliefern und sollte Riley ernsthaft nachforschen und in Erfahrung bringen, wer genau Marlene auf dem Gewissen hatte, dann ... Ellie spähte zu ihr. Riley zeigte keine Reaktion. Von da an hatte niemand ein Wort gesprochen, was den Rückweg unangenehm in die Länge gezogen hatte. Zurück, hielt Ellie auf die Küche zu, sie brauchte dringend etwas Warmes. Einen wärmenden Tee, der ihr die Kälte nahm. Nebenbei lauschte sie und bekam so mit, wie Sam Riley nach oben führte, ihr vermutlich das Zimmer für die Nacht zeigte. Das Wasser war am Kochen und Ellie nutzte die Zeit. Aufmerksam überprüfte sie die Türen und Fenster, traf Vorbereitungen für die Nacht, damit sie alle ausreichend Schlaf erhielten. So sollte es sein, aber wusste Ellie besser, wie sie tickte. Noch dachte sie nicht an ein paar Stunden Schlaf; die Müdigkeit war vorhanden, jedoch spürte sie ein stark rumorendes Unwohlsein, das jeden Gedanken an das Schlafen blockte. Für die Vorkehrungen hatte Ellie äußerst lange gebraucht, hatte sich zwischendurch eine Tasse Tee eingeschenkt. Im Normalfall war sie in wenigen Minuten fertig, dieses Mal hatte sie alles doppelt und dreifach geprüft. Vielleicht lag es einfach am Rumoren, am Verdauen des Schocks, der weiterhin tief saß. Immerhin hatte sie um Riley getrauert, mit ihrem Tod abgeschlossen, wehmütig an alte Zeiten gedacht. Nun war sie da, oben in einem Zimmer, in dem sie womöglich ähnlichen Gedanken nachhing oder, was für ihren Körper besser war, einfach schlief und sich erholte. Letzteres gefiel Ellie. So konnte sie nachher in Ruhe hoch gehen, ganz ohne Bedenken. Das Gespräch auf den Morgen vertagen, wenn ein Gespräch überhaupt zu Stande kam. Ellie wusste sehr wohl, wie sie manchem gerne auswich. »Scheiße«, nuschelte sie schließlich und sank auf den wackeligen Holzstuhl, der in der Küche stand und seinem Zweck noch ausreichend diente (Sam sollte sich ihn unbedingt ansehen). Riley, die stets von den Fireflies geschwärmt hatte und ihnen unbedingt beitreten wollte, befand sich im selben Haus. Jene Riley in die sie verliebt gewesen war und deren Verschwinden ihr das Herz gebrochen hatte. »Schlägst du Wurzeln?«, neckte Sam, der zurückhaltend im Durchgang verweilte. Das Grinsen, das er sonst zeigte, war verschwunden. Stattdessen taxierte er Ellie mitleidend. »Ihr habt reichlich Gesprächsbedarf … was wirst du tun?«, fragte er dann, und sie erkannte eine Spur von Neugierde. »Mich stellen«, kommentierte Ellie ausdruckslos und griff nach der Tasse. »Wie und wann … ist fraglich.« Das entsprach der Wahrheit. Noch blieb eine Entscheidung aus, aber Ellie hatte Fragen. So viele Frage, die nach einer Antwort forderten. »Mein Gefühl sagt mir, ihr ergeht es ähnlich.« Dabei kam er zum kleinen Tisch, der neben Ellie stand und lehnte dagegen. »Meinst du, sie wird gefährlich? Er hat dich gerettet, sie sollte dankbar sein.« Nachdenklich rieb Sam sich das Kinn und Ellie blickte fragend hoch. Was erwartete Sam? Würde Riley Joel ausfindig machen und töten? Ellie hatte keine Antwort parat. Wer wusste schon, welcher Mensch aus ihr geworden war, inwieweit die alte Riley noch existierte? »Kommt sie mit, erkennt sie ihn.« Joel hatte die Vaterrolle übernommen. Ausgerechnet er, der meinte, sie war nicht seine Tochter und es würde nie zu solch einem Verhältnis kommen. Mittlerweile sah jeder, welch einen Stellenwert Ellie einnahm und so benahm sich Joel auch. »Sie kommt erst mit, wenn wir die Sache geklärt haben. Ansonsten muss Riley verschwinden.« »Ihre Verfassung gibt euch Zeit, allerdings haben wir weniger. Kommen wir später zurück, steht er höchstpersönlich vor der Tür. Er und-«, da brach Sam ab, biss sich auf die Zunge. Ellie verstand auch so, von wem er sprach. Keine Namen. Noch wussten sie nicht, was Riley vorhatte, wie sie zu dem stand (ob sie eventuell mithörte). »Morgen ist ein neuer Tag. Falls du was brauchst, du weißt, wo du mich findest«, gähnte Sam schließlich und stieß sich ab, nicht ohne ihr doch noch ein breites Grinsen zu schenken und eine angenehme Nacht zu wünschen. Dass sie diese nicht haben würde, daran glaubte Ellie fest. Zu viel sprach dagegen und so blieb sie noch eine Weile sitzen; langsam trank sie den Tee aus, der mit der Zeit abgekühlt war und starrte in die fast gänzliche Dunkelheit, wäre da nicht die Lampe gewesen. Irgendwann dann, als ihre Augen kurz zugefallen waren, hörte sie Schritte – die Treppe. Drei Stufen knarzten ziemlich, waren unüberhörbar, sofern man nicht davon wusste. Sofort schlug Ellie die Augen auf, setzte sich gerade (dabei bemerkte sie den schmerzhaften Rücken und Nacken) und hielt den Atem an. Ellie war sich sicher: Sam schlief. Er hatte einen verdammt guten Schlaf entwickelt, anders als bei ihrem Kennenlernen. Die Jahre hatten ihn stärker, robuster gegenüber allem gemacht, mehr als sie je von ihm erwartet hatte. War er also eingeschlafen, dann brauchte es einen Angriff. So blieb nur eine Person übrig. Fuck, Ellie wollte eine Konfrontation noch vermeiden. »Ich habe dich doch nicht überhört.« Riley trat in die Küche und Ellie erkannte, dass sie sich, abgesehen von den Verletzungen, in einer ähnlichen Verfassung befand und nicht wirklich geschlafen hatte. Wenn Ellie bloß sagen konnte, wie spät es war. »Gehst mir aus dem Weg, was?« Ellie wandte den Blick ab, stand auf, nahm die Laterne und schritt an ihr vorbei, wurde allerdings am Handgelenk gepackt. Nicht grob, aber fest genug. »Ellie …« »Ich will zur Couch, kommst du mit?«, fragte sie, obwohl ein anderer Gedanke sie zum Aufstehen bewogen hatte: Abhauen. Irgendwie fühlte sich Ellie weiterhin nicht in der Lage dafür, sich ihrer Vergangenheit, ihren Gefühlen zu stellen, doch kam das Gegenteil aus ihrem Mund. Riley ließ sie überrascht los und folgte, wenn mit einem gewissen Abstand. »Ich habe eine Vermutung … wegen Marlene«, begann Ellie, als sie sich gesetzt und Minuten über angeschwiegen hatten, »Sie hatte meiner Mutter ein Versprechen gegeben und dementsprechend sollte ich in Sicherheit leben. Marlene war der Grund, warum ich überhaupt in der Schule aufgenommen worden bin. Du hingegen, du warst anders. Die Fireflies hatten dir den Kopf verdreht. Was, wenn sie das tat, um uns zu trennen? Dir durfte sie den Wunsch weniger verwehren und sie brauchte Rekruten. Ich blieb zurück und hätte …« Ellie beugte sich vor, instinktiv hatte sich ihre eigene Hand auf ihren recht Unterarm gelegt, der von einer Jacke bedeckt war. »Hättest du was?«, flüsterte Riley, die am anderen Ende saß und sich nun gerade aufrichtete, den Arm fragend musterte. Ellie brauchte eine Weile, wog alles ab, ehe sie die Jacke auszog und das Hemd, das sie darunter trug, zum Ellbogen hochschob. Vorsichtig streckte sie den Arm Richtung Riley, schob mit der linken Hand die Laterne näher, damit das Tattoo ersichtlicher wurde. Das hatte sie schon eine Weile. Irgendwann war ihr die Idee gekommen, es verdeckte die Narben, bis zu einem gewissen Grad jedenfalls. »Ich bin übermütig gewesen und gebissen worden. Stell dir vor, es ist verheilt. Drei Tage habe ich mich verkrochen und ich habe gewartet … auf das Verwandeln, den Tod – ist ausgeblieben.« Riley hatte zuerst gezögert, dann hatte sie nach dem Arm gegriffen. Neugierig beäugte sie das Tattoo, aber noch mehr starrte sie auf die Bissnarbe. Als sie federleicht darüber strich, zuckte Ellie leicht, spürte dabei eine sich unkontrolliert ausbreitende Gänsehaut, die sie nach Luft schnappen ließ. »Immunität existiert nicht! Ein Biss und du bist im Arsch, das ist das Gesetz!« Ellie lachte rau, schüttelte den Kopf. »In die Schule zurück? Unmöglich. Also bin ich zu Marlene und sie hat … hat alles ins Rollen gebracht.« »Das mit ihrem Mörder?«, sprach sie kalt und automatisch entzog Ellie ihre Hand, rollten den Ärmel hinunter. »Ja, er sollte mich aus der Stadt bringen, aber Marlene hat nicht damit gerechnet, dass ich ihm ans Herz wachse. Er hat mein Leben über alle gestellt. Dafür muss ich mich nicht rechtfertigen.« »Aber er.« »Sie hat dir mächtig den Kopf verdreht, was?«, meinte Ellie provokant. »Du weißt, was möglich ist und du bist weit gekommen. Willst du ihn töten und mich ausliefern?« Perplex blinzelte Riley, ihr Mund klappte auf. Ellie beobachtete jede einzelne Reaktion, quittierte diese mit einem süffisanten Grinsen. »Was ist? Du gehörst den Fireflies an. Sie suchen danach. Dem rettenden Heilmittel. Dank mir existiert eine minimale Chance.« »Ich bin ausgestiegen, Ellie«, erwiderte sie mit fester Stimme und bevor Ellie, an der es wiederum war überrascht zu sein, reagieren konnte, ergriff Riley erneut ihren Arm. »Wann war das?« »Locker zwei Monate nachdem du verschwunden bist«, gab Ellie kleinlaut bekannt, konnten den Blick nicht vom Gesicht der anderen abwenden, während sie spürte, wie der Stoff abermals hochgezogen wurde; und ihr Herz pochte dabei ungewohnt schnell. »Kurz nach meinem Beitritt habe ich die Stadt verlassen. Eine neue, aufregende und gefährliche Erfahrung. Dann – 71 Tage nach meinem Abtauchen – kam ich zurück. Marlene war dort und verletzt und meinte …« Federleicht berührten ihre Fingerkuppen das Tattoo und Ellie erkannte, wie sie sich einen kurzen Augenblick lang auf die Unterlippe biss. »Sie hat gesagt, du wurdest gebissen. Wenigstens etwas das der Wahrheit entspricht und ja, Ellie, ich finde deine Vermutung alles andere als abwegig.« »Warum bist du gegangen? Einfach so, ohne ein Wort? Ich hätte es nicht gekonnt«, wisperte Ellie. »Eine simple Erklärung hätte gereicht!« »Wollte ich, glaub mir, aber Marlene … alles ging so schnell. Zudem war es verdammt schwer die Stadt zu durchqueren. Ich war einfach zu spät, außerdem …« Riley brach ab, dabei spürte Ellie das Zittern in der Hand der anderen. Tief holte sie Luft. »Ich konnte nicht. Du hättest mich nie gehen lassen und das hätte mich aufgehalten.« Ellie schluckte, nicht wissend, was sie sagen sollte. Stimmte das? Ellie konnte fast nicht glauben, was Riley sie da sagte. Als ob sie je dazu in der Lage gewesen wäre. Riley hatte schon immer gerne das getan, wonach ihr beliebte, wie hätte Ellie sie da aufhalten können? »Ich war naiv. Einfach abhauen, einsteigen und zurückkehren, um dir die freudige Nachricht zu überbringen – hat sich realistisch angehört.« Schließlich ließ Riley von ihrem Arm ab und lehnte zurück. »Hast du nie daran gedacht, dich umzubringen? Wir alle wissen, was im Normalfall geschieht. Wolltest du dieses Dasein wirklich riskieren?« Ellie zuckte die Achseln. Natürlich hatte sie daran gedacht – Fuck, in den Stunden waren ihr alle erdenklichen Ideen gekommen, aber etwas hatte sie aufgehalten. Etwas, das Ellie bis heute nicht verstand. Im Nachhinein war sie dankbar darüber. Hätte sie eine andere Entscheidung getroffen, den nötigen Mut (oder hätte eher die Verzweiflung die Oberhand gewonnen?) aufgebracht – sie hätte nie Joel getroffen oder Sam oder Tommy oder Maria oder Henry oder … Ellie wäre inmitten ihrer größten Angst gestorben: dem Alleinsein. »Sagen wir, ich habe mich richtig entschieden. Ich bin hier.« »Weil Marlene dich nicht persönlich in den Stützpunkt bringen konnte?«, lenkte Riley gefährlich um. »Marlene wollte mich ins Forschungszentrum bringen, ja, sie wurde allerdings verletzt. Deshalb hat sie jemanden gesucht, der sich mir annimmt.« Irgendetwas blockierte, Ellie wollte nicht daran denken, was damals alles vorgefallen war. Was zu dem Umstand geführt hatte, das sie so haarscharf aneinander vorbei gelaufen waren. »Er muss dir wichtig sein.« »Ich liebe ihn wie einen Vater.« Riley hob den Kopf, schwieg, sah ihr unschlüssig in die Augen. »Also, du willst ihr Werk nicht beenden?«, schwenkte Ellie ihrerseits rasch um. Joel wollte sie nicht weiter thematisieren, noch nicht. »Nein, nicht wirklich. Ihr Tod hat große Veränderungen herbei geführt, der Großteil hat sich abgewandt und die, die noch übrig sind … sagen wir, sie sind nicht exakt das, womit ich assoziiert werden möchte.« »Marlene war auch kein Unschuldslamm, solltest du darauf ansprechen.« »Weiß ich, ich habe tieferen Einblick gehabt«, knurrte Riley angegriffen und Ellie seufzte leise. In dem Fall hatte sie nicht direkt provozieren wollen. Es war eben das Thema an sich. Tommy hatte Geschichten erzählt, von seiner Zeit bei ihnen und was am Ende zu seinem Ausstieg geführt hatte. »Marlene hat den Menschen Hoffnung gegeben. Eine Chance!« »Mit einem Heilmittel, das nicht existiert«, sprach Ellie verbittert und zog den Arm gänzlich an ihren Körper. »Sei ehrlich, Riley … hättest du gewollt, dass ich dafür mein Leben gebe?« Part Four --------- Verloren starrte Riley zum sternenklaren Himmel empor. Zum ersten Mal war die Nacht eisig, die Temperatur fiel konstant, ein rauer Wind mischte mit; der Winter war nah. Da half selbst die Decke wenig, die eng um ihren Körper geschlungen war – er bebte unaufhörlich. Zeit sich ins Innere zu begeben, aber fand Riley keine Kraft um sich aufzuraffen, noch nicht, das an den Gedanken lag, die sie klammernd an Ort und Stelle behielten. Das Gespräch, das rasch aus dem Ruder gelaufen war, lag zwei Nächte zurück. Am Tage war Ellie ihr gekonnt aus dem Weg gegangen, hatte sie einfach ignoriert – es schmerzte. Weniger das Verhalten, eher das Drumherum. Sechs gemeinsame Jahren waren ihnen genommen worden. Vielleicht, ja, hatte sie den Grundpfeiler gelegt, aber Marlene hatte ein weitaus arglistigeres Spiel daraus gemacht; und verstand allmählich, oder sie glaubte eher, die Intention zu verstehen. Mit Ellie hatte sie eine verdammt enge Beziehung gehegt. Für sie waren die Gefühle weit über Freundschaft hinausgegangen, wenngleich sie nie den Mut gefasst und Ellie konfrontiert hatte. Daher war sie damals wortlos verschwunden. Ellie, ob sie es wusste oder nicht, hatte immer einen großen Einfluss gehabt, für sie wäre Riley geblieben, hätte den Beitritt neuerlich aufgeschoben. Daher erschien das plötzliche Verschwinden als beste und einfachste Variante, um dem Traum einen Schritt näher zu kommen – sie hatte Ellie bewusst vor vollendete Tatsachen gestellt, nichts ahnend von den selbst heraufbeschworenen Konsequenzen. War Marlene je das enge Band aufgefallen? Hatte sie dementsprechend gehandelt, um etwaige Komplikationen zu vermeiden? In ihrer Welt brachten Gefühle enormen Risiken mit sich. Sie verleiteten zu gefährlichen Entscheidungen, hielten auf. Das hatte Riley am eigenen Leib erfahren. Dann wiederum halfen Gefühle sehr wohl: Gefühle trieben an. Einundsiebzig Tage – die längsten ihres bis dahin geführten Lebens. Riley hatte sich durchgekämpft, hatte die gesehen, was dort draußen lauerte. Dabei waren manchmal nicht die Infizierten das größte Übel gewesen, auch die Menschen führten sich wie Monster auf. Was es auch war, das nach ihrem Leben getrachtet hatte, Riley hatte durchgehalten und stets daran gedacht, zu Ellie zurückzukehren. Die Freude auf ein Wiedersehen hatte ihr die notwendige Kraft gegeben. Aber, und diese Lektion hatte ihr das Leben schmerzhaft beigebracht, war es in dieser Welt unmöglich einem Plan zu folgen. »Was ist geschehen?«, fragte Riley hektisch nach, als sie Marlene verletzt sah. Gerade hatte sie ihre erste offizielle Mission als Firefly abgeschlossen und ihre Truppe war mit ihr zufrieden gewesen. Einen besseren Start hatte sie sich kaum vorstellen können. Dann, binnen weniger Sekunden, verpuffte das Hochgefühl und die Realität holte sie ein. »Manchmal geht etwas schief, Riley, das wirst du noch lernen. Das Militär wird stärker, daher verlassen wir Boston und werden uns anderweitig neu formieren. Morgen Abend brechen wir auf.« Das Mädchen schnappte angestrengt nach Luft. Boston endgültig verlassen? Nein, unmöglich. Ellie war noch in der Stadt! Was wurde aus ihr, wenn niemand wachte? »Und Ellie?« Mission hin oder her; es war kein Tag vergangen, an dem Riley nicht an ihre Freundin gedacht hatte. Sie zu sehen hatte sie angetrieben. »Ich muss zur Schule!« Entweder verabschiedete sie sich auf angemessene Weise oder, was eher Rileys Vorhaben war, würde sie Ellie direkt mitnehmen. »Du … wir können sie nicht alleine lassen! Marle-« »Das hast du bereits getan«, unterbrach Marlene ausdruckslos. »Du hast sie allein gelassen.« »Für einen deiner Aufträge, aber nicht für immer!« Nur so hatte sie den Beitritt über die Bühne bringen können. Still und heimlich abtauchen. Eine andere Möglichkeit hatte einfach nicht existiert. Ein Wort von Ellie und sie hätte das Vorhaben erneut aufgeschoben, so wie sie es die letzten Monate über getan hatte. Als Marlene jedoch langsam näher trat und ihre Züge plötzlich einen mitleidenden Ausdruck annahmen, wich Riley automatisch zurück. So hatte sie die Anführerin der Fireflies nie zuvor gesehen und dieser Blick reichte aus, um ein unsagbar schmerzhaftes Ziehen im Magen auszulösen; der Herzschlag schoss in die Höhe und sie bemerkte ein anwachsendes Zittern. »Was ist geschehen?«, wisperte Riley stockend. »Ellie wurde infiziert. Wir haben …« Infiziert. Schonungslos. Ausreichend. Plötzlich nahm Riley ein Rauschen ein; obwohl Marlene sichtlich weitersprach, drang kein weiterer Laut durch. Ellie und infiziert … das reichte. War sie vor wenigen Minuten noch mit stolzer Brust zurückgekehrt, so spürte sie nun einen immensen Druck auf dieser, die ihr das Atmen erschwerte. Das Zittern ging ein Beben über, bis die Erkenntnis sie vollkommen, eines Tiefschlages gleich, traf und ihre Beine an Halt verloren. Ihre Ellie war fort, für immer und sie hatte sie alleine gelassen; war alles woran Riley denken konnte. Danach war alles rasch gegangen. Alles verstaut. Boston wurde verlassen. Wenige Tage später hatte sie Marlene das letzte Mal lebendig gesehen, für ihren Trupp war eine andere Stadt vorgesehen gewesen. Erst Monate danach, als die Verbindung zu Salt Lake City abgebrochen war, hatten sie sich dorthin auf den Weg gemacht und was Riley dort unter die Augen gekommen war … noch heute roch sie den Gestank der vermoderten Leichen. Damals hatte sie einen Entschluss gefasst, ein geheimes Versprechen abgelegt: Irgendwann fand sie Marlenes Mörder, den sie anschließend eigenhändig zur Strecke brachte; es sollte der letzte Akt als Firefly werden. Doch nun, wo sie ihrem Ziel so nah wie nie war, durchlebte Riley sehr wohl einen verräterischen Sinneswandel. Sie kannte nun die Hintergründe. Jemand hatte sich Ellie angenommen und ihr Leben als oberste Priorität auserkoren. Ihnen diese eine Chance ermöglicht. »Sei ehrlich, Riley … hättest du gewollt, dass ich dafür mein Leben gebe?« Entgeistert zuckte diese zusammen. Was sollte die Frage? Natürlich nicht! Zeitgleich geriet ihre Atmung ins Stocken, ein kalter Schauer kroch den Rücken empor. Ist das wahr? Ein leiser, kaum vernehmbarer Gedanke. Was ist ein Leben? Ihres hätte tausende gerettet. Riley starrte an Ellie vorbei, kämpfte gegen das Gedachte, diese irrsinnige Stimme, die einerseits im Recht war, aber andererseits ... »Marlene hat einen Fehler gemacht«, säuselte Ellie plötzlich. »Du hättest mich zur Besinnung gebracht und mich umkehren lassen – weißt du, in dem Moment, in dem ich im Fahrzeug erwacht bin, habe ich die Wahrheit gespürt. Er hat entschieden und mich leben lassen. Das Geschehene habe ich über Monate verarbeiten müssen. Ich bin geblieben und mittlerweile bereue ich diese Entscheidung keineswegs.« Schließlich stand Ellie auf und zog dabei ihre Jacke über, was Riley bloß stumm zur Kenntnis nahm. »Sein Handeln hat mir eine Familie gegeben, ein Zuhause, Freunde. Ich bin nicht länger allein. Egoistisch, ja, aber nicht verwerflich.« »Ellie, denkst du … du warst mir das Wichtigste-« »Du hast mich bewusst zurückgelassen. Mit mir allein.« Damit war das Gespräch beendet und Riley wollte ihr nachgehen. Ihr sagen, dass das so nicht stimmte. Stattdessen blieb sie sitzen und sah ihr nach, bis das Licht der Lampe erlosch. Eine falsche Entscheidung. Nach all der verlorenen Zeit vergeudeten sie erneut welche und wofür? Weil Riley haderte. Der Firefly in ihr war eben nicht vollkommen verschwunden. Seit Ausbruch der Infektion hatte die Organisation nach einem Heilmittel gesucht. Nach einem Weg, der sie aus der Hölle befreite und den Übriggebliebenen Hoffnung schenkte. Riley entsprang jener Generation, die die alte Welt nicht kannte und sich dennoch danach sehnte. Ein Leben wie in den Erzählungen oder den Büchern oder den Filmen. Für sie entsprang all das einer Fantasiewelt; einem Märchen, das einzig und allein zur Ablenkung diente, wodurch die Realität für Minuten einfach verblasste. Und daran nährte sich der eine, niederträchtige Gedanke. Ellies Immunität hätte einen Beitrag leisten können. Sterben für ein höheres Ziel während Millionen … Riley hatte durch den Virus genügend Kameraden verloren. Sie selbst hatte unzählige Infizierte getötet, auch nach Salt Lake City. Vielleicht hätte manch ein Runner gerettet werden können. Dank Ellie. Riley schluckte erschrocken und griff sich an die Wange – stumme Tränen. Was hätte sie getan, hätte sie die Wahrheit erfahren? Wenn sie Ellie infiziert aufgefunden hätte? Oder was, wenn Ellie dafür gestorben wäre und Marlene ihr irgendwann davon erzählt hätte? Oder irgendein Firefly, der zufällig Bescheid wusste? Noch heute hallten Marlenes Worte nach. »Ellie wurde infiziert.« Nie hatte sie daran gezweifelt, dafür war das Vertrauen in Marlene zu hoch gewesen. Damals war Etwas in Riley zerbrochen und damit umzugehen lernen, hatte eine gefühlte Ewigkeit gebraucht. Und plötzlich war Ellie wieder da und alles änderte sich. Gedanken hin oder her, der Rachedurst ließ dennoch stetig nach. War sie vor dem Wiedersehen noch Feuer und Flamme gewesen … Steif hievte sie sich auf die Beine. Konnte Riley überhaupt sagen, was sie damals getan hätte? Brauchte es überhaupt noch einen weiteren Gedanken? Ellie lebte. Sie war am Leben und schon lange kein richtiger Firefly mehr. Sie waren hier, am selben Ort zur selben Zeit! Das Heilmittel. Marlene. Ihr Mörder. Zum Teufel damit! ‹●› »Siehst beschissen aus«, neckte Sam ausgeruht. Während der Tage hatte er Riley halbwegs gleich behandelt. Hatte Humor gezeigt, normal geredet, als ob nichts seine Laune trübte. Entweder hatte Ellie ihm nicht von der nächtlichen Unterhaltung erzählt, und er fand, sie brauchte lediglich Zeit oder er blieb absichtlich neutral, um die Stimmung nicht gänzlich zu kippen. »Ist Ellie unterwegs? Das Zimmer ist leer.« Riley hatte nur wenig Schlaf gefunden, was ihr mittlerweile zu schaffen machte. Noch hatte sie Schmerzen, aber solange das Thema ungeklärt war, blieb sie rastlos. Unmöglich konnte sie sich in der Verfassung ausruhen. Sam indes reichte schweigend eine Tasse Tee. Dabei hielt sie seinem durchdringenden Blick stand. Also doch, irgendetwas lag im Busch. Vermutlich machte er sich gerade ein Bild, ob er antworten sollte oder ob er ihr vielleicht sogar den Kopf wusch. Denn bisher hatte sich Sam sehr bedeckt und im Hintergrund gehalten. Er wartete ab, gab ihnen beiden den nötigen Raum und würde erst einschreiten, sollte es die Situation erfordern. Er war ein guter Freund. »Hast du dich entschieden?« Seine Stimme war anders, gefährlicher. »Das Miststück rächen, Ellie mitnehmen und an einem Heilmittel arbeiten?« »Sam-« »Ich scheiße auf ein Heilmittel«, unterbrach er barsch. »Alle suchen danach. Hast du je von einem Erfolg gehört? In all den Jahren? Wir leben in einer Weilt, in der uns Egoismus am Leben hält! Mehr denn je. Warum einen geliebten Menschen opfern um das Leben jener zu retten, die nicht besser sind? Die genauso schießen ohne nachzufragen? An seiner Stelle hätte ich dasselbe getan.« Er war wütend. Dass ihn das Thema schaffte, hatte Riley bereits bei ihrem Kennenlernen begriffen. Ellie war ihm wichtig, daran war nichts Verwerfliches. Im Gegenteil, umso mehr verstand sie Ellie. »Was?«, murrte er als Riley einfach lächelte. »Sam, ich habe Ellie geliebt und weil ich sie für tot gehalten habe, habe ich meine Entscheidung bis heute bereut.« Nach all dem Kopfzerbrechen hatte Riley eine Entscheidung getroffen. Sich Jahre später über den Weg laufen … war das nicht ein Zeichen? » Bitte, wir haben schon genug Zeit verloren. Wo ist sie?« »Bei den Pferden«, sagte er schlussendlich, nachdem er sie eine Weile still gemustert hatte. »Nach dem Frühstück will sie einen Ausritt machen. Jagen gehen.« Nicht gelogen. Im Stall sattelte Ellie gerade ihr Pferd. Anstatt sie anzusprechen, nahm sich Riley die Zeit und beobachtete sie dabei. In den Jahren hatte sie sich merklich verändert; viel war nicht mehr übrig, das an das Mädchen von damals erinnerte. Die Zeit stand eben nicht still. Sie war, wie Riley eben selbst, erwachsen geworden. »Hast du gewusst, was dich erwartet?« Ellie warf einen Blick zurück. Er war fragend, nicht überrascht, also hatte sie ihre Anwesenheit registriert. »Das Sterben?« Ellie nickte, wandte sich ab. »Die Fireflies haben mich nie interessiert. Schon gar nicht der Abschluss und das Sterben an der Front. Du bist fort … der Biss. Immunität macht aus mir keine Unsterbliche. Warum also auf das Unvermeidliche warten? Der Tod lauert sowieso«, erklärte Ellie fast gleichgültig, aber Riley glaubte nicht, dass sie so empfand. Ellie hatte schon immer lieber die Starke gemimt, eher im Stillen gelitten. »Ich habe willentlich meinen Traum über alles gestellt, aber eines musst du mir glauben «, begann sie nach einem längeren Schweigen, das sich dieses Mal gar nicht unangenehm anfühlte, »Ich habe mich nie ohne dich gesehen. Leider habe ich nicht alle Risiken berücksichtigt, naiv an das Aufgehen meines Vorhabens geglaubt. Zu dir zurückkehren, die Zeit bis zu deinem Abschluss irgendwie überbrücken-« »Dein Ernst?!«, knurrte Ellie und drehte sich ihr gänzlich zu. »Ich sollte dort versauern und was? Du besuchst mich hie und da?« Sie war sauer. »War das Leben dort denn so schlecht für dich?«, antwortete Riley neutral. »Solange die Front nicht ruft, sind die Bedingungen wesentlich angenehmer als das Leben dort draußen. Zudem hätte Marlene nie anderes zugelassen.« »Du bist auch gegangen-« »Weil ich nicht länger auf der, für mich, falschen Seite stehen wollte! Du hast dich nie entschieden, du hast nie von dir aus gesagt, dass du weg willst! Ich habe diese beschissenen Drills einfach nicht länger ausgehalten und die Chance ergriffen!« Auch Rileys Tonfall war schärfer geworden. In dieser Hinsicht gab es eben einen markanten Unterschied. Ellie hatte nie konkret geäußert einfach abzubrechen und sich irgendwie durchzukämpfen. »Ich war der Meinung, du wolltest dort bleiben, bis eben der Tag kommt, an dem du den Abschluss machst und an die Front wechseln musst.« Dementsprechend war Riley von dieser Variante ausgegangen und dann wäre sie eben durch die bedrohliche Stadt gewandert. Immer und immer wieder. Für Ellie hätte sie das Risiko auf sich genommen, das wusste sie sehr wohl. »Ich wollte nicht, dass ich so lange fort bleibe. Laut Marlene sollte der Auftrag einen Monat dauern, höchstens«, war sie wesentlich ruhiger geworden. Ellie schnaufte hörbar als sie das Holzgatter schloss, auf dem sie sich anschließend hoch hievte und setzte. »Eine Nachricht … eine einfache Nachricht hätte mir gereicht, aber was soll’s. Wir drehen uns im Kreis.« »Dann tun wir das eben, wenigstens reden wir miteinander.« Langsam war Riley näher gekommen, lehnte seitlich gegen das Holz. Ellie schien wenig begeistert. Starr behielt sie den Blick auf den Boden gerichtet, aber die Haltung sprach Bände und Riley seufzte leise. »Es tut mir Leid, Ellie. Einfach alles, was ab meiner Entscheidung schief gelaufen ist. Ich hab’s mir einfach zu schön ausgemalt gehabt.« War das in dem damaligen Alter nicht normal? Vom Besten auszugehen, ohne alle erdenklichen Konsequenzen einzurechnen? Andererseits, war das überhaupt möglich? Nein, nicht einmal für sich. Das stand für Riley fest. Selbst ihren eigenen Weg hatte sie ab einem gewissen Punkt nicht länger selbst entschieden. Ab einem Punkt hieß es lediglich lernen, alles so zu nehmen, wie es auf einem zukam. Nicht mehr, nicht weniger und das tat Riley. »Ich schulde dir noch eine Antwort.« Dabei erhaschte sie ein Zucken, ein schweres Schlucken, etwas in Ellies Augen veränderte sich. Fürchtete sie sich? Riley konnte nicht anders, biss sich auf die Unterlippe, um sich davon abzuhalten, den Abstand nicht gänzlich zu überbrücken. Sechs Jahren, daran musste sie ständig denken. »Und wie lautet sie?«, fragte Ellie schließlich kleinlaut. »Die Wahrheit ist, ich habe keine. Keine eindeutige, denn ich kann nicht sagen, was ich damals getan hätte. Was ich weiß ist, dass ich gehadert hätte. Mit meinen Gefühlen für dich, mit den verbundenen Aufgaben als Firefly. Vielleicht hätten meine Gefühle gewonnen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich dich wirklich zum Sterben überredet hätte, aber kann ich das behaupten? Kann ich sagen, dass es so gekommen wäre?« Scharf zog Ellie Luft ein. Vermutlich hätte sie das hören wollen, was dieser Mann getan hatte. Ihr Leben über alles stellen. Aber wie sollte Riley das aufrichtig sagen, wenn sie damals nicht in dieser Situation war? »Ellie«, murmelte sie und vorsichtig legte sie die Hand an ihre Wange, zwang Ellie sie anzusehen, »ich kann lügen, wenn du das möchtest, aber siehst du darin einen Sinn? Ich kann nur für das Heute sprechen. Wir erhalten gerade eine zweite Chance. Wie realistisch ist es, sich bei diesen Gegebenheiten wiederzusehen, wenn nicht ein Grund dahinter liegt?« Riley spürte zwar die große Anspannung der anderen, glaubte jedoch dasselbe in den Augen zu sehen, das sie fühlte: die Hoffnung auf einen Neuanfang, auf eine Zukunft. »Riley-« »Ich hab um dich getrauert. Das hat mich all die Jahre verfolgt«, unterbrach diese. »Statt dir zu sagen, dass ich dich liebe und immer zurückkommen werde, bin ich spurlos verschwunden und dabei habe ich dich im Stich gelassen – wir haben uns verändert, sind nicht mehr die Kinder von damals, zeitgleich empfinde ich noch immer dasselbe, wenn ich dich sehe.« Streichend ließ Riley ab. »Wenn mir in diesen Tagen etwas klar geworden ist, dann dass ich dich nicht ein weiteres Mal verlieren will.« Hörbar trommelte das Herz in ihrer Brust, denn nach allem, war es ihr unsagbar schwer gefallen ihre Empfindungen offen zu legen; war sie doch generell viel zu spät dran. Also stand sie nervös da und wartete. Wartete auf irgendeine Reaktion, die wirklich auf sich warten ließ, denn Ellie starrte einfach. Ohne anzudeuten, in welche Richtung es ging. Als Ellie vom Gatter rutschte, trat Riley ungeduldig auf der Stelle. Sie ließ sie zappeln, was Riley wohl oder übel verdiente, aber ihre Nerven ungewöhnlich strapazierte. »Joel erwartet uns in drei Tagen«, war alles das Ellie sagte, während sie an ihr vorbei marschierte, nur um wieder ruckartig und fluchend stehen zu bleiben. »Scheiße, Sams Nase funktioniert ja doch.« Riley hob fragend eine Augenbraue und da erkannte sie, worauf Ellie anspielte. Es schneite. Was in dem Augenblick jedoch wichtiger war, war der genannte Name: Joel. Riley verstand und spürte eine sich rasch ausbreitende Wärme. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)