TMNT - Es liegt in deiner Hand von Pamuya_ ================================================================================ Kapitel 16: Jeder auf seine Weise --------------------------------- Erzählersicht: Verschwiegenheit und Vertrauen sind nicht gerade Bestandteile des Lebens, die immer harmonieren. Wer glaubt, das Eine bedingt das Andere, der irrt sich. Denn die Welt besteht mehr aus Misstrauen, Angst, Ignoranz, Neid und Habgier, wenn diese nicht auch noch von Größenwahn und Dummheit heimgesucht wird. Wer also jemand anderes vertrauen will, der muss es sich gut überlegen. Denn Leichtsinn wird hart bestraft und das hat Paul Shepherd bereits am eigenen Leib erfahren müssen. Nicht gerne erinnert er sich daran. Es ist eine schwere Last aus der Vergangenheit, weswegen er seine kleine Schwester im Geheimen sogar ein wenig darum beneidet, dass sie sich nicht mehr erinnern kann. Wäre da nicht diese brodelnde Wut in seinem Bauch. Stets erinnert sie ihm daran, wie töricht jeglicher Gedanke ist, seinen Kopf in den Sand stecken zu wollen, nur um der Wahrheit aus den Weg zu gehen. Es macht einem nur schwach und dumm! Diese Worte pflegt Paul stets zu predigen und er ertappt sich wieder einmal selbst, wie er um dieses Thema philosophiert, ohne dabei Klarheit zu bekommen. Dass er nun hier, in New York, in einem Hotelzimmer ist, macht es ihm nicht gerade leichter. Nicht umsonst hat er diesen Ort vor Jahren verlassen und wäre da nicht die Familie, hätte er dieser Stadt komplett den Rücken zugekehrt. Im Grunde weiß er, dass es ein Widerspruch an sich ist und doch hat ihn nichts hier gehalten. Bis zu dem Tag, an dem er diese Schreckensnachricht erhalten hatte. Er weiß noch genau, was er geschockt, wie auch flüsternd von sich gegeben hatte. „Nicht schon wieder!“ – genau das waren seine Worte, nachdem ihm sein kleiner Bruder angerufen hatte. Er hatte dabei sein Handy sogar für einen Moment von seinem Gesicht genommen, damit Dorian ihn nicht hören konnte. Hätte dieser ihn in diesem Augenblick sogar sehen können, so hätte er sofort erkannt, was in Paul vor sich ging. Jegliche Farbe war von seiner Haut gewichen, kalte Schweißperlen hatten sich an seiner Stirn gebildet, während seine Augen weit aufgerissen waren und sein Herz ihm bis zu Hals polterte. Diese grausame Erinnerung war ihm wie ein Blitzschlag durchs Hirn gesaust. Doch er musste sich sammeln, kalt und unnahbar wirken, nur damit er sich niemandem die Blöße geben musste. Ein Zustand, in dem ihm bisher nur wenige Personen gesehen hatten und davon ist eine sogar bereits tot. Auch jetzt spürt er wieder diesen kalten Schauder an seinem Rücken herunterlaufen, den er bewusst versucht zu ignorieren. Sein gesamter Körper ist angespannt und da hilft es nichts, dass er sich in den weichen Ohrensessel zurückgezogen hat, welches dieses teure und eher altmodisch eingerichtete Hotelzimmer anbietet. Er kann sich nicht entspannen. Solange er nicht weiß, was hier vor sich geht, wird er den Teufel tun. Das hat er sich geschworen, noch bevor er wieder ein Fuß in diese Stadt gesetzt hat und nicht ehe wird er Ruhe geben, bis er die Antworten erhalten hat. Murrend lässt Paul seinen Kopf in den Nacken fallen. Es war ein langer Tag und noch weitere werden noch auf ihm warten, wenn nicht auch noch schlaflose Nächte ihren Teil dazu beitragen. „Wo bist du nur hineingeraten?“, murmelte er, als wäre die Angesprochene, der diese Frage gegolten hat, in diesem Raum, doch jene ist zuhause und liegt vermutlich bereits im Bett. Zumindest kann Paul sich etwas anderes gerade nicht vorstellen. Ein schneller Blick auf die dekorative Wanduhr verrät ihm, dass es bereits nach Mitternacht ist. Ans Schlafen denkt er aber nicht. Schließlich gibt es genug für ihn zu tun und als Privatdetektiv stehen ihm so manche Türen offen, die einem normalen Beamten der Justiz eher verborgen bleiben. Besonders, wenn es sich dabei um Hilfe außerhalb seines normalen Arbeitsumfeldes handelt, kann er sich momentan keine Pause gönnen. Denn für die wird die Nacht zum Tag. Erst vor kurzem hat er durch ein kurzes Treffen mit einem Kontaktmann eine Akte erhalten, die er nun durchforsten will. Noch liegt sie verschlossen auf dem kleinen Tisch und wartet nur darauf, geöffnet und gelesen zu werden. Doch noch zögert der Privatdetektiv. Schließlich geht es um seine Schwester und vor seinen geistigen Augen hat er immer noch jene verletzte Jugendliche vor sich, die im Koma liegt und mit dem Leben kämpft. Beinahe hätte er sie verloren. Beinahe hätte er ein weiteres Familienmitglied verloren, ohne zu wissen, weshalb es dazu kommen konnte. „Diesmal darf ich es nicht auf sich beruhen lassen.“, knirscht er zwischen den Zähnen, als wolle er sich dadurch selbst zwingen, endlich mit der Arbeit beginnen. Einiges hat er bereits selbst zusammengetragen und dies besteht unter anderem aus der Krankenakte seiner Schwester. An diese schweigepflichtigen Unterlagen ranzukommen und das ohne Einwilligung der Patientin musste allein schon gut organisiert werden. Doch nun hat er sie und blättert durch die Seiten, als würde er widerwillig eine langweilige Geschichte lesen müssen und das war sie auch – langweilig und nichtssagend. Es gibt keinerlei Hinweise, dass Bernadette in letzter Zeit vielleicht in eine Art Sucht oder etwas anderem geraten sein könnte. Bisher wirkt alles normal: Keine größeren Beschwerden im kurzen Zeitraum, keine häufigen „Unfälle“ und die dazu notwendigen Verletzungen, keine auffälligen Krankheiten und deren Symptome – einfach nichts. Paul zieht die Augenbrauen zusammen und verengt seine Augen, als könnte er so seine nichtvorhandene Superkraft einsetzen. Ein „Röntgenblick“, der zwischen den Zeilen die eigentlichen Informationen preisgibt. Allerdings existiert sowas nicht und er selbst sieht immer so drein, wenn er sich konzentriert und dabei nach Antworten sucht. Als er schließlich an jener Stelle gelangt, die über ihre letzten Verletzungen berichtet, wird er stutzig. Denn er liest nur etwas über Prellungen, die Platzwunde und über die klaffende Wunde an ihrem Bauch, in der ein überdimensionaler Spieß steckte. Allerdings fehlt ein wesentliches Detail, was mit dem Unfallort zusammenhängt. Schließlich ist bisher die Rede davon gewesen, dass am Pier eine Explosion stattgefunden hatte. Also warum hat seine Schwester keinerlei Verbrennungen? Gerade bei einer Explosion in diesem Ausmaß hätte sie welche davontragen müssen und handle es sich auch nur um die einfachste Form, aber davon steht nichts in der Krankenakte. Aufgeregt, als hätte er den langersehnten ersten Hinweis dafür bekommen, dass hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht, holt Paul den Polizeibericht hervor und durchforstet deren Untersuchungen. Da steht es. Es handelt sich um eine Explosion, hervorgerufen durch die Entzündung leichtbrennbare Gase, die in Form von Spraydosen unter enormen Druck in den Lagerhallen des Piers gefunden worden waren. Vieles war bereits zerstört, als die Polizisten dort ankamen und die Untersuchung eingeleitet hatten, aber die Reste der Kisten, sowie auch eine beigelegte Liste des Hafenmeisters deuten auf die ungefähre Menge hin, die dort gelagert waren. Paul vermutet, dass es wahrscheinlich noch mehr waren, als was die Liste einem beweisen will. Schließlich ist er selbst schon mal dort gewesen und hat sich ein Bild davon machen können und dieser Ort sah so wüst aus, als hätte ein Flieger direkt eine Bombe fallen lassen. Vom Gebäude selbst ist kaum noch etwas übrig, wie hätte seine Schwester das noch überleben können. „Fragt sich nur ob beabsichtig oder nicht ... und ob es zu einer Kettenreaktion gekommen war … Doch wie ist Bernadette dem entgangen? Wo war sie und wie hat sie sich vor Verbrennungen schützen können? Wie konnte sie das überhaupt überleben, geschweige körperlich noch so intakt sein, wenn man vom Rest absieht? Das ergibt doch keinen Sinn …“, murmelt er, während er sich an seinem über Stoppel übersätes Kinn kratzt. Ihre Verletzungen sprechen für eine gewaltige Druckwelle, aber genauso gut hätten sie eigentlich auch die Flammen erwischen müssen. Da dies aber nicht der Fall ist, muss sie irgendetwas geschützt haben, wenn auch nur für kurze Zeit. Ein weiteres Detail im Bericht sticht Paul direkt ins Auge. Denn nicht weit vom Haus seiner Tante wurde in einer Seitengasse Bernadettes Smartphone gefunden. Die Nummer der Polizei war bereits gewählt. Allerdings lag das Handy mitten auf dem Boden, als hätte man es dort liegen lassen. Paul vermutet auf einen Überfall. Doch wer sollte dies tun, seine Schwester zum Pier schleppen und dieses dann auch noch in die Luft jagen? Verständnislos und leicht verwirrt schüttelt der Privatdetektiv den Kopf, während er noch einmal diese Stelle liest, bis er schließlich zu den Aussagen übergeht. Er hofft, dort auf etwas zu stoßen, was seine Fragen zumindest spärlich beantworten kann. Doch diese werfen nur noch mehr Fragen auf. Laut der Aussagen befand sich außer der Jugendlichen nur die Mutter im Haus und die hat zum Zeitpunkt von Bernadettes Verschwinden fest in ihrem Bett geschlafen. Paul erinnert sich, als er seine Mom das erste Mal gefragt hat, was passiert war. Doch diese konnte zu jenem Zeitpunkt kaum reden, weil sie zu sehr unter Schock stand und kaum selbst wusste, wie es dazu gekommen war. Sowohl sie, wie auch alle anderen in der Familie konnten sich keinen Reim daraus machen, was Bernadette dazu bewegt hatte, ihr Schlafzimmer zu verlassen und mit gezückten Handy die gegenüberliegende Gasse aufzusuchen. Des Weiteren steht nur, dass das Fenster offenstand und dass seine Schwester irgendetwas gesehen haben musste, was sie zu ihrem nächtlichen Aufbruch getrieben hatte. Anders kann sich Paul das nicht erklären und trotzdem ist er nicht schlauer als vorhin. Als guter Detektiv weiß er zwar, dass es auf dem ersten Blick sehr selten nach dem aussieht, als was es den Anschein hat. Manchmal werden sogar die Tatsachen so umgedreht, sodass sie zunächst eine ganz andere Story erzählen. Doch wie ist es diesem Fall? Hier ergibt kaum etwas einen Sinn. Als hätte man Puzzlestück von mindestens vier verschiedenen Puzzle vor sich, die einfach in einer Kiste geworfen worden sind. Die Fragen häufen sich und er kann seine Schwester nicht einmal dazu ausfragen, weil sie ihr Gedächtnis verloren hat und sich vermutlich auch nicht so bald an jenen Tag erinnern wird. Dennoch muss er die Zeit vor ihrem plötzlichen Verschwinden irgendwie rekonstruieren und als erstes wird ihm dafür seine Tante Rede und Antwort stehen müssen. Schließlich ist sie diejenige, die von der gesamten Familie noch am ehesten sagen kann, was im Kopf seiner Schwester so vor sich geht. Die Frau mag zwar für seinen Geschmack eine eher engstirnige Sichtweise zu manchen Themen haben, aber dennoch ist das Ganze in der Nähe ihres Hauses passiert und an diesem Punkt will er ansetzten. Allerdings ist dies nicht das Einzige, was er vorhat. Paul lehnt sich nun in den Ohrensessel zurück und verschließt die Augen. Er stellt sich gerade bildhaft vor, welche Schritte er als Nächstes machen wird und dabei gibt es noch so viel zu tun. Die Akte, die ihm der Kontaktmann gegeben hatte, will er ebenfalls nicht unter dem Tisch fallen lassen. Denn darin erhofft sich Paul vielleicht Hinweise zu finden, mit denen er weiterkommen könnte. Schließlich weiß er, dass eine Sache darinsteht, von dem er in seiner Familie nur die Spitze des Eisberges in Erfahrung gebracht hat. Aus Bernadettes Sicht: Trotz, dass ich mein Leben vergessen habe, brauchte ich ihn in dieser Nacht nur anzusehen und ich wusste, dass er mir nicht alles sagte. Ich konnte mir keinen Reim daraus machen. Genauso wenig, was meine Gefühle zu ihm anging. Ohne ihn wirklich zu kennen, spürte ich bereits nach kurzer Zeit, dass ich ihm vertrauen kann und dass ich ihn sogar als meinen Freund nennen kann. Allein schon seine Art mir gegenüber hat bisher für sich gesprochen und dann war da auch noch dieses Buch, welches diese Erinnerungsfetzen ausgelöst hatte. Dass dies kein Zufall sein konnte, schloss ich schnell aus. Doch das reichte mir gestern nicht und ich wollte es nun direkt von ihm wissen, weswegen ich ihn, während ich mich etwas aufsetzte und ihn darauf ansprach, wie wir uns zum ersten Mal kennengelernt hatten. Ich hegte große Hoffnung darauf, dass sich weitere Lücken in meinen Verstand schließen würden. Allerdings schien es für ihn nicht der richtige Moment zu sein. So was Bescheuertes, wozu braucht man für sowas den richtigen Moment?! Doch Raphael behauptete, ich wäre zu k.o. und alles, woran ich mich bisher erinnern konnte, hätte mir bereits genug die Energie entzogen. So ganz falsch lag er dabei nicht, aber es war immer noch meine Sache, wie viel ich zu diesem Zeitpunkt ertragen konnte und wie viel nicht. Es machte mich wütend, weil nun auch er mich plötzlich wie ein rohes Ei behandelte, obgleich ich vorhin ein anderes Gefühl bei ihm gehabt hatte. So bestand ich weiterhin darauf. Ich schrie Raphael nicht an, zeigte ihm aber doch, dass es mir nicht passte und ich es lächerlich fand, wie er es sah. Natürlich wurde auch er darauf hitzig. Es kam zwischen uns dabei sogar soweit, dass am Ende nur noch ein falsches Wort gefehlt hätte und es hätte endgültig zwischen uns gekracht. Doch dann, wie aus dem Nichts, starrte er mich erstaunt an. Ich wusste nicht, was ihn dazu bewegt hatte, aber er war für eine kurze Zeit still, bis er im nächsten Augenblick einen Lachanfall bekam. Erst prustete los, wodurch er sich sofort die rechte Hand auf den Mund presste, damit nicht das ganze Haus was davon mitbekam. Dann biss er sich sogar selbst kurz in die Hand, weil er sich scheinbar nicht mehr selbst unter Kontrolle halten konnte. Verdattert und nicht wissend, was das zu bedeuten hatte, sah ich zu, wie sein ganzer Körper vor Lachen bebte, während er krampfhaft bemüht war, sich irgendwie zusammenzureißen. Was war nur in ihn gefahren?! Schon einige Lachtränen liefen ihm an der Wange herunter, die er ständig wegwischte und bemüht war, sich endlich wieder einzukriegen, aber erst nach weiteren gefühlten Minuten schaffte er es. Während ich ihn noch verwirrt und zugleich erbost anfunkelte, machte er endlich den Mund auf, um mich aufzuklären. Er meinte, dass er unsere Diskussionen und waren diese noch so hitzig, sodass sie zu einem Streit führten, vermisst hatte und dass er froh wäre, dass ich mein inneres Feuer nicht verloren hatte. Ich habe bis jetzt noch keine Ahnung, was er damit sagen wollte, aber wie zuvor ging er nicht näher darauf ein. Er grinste mich einfach an, sodass ich nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte. Raphael wiederholte nur noch, dass er mich einfach vermisst hatte, was mich, warum auch immer, etwas milder stimmte. Er nahm mich sogar zärtlich in den Arm und obwohl ich ihm am liebsten eine gescheuert hätte, ließ ich mich an seine Brust einfach fallen. Ich brauchte das einfach, denn ich spürte, wie diese Frustration wieder an mir emporkroch. Doch Raphael wollte mir nichts mehr erzählen, das wusste ich, weswegen ich schwieg und ich dieses widerliche Gefühl wie eine bittere Medizin einfach hinunterschluckte. Es war schon spät und so machte sich nach dieser Anspannung nun wieder die Müdigkeit wieder bemerkbar. Meine Augen waren schwer und so kroch ich unter die Decke zurück, während Raphael noch an der Bettkannte saß. Ich erwartete nicht mehr viel und glaubte, er würde demnächst aufstehen und wieder in die Dunkelheit verschwinden. Allerdings hob er zärtlich meine linke Hand und legte mir eine schwarze Uhr an, die er aus seiner Gürteltasche herausgeholt hatte. Fragend, stumm und mit halboffenen Augen betrachtete ich sein Tun, bis er mich aufklärte. Doch was er mir dabei erzählte, ließ mich noch weniger verstehen als zuvor. Ich kam mir so blöd vor, aber Raphael strich mir einfach sanft über die Wange und meinte: „Du kriegst das schon hin und wie gesagt, du kannst dich auch tagsüber bei mir melden. Es hat sich einiges getan, seitdem du so lange geschlafen hast.“ Damit hatte er alles gesagt. Er lächelte mich nur noch an und hatte dabei etwas an sich, was in mir, trotz seines vorherigen Verhaltens, ein angenehmes Gefühl hinterließ. Vermutlich wollte er mir zeigen, dass er für mich da ist, auch wenn ich mit seiner Vorgehensweise nicht wirklich einverstanden war und das jetzt auch noch nicht bin. Schließlich stand Raphael wortlos auf und marschierte zum Fenster, wo er nach einem „Wir sehen uns.“ einfach nach draußen verschwand. Noch eine Weile starrte ich ihm hinterher. Es war dumm, denn er war schon weg und trotzdem blieb mein Blick darauf, bis mein Augen schließlich so schwer wurden, sodass ich irgendwann mal einnickte. Jetzt, wo schon der Vormittag und beinahe schon die Mittagszeit vorüber sind, stehe ich am offenen Fenster und starre nachdenklich hinaus. Immer wieder schwappen meine Gedanken zu letzter Nacht hinüber und ich kann es auch nicht lassen, meinen Blick zwischendurch auf mein linkes Handgelenk schweifen zu lassen, an dem sich immer noch diese schwarze Uhr befindet. Auf dem ersten Blick ist sie nichts Besonderes und auch die digitale Anzeige, um die Zeit messen zu können, ist nichts Außergewöhnliches. Allerdings lässt sich damit auch telefonieren. Als ich es heute Morgen genauer unter die Lupe genommen habe, habe ich nach einigem Drücken und Schieben eine Telefonliste gefunden. Mehrere Namen, wie auch die von Raphael, habe ich dabei entdeckt und jedes von ihnen ist mit einem kleinen Profilbild gekennzeichnet. Vier schildkrötenartige Wesen und eine Frau grinsen mich an und sie alle scheinen so vertraut zu sein, sodass es beinahe schon schmerzt. Wieso wollte er mich nichts sagen? Sah ich wirklich schon so k.o. aus und was sollte das mit diesem Lachanfall?! Das ergibt doch keinen Sinn! Seufzend lasse ich meinen Kopf für einen Moment in den Nacken fallen, ehe ich mich schließlich von meiner Position abwende und das Zimmer verlasse. Dorian hat schließlich noch etwas mit mir vor, weswegen ich schnurstracks die Treppen heruntereile und mich draußen zu ihm geselle. Ich werde mit einem warmen Lächeln empfangen und er deutet mir ins Auto zu steigen, was ich auch sogleich tue. Die Fahrt selbst verläuft ziemlich ruhig, obgleich mein Bruder stets vor sich hin grinst und sich sogar in die Musik vertieft, während er weiterhin die Straße im Auge behält. Allerdings ist es bei ihm nicht zu übersehen, wie sehr ihm Jazz gefällt. Indem er mit seinem Kopf im Takt mitschwingt und sogar mit ein paar seinen Finger mitklopft, scheint er seine Welt um sich herum vergessen zu haben, aber es scheint nur so. Denn nun spricht er mich direkt an, was mich zunächst zusammenzucken lässt: „Es ist schön, wieder mit dir was unternehmen, Sis. Wenn ich daran denken, dass wir das vor lauter Arbeit schon lange nicht mehr gemacht haben, kommt mir das ein bisschen armselig vor, meinst du nicht?“ Er grinst mich an. Es ist neckisch, aber auch warm, wodurch er es mir vorkommt, als würde er seine Worte ernstmeinen. Allerdings fällt es mir schwer, mich daran zu erinnern, dass wir überhaupt so viel gemeinsam gemacht hätten. Schließlich müsste es einem Kerl eher peinlich sein, wenn er die kleine Schwester irgendwo mitnehmen muss, aber bei ihm scheint dies nicht der Fall zu sein. „Bin ich dir keine Last?“, frage ich ihn ohne groß nachzudenken, was aber Dorian stutzig macht und er mir schließlich ernst entgegnet: „Glaubst du das wirklich? Wenn du was wegen Paul andeuten willst … er ist nun mal viel älter als du und … naja, er hat nun mal seine eigene Weltanschauung. Du darfst ihm das nicht übelnehmen.“ Ich neige meinen Blick zur Seite. Irgendwie ist es beschämend. Egal, was ich sage und tue, ich komme mir irgendwie blöd vor. Zunächst habe ich nicht direkt an Paul gedacht, aber nachdem Dorian ihn erwähnt hat, macht es ohnehin keinen Unterschied, an wen ich wirklich dachte. Denn diese Hilflosigkeit betrifft sowieso alles, was mir ins Hirn schießt. Auf einmal merke ich, dass Dorian den Wagen seitlich einparkt. Er macht das so schnell, sodass ich erst durch diesem kurzen Hin und Her „wachgerüttelt“ worden bin und ihn schließlich fragend anschaue. Er hat kaum die Handbremse angezogen, schon widmet er sich mir: „Ich weiß zwar nicht, was mit dir passiert ist Bernadette, aber eines kann ich dir garantieren: Du bist für niemanden eine Last, weder für mich, noch für Paul, Mom oder Tante Tina. Wir mögen uns zwar einige Zeit lang auseinandergelebt haben, aber das heißt noch lange nicht, dass wir nicht als Familie zusammenhalten. Auch wenn es damals, als du noch in deiner alten Schule warst, noch anders ausgehen hat.“ „Alte Schule? Das hast du doch schon einmal erwähnt, dass ich nun in einer anderen Schule gehe. Bitte erklär mir das!“, bitte ich ihn, wobei er zunächst nur die Stirn runzelt. Kurz kommt er mir sogar wie Raphael vor und ich befürchte schon, dass auch Dorian nicht den Schnabel aufkriegen wird, aber dann erzählt er es mir doch. Seine Stimme wirkt dabei so trocken, je mehr er mir berichtet, was er weiß, aber selbst ein gewisses Maß an Scham steckt ebenfalls drin. Immer wieder betont er dazwischen, wie leid es ihm tue, dass er sich nicht die Zeit genommen hatte, mir zu helfen. Schließlich hätte ich oft genug versucht, ihn zu erreichen, während er bezüglich seiner Arbeit und auch seiner Beziehung kaum andere Gedanken zugelassen hatte. „Ich weiß leider nur die Spitze des Eisberges, Sis … leider. Es tut mir leid.“, wiederholt er sich, aber ich habe ihn dabei nur wage zugehört. Denn die Tatsache, dass ich ein Mobbingopfer war und vielleicht sogar noch bin, hat mir einen ordentlichen Schlag verpasst, selbst wenn dies nur ein inneres Gefühl ist. Dass es mir aber bereits vor diesem „Vorfall“ so beschissen ging, hat mich nun tiefer in den Sitz sinken lassen. Ein abscheulicher Gedanke blitzt mir immer wieder durchs Hirn und ich fühle mich dabei schlecht. Schließlich war Pauls Vorwurf laut und deutlich und ich frage mich, ob er damit vielleicht sogar rechthaben könnte. Habe ich mir an jenen Abend was eingeworfen, weil ich gemobbt wurde? Riss ich sogar von Zuhause aus, um bei den Docks, wo man meine Blutspuren gefunden hatte, versucht es zu beenden? Ein schrecklicher Gedanke und leider ergibt das mehr Sinn, als alles andere, worüber ich nachgegrübelt habe! Eigentlich dürfte ich nichts davon wissen, aber hätte ich heute Morgen nicht zufällig diese Diskussion zwischen Mom und Tante Tina mitbekommen, während ich noch auf der Treppe stand, dann hätte ich diese Wortfetzen niemals mitbekommen. Allerdings konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts damit anfangen. Es fehlten so viele Details, sodass es für mich keinen Sinn ergab und ich dies daher verdrängt hatte. Ich tat sogar so, als hätte ich nichts davon mitgekriegt. Doch nun sind neue Puzzleteile aufgetaucht, die nun dieses schreckliche Bild abgeben. War ich wirklich so verzweifelt, sodass ich keinen anderen Ausweg mehr wusste? Kann ich mich vielleicht wegen den möglichen Nachwirkungen an nichts mehr erinnern? Mein ganzer Körper bebt. Ich habe Angst und komme nach und nach mehr zum Schluss, dass meine andere Befürchtung, irgendjemand würde mir auflauern, nur noch stärker wird. Es muss etwas mit dem Mobbing zu tun haben, anders kann ich es mir einfach nicht vorstellen. Doch was soll ich tun? Was kann ich überhaupt tun und mit wem kann ich überhaupt darüber reden? Alles in mir staut sich langsam immer mehr auf, wodurch ich früher oder später explodieren könnte. Jedoch fühle ich mich so verloren und genau jetzt werde ich von meinem Bruder in den Arm genommen. Immer wieder entschuldigt er sich bei mir und beteuert, dass er mir helfen wird, egal was er auch dafür tun müsste. „Ich lass dich nicht allein, keiner von uns, versprochen.“, wispert er mir ins Ohr und drückt mich dabei noch fester an sich, als wolle er so sein Wort besiegeln. Ich sage dazu nichts, sondern lasse mich einfach umarmen, ehe er sich wieder von mir wegdrückt und mich auffordert, dass wir nun etwas Schönes und Positives in den Tag bringen. Ohne zu zögern steigt er aus und deutet mir, es ihm gleich zu tun. Wir schlendern einfach entlang der vielen Straßen, vorbei an verschiedenen Häusern und Läden. Die Menschen um uns herum, die meisten hektisch, andere einfach nur desinteressiert, ziehen ihren eigenen Tagesablauf durch, während Dorian mit mir seine Späße treibt, Grimassen schneidet, oder einfach nur dämliche Sprüche klopft. Erstaunlich ist, wie sehr mich das ansteckt und ich sogar lachen muss. Er hat wirklich nicht übertrieben, als er mal behauptet hat, dass wir, bevor er aus dem Haus unserer Tante auszog, uns immer wieder amüsiert haben. Die Leichtigkeit in der Stimmung beflügelt uns, treibt uns an und zieht uns ans Orten, an denen ich zuvor nicht gedacht hätte. Wir bleiben sogar vor einem Straßenkünstler stehen, der mit seiner Gitarre ein Konzert gibt. Als hätte mein Bruder „Humorpillen“ eingeworfen, nimmt er mich bei der Hand und tanzt mit mir, als wären wir kleine Kinder. Es ist bescheuert, aber trotzdem lustig, weswegen ich die Leute um mich herum ignoriere, von denen manche unsere Darbietung gefällt und sogar mitklatschen. Zur Freude des Gitarristen bekommt er sogar noch mehr Geld in seinem Gitarrenkoffer hineingeworfen, welchen er direkt neben sich platziert hat. Die Stimmung ist super und nach etlichen Umdrehungen wird mir so schwindlig, sodass ich meinen Bruder außer Atem bitte, mir eine Pause zu gönnen. Doch er ist so sehr in Euphorie gefangen, sodass er mich kaum gehört hat und noch weiter seine verrückten Tanzschritte vollzieht. Ich spüre meine Narbe, welche sich wieder einmal mit leichten Stechen und Ziehen meldet, weswegen ich mich immer mehr zur Seite stelle und meine Hände behutsam auf die Stelle lege. Erst, als der Musiker zum Ende kommt und das Publikum laut applaudiert, kommt Dorian zum Stillstand und lässt sich bejubeln. Selbst der Gitarrist lobt ihn für die spontane Darbietung und klopft ihm wohlwollend auf die Schulter, während beide ausgiebig lachen, als wären sie alte Kumpels. Einige Schritte von ihnen entfernt, beobachte ich meinen Bruder grinsend und will sogar auf ihn zugehen, als ich plötzlich an der Seite angerempelt und dabei heftig ein Stück zur Seite gestoßen werde. Erschrocken darüber halte ich inne und lasse meinen Kopf wild hin und her wirbeln. Denn mit einem Mal ist der Spaß vorbei und stattdessen breitet sich die Angst in mir wieder aus. Mein gesamter Körper bebt und ich habe das Gefühl, als würde ich in einem Albtraum feststecken, den ich schon einmal gehabt habe. Wie von selbst fasse ich an die schmerzende Stelle, an der ich getroffen wurde. Als müsste ich mich vor einem weiteren Angriff vorbereiten und dieser könnte von überall kommen! Doch von wo und wer?! Es war Absicht, das weiß ich. Wer auch immer mich da gerade eben angerempelt hat, hat dies nicht aus reinem Versehen getan. Es war weder ein Zufall, noch sonst irgendetwas! Panisch und wie von Sinnen verkrampfe ich immer mehr und kann mich kaum noch von der Stelle rühren. Diese Angst, sie fesselt mich und das obwohl ich denjenigen, der mir diesen heftigen Stoß verpasst hat, nicht einmal gesehen habe und doch schreit alles in mir, dass dies beabsichtig war. Ich will am liebsten fliehen. So weit weglaufen wie nur möglich, doch meine Beine sind wie gefesselt. Als hätte man mich irgendwo angebunden, kann ich mich kein Stück von der Stelle rühren. Noch einige Male lasse ich leicht panisch meinen Blick umherschweifen und schrecke im nächsten Augenblick zusammen, als ich plötzlich an der Schulter berührt werde. Wie ein aufgescheuchtes Reh zucke ich zusammen und drehe mich rasch um. Es ist aber nur Dorian, der mich sowohl verwirrt, wie auch besorgt ansieht. „Schon gut Sis, ich bin´s! Was ist los, du bist auf einmal so kreidebleich?“, fragt er mich und legt zunächst seine Hände auf meine Schultern, um mich so etwas zu beruhigen. Doch ich stotterte nur als Antwort: „Keine Ahnung, ich … ich glaube, ich habe nur erschreckt. Es ist nichts.“ Das nichts ist, ist gelogen, aber ich habe ihm nicht sagen können, wieso ich mich überhaupt erschreckt habe. Denn nachdem ich mich einigermaßen wieder eingekriegt habe, habe ich erst dann gesehen, dass die Leute unbeirrt an uns vorbeigehen und nirgendwo eine Gefahr zu sehen ist. Manche von ihnen werfen mir sogar einen verständnislosen Blick zu, als hätte ich den Verstand verloren und vielleicht habe ich das sogar. Ich habe wegen einem Stoß eine Panikattacke bekommen und dabei weiß ich nicht einmal zu 100 Prozent, ob es nicht doch ein pures Versehen war und ich bin grundlos so ausgetickt bin. Doch diese Angst in mir ist real und keineswegs habe ich grundlos so reagiert. Doch ohne mein vollständiges Gedächtnis, weiß ich nicht, wie ich nun darauf reagieren soll. Soll ich es Dorian sagen, oder wird er mir den Vogel zeigen und mir beteuern, dass mir niemand etwas zu leide tun will? Skeptisch hebt mein Gegenüber eine Augenbraue hoch und behauptet, dass das sonst nicht meine Art sei. Ich zucke aber daraufhin nur mit den Schultern, was ihn wiederum zum Seufzen bringt. Doch dann kehrt wieder dieses leichte Lächeln bei seinen Lippen zurück. Schließlich sind wir hier, um mich auf andere Gedanken zu bringen und das will mein Bruder auf der Stelle in die Tat umsetzen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)