Ahnungslose Augenblicke von Varlet ================================================================================ Kapitel 10: Ein Jahr danach --------------------------- Jodie wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Bereits als sie am Vortag gegen 22 Uhr ins Bett ging, spürte sie, dass die Nacht alles andere als einfach werden würde. Irgendwann schaffte sie es und glitt behutsam ins Land der Träume. Doch schon bald wurde sie von den Erinnerungen der Vergangenheit verfolgt und mit ihnen konfrontiert. Jodie wachte schweißgebadet und auf dem Bett sitzend auf. Sie fuhr sich mit der Hand über ihr Gesicht und seufzte. Ein Albtraum. Das war nichts Ungewöhnliches und dennoch fühlte es sich in jenem Augenblick sehr real an. Das Mädchen brauchte einen Moment ehe sie sich wieder zurück ins Bett legte und sich ihr Herzschlag normalisierte. Jodie starrte an die Decke. Das Zimmer war dunkel und nur etwas Licht kam über das Fenster rein. Jodie zählte langsam hoch. 1…2…3…4…5… Aber es brachte nichts. Sie schüttelte den Kopf und blickte zur Seite. 1:27 Uhr. Wenn sie nicht bald was unternahm, würde es eine lange Nacht werden. „Na komm, Jodie“, sagte sie leise zu sich selbst. „Mach die Augen zu und schlaf. So wie jeden Abend.“ Jodie atmete tief durch und schloss ihre Augen. 1…2…3…4…5…6…7…8…9…10…11…12…13…14…15…16…17…18…19…20… Langsam driftete Jodie wieder weg. Dieses Mal sah sie sich selbst, als würde sie einen Film schauen und mit der Protagonistin mitfiebern. Sie sah sich raus schleichen und auch wenn es klappte, hoffte sie, dass ihr Vater gleich die Tür aufriss und mit ihr schimpfte. Es geschah nichts dergleichen. Jodie ging die Straße weiter und weiter bis sie auf Connor traf. Connor, der Junge der ihr Vertrauen missbrauchte und ihr die schlimmste Nacht ihres Lebens bescherte. „Sag nein und geh wieder nach Hause“, rief sich Jodie selber zu. Aber natürlich lief es anders ab. Sie ging mit Connor mit und ließ sich schließlich in den Keller einsperren. Verzweifelt hämmerte Jodie gegen die Tür und suchte nach einem Ausweg. In ihrem Traum hämmerte sie solange gegen die Tür bis ihre Hand blutig war. Anstatt der Hilfe am nächsten Tag kam keiner um sie zu retten. Sie verbrachte weitere Tage im Keller der Familie Riemer und geriet in Vergessenheit. Niemand sorgte sich um sie und niemand suchte sie. Jodie schrak mit einem spitzen Schrei aus ihrem Traum hoch. Bereits zum zweiten Mal in einer Nacht war sie schweißgebadet, ihr Herz raste und als die Tür aufgerissen wurde, zuckte sie zusammen. „Jodie? Was ist passiert?“, besorgt trat ihre Mutter an sie heran. Jodie schluckte. „Alb…traum…“ Angela setzte sich langsam auf das Bett und strich Jodie über die Wange. „Es ist alles gut. Du bist zu Hause und dir wird nichts passieren.“ „Ich weiß“, murmelte Jodie leise. Noch immer fühlte sich Jodie in einem schlechten Traum gefangen. Sie wurde von ihrer einzigen Freundin benutzt und hintergangen. Wenn Jodie an das, was sie wegen Amber tat, dachte, fühlte sie sich schlecht. Nicht nur, dass sie die Schule schwänzte und weniger lernte, sie ließ sich auch noch dazu überreden im Internet fremde Männer anzuschreiben. Und warum? Nur weil Amber es von ihr verlangte und Jodie nicht Nein sagen wollte. Für wenige Monate hatte sie diese Freundschaft über alles gestellt und als dann heraus kam, dass Amber nur Jodies Familie zerstören wollte, war es wie ein Schlag ins Gesicht. Jodie konnte nicht einmal nachvollziehen, warum Amber sie so verachtete. Nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, wurde sie nicht nur mehrfach von FBI Agenten befragt, auch Ambers Mutter Leila stattete ihr irgendwann einen Besuch ab. Leila entschuldigte sich mehrfach bei ihr und sie führten lange Gespräche über Amber. Trotzdem war Jodie froh, als sie sich nicht mehr mit Amber auseinandersetzen musste. Doch der Prozess gegen Connor rückte immer näher und so konnte sie nicht vergessen. Jodie war froh, dass sie trotz allem immer noch ihre Eltern an ihrer Seite hatte. Sie ließen sie nicht allein und ihr Vater nahm sich – obwohl er eigentlich arbeiten musste – häufiger frei. Glücklicherweise unterstützten ihn die Kollegen beim FBI und auch James Black – sein Partner und Leiter im Fall Amber Weston – hielt ihm den Rücken frei. Gerade in den ersten Monaten nach ihrer kurzen Entführung traute sie sich alleine nicht mehr raus, sodass ihre Eltern sie morgens an der Schule absetzen und nachmittags oder abends wieder abholen mussten. „Geht’s wieder?“ „Mhm?“ Jodies Mutter riss sie aus ihren Gedanken. „Ja…alles wieder gut…“, sagte sie leise. „Versuch noch etwas zu schlafen.“ Jodie schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass ich das kann“, sprach das Mädchen und stand langsam auf. „Ich hab noch Hausaufgaben und am Montag schreiben wir Mathe…“ Angela sah zu ihr. „Du musst nicht stark sein, Jodie, wir verstehen wenn du heute und morgen keinen Kopf für die Schule hast.“ Jodie schluckte. „Schon gut, ich krieg das hin“, fing sie an. „Ich kann ja nicht jedes Jahr an diesen beiden Tagen zu Hause hocken oder nichts tun. Außerdem…ist es schon ein Jahr her und ich kann mich nicht für immer verkriechen. In zwei Jahren fällt der Tag auf einen Montag, wenn ich studiere, kann ich weder Vorlesungen noch eine Klausur schwänzen. Ich muss also versuchen, dass dieser Tag nicht anders ist, als die anderen.“ Angela musste lächeln. Ihre Tochter war erwachsener geworden. „Wir sind sehr stolz auf dich.“ „Mama…“ „Du musst nichts sagen, Jodie. Mach dich fertig, Frühstück steht unten bereit.“ Jodie nickte und sah ihrer Mutter nach. Sie wusste noch nicht wie schwer der heutige Tag werden würde. Aber sie dürfte sich nicht davon unterkriegen lassen. Jetzt musste sie nur noch selbst daran glauben, dass sie es hinbekam. „Komm, Jodie, du kannst das“, spornte sie sich selber an. Wie Jodie den Tag, vor allem den Abend ihrer Entführung, überstanden hat, konnte sie selber nicht sagen. Nachdem es ihre Eltern mit Ablenkung direkt nach dem Frühstück versuchten, ging sie zurück in ihr Zimmer und begann mit ihren Hausaufgaben. Sie brauchte lange um sich auch wirklich konzentrieren zu können. Dauernd driftete sie mit ihren Gedanken an die Zeit mit Amber. Und als es schließlich Abend wurde, fragte sich Jodie wo die Zeit nur blieb. Am Abend saß sie zuerst mit ihren Eltern zusammen, ehe sie sich in ihr Zimmer zurück zog. Die Nacht verlief ähnlich wie am Tag zuvor und Jodie war froh, als sie diese überstanden hatte. Aber auch der nächste Tag barg seine Tücken. Auch wenn die Freundschaft mit Amber schon lange Geschichte war, lief Jodie mit ihrer Mutter über den Friedhof. Sie musste das Grab einfach besuchen. Es ging nicht anders. Und trotzdem hatte Jodie aus einem unerfindlichen Grund ein ungutes Gefühl. Es erinnerte sie an das Jahr zuvor. Eine Gänsehaut legte sich über Jodies Körper und sie schüttelte den Gedanken weg. „Jodie?“ Die Angesprochene sah zu ihrer Mutter. „Ja?“ „Ist alles in Ordnung? Wir können auch nach Hause gehen. Du musst niemanden etwas Beweisen.“ „Ich weiß, Mom“, murmelte das Mädchen. „Ich möchte sie besuchen und außerdem…hast du die Blumen schon gekauft.“ Jodie sah auf den Strauß aus weißen Lilien in ihrer Hand. „Ach Jodie…“ Manchmal konnte das Mädchen wirklich stur sein. „Schon gut.“ Jodie sah sich um. Weder bei der Beerdigung noch in der Zeit danach, war Jodie auf dem Friedhof. Nach all den Offenbarungen fehlte ihr die Kraft. „Hier geht’s lang.“ Jodie folgte ihrer Mutter. Als sie am Grab ankamen, blieb Jodie wie angewurzelt stehen. Sie beobachtete den fremden Mann und als dieser zu ihr sah, wich sie instinktiv nach hinten. Jodie war auf eine Konfrontation nicht vorbereitet. „Entschuldigung, wir wollten Sie nicht stören.“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Das macht doch nichts.“ Er sah zu Jodie. „Bist du eine Freundin von meiner Tochter?“ „Nicht wirklich“, murmelte Jodie. „Sie sind Mr. Weston“, entgegnete Angela wissend. „Nennen Sie mich doch Tom.“ Er sah auf den Grabstein. „Ich kann kaum glauben, dass es schon ein Jahr her ist.“ Angela nickte. „Ihr Verlust tut uns leid.“ „Danke“, sagte er leise. „Ich war nie ein vorbildlicher Vater und wir hatten auch nie ein gutes Verhältnis, aber ohne sie ist es komisch. Mittlerweile versuche ich sie wann immer es geht zu besuchen.“ Angela sah ihn mitleidig an. Aber wie hätte sie ihn trösten können? Ihr Blick ging zu Jodie. „Na komm, Schatz, legen wir die Blumen ab und gehen.“ Langsam legte Jodie die Blumen auf das Grab. Während sie sich aufrichtete, fiel ihr die Inschrift am Stein auf. Amber Weston, geliebte Tochter und Freundin. „Es hat uns wirklich sehr gefreut, Mr…Tom.“ „Ja, mich auch. Danke, dass Sie hier waren.“ Jodie vergrub ihre Hände in ihren Jackentaschen und ging stillschweigend vor. „Jodie?“ Angela folgte ihr besorgt. Sie brauchte eine Weile ehe sie mit ihrer Tochter Schritt halten konnte. „Hey, Schatz, alles in Ordnung?“ Jodie sah zu ihrer Mutter. „Das war…ein wenig viel auf einmal“, gestand sie leise. „Ich hab irgendwie nicht erwartet, dass wir jemanden an Ambers Grab treffen. Ich will jetzt einfach nach Hause.“ „Wir sind bald da“, entgegnete Angela ruhig. „Mr. Weston wirkt nett, nicht wahr? Wir haben ihn auch an dem einen Tag im Gerichtssaal gesehen, erinnerst du dich?“ Jodie nickte. „Kann sein. Amber war nicht so begeistert von ihm, weil er nie dar war.“ „Er arbeitet für eine Zeitung oder?“ „Als Fotograf“, murmelte Jodie. „Für ein gutes Foto reiste er immer durch die halbe Welt. Amber hat erzählt, dass sie das immer schrecklich fand, vor allem weil er dadurch auch oft ihren Geburtstag verpasst hat.“ Jodie seufzte. „Wann ist das alles endlich vorbei?“ Angela strich ihr über den Arm. „Es wird nie richtig vorbei sein, aber es wird besser werden. Du wirst dich immer an das erinnern, was passiert ist. Und das ist auch gut so. Sobald die Zeit reif ist, wirst du es verarbeitet haben und kannst wieder nach vorne sehen.“ „Na hoffentlich“, entgegnete das Mädchen. „Mom?“ Die Angesprochene sah zu ihrer Tochter. „Ja?“ Jodie reagierte nicht und starrte auf den Transporter, der auf die Einfahrt des ihr bekannten Hauses fuhr. Eigentlich wollte sie nicht in die Straße, in der das Haus der Westons lag, blicken, aber nun war es geschehen. „Jodie?“ „Da…zieht…jemand ein…“, murmelte sie leise. „Scheint so“, Angela blickte zur Einfahrt. „Wer hätte gedacht, dass sich das Haus so schnell verkaufen lässt.“ Nach Ambers Tod blieb Leila noch einige Monate in ihrem Haus wohnen. Einige Wochen nach der Verhandlung wurde sie vom Schmerz übermahnt und hielt es in ihren eigenen vier Wänden nicht mehr aus. Sie wurde überall an Amber erinnert und zog letztlich die Reißleine. In einer Nacht und Nebel Aktion packte sie ihre Sachen und verließ die Stadt um neuanzufangen. Von dort aus organisierte sie über eine Umzugsfirma alles weitere. Aufgrund der frischen Ereignisse um Ambers Ermordung war es schwer gewesen einen neuen Käufer zu finden. Wie in Trance bewegte sich Jodie auf das Haus zu. „Jodie?“ Amber folgte ihr besorgt. Als Jodie auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen blieb, blieb auch sie stehen. „Schatz? Ist alles in Ordnung?“ „Ja“, sagte sie leise. „Ich muss wissen…wer…“ Sie wartete bis die neuen Käufer in Sichtweite waren. Als die Haustür aufging, blieb Jodies Herz stehen. Eine Frau – möglicherweise Amerikanerin – kam hinaus und ging auf den Umzugswagen zu. Ihr folgte ein kleines, japanisch-stämmiges Mädchen. „Da seid ihr ja“, sagte die Ältere als ihr Mann und Sohn aus dem Wagen stiegen. Der Mann, das erkannte Jodie auf Anhieb, war wie das Mädchen und sein Sohn japanisch-stämmig. Während die Familie die ersten Kisten aus dem Wagen holte und ins Haus ging, ging Jodie auf den Umzugswagen zu und schließlich zum Fenster des Hauses. Sie spähte hinein. „Kann ich helfen?“ Jodie wirbelte erschrocken herum als sie die fremde Stimme hörte und stieß augenblicklich gegen den Jungen, der einen neuen Karton fallen ließ. Es schepperte und kurz darauf kamen die beiden Erwachsenen nach draußen. Er kam zurück in sein Büro und fegte sämtliche Unterlagen vom Tisch. Es war noch nicht vorbei. Viel zu lange hatte er gewartet. Zuerst Jodies vermeintliche Entführung, dann Ambers Mord und anschließend die Verurteilung von Connor. Hätte er eher zugeschlagen, wäre aber alles auf ihn zurück zu führen gewesen. Und jetzt nach einem Jahr war es fast zu spät. Connors Anwalt arbeitete an einer Neuaufnahme des Verfahrens, seine Familie beantragte für einen Tag Freigang, das Haus der Westons wurde verkauft und die Zeitungen waren beinahe soweit die Geschichte wieder ans Tageslicht zu holen, nur um sie den Lesern in Erinnerung zu rufen. Jetzt zu handeln war gefährlich, aber er konnte nichts dem Zufall überlassen. Das Aufrollen des Verfahrens konnte ihm den Hals brechen. Er musste Vorsorgen, um seiner eigenen Sicherheit willen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)