Magenta III von Maginisha (Im Bann der Aspekte) ================================================================================ Kapitel 10: Eine schicksalhafte Begegnung ----------------------------------------- Als die Welt um Easygoing herum wieder feste Formen annahm, bildeten sich die Umrisse von Nighthaven, der einzigen Stadt in Moonglade. Eingebettet in den Schatten riesiger, uralter Bäume, gelegen am Rand des Elune’ara-Sees war sie einst eine der größten, nachtelfischen Ansiedlungen auf Kalimdor gewesen. Heute jedoch war von der ehemals prächtigen Siedlung nur noch ein Schatten zurückgeblieben. Die Straßen waren verwaist und die wenigen, ausgewählten Besucher, denen man Eintritt in die Stadt gewährte, hatten oft das Gefühl, dass trotz der Gastfreundschaft, die man ihnen entgegen brachte, etwas in den umliegenden Wäldern lauerte und sie beobachtete. Allerdings war die Stadt heute weder so still, noch so friedlich, wie Easygoing sie kannte. Die meditative Ruhe, die normalerweise die Straßen durchzog wie dichter Nebel, war erfüllt von aufgeregten Rufen, Gelächter und dem Geräusch vieler Füße. Der Druide trat beiseite, um einen Trupp Nachtelfen vorbeizulassen, die mehrere Kisten und einige lange Bündel mit sich trugen, und folgte ihnen dann gemessenen Schrittes. Als er einen Blick auf ein Stück Stoff erhaschte, das aus einem der Bündel herauslugte, zogen sich seine Mundwinkel nach oben. Natürlich. Das Mondfest stand bevor. Die einzige Zeit des Jahres, in der Besucher…nun fast jeder Rasse in Nighthaven willkommen waren, um den Heldentaten ihrer Ahnen zu gedenken und – im Fall der Nachtelfen – Elune in besonderem Maße zu verehren und ihren Segen zu erbitten. Um das Fest zu begehen, wurde die Stadt üppig geschmückt mit Wimpeln und roten Laternen, es gab spezielle Speisen, die Glück und ein langes Leben verhießen und überall wurden große Feuerwerke abgebrannt. Bevor Easygoing jedoch weiter in seinen Gedanken über den Sinn und die Freuden des Festes versinken konnte, veränderte sich der Ton um ihn herum. Laute, verärgerte Stimmen näherten sich ihm und schon wichen die Arbeiter um ihn herum zur Seite, um Platz zu machen für jemanden, den Easygoing hier nicht erwartete hatte. Der Nachtelf, der in schnellen Schritten durch die Straßen eilte, fiel nicht nur durch seine viele seiner Rasse überragende Größe auf. Ihn umgab eine Aura von Macht und Autorität, denen sich weder seine Bewunderer noch seine Kritiker entziehen konnten. Und wie es aussah, war er im Moment sehr ungehalten. „Du!“, bellte Fandral Staghelm, als er Easygoing gewahr wurde, der sich plötzlich auf einer ziemlich exponierten Position genau im Weg des Erzdruiden befand. Die anderen Nachtelfen, die sich eben noch zwischen ihnen befunden hatten, hatten sich auf eigenartige Weise in Luft aufgelöst. „Was tust du hier?“ „Ich…äh…“, stotterte Easygoing. Er bemerkte Mathrengyl Bearwalker, der dem Erzdruiden auf dem Fuße folgte und der Easygoing jetzt unauffällig Zeichen gab, den Zorn des wütenden Nachtelfen nicht noch weiter anzustacheln. Fandral Staghelm, der jetzt wie eine lebende Mauer vor Easygoing aufragte, musterte ihn aus brennenden Augen. „Ich kenne dich. Mathrengyl hat mir von dir erzählt. Bist du nicht der junge Druide, der zusammen mit diesem katzenhaften Priester und der verrückten Gnomenfrau einfach nicht die Finger von den Silithiden lassen konnte? Der sogar Goblins mit in die Sache hineingezogen hat? Nun, wie es aussieht, hat euer Bericht über die Aktivitäten der Silithiden für genug Wirbel gesorgt. Der Zirkel gedenkt, sich des Problems anzunehmen, und das gegen meinen ausdrücklichen Rat. Immerhin haben wir wichtigere Probleme!“ Easygoing, der selbst nicht eben klein gewachsen war, schrumpfte unter den Worten des Erzdruiden merklich zusammen. All seine kühnen Pläne, den Anführer der Druiden zur Rede zu stellen, lösten sich in diesem Moment in flüchtige Luft auf. „Ich bin nicht wegen der Silithiden hier.“, brachte es schließlich aus ihm hervor. „Ich bin hier um Behüter Remulos…“ In dem Moment, als er die Worte aussprach, wusste er schon, dass es ein Fehler gewesen war. „Du weißt davon, nicht wahr?“, grollte der Erzdruide bedrohlich leise und trat noch einen Schritt auf Easygoing zu. „Du gehörst zu diesem Komplott, das hinter meinem Rücken meinen Sturz plant. Doch lass mich dir einen freundlichen Rat geben. Bedenke, dass ich es war, der unsere Rasse vor dem Untergang bewahrte, nicht der Zirkel hier in Moonglade. Teldrassil gibt uns neues Leben! Sie sagen zwar etwas anderes, doch es wäre dumm…sehr dumm, ihren Reden Glauben zu schenken, mein junger Druidenfreund. Ich werde es dir selbst überlassen zu entscheiden, ob du ein solcher Narr bist oder nicht.“ Mit diesen Worten ließ der Fandral Staghelm Easygoing stehen und rauschte an ihm vorbei. Der junge Druide blieb mit hängenden Schultern zurück und verfluchte sich selbst dafür, dass er damals nicht auf sein Gespür gehört hatte, als es ihm riet, den Kontakt mit dieser merkwürdigen Gnomin und allem, was mit ihr zusammenhing, zu vermeiden. „Ich entschuldige mich im Namen des Erzdruiden für diesen Ausrutscher.“, hörte er Mathrengyl Bearwalker hinter sich. Sein Lehrer lächelte gutmütig. „Wir kommen gerade von einer Unterredung mit Behüter Remulos, die nicht so verlaufen ist, wie der Erzdruide es sich erhofft hat. Es liegen viele Missverständnisse und Meinungen in der Luft und einer verdächtigt den anderen…nun wie auch immer. Ich bin zuversichtlich, dass diese Querelen bald beigelegt sein werden. Aber sage mir, was führt dich denn nun hierher?“ Easygoing fühlte die Essenz von Eranikus auf seiner Brust. Er hatte es inzwischen geschafft, das gehässige Geflüster des Drachen fast vollkommen auszublenden, zumal dieser sich ohnehin unablässig darin wiederholte, das Leben des jungen Druiden zu bedrohen oder ihn, wenngleich auch in immer größer werdenden Abständen, um seine Erlösung anzuflehen. Doch konnte er Mathrengyl Bearwalker von seinen Erlebnissen berichten? Es bestand kein Zweifel daran, dass dann auch der Erzdruide davon erfahren würde. Und das war - obwohl es Easygoing erstaunte, sich diesen Umstand einzugestehen - so ungefähr das Letzte, was der er jetzt gebrauchen konnte. Der forschende Blick seines Lehrers ruhte auf Easygoing wie ein Stein. „Nun?“ „Ich…“, begann Easygoing und wurde von einer hellen Stimme aus dem Hintergrund unterbrochen. „Easy! Wie schön, dass du endlich kommst!“ Eine junge Nachtelfe mit kurzen, grünen Haaren stürmte heran und hängte sich an seinen Arm. „Ich habe schon gedacht, du kommst nicht mehr. Oh, Elune-Adore, Shan’do Bearwalker!“ „Navala!“ Der ältere Druide schüttelte den Kopf. „Wie immer Herz über Verstand und mit dem Kopf durch die Wand. Du wirst nie eine ordentliche Druidin, wenn du nicht lernst, dich in Geduld zu üben.“ Die junge Nachtelfe senkte gescholten den Kopf. „Es tut mir leid, Shan’do. Es ist nur…ich warte schon so lange auf Easy. Er will uns bei den Aufbauten zum Mondfest helfen. Es ist doch das erste Mal, dass ich bei den Vorbereitungen dabei sein darf.“ Mathrengyl Bearwalker schnalzte vorwurfvoll mit der Zunge. „Ungeduldige, kleine Nachtelfe.“, brummte er gutmütig. „Nun dann will ich euch nicht weiter aufhalten. Genießt die Feierlichkeiten.“ Die zwei Druiden verbeugten sich voreinander, während Navala die Hände aneinander legte und das Knie zu einem eleganten Knicks beugte. Sie verharrte in dieser Position, bis Mathrengyl Bearwalker um die nächste Ecke gebogen war, dann fiel das unterwürfige Gebaren von ihr ab wie ein Mantel, den sie mit einem Schulterzucken zu Boden warf. „So mein Lieber.“, grinste sie und hakte sich bei Easygoing unter. „Nachdem ich dir jetzt deinen Hintern vor dem ollen Bearwalker gerettet habe, verrätst du mir hoffentlich, warum du ein Gesicht gemacht hast, als hätte er dich mit der Hand in der Keksdose erwischt. Und versuch gar nicht erst mich anzulügen. Ich kennen dieses Gesicht von meinem Bruder.“ Easygoing seufzte innerlich. Wie es schien, war er vom Regen in die Traufe gekommen. „Ich kann er dir nicht sagen.“, grollte er und machte sich aus dem Griff der jungen Druidin los. „Und ich habe auch keine Zeit. Ich muss zu Behüter Remulos.“ Als er ihr zu einem Schmollen verzogenes Gesicht sah, fügte er hinzu. „Wirklich, Navala, es geht nicht. Es tut mir leid.“ Die junge Druidin schnaubte und schob die Unterlippe noch ein Stück weiter nach vorn. „Immer diese Geheimniskrämerei.“, murrte sie. „Hast du wenigstens etwas von meinem Bruder gehört? Ist er immer noch bei dieser Menschenfrau?“ Jetzt war es an Easygoing, erstaunt zu sein. „Menschenfrau? Von was sprichst du? Ich denke, er ist im Smaragdrefugium in Felwood um den Druiden dort zur Hand zu gehen. Eigentlich hätte ich sogar erwartet, dass er schon längst wieder zurück in Darnassus ist.“ Navala legte die Stirn in Falten. „Er war in Felwood, das stimmt. Er hat es mir erzählt, als ich ihn das letzte Mal traf. Aber das erklärt nicht, warum er nicht schon wieder zurück ist. Ich hatte gedacht, ihr seid vielleicht schon wieder irgendwo unterwegs. Er hatte mir doch versprochen, dass wir dieses Mal zusammen das Mondfest besuchen.“ Easygoing wusste nicht so recht, was er der besorgten Nachtelfe sagen sollte. Für solche Fälle hatte er normalerweise Ceredrian an seiner Seite, der jede noch so unangenehme Neuigkeit in die passenden Worte kleidete. Dass ihm dieser Schönschwätzer einmal fehlen würde, hätte er nie für möglich gehalten. „Er kommt sicher bald heim.“, versuchte er unbeholfen Navalas Bedenken zu zerstreuen. „Wenn er es dir versprochen hat, hält er es auch. Wahrscheinlich hat er jetzt schon halb Darnassus nach dir abgesucht, weil er vergessen hat, dass du schon alt genug bist, um an den Vorbereitungen teilzunehmen. Wenn ich du wäre, würde ich schnell zurückreisen und ihn dort suchen.“ Er kam sich ein wenig schäbig vor bei dieser allzu durchschaubaren Lüge, aber der Zweck heiligte in diesem Moment für ihn die Mittel. Er würde den Zorn der jungen Druidin dafür später gern in Kauf nehmen. Und konnte es nicht sogar sein, dass Abbefaria tatsächlich bereits wieder in Darnassus war und auf der faulen Haut lag? Navalas Gesicht hellte sich auf, als wäre das Mondlicht darauf gefallen. „Du hast Recht.“, sagte sie. „Vermutlich finde ich ihn irgendwo draußen auf den äußeren Ästen beim Schlafen. Er würde alles tun, um nicht bei den Aufbauarbeiten mitzuhelfen. Ich danke dir für diesen Rat.“ Die junge Druidin stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte Easygoing einen Kuss auf die Wange, bevor sie sich umdrehte und wie ein Blätterwirbel im Herbststurm in Richtung des Hippogreifenmeisters davon eilte. Easygoing sah ihr noch eine Weile nach, bis die greinende Stimme von Eranikus ihn an seine Aufgabe erinnerte. Er musste Behüter Remulos finden. Easygoing blieb in respektvollen Abstand zum Schrein des Behüters stehen und wartete, dass man ihn bemerkte. Auch hier war die Stimmung aufgeregter, als es normal der Fall war. Die sonst so friedliche Lichtung erinnerte Easygoing heute eher an einen Bienenstock, an den jemand Feuer gelegt hatte. Er war sich sicher, hätte er versucht, den Schrein zu betreten, wäre unvermittelt Leben in die beiden Bewaffneten gekommen, die neben dem Eingang Wache hielten. Daher blieb ihm nichts anderes übrig als geduldig davor stehenzubleiben. Nach einer halben Ewigkeit, so erschien es Easygoing, kam die lebhafte Diskussion im Inneren des Schreins endlich zum Erliegen. Die Gespräche verstummten und schließlich trat einen Gestalt zwischen den beiden Wachen hervor. Easygoing holte tief Luft und senkte ehrerbietig den Kopf. „Hohepriesterin Tyrande…“, murmelte er. Ein helles Lachen war zu hören. „Wie es scheint, bringen wir die normalen Abläufe des Zirkels heute mehr als üblich durcheinander. Dieser arme Druide muss schon einen ganze Weile hier gewartet haben.“ „Es läge mir fern…“, begann Easygoing und wurde von einer weiteren Stimme unterbrochen. „Easygoing? Ihr hier?“ Erstaunt hob Easygoing den Kopf und starrte ziemlich verdattert in das Gesicht der jungen Priesterin Gracina Spiritmight. Sie trug mehrere Schriftrollen und ihre Wangen waren vor Aufregungen ebenso dunkel, wie sie es bei ihrem ersten Zusammentreffen in Darnassus gewesen waren. Die Augenbrauen von Tyrande Whisperwind bewegten sich nach oben. „Ach, dann ist dieser hier wohl einer von denen, die uns die Kunde von den steigenden Aktivitäten der Silithiden brachte. Elune segne Euch für diese mutige Tat.“ „Gibt es ein Problem, Hohepriesterin?“ Ein weiterer Nachtelf trat neben die beiden anderen und musterte Easygoing abschätzend. Er war in einfache, zweckmäßige Kleidung gehüllt, die nicht auf seine wichtige Stellung schließen ließen. Trotzdem wusste Easygoing, wen er vor sich hatte. Es handelte sich um Rabine Saturna, den Verwalter von Nighthaven und direkten Vertreter von Behüter Remulos, wenn dieser nicht abkömmlich war. Doch als wäre das nicht genug, trat jetzt der Behüter selbst auf die Lichtung und schüttelte den Kopf mit der langen Mähne und dem mächtigen Geweih während seine Hufe unruhig das Erdreich zerwühlten. „Wer verlangt Einlass in diesen Hain?“, grollte er und beugte sich zu Easygoing herab. „Mir scheint, wir haben erneut einen Besucher. Rabine, kümmere dich darum. Ich muss über die vergangenen Vorkommnisse nachdenken.“ „Wir Ihr wünscht, Remulos.“, antwortete der Verwalter und wollte Easygoing am Arm packen. Der junge Druide wich ihm jedoch aus und trat auf den Behüter zu. „Shan’do, bitte! Ich muss Euch persönlich sprechen.“ Easygoing war die Ungeheuerlichkeit seines Verhaltens durchaus bewusst, doch Itharius hatte ihm eingeschärft, den Edelstein nur Remulos selbst auszuhändigen. Daran konnten auch die beiden Wachen nichts ändern, die jetzt auf ihn zustürzten, um ihn festzuhalten. In seiner Verzweiflung setzte er alles auf eine Karte „Lord Itharius schickt mich.“ Der Behüter, der sich bereits zum Gehen gewandt hatte, blieb stehen und drehte sich erneut zu Easygoing herum. Erstaunen lag in seinen goldenen Augen. Er gab den beiden Wachen mit einer Geste zu verstehen, den jungen Druiden loszulassen. „Itharius sagst du? Dieser Name ist mir nicht unbekannt, auch wenn es lange her ist, dass ich Kunde von ihm hatte. Mir scheint, wir sollten diese Angelegenheit doch sofort erledigen. Hohepriesterin, wenn ihr mir vielleicht die Ehre Eurer Anwesenheit noch ein wenig länger zuteilwerden lasst? Ich denke, Ihr solltet das hier hören.“ Kurz darauf fand sich Easygoing inmitten einer Runde aufmerksamer und ausnahmslos hochrangiger Zuhörer wieder. Zuerst stockend, dann flüssiger erzählte er von den Begebenheiten im Versunkenen Tempel. Er schloss seinen Bericht, indem er den grünen Kristall unter seinem Hemd hervorzog und ihn den Anwesenden präsentierte. Danach senkte sich Stille über den Schrein. Behüter Remulos neigte sich zu Easygoing herab und nahm ihm das Schmuckstück ab. „Ich spüre die Wahrheit in Euren Worte, junger Druide.“, sagte er. „Und doch erscheint es mir zu fantastisch zu glauben, dass der Konsort des grünen Schwarms endlich wieder zu uns Kontakt aufgenommen hat. Die Entwicklung der Ereignisse ist allerdings beunruhigend.“ „Malfurion wüsste sicher Rat in dieser Sache.“, ließ sich Tyrande Whisperwind vernehmen. „Ich wünschte, wir könnten ihn erreichen.“ Behüter Remulos wiegte den Kopf hin und her und ein Rauschen ging durch die Blätter der umliegenden Bäume. „Vieles muss bedacht werden in dieser Angelegenheit. Die Beteiligung der alten Trollgottheit, die unglückliche Entwicklung um Eranikus, die fortschreitende Verderbnis von Teldrassil, die Berichte, die mich aus den Höhlen des Wehklagens im Brachland und anderen Bereichen Azeroths erreicht haben…all dies scheint mir zu sehr Zufall zu sein, als dass nicht vielleicht doch ein Zusammenhang bestehen könnte. Doch zuvorderst müssen wir versuchen, Eranikus zu befreien. Allerdings muss ich dazu zunächst einen Weg suchen, um mit ihm Kontakt aufzunehmen. Ohne seine Mithilfe wird es unmöglich sein, ihn den Klauen des Alptraums zu entreißen. Und ich werde versuchen, Ysera über den Zustand ihres Gemahls zu unterrichten. Allerdings weiß ich nicht, ob es mir gelingen wird, die Hüterin des Traums in ihrem Schlummer zu erreichen. Ihr Schlaf scheint dieser Tage tiefer als gewöhnlich. Ich würde Euch daher jetzt bitten zu gehen und mich für diesen Teil der Aufgabe allein zu lassen.“ Easygoing, der nach wie vor am Rand der Versammlung stand, schwindelte anhand dessen, was er gehört hatte. Ihm war nicht klar gewesen, um wen es sich bei Eranikus handelte. Umso mehr wusste er jetzt, dass seine Entscheidung richtig gewesen war. Er war, wenn auch unwissentlich, Teil einer bedeutenden Entwicklung geworden. Durchaus ein wenig stolz folgte er den drei höhergestellten Nachtelfen in gebührendem Abstand und konnte sich dabei ein Grinsen nicht verkneifen, so sehr er sich auch bemühte. Rabine Saturna verabschiedete die Hohepriesterin und ihre Begleiterin am Rand von Nighthaven und wandte sich dann Easygoing zu. Im Gesicht des älteren Nachtelfen stand Anerkennung. „Ihr habt gute Arbeit geleistet, junger Druide.“, sagte er und lud Easygoing ein, ihm zu folgen. „Wir könnten jemanden wie Euch brauchen. Der Zirkel benötigt in diesen Tagen jede helfende Hand, die er kriegen kann.“ Easygoing verneigte sich. „Es wäre mir eine Ehre, dem Zirkel zu dienen.“ „Ich begrüße Eure Bereitschaft sehr. Zumal Ihr es ja auch wart, die uns auf das Problem mit den Silithiden aufmerksam gemacht hat. Es wäre daher nur recht und billig, wenn Ihr auch weiterhin mit ihrer Bekämpfung betraut würdet.“ Easygoings Mundwinkel bewegten sich wie von selbst nach unten und er ließ unwillkürlich die Schultern sinken. Der andere Nachtelf lachte auf. „Ich sehe an Eurem Gesicht, dass dies offensichtlich nicht die Aufgabe war, mit der Ihr gerechnet hattet. Und ich habe auch gehört, dass der Erzdruide sein…Missfallen über unsere Plänen Euch gegenüber zum Ausdruck gebracht hat. Doch seid unbesorgt. Ihr müsst keinerlei Sanktionen gegen Eure Person befürchten. Wir handeln hier für das größere Wohl von ganz Azeroth.“ Easygoing neigte erneut den Kopf. „Was immer Ihr mir auftragt, ich werde es erfüllen.“ Rabine Saturna nickte zufrieden. „Gut, dann wartet hier einen Augenblick. Ich werde Euch einen Brief mitgeben, in dem alles weitere erklärt wird. Eure Reise wird Euch weit in den Süden des Kontinents führen, junger Druide. Sogar noch weiter, als Ihr bisher vorgedrungen seid. Euer Ziel ist Valor’s Rest in Silithus. Layo Starstrike wird Euch dort erwarten. Wir müssen der Quelle der Aktivitäten der Silithiden auf den Grund gehen, bevor es zu spät ist. Wie es scheint, regt sich das Übel, das wir einst gebannt glaubten, wieder in den Tiefen der Einöde.“ Während Rabine Saturna das Schreiben aufsetzte, dachte Easygoing an seinen Bruder und die anderen. Wie sollte er ihnen mitteilen, warum er bei ihrer Ankunft in Darnassus nicht dort sein würde? Einen Brief zu hinterlassen, schien ihm zu riskant. Aber vielleicht hatte er ja eine Chance, die drei in Gadgetzan, wohin auch seine Reise unweigerlich führen würde, abzufangen. Sie würden sicherlich eine Weile brauchen, um von den Sümpfen des Elends dorthin zu gelangen. Mit Glück würde Easygoing vor ihnen dort ankommen, wenn er sich sofort auf den Weg machte. Damit blieb ihm zwar keine Zeit mehr, sich nach Abbefarias Verbleib zu erkundigen, wie er es ursprünglich vorgehabt hatte, aber sein Bruder ging in diesem Fall vor. Der Träumer wird schon auf sich aufpassen können, dachte Easygoing, während er ungeduldig darauf wartete, dass Silva Fil’naneth ihm einen Hippogreifen sattelte. Er hatte die Hippogreifenmeisterin dazu überreden können, ihm einen der älteren Hippogreifen zur überlassen, ein starkes Tier, dessen Federn wie gebürsteter Stahl glänzten. „Legte rechtzeitig Ruhepausen ein.“, ermahnte sie ihn. „Eisenschnabel neigt dazu, sich zu überanstrengen. Meidet das Brachland, wenn Ihr könnt, und nehmt Euch in Acht im Bereich von Tausend Nadeln. Die Aufwinde dort sind ziemlich tückisch.“ Easygoing, der nur mit halben Ohr zuhörte, nickte und strich dem grauen Hippogreif über das Gefieder. Bald schon würde er wieder bei Deadlyone und den anderen sein. Es war nur eine Frage der Zeit. „Das dauert doch viel zu lange.“ Emanuelle schüttelte den Kopf über so viel Starrsinn. „Der Transporter würde uns schnell und sicher nach Tanaris bringen.“ „Ich sagte nein und das ist mein letztes Wort.“ Deadlyone fletschte noch einmal die Zähne und knurrte die Gnomin bedrohlich an, bevor er ihr den Rücken zukehrte und anfing, die Reittiere reisefertig zu machen. Die kleine Magierin verdrehte die Augen. „Ihr seid doch aber auf meiner Seite, oder nicht?“, versuchte sie als Nächstes Ceredrian zu überzeugen. „Ich meine, der Weg über Ironforge würde Tage wenn nicht Wochen in Anspruch nehmen. Und die Alternative ist ebenso wenig tragbar. Oder wart Ihr schon einmal in Booty Bay?“ Der Priester verneinte. „Aber ich!“, trumpfte Emanuelle auf. „Und glaubt mir, Ihr wollt dort nicht mit einem Ei auftauchen, das die Essenz eines alten Trollgottes enthält. Bevor Ihr Euch verseht, liegt Ihr dort mit durchgeschnittener Kehle im Hafenbecken. Glaubt mir.“ „Ich denke, wir werden uns zu verteidigen wissen.“, entgegnete der Priester. Doch Emanuelle hörte bereits an seinem Ton, dass er anfing weich zu werden. Sie setzte ein ernstes Gesicht auf und holte zum endgültigen K.O.-Schlag aus. Sie winkte den weißhaarigen Nachtelfen näher heran und flüsterte leise: „Außerdem wollt Ihr nicht mit ihm durch Booty Bay.“ Sie wies auf den Schurken, der ihnen immer noch den Rücken zugekehrt hatte. „Er würde uns ohne Zweifel in Schwierigkeiten bringen. Die Goblins verstehen keinen Spaß, wenn es um Diebstahl geht. Außerdem wimmelt es dort nur so von zwielichtigen Gesellen, die auf Streit aus sind. Ich musste mal zwei Monate in einer schmierigen Kombüse verbringen, nur weil jemandem eine unserer Nasen nicht gepasst hat.“ Gespannt beobachtete Emanuelle die Reaktion des Priesters. Gut, sie hatte bei ihrer Geschichte die Wahrheit vielleicht etwas strapaziert, denn die Geschichte mit Risingsun und dem Untoten, der sein Auge nach ihr geworfen hatte, war ja doch etwas anders verlaufen. Aber im Grunde genommen war es richtig, nicht über Booty Bay zu reisen. Es gab dort einfach zu viele Trolle. „Also schön, Ihr habt mich überzeugt.“, gab Ceredrian schließlich widerwillig zu. „Baut Eure Maschine auf und wir werden damit reisen. Ich werde derweil versuchen, Deadly die Sache schonend beizubringen.“ Emanuelle konnte nicht umhin ein wenig in sich hinein zu grinsen, als sie die Stimmen der beiden Nachtelfen vernahm, die zunächst immer lauter und dann wieder leiser wurden, bis schließlich nur noch der Priester redete. Irgendwann einmal würden sie ihr dankbar dafür sein. Zumal Emanuelle zugeben musste, dass sie es durchaus begrüßte, bald aus diesem ekligen Sumpf heraus zu sein. So groß die Gastfreundschaft der Draenei auch sein mochte, gegen das Wetter konnten sie leider auch nichts machen. „Bereit?“, fragte Emanuelle wenig später ihre beiden Reisekameraden. Während Ceredrian nickte, beschränkte sich die Antwort des Schurken auf ein finsteres Starren. Emanuelle wertete das als „Ja“. „Gut, dann wollen wir mal.“ Die kleine Magierin legte einige Hebel um und drückte den Startknopf der Maschine, die mit leisem Brummen zum Leben erwachte. Holaaru, der gekommen war, um sie zu verabschieden, nickte verständig. „Ein tragbarer Minidimensionalverschieber. Raffiniert. Ihr solltet vielleicht die Höheneinstellung noch einmal rekalibrieren, wenn ihr nicht zwei Meter tief im Boden landen wollt.“ Emanuelle besah sich die Anzeige und wurde ein wenig rot. „Ihr hat Recht. Vielen…äh…Dank. Für alles so.“ Der Verirrte grinste. „War mir ein Vergnügen. Ich denke jetzt, da ihr die Macht des bösen Gottes in den Tempeltiefen gebrochen habt, werden sich die Sümpfe zum Besseren verändern. Und wer weiß, vielleicht gelingt es uns doch noch, unsere Kameraden zu heilen und Kontakt zu Draenor aufzunehmen. Viel Glück auf Eurem Weg, kleine Emanuelle.“ Holaaru verbeugte sich noch einmal vor Emanuelle und den beiden Nachtelfen und hoppelte dann von dannen. Emanuelle sah ihm nach und war sich nicht sicher, was sie von diesen Wesen halten sollte. Ganz sicher war jedoch, dass sie verdammt noch mal Ahnung von Technik hatten. „Also schön.“, murmelte sie und setzte ihre rosa Glückschutzbrille auf. „Dann mal auf nach Tanaris.“ Gemeinsam mit den beiden Nachtelfen betrat sie die Plattform des Transporters und legte den Schalter um. Einen Lichtblitz später waren sie verschwunden und nur ein kleiner, verkohlter Fleck auf dem Sumpfboden erinnerte noch an die drei Reisenden. Magenta war gegen ihren Willen beindruckt. Das schneebedeckte Plateau, auf dem sie standen, gleißte im hellen Morgenlicht und ein blassvioletter Himmel erstreckte sich ohne eine Wolke bis zum Horizont. Unter dem strahlenden Firmament hatten zwei große, blaue Drachen Aufstellung genommen. Der schlanke und wendige Spellmaw, dessen Kopf ungeduldig hin und her pendelte, und der breit gebaute Azurous, dessen Schuppen von einer dunkelblauen Farbe waren, die Magenta an flüssige Tinte erinnerte. Ihre Flügel waren größer, als Magenta es von Abbildungen anderer Drachen kannte und die weiße, fast durchschimmernde Flugmembran spannte sich bis weit zu ihrem Schwanz hinab. Sie mussten ausgezeichnete Flieger sein. Zwischen ihnen stand eine schmale Gestalt, die aufgrund des Größenunterschieds hätte winzig und unbedeutend erscheinen müssen. In Wahrheit aber überstrahlte die blonde Elfe die beiden Drachen noch an Autorität und Würde. Trotzdem hatte Magenta sich irgendwie vorgestellt, dass sie die Matriarchin des blauen Schwarms in ihrer Drachengestalt zu sehen bekam. Abbefaria hatte sie Magenta beschrieben, als die beiden, geschützt durch eine Wand aus Eisblöcken, die Nacht verbracht hatten. Eine schlanke, anmutige Drachin mit einer Krone aus silberweißen Zacken, deren Schuppen wie polierte Saphire schimmerten und deren elfenbeinfarbende Klauen einen Mann binnen Sekunden in Stücke reißen konnten. Doch Haleh blieb, wie sie war, als sie jetzt vortrat und das Wort an die drei Abenteurer richtete. „Ihr kamt hierher um die Hilfe des blauen Schwarms zu erbitten. Eine Tat, die einen findigen Geist und ein mutiges Herz erfordert.“, sagte sie mit feierlicher Stimme. „Euer Mut soll belohnt werden. Wir, der blaue Drachenschwarm, werden Euch die Werkzeuge geben, die Ihr braucht, um das Böse von dieser Welt zu tilgen.“ Haleh winkte General Coltabann heran, der neben sie trat und ihr ein kleines Kästchen reichte. Die Drachin öffnete es und hielt eine goldene Kette mit einem Amulett in die Höhe. „Dieses Kleinod wurde erneut geschmiedet. Es wird Euch Zugang zum Hort der schwarzen Brutmutter in den Marschen von Duskwallow gewähren. Sie wird Euch mit Feuer und Tod erwarten, Sterbliche. Deshalb seid gewarnt. Zögert nicht, sie und die verderbte Saat an ihrer Seite zu vernichten.“ Mit einer feierlichen Geste reichte sie das Amulett an Abbefaria weiter. Der Nachtelf neigte demütig den Kopf und drehte sich dann zu Magenta um. „Hier.“, sagte er. „Ich möchte, dass du es trägst.“ Argwöhnisch betrachtete Magenta die Kette mit dem schwarzen Edelstein, der jetzt wieder unzerbrochen und in alter Pracht erstrahlte. Ein winziger, silberner Drache ringelte sich darum und biss sich selbst in den Schwanz. „Ist das denn nicht gefährlich?“, fragte sie vorsichtig und schielte dabei an Abbefaria vorbei zu Haleh. Die Elfe schien amüsiert. „Ihr könnt es ohne Bedenken tragen.“, erklärte sie. „Ich habe einen Schutzzauber in die Fassung eingewebt, die die dunkle Macht des Steins im Zaum hält. Ihr habt nichts zu befürchten. Außerdem wird das nicht unser einziges Geschenk sein.“ Einigermaßen beruhigt streifte Magenta die Kette über den Kopf und ließ das Medaillon in ihrem Ausschnitt verschwinden. Sie schauderte, als der eiskalte Stein ihre Haut berührte. Haleh richtete sich auf und die beiden blauen Drachen zu ihren Seiten breiteten die Flügel ein Stück weit aus. Aus dem Nichts schob sich eine Wolkenwand über den Himmel und verdeckte die blasse Sonne. Binnen Sekunden wurde es empfindlich kühl. Wind kam auf und zauste die blonden Haare der schmalen Elfe, während ihre Augen in einem unheimlichen Blauton zu leuchten begannen. Als sie weiter sprach, lag eine verborgene Macht in ihren Worten, die wie Glockengeläut über die Ebene schallten, und der Schnee vor ihren Füßen begann sich zu kräuseln und Wellen zu schlagen, wie ein See, in den ein Kind Kieselsteine warf. „Eure Reise ist nun hier zu Ende, Sterbliche, und Euer nächstes Ziel liegt weit von hier. In die Pestländer werdet Ihr reisen und mit Jeziba werdet Ihr sprechen. Er ist weise wie die Uralten und geduldig wie die unverrückbare Erde. Sucht ihn in Andorhal. Aus seiner Hand werdet Ihr empfangen, was Ihr benötigt.“ Der tanzende Schnee hatte sich inzwischen zu einem stürmischen Meer entwickelt und immer mehr der weißen Pracht wurde in die Luft geschleudert. Blaue Runen flammten auf Halehs Gesten hin in der Luft auf und tauchten die Szene in ein gespenstisches, blaues Licht. Angepeitscht von der Stimme der Matriarchin begann sich ein gewaltiger Strudel in der Mitte des Eisplateaus zu bilden. Der Schnee schwirrte umher wie von einem wilden Orkan gebeutelt und die tosenden Winde zerrten an Magentas Kleidung. Hinter dem wirbelnden Weiß verschwamm die Elfe zu einem formlosen Schatten und selbst die Umrisse der beiden blauen Drachen waren nur noch undeutlich zu erkennen. „Was ist das?“, brüllte Schakal gegen das Heulen und Jaulen des Sturms an. „Und was bitte meint sie mit Pestländer?“ Undeutlich und doch gestochen scharf konnte Magenta die Stimme der blauen Drachin durch den Sturm hören. „Es ist das Arkane, das ich beherrsche, und das Arkane wird Euch von hier forttragen. Rakkan malidar unboud kashj ki milanor!“ Das Brausen des Sturms wurde ohrenbetäubend. Eine Windböe stürmte heran und raubte Magenta den Atem. Sie fiel und wurde angehoben, trudelte und rotierte um die eigene Achse. Hilflos wurde sie von den Elementen herumgewirbelt, bis sie nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Ein grelles Licht flammte auf und Magenta schloss geblendet die Augen. Etwas schlug mit voller Wucht gegen ihren Bauch und während sie sich krümmte, spürte sie plötzlich ein Gefühl von Schwerelosigkeit. Ein sanftes Schweben inmitten der tanzenden Schneeflocken, das ein abruptes Ende fand, als der weiße Wirbel unter ihr aufriss und sie wie ein Stein nach unten stürzte. Kreiselnd und kreischend raste Magenta einer Welt entgegen, die viel zu weit unter ihr lag und viel zu schnell näher kam. Ein brauner Fleck sprang ihr förmlich entgegen und füllte binnen Sekunden ihr ganzes Sichtfeld. Undeutlich nahm sie wahr, dass irgendwo neben ihr Abbefaria und Schakal sich in keiner weniger prekären Situation befanden, doch da alles wurde unwichtig, als sie kopfüber in das dreckige Wasser eines riesige Sees eintauchte und die trüben Fluten über ihr zusammen schlugen. Instinktiv begann Magenta zu paddeln, um wieder an die Oberfläche zu kommen. Stinkendes, faulig schmeckendes Wasser drang ihr in Mund und Nase ein und sie schluckte eine gute Portion davon, als sie, kaum an der Oberfläche angekommen, vom Gewicht ihrer schweren Winterkleider wieder nach unten gezogen wurde. Prustend, hustend und spuckend kam sie sich wieder nach oben und strampelte wie eine ertrinkende Ratte, um nicht wieder zu versinken. Viel zu langsam kam das Ufer näher und Magenta war sich sicher, dass sie gleich keine Kraft mehr haben und ertrinken würde. Blind und unfähig an etwas anderes zu denken als den nächsten Atemzug, kämpfte sie sich Meter für Meter vorwärts. Als sich die Hexenmeisterin irgendwann völlig erschöpft an dem steinigen Gestade in die Höhe zog, erbrach sie einen ganzen Schwall der ekelhaft stinkenden Brühe, bevor sie in sich zusammen sackte. Undeutlich drängte sich ihr der Gedanke auf, dass sie nach ihren Freunden sehen musste. Doch die nassen Sachen hingen wie Blei an ihr und vor ihren Augen tanzten dunkle Punkte. So blieb sie leise stöhnend liegen und wartete darauf, dass die Welt aufhörte sich zu drehen, und ließ sich in die barmherzige Dunkelheit treiben. Als sie die Augen das nächste Mal öffnete, standen zwei sorgfältig beschlagene Hufe mit einem goldenen Hufschutz vor ihrer Nase und eine Stimme schnarrte: „Nun sieh sich mal einer an, was da aus dem Darrowmere-See geklettert ist.“ Magenta zuckte zusammen. Sie kannte diese Stimme und auch wenn sie sie schon lange nicht mehr gehört hatte, erschien ihr das plötzlich nicht mehr lange genug. Von bösen Vorahnungen geplagt richtete sie sich auf und ließ ihren Blick an dem prächtigen Streitross entlang nach oben gleiten. Dort angekommen unterdrückte sie ein Stöhnen, als sie ihren Verdacht bestätigt sah. Die Person auf dem Rücken des edlen Tiers war niemand anderer als Risingsun. Völlig entgeistert starrte Magenta zu der Paladina empor. Deren blonden Haare waren unter einem Halbhelm verborgen, der ebenso schimmerte wie der Rest ihrer silbernen Rüstung mit den aufwendigen, goldenen Ziselierungen. Ein schwarzer Wappenrock mit einem silbernen Kreis in einem goldenen Strahlenkranz zierte ihre Brust und über ihren Schultern lag ein kostbar aussehender, lichtblauer Umhang. Ebenso wie an seiner Reiterin hing auch an dem Pferd eine überbordende Fülle an goldenen Verzierungen, angefangen von der Einsäumung der Schabracke bis zum komplett goldenen Fürbug. Das Prunkstück war jedoch der Kopfschutz des Tieres. Er hatte einen spitzen Stachel auf der Stirn, der das edle Ross in eine bellizistische Karikatur eines Einhorns verwandelte. Es war grauenhaft spektakulär. Mit einiger Genugtuung stellte Magenta allerdings fest, dass einer der Stiefel der Paladina einen Schlammspritzer abbekommen hatte. Ein lautes Platschen und Prusten ließ Magenta aus ihrer Erstarrung erwachen. „Hil…kann nich…men…“, hallte unverkennbar Schakals Stimme über das Wasser. Die Hexenmeisterin sprang voller Tatendrangauf, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was sie jetzt tun sollte. Sie erwog zunächst, selbst ins Wasser zu springen, fuhr dann jedoch zu Risingsun herum. „Er ertrinkt!“, rief sie panisch. „So tu doch etwas!“ Die Paladina zögerte nicht. „Fähnrich Rirre!“, bellte sie. „Holen Sie den Mann aus dem Wasser!“ Etwas hinter Risingsun klapperte und erst jetzt wurde Magenta sich bewusst, dass hinter der blonden Frau noch eine Truppe aus gut zwanzig Reitern stand. Sie alle trugen denselben Wappenrock, auch wenn ihren Rüstungen allesamt weniger aufwendig verziert waren. Einer der Reiter, eine junge Frau mit kurzen, dunklen Haaren, war jetzt von ihrem Pferd gesprungen und eilte auf das Seeufer zu. Dort blieb sie stehen und sah verunsichert auf das Wasser hinaus. „Hauptmann, wenn ich anmerken darf, ist das dort kein Mann sondern ein Zwerg. Soll ich ihn trotzdem rausholen?“ Risingsun stöhnte leise und bedeckte ihr Gesicht mit der Hand. „Noch einen Tag“, murmelte sie. „…nur noch einen Tag. Dann wird sie bestimmt versetzt. Oder ein Untoter frisst sie. Irgendetwas in der Art.“ Laut sagte sie: „Natürlich sollen Sie, Fähnrich. Ein bisschen Beeilung, wenn ich bitten darf.“ Die junge Frau zögerte immer noch. „Er ist verschwunden.“ Risingsun blinzelte durch die goldenen Finger ihres Plattenhandschuhs. „Wie bitte?“ „Der Zwerg. Er ist verschwunden, Ma‘am.“ Die drei Frauen sahen auf den See hinaus, wo jetzt nur noch große Ringe die Oberfläche des Sees zierten. Schakals Kopf war nicht mehr zu sehen. „Beim Licht, muss ich denn alles selber machen.“, fauchte Risingsun und machte sich daran, von ihrem Schlachtross zu steigen. Magenta, der das alles viel zu lange dauerte, wollte sich nun doch selbst in die dreckigen Fluten werfen, als plötzlich etwas an die Wasseroberfläche getrieben wurde und dann mit steigender Geschwindigkeit auf sie zu schwamm. Neben Magenta zog Risingsun ihr Schwert. „Achtung, Männer! Ausschwärmen!“ Die Soldaten eilten in scheppernden Rüstungen herbei und umstellten einen Bereich des Ufers. Was immer dort aus dem Wasser kam, wurde von einer schwerterstarrenden Wand aus massivem Stahl und einer Handvoll Armbrustschützen erwartet. Da erkannte Magenta plötzlich, um wen es sich handelte. Sie stürzte mit ausgebreiteten Armen nach vorn. „Halt nicht schießen“, rief. „Das sind meine Freunde!“ Die Hexenmeisterin musste zugeben, dass das braune Tier, das dort geschwommen kam, nicht unbedingt eine Schönheit war. Aber Abbefaria hatte ihr davon erzählt, dass er sich beim Schwimmen in einen Seelöwen verwandeln konnte, und um nichts anderes musste es sich bei dieser Kreatur handeln. Sie verstand jetzt auch, warum er sich geweigert hatte, ihr den Zauber auf dem trockenen Land vorzuführen. Wenn sie nicht gesehen hätte, wie wendig er sich in dieser Form durch das Wasser bewegte, hätte sie vermutlich laut losgelacht. Kurz vor dem Ufer verwandelte sich der Druide zurück und zog den Zwerg in seiner Nachtelfenform weiter an Ufer. Auf einen Wink von Risingsun hin stürzten drei weitere Männer ins flache Wasser und hoben den Reglosen aus dem See. Zu ihrem Pech erwachte er allerdings in genau diesem Moment wieder zum Leben. „Lasst mich los, ihr dämlichen Blechdosen!“, ereiferte sich der Zwerg, den sie wie einen nassen Sack zwischen sich trugen. „Sehe ich etwa aus wie eine Fuhre Kartoffeln? Lasst mich gefälligst runter!“ Mit tief gefurchter Stirn und so würdevoll, wie ein nasser Zwerg eben sein konnte, kletterte Schakal kurz darauf, gefolgt von den drei Soldaten und Abbefaria, an Land. Dort angekommen schüttelte er sich wie ein Hund nach dem Baden und brummte: „Wenn ich diese Elfe erwische, dann zieh ich ihr die Ohren la…ähm…länger.“ „Abbe!“ Magenta eilte zu dem ebenfalls tropfnassen Druiden und fiel ihm und den Hals. „Geht es dir gut?“ Er grinste. „Mir fehlt nichts. Wenn man mal davon absieht, dass mich unser Freund hier so fest gegen den Unterkiefer getreten hat, dass ich dachte, mein Schädel würde platzen.“ „Das hättest du auch gemacht, wenn dir von unten auf einmal ein Tier zwischen die Beine schwimmt. In einem See. Unter Wasser.“, verteidigte sich Schakal. Er sah sich um, als wolle er gleich noch jemandem einen kräftigen Tritt verpassen. „Und wer sind eigentlich diese Hampelmänner?“ „Eine Aufklärungsabteilung der Argentumdämmerung unterwegs nach Caer Darrow und mir unterstellt.“, erklärte Risingsun lächelnd. „Hallo Schakal.“ Dem Zwerg blieb der Mund offenstehen. „Risingsun? Argentumdämmerung?“, stammelte er. „Dann hat diese Magierin doch nicht gelogen. Wir sind tatsächlich in den Pestländern.“ „In den westlichen Pestländern, um genau zu sein.“, gab Risingsun bereitwillig zur Auskunft. „Das hinter Euch ist der Darrowmere-See in dessen Mitte sich die Insel Caer Darrow mit der gleichnamigen Stadt befindet. Oder zumindest mit dem, was die Untoten davon übrig gelassen haben.“ Eins Hüsteln war zu hören. „Äh, Hauptmann?“ „Ja, Fähnrich Rirre?“ Risingsun durchbohrte die dunkelhaarige Frau förmlich mit ihrem Blick. Die wiederum schien das nicht zu bemerken und deutete mit unheilvollem Blick nach oben. „Es wird in ein paar Stunden dunkel. Wenn wir die Insel noch rechtzeitig vor der Dämmerung erreichen wollen, sollten wir jetzt aufbrechen.“ Risingsun kniff die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Sie fasste jetzt anstatt ihrer Untergebenen jetzt die drei patschnassen Abenteurer ins Auge. „Wir können nicht mit Zivilisten nach Caer Darrow reiten. Noch dazu haben die drei keine Pferde. Wir müssen die Mission abbrechen und nach Chillwind zurückkehren. Wenn wir schnell reiten, sollten wir das Camp noch vor der Dunkelheit erreichen. Lasst den Proviant hier und sattelt das Packpferd für unsere Besucher.“ Sofort brach hektische Geschäftigkeit aus, während Risingsun zu ihrem Schlachtross zurück ging und sich mit einer eleganten Bewegung auf dessen Rücken schwang. Unter ihren wachsamen Augen wurden Magenta und Abbefaria auf das Packpferd verfrachtet, während Schakal zu einem der anderen Reiter aufs Pferd klettern musste. Als alle oben saßen, formierte sich die Reitergruppe so, dass die Pferde mit den Fremden jeweils von zwei der Reiter flankiert wurden. Nur gut, dass ich nicht angeboten habe, mein Teufelsross zu beschwören, dachte Magenta. Ich bin mir sicher, es wäre Risingsun eine Freunde gewesen, mich auch noch in Ketten legen zu lassen. Wir reisen ohnehin schon wie Gefangene. „Reiten wir am See entlang, Hauptmann?“, fragte Fähnrich Rirre, als der Zug zum Aufbruch bereit war. „Nein.“, antwortete Risingsun bestimmt. „Wir nehmen den Bergpfad zur Rückseite von Uthers Grabmal. Das ist kürzer und wir kommen nicht so nah an Andorhal vorbei. Die gesteigerte Aktivität dort gefällt mir nicht.“ Die Pferde setzten sich in Bewegung, doch Magenta bemerkte es kaum. Sie blickte über die Schulter zu Abbefaria zurück und der Nachtelf nickte fast unmerklich. Er hatte ebenfalls gehört, was die Paladina gesagt hatte. Sie waren ganz in der Nähe von Andorhal. Jetzt mussten sie nur noch einen Weg finden, den Klauen dieser Argentumdämmerung zu entkommen. - „Hey, wir sind da!“, jubelte Emanuelle und zeigte nach vorn wo am Horizont einige Lichtpunkte in der ansonsten stockfinsteren Nacht erschienen waren. „Da ist das Dampfdruckpier.“ „Wird aber auch Zeit.“, murrte die heisere Stimme des Schurken neben ihr. Der Nachtelf lenkte sein Reittier neben sie und funkelte sie bedrohlich an. „Ich habe gewusst, dass man Euch nicht trauen kann. Diese Höllenmaschine hat uns mitten in der Wüste abgesetzt.“ Emanuelle verdrehte die Augen. „Ich habe doch schon zugegeben, dass es meine Schuld war. Ich habe die Ankunftskoordinaten anhand der Sternenposition angeben, die bei unserem letzten Besuch hier vorherrschten. Wie hätte ich denn bitte wissen sollen, dass sich die Sterne bewegen?“ „Jedes Kind weiß das.“, fauchte der Schurke. „Seid Ihr etwa noch nie nachts gereist?“ „Selten. Und niemals ohne einen Führer.“, gab Emanuelle zu. Sie blickte gedankenvoll zum nächtlichen Himmel empor, von dem aus ihr die kleinen Lichtpunkt spöttisch zuzuzwinkern schienen. „Man müsste etwas erfinden, dass immer am selben Platz bleibt.“, überlegte sie laut. „Etwas, dass es möglich macht, seinen Standpunkt jederzeit zu bestimmen und das diese lästige Berechnerei mit Jahreszeit und Sonnenstand unnötig macht. Aber vielleicht hätte ich in Astronomie einfach keine verbesserten Rennflitzer entwickeln sollen. Aber das Thema ist so ööööde.“ „Wir nähern uns der Siedlung.“, unterbrach Ceredrian ihre Überlegungen. „Meint Ihr, Ihr findet das Haus auch im Dunkeln?“ „Kein Problem.“, zwitscherte Emanuelle. „Ich meine, das Haus wird sich ja wohl nicht bewegt haben, oder?“ Ceredrian verneinte lächelnd. „Gut, dann müssen wir da lang.“, sagte Emanuelle bestimmt. „Ich bin a schon so gespannt, was Yeh’kinya zu unserem Erfolg sagt.“ Die Nachtsäbler glitten wie große Schatten durch die nächtlichen Straßen. Ab und an fiel ein Lichtschein aus den kleinen, rechteckigen Fenstern der Behausungen auf die staubige Straße. Man hörte Geräusche von Tellern und Besteck und leise Gespräche. Einige der Häuser waren bereits dunkel und die hölzernen Fensterläden zugezogen. An einem kleinen Platz saßen mehrere Fischer bei einem Kartenspiel zusammen. Als die Reiter sie passiert hatten, erhob sich einer von ihnen. „Hey Gikkix, wo willsu hin?“, nuschelte einer der Goblin und nahm noch einen Schluck aus einer großen, bauchigen Flasche. „Wir ham noch jede Menge von Stoleys Zeug.“ „Ich gehe mich für den Rum revanchieren.“, antwortete der Goblin und verschwand im Dunkeln. Seine Kameraden sahen sich an, bis einer von ihnen mit den Schultern zuckte. „Wenn er meint. Los, Jabbey! Du bist mit Geben dran.“ Yeh’kinyas Hütte lag in fast vollständiger Dunkelheit da. Lediglich das flackernde Licht einer einzelnen Kerze drang zwischen den löchrigen Fensterläden hindurch. Emanuelle sprang vom Rücken ihres Nachtsäblers und wollte schnurstracks zur Tür gehen. Ceredrian hielt sie zurück. „Wartet!“, flüsterte der Nachtelf. „Ich will zuerst etwas nachsehen.“ Bleich wie ein Gespenst schlüpfte der Priester um eine Ecke und war verschwunden. „Was macht der denn?“, murrte der Schurke. „Ich verhungere bald.“ Augenblicke später kehrte Ceredrian zurück. Emanuelle war sich nicht sicher, denn es war immerhin ziemlich dunkel, aber für einen Moment hatte es ausgesehen, als würde er sich Sorgen machen. „Der Troll sitzt drinnen auf dem Fußboden und brennt Räucherwerk ab. Dabei murmelt er unablässig etwas vor sich hin. Leider ist seine Aussprache so undeutlich, dass ich es nicht verstehen konnte. Oder er spricht einen eigenartigen Dialekt.“ Der Schurke zog eine Augenbraue nach oben. „Ich frage jetzt lieber nicht noch einmal, seit wann du Trollisch kannst. Deine Andeutungen haben mir beim letzten Mal schon nicht gefallen.“ Der Priester verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln. „Kommt, gehen wir rein.“ Entschlossen klopfte Emanuelle an die schiefe Holztür. Augenblicklich verstummte das undeutliche Gemurmel aus dem Inneren und Gegenstände und Möbel wurden hektisch beiseitegeschoben. „Wer is da?“, kam etwas verzögert die Frage von drinnen. „Hier ist Emanuelle. Komm, mach auf!“ Kurz darauf wurde der Riegel innen zurückgeschoben und Yeh’kinyah öffnete ihnen. Er trug ein komplett rotes Gewand, das sich wunderbar mit seinem Haarschopf biss. Als er Emanuelle sah, grinste er. „Emanuelle, du bist schon zurück?“, fragte er mit hoher Stimme. „Ja, und ich habe…“, antwortete die und wollte nach ihrer Tasche greifen, als der Troll den Zeigefinger auf die Lippen legte und sie am Arm packte. „Nicht hier.“, flüsterte er. „Kommt herein.“ Drinnen war es unaufgeräumt wie immer. Mit fahrigen Bewegungen bot der Troll ihnen einen Platz an. „Tee?“, fragte er. „Ich könnte welchen machen.“ „Danke, wir möchten nichts.“, beantwortete Ceredrian die Frage, bevor Emanuelle sagen konnte, dass sie gerne einen Tee gehabt hätte. Der Priester lehnte sich gegen einen Tisch, auf dem einen gesprungene Tasse und eine Kanne stand, aus der weiße Dampfwölkchen quollen. Die Nächte in der Wüste waren erstaunlich kalt. Emanuelle strahlte Yeh’kinya an. „Du wirst nicht glauben, was wir alles erlebt haben. Der Tempel war unglaublich und wir…“ „Habt ihr das Ei?“, unterbrach der Troll sie. Seine Hände öffneten und schlossen sich und in seinen Augen lag ein seltsamer Glanz. Vermutlich hatte er etwas von diesen scheußlichen Kräutern zu sich genommen. „Natürlich.“, erwiderte die kleine Magierin und holte das Ei aus ihrer Tasche. „Hast du etwa etwas anderes erwartet? He…!“ Yeh’kinya hatte Emanuelle das Ei aus der Hand gerissen und betrachtete es verzückt. „Die Essenz von Hakkar.“, hauchte er und wiegte das Ei wie ein Wickelkind hin und her. „Ihr habt tatsächlich den Avatar von Hakkar besiegt und seine Essenz in das Uralte Ei gebannt. Selbst jetzt fühle ich, wie das Böse in seinem Inneren pulsiert. Ihr habt eine wahre Heldentat vollbracht.“ „Ach, das war doch nichts.“, winkte Emanuelle ab und fühlte, wie ihre Wangen warm wurden. „Das hätte doch jeder geschafft.“ Der Troll blinzelte, als könne er nicht glauben, was sie gesagt habe. „Nicht jeder.“, widersprach er. „Wenn der Mythos wahr ist, habt ihr eine Legende berührt. Eure Taten werden das Gesicht der Welt verändern.“ Emanuelle fühlte eine Welle von Stolz in sich aufsteigen wie Blubberbläschen in einem Glas Limonade. Es kitzelte im Bauch und sie musste kichern. Es war so schön, dass sie etwas Gutes getan hatten. „Es ist spät geworden.“, sagte der Troll, den Arm immer noch um das kostbare Ei gelegt. „Ich würde Euch gerne ein Nachtlager anbieten, aber wie ihr seht, ist meine Hütte klein und edle Gäste wie ihr sollten lieber in einem richtigen Gasthaus nächtigen. Wenn ihr euch beeilt, geben sie euch bestimmt noch ein Zimmer.“ „Wir benötigen keine Unterkunft.“, gab Ceredrian zur Auskunft. Der Priester hatte die ganze Zeit mit untergeschlagenen Armen am Tisch gestanden. Jetzt legte er die Hände aneinander und deutete eine Verbeugung an. „Wir werden die Stadt noch heute Nacht wieder verlassen.“ Der Troll grinste breit. „Dann wünsche ich Euch viel Glück auf eurem Weg.“ „Aber…“, begann Deadlyone, wurde jedoch sogleich von Ceredrian unterbrochen. „Wir gehen.“, sagte der Priester bestimmt und schob seinen wiederstrebenden Cousin zur Tür hinaus. „Kommt Ihr, Emanuelle?“ Die Gnomin, die das Verhalten ihrer Reisekameraden nicht ganz zu deuten vermochte, runzelte die Stirn. Warum war der Nachtelf auf einmal so unhöflich? Sie beschloss, ihn danach zu fragen. Mit einem Lächeln drehte sie sich zu Yeh’kinya herum. „Hab vielen Dank für dieses schöne Abenteuer. Ich bin froh, dass uns jetzt keine Gefahr mehr durch diesen Blutgott droht. Er war ein scheußliches Ungetüm.“ „Wenn du das sagst.“, antwortete der Troll und hielt Emanuelle die Tür auf. „Ich werde dich und deine Freunde heute Nacht in mein Gebet einschließen.“ Yeh’kinja winkte noch einmal zum Abschied und schloss dann die Tür hinter Emanuelle. Die kleine Gnomin stand allein im Dunkeln. „Wo sind sie denn nur hin?“, fragte sie sich und sah sich nach den beiden Nachtelfen um, als sich ein Schatten von der Wand löste. „Emanuelle?“, fragte eine Stimme, die nicht zu ihren beiden Begleitern gehörte. „Ja, das bin ich.“, konnte Emanuelle noch antworten, bevor sie etwas am Kopf traf und die Welt um sie herum dunkel wurde. „Ihr hättet uns fragen können.“ Die Stimme gehörte Ceredrian, so viel konnte Emanuelle herausfinden. Ihr Kopf klopfte furchtbar und sie konnte ihre Arme nicht richtig bewegen. Als sie ihre Lider ein Stück weit hob, konnte sie einen gemauerten Raum erkennen. Es roch nach Wein und andere Spirituosen. Sie musste in einem Gasthaus sein. Genauer gesagt im Keller eines Gasthauses. „Wie konnten wir wissen, ob wir Euch vertrauen können, Nachtelf.“, antwortete eine poltrige Stimme, die Emanuelle einem Zwerg zuordnete. Aber ein Zwerg in Tanaris? Das war ungewöhnlich. „Was habt Ihr mit Yeh’kinya zu schaffen?“, wollte jetzt eine andere Stimme wissen. Es war dieselbe, die Emanuelle gehört hat, bevor sie bewusstlos geschlagen worden war. Der Größe nach konnte es kein Nachtelf oder Zwerg gewesen sein und ein Gnom schied ohnehin aus. Allerdings sprach er die Gemeinsprache ohne Akzent. Ein Mensch vielleicht? „Stoley, immer mit der Ruhe.“, knurrte der Zwerg wieder. „Am besten wir besorgen unseren Gästen erst einmal etwas zu essen und zu trinken. Bei einem ordentlichen Bier bespricht sich so manches leichter. Aber komm nicht auf die Idee, uns diesen Fusel aufzutischen, den du deinen anderen Gästen servierst. Und hol den Paladin. Er sollte das hier ebenfalls hören.“ Emanuelle spürte, wie kühle, lange Finger sich auf ihre Schläfen legten. Angenehm warme Energie floss daraus in ihren Kopf und beseitigte das dumpfe Kreisen und fürchterliche Pochen. Sie öffnete die Augen und sah in Ceredrians besorgtes Gesicht. „Alles in Ordnung?“, fragte er. „Mir geht es gut.“, antwortete sie. „Aber wo sind wir? Und wer ist dieser Zwerg?“ Ceredrian hob eine der langen Augenbrauen. „Ihr seid ein erstaunliches Persönchen. Darf ich vorstellen? Ausgrabungsleiter Ironboot.“ Ein Zwerg, von Kopf bis Fuß in schwarze Kleidung gehüllt, mit einem schwarzen Bart und einem großen, schwarzen Hut, der fast sein gesamtes Gesicht in Schatten tauchte, legte grüßend die Hand an die Stirn. „Ich freue mich, Eure Bekanntschaft zu machen.“, brummte der Zwerg. „Entschuldigt bitte die Unannehmlichkeiten. Wir hatten, ehrlich gesagt, nicht mit Eurer Rückkehr gerechnet.“ Emanuelle betrachtete den Zwerg misstrauisch. Ihr war nicht entgangen, dass die Augen im Schatten der Hutkrempe rot leuchteten. Ein Dunkeleisenzwerg! „Was wollt Ihr von uns?“, verlangte Emanuelle zu wissen. Sie schnippte mit den Fingern und die Fesseln, die ihre Arme an den Stuhl, auf dem sie saß, gefesselt hatten, fielen zu Boden. Der Zwerg sah beeindruckt aus. „Ihr werdet es gleich erfahren. Einen Augenblick Geduld noch.“ Am oberen Ende der Kellertreppe wurde eine Tür geöffnet und kurz darauf betraten zwei Männer den Raum, beide schwer beladen mit Essen und Trinken, das sie auf einem Tisch verteilten. Der eine von ihnen wirkte ein wenig heruntergekommen. Er war unrasiert und seine Kleidung war mehrfach geflickt. Im Gegensatz dazu wirkte der andere wie aus dem Ei gepellt, auch wenn man ihm eine gewisse Erschöpfung ansah. Sorgfältig gestutztes, blondes Haupthaar, eine alte, aber tadellos gepflegte Plattenrüstung und ein schwarzer Wappenrock mit einem silbernen Kreis in einem goldenen Strahlenkranz ließen Emanuelle schließen, dass das der Paladin sein musste, von dem der Zwerg gesprochen hatte. „Esst und trinkt.“, forderte der Zwerg die Anwesenden auf. „Ich habe Euch etwas zu berichten, das Euch nicht gefallen wird.“ Zögernd begannen Emanuelle und die Nachtelfen zu essen. Der junge Paladin konnte sich anscheinend auch keinen richtigen Reim auf die Sache machen, griff aber herzhaft zu und beendete das ausgiebige Mahl schließlich mit einem unterdrückten Rülpsen. „Verzeihung.“, murmelte er. „Aber vielleicht könnte ich jetzt endlich erfahren, warum mich meine Kommandantin mit diesen merkwürdigen Steintafeln hierher geschickt hat. Mahegan, hat sie zu mir gesagt. Mahegan, ich vertraue dir diese wichtige Fracht an. Ich habe sie einem Haufen untoter Trolle abgenommen und du wirst sie nach Tanaris bringen. Ich kann es mir im Moment nicht leisten, die Truppen allein zu lassen.“ „Klingt, als hätte die Braut dich gelinkt.“, grinste Deadlyone. „Gefällt mir jetzt schon.“ „Wie redet Ihr von Kommandatin Risingsun!“, rief der Paladin und sprang auf. Seine Hand griff zu der Stelle, an der sich vermutlich normalerweise sein Schwert befand. Die Stelle war leer. „Risingsun?“ Emanuelle glaubte, sich verhört zu haben. „Was hat die denn damit zu tun?“ Der Paladin ignorierte sie. „Ich verlange Genugtuung!“, brüllte er und hielt die geballten Fäuste hoch, um sich auf den immer noch feixenden Nachtelfen zu stürzen. „Komm doch her, wenn du dich traust.“, stichelte der und bleckte die Eckzähne. „Deadly!“, ließ sich Ceredrian warnend vernehmen. „Nimm dies, Schurke!“, rief der Paladin und holte mit dem Plattenhandschuh aus. Emanuelle sprang auf und begann einen Eiszauber zu weben. Ein Stuhl polterte zu Boden und Glas klirrte. Deadlyone duckte sich zum Sprung. In seiner Hand glänzte eine zerbrochene Flasche. „RUHE UND HINSETZEN!“ Ausgrabungsleiter Ironboot hatte den Hut abgenommen und wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab. „Ihr werdet jetzt alle den Mund halten und mir zuhören. Die Situation ist verdammt noch mal ernst genug, ohne dass ihr Euch gegenseitig an die Gurgel geht. Dieser Troll, Yeh’kinja plant etwas und glaubt mir, wenn ich Euch sage, dass es nichts Gutes ist.“ Er wandte sich zu Emanuelle um undfurchte die Stirn. „Im Grunde genommen seid Ihr an all dem hier Schuld. Ihr habt dem Troll die ersten zwei Schrifttafeln aus Zul’Farrak brachtet. Durch sie hat er von dem Uralten Ei erfahren, in dem man die Essenz von Hakkar aufnehmen kann.“ Emanuelle zog eine Schnute. „Aber wieso meine Schuld? Die Schrifttafeln besagten doch nur, dass…“ „Ja, diese Schrifttafeln.“, schnitt ihr der Zwerg das Wort ab. „Es gibt aber nicht zwei sondern insgesamt sechs dieser Tafeln. Sechs! Yeh‘kinya hat Euch belogen. Ich studiere diese Legende jetzt schon lange und habe inzwischen die Aufenthaltsorte der vier restlichen Tafeln ausfindig gemacht. Leider ist einer meiner Art in Ironforge nicht besonders gut gelitten. Ich schickte daher einen Brief mit der Bitte um Unterstützung an einen alten Bekannten in Loch Modan. In seiner Antwort stand, dass er zwei vertrauenswürdige Personen damit beauftragt hat, mir die restlichen Tafeln zu besorgen. Zwei davon hat dieser eifrige, junge Mann gestern hier angeschleppt.“ Der Paladin namens Mahegan stand halb vom Tisch auf und verbeugte sich in die Runde. „Aber die Tafeln der Mossflayer-Trolle allein genügen nicht. Auf ihnen ist lediglich ein Ort und mehrere Gegenstände beschrieben, die man für irgendein Ritual benötigt. Ich brauche die letzten zwei letzten Tafeln aus dem Besitz des Smolderthorn-Stamms, um zu wissen, worum es geht.“ Emanuelle blinzelte ein paar Mal anhand dieser ungeheuerlichen Eröffnung. Sie hatte doch nichts Böses gewollt. Und jetzt behauptete dieser Zwerg, dass sie etwas Unrechtes getan hatte? Sie wollte all das nicht glauben. „Warum gehen wir nicht einfach hin und fragen Yeh’kinya?“, versuchte sie einzuwerfen. Ausgrabungsleiter Ironboot sah sie mitleidig an. „Weil er ohnehin alles abstreiten würde. Wir haben keinerlei Handhabe gegen ihn ohne die letzten Tafeln. Die Goblins würde am Ende nur uns ins Gefängnis werfen.“ Der Dunkeleisenzwerg nahm seinen Bierkrug auf, trank jedoch nicht daraus, sondern blickte nur sorgenvoll in die dunkle Flüssigkeit. „Bei Thaurissans Hammer…ich wünschte, dieser Schakal würde sich beeilen.“ Pestländer. Magenta wusste nicht, welche Bezeichnung passender gewesen wäre für die trostlose Landschaft, die an ihnen vorbeizog. In der Luft lag ein fauliger Geruch und der allgegenwärtige, gelbe Nebel kratzte unangenehm in der Kehle. Alle Pflanzen waren welk und krank und im verfilzten Unterholz regte sich kein einziges Tier. Es war beängstigend still. Natürlich hatte die Hexenmeisterin von den riesigen Arealen gehört, die im Zuge des dritten Kriegs von den Untoten verwüstet worden waren. Aber sie hätte es sich nie so schlimm vorgestellt. Für Abbefaria, der hinter ihr auf dem Pferd saß und dessen betrübter Blick auf die tote Landschaft Bände sprach, war das hier vermutlich ebenso verdorbenes Gebiet wie die dämonenverseuchten Wälder Felwoods. Doch Magenta spürte deutlich den Unterschied. Dämonische Magie mochte fremdartig, ja sogar böse sein, doch das, was diese Landschaft durchdrang, war wie das Gegenteil von Leben. Sie wusste jetzt wieder, warum sie stets einen großen Bogen um die Lehrbücher für Nekromantie gemacht hatte. Es war einfach falsch, Tote wieder zum Leben zu erwecken. Oder, wie es hier geschehen war, Lebende in Tote zu verwandeln, die immer noch herumliefen und versuchten, einem ins Bein zu beißen. Bei dem Gedanken zog Magenta ihren Fuß unbewusst weiter an das Pferd. „Was ist?“ Abbefarias Stimme klang angespannt und besorgt. „Nichts. Ich möchte nur vorbereitet sein, falls wieder eine Knochenhand aus dem Boden kommt und nach mir grabscht. Wer weiß, ob Risingsun nächstes Mal wieder schnell genug ist, um dieses widerliche Ding zu erschlagen.“ Im Stillen fragte sich Magenta, ob die Paladina sie wohl extra über den verfallenen Friedhof geführt hatte. Sie musste doch gewusst haben, dass in den Gräbern noch Untote lauerten. Von den Ghulen mal abgesehen, die Magenta noch unappetitlicher fand, als die wandelnden Knochenhaufen oder die noch halbwegs menschlich erscheinenden Zombies. Aber vermutlich hatte sie einfach diese alberne, kleine Zeremonie abhalten wollen, bei der sie am Grabmal von Uther, dem Lichtbringer, vom Pferd gestiegen war und sich erst einmal eine geschlagene Viertelstunde in den Staub gekniet hatte, bevor der Tross weiterreiten konnten. Nicht, dass Magenta nicht zugegeben hätte, dass dieser Mann bestimmt Großartiges geleistet hatte. Sie hätte ihn nur lieber von einem sichereren Standpunkt aus bewundert. Umso erleichterter war sie, als in der Ferne ein Lager aus großen, weißen Zelten in Sicht kam, das offensichtlich ihr Ziel darstellte. Ihre Erleichterung sank, als sie sah, dass ein großes Banner der Argentumdämmerung über dem Camp im Wind flatterte. Risingsun ließ den Zug anhalten und wandte sich an ihre Begleiterin. „Fährich, ich möchte, dass ihr unsere Gäste in mein Zelt bringt. Versorgt sie mit allem, was sie brauchen. Ich werde derweil Meldung machen. Die Expedition nach Caer Darrow darf nicht weiter verzögert werden.“ Die junge Frau salutierte. „Zu Befehl, Hauptmann.“ Magenta spürte unangenehm die Aufmerksamkeit der restlichen Camp-Bewohner, während Fähnrich Rirre sie zu einem großen Zelt brachte, vor dem ein Waffenständer aufgebaut war. Mehrere Schilde und Schwerter, allesamt glänzend und ordentlich aufgereiht. Die Paladina schien sie akribisch zu pflegen. Oder aber es gibt hier schlicht weg nichts zu tun, wenn man mal vom Untote schlachten absieht, dachte Magenta bei sich und musste grinsen. Nein, man konnte wirklich nicht behaupten, dass sie Risingsun vermisst hatte. Kurz darauf schämte Magenta sich ein wenig wegen ihrer gehässigen Gedanken. Sie, Schakal und Abbefaria waren geradezu zuvorkommend von dem jungen Fähnrich bewirtet worden und saßen jetzt im Trockenen, während draußen ein eisiger Regenguss niederging. Ohne Risingsuns Eingreifen wäre das eine sehr unangenehme Nacht im Freien geworden. Stattdessen saßen sie jetzt hier in einem leidlich gemütlichen Zelt und schmausten. Die Hexenmeisterin zuckte zusammen, als die Zeltplane zurückgeschlagen wurde und Risingsun in einer nassglänzenden Rüstung das Zelt betrat. Die Paladina bedachte sie mit einem frostigen Blick und entledigte sich dann ihrer Panzerung. Nur in einfache Wollhosen und ein weißes Leinenhemd gehüllt setzte sie sich schließlich zu ihnen an den Tisch und begann schweigend zu essen. Erst als Schakal sich räusperte und das Wort ergreifen wollte, legte sie das Messer zur Seite und sah die drei Abenteurer der Reihe nach an. „Ich werde es vermutlich bereuen.“, sagte sie. „Aber ich bin neugierig. Was wollt ihr hier? Ihr werdet wohl kaum aus heiterem Himmel in den Pestländern auftauchen.“ „Nun, wenn man es genau nimmt, schon.“, brummte Schakal. Der Zwerg hatte Haleh immer noch nicht verziehen, dass sie sie so unsanft über den großen Mahlstrom transportiert hatte. „Aber natürlich hat das Ganze einen Grund.“ Magenta rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her. Diese Stühle waren nicht dazu gedacht, bequem zu sein. Außerdem war ihr nicht wohl dabei, Risingsun einzuweihen. Wer wusste, wie die Paladina auf all das reagieren würde. Im besten Fall würde sie ihnen nicht glauben. „Wir müssen nach Andorhal.“, sagte Abbefaria jetzt. „Wir sollen uns dort mit jemandem treffen.“ Risingsun sah den Nachtelfen verblüfft an, bevor sie ein kurzes, hartes Lachen ausstieß. „Ihr beliebt zu scherzen.“ „Nein.“, antwortete Abbefaria. Seine Miene war ernst und der schmale Schein der Laterne, die auf dem Tisch stand, malte tiefe Schatten auf sein Gesicht. „Wir sind auf einer wichtigen Mission, von der viele Leben abhängen könnten. Es geht um die Bekämpfung des schwarzen Drachenschwarms.“ Risingsuns Augenbrauen wanderten nach oben. „Schwarze Drachen?“, fragte sie. „Und da kommt ihr ausgerechnet hierher? Wenn wir in der Brennenden Schlucht wären, meinetwegen. Aber von hier bis zur Kapelle des hoffnungsvollen Lichts gibt es nichts als Ghule und anderes untotes Gewürm. Ich glaube, nicht einmal ein Drache wäre so verrückt, sich hier niederzulassen.“ „Und doch scheint es in Andorhal jemanden zu geben, der uns bei unserer Aufgabe helfen kann.“, fuhr Abbefaria fort. „Könnt Ihr uns sagen, wie wir dorthin gelangen?“ „Ob ich…“, begann Risingsun und lachte wieder. Magenta fielen jetzt die Schatten auf, die unter den Augen der Paladina lagen. Risingsuns Gesicht wirkte schmaler als beim letzten Mal, als sie sich gesehen hatten, und um ihren Mund lag ein harter Zug. „Niemand kommt nach Andorhal hinein. Der letzte, der es versucht hat, fand einen grausamen Tod zusammen mit allen Männern, die ihm in diesen Wahnsinn gefolgt waren.“ Die Paladina wandte sich jetzt an Magenta. „Du erinnerst dich doch sicher an unser Abenteuer in Duskwood. An die Monstrosität, die wir halfen zu erwecken.“ Magenta sah das Feuer in Risingsuns Augen und traute sich nur zu nicken. „Dort haben sie ein gutes Dutzend dieser Kreaturen. Dazu untote Magier, die stets neue Skelette erwecken, Ghule, die einem bei lebendigem Leib die Haut von den Knochen reißen. Banshees, die die Sinne verwirren und Freund gegen Freund richten, ganz zu schweigen von dem Lich, der sich in der Stadtmitte verschanzt hat und die gesamten Truppen kontrolliert. Dort einzudringen ist nahezu unmöglich.“ Schakal legte den Kopf schräg. „Nahezu?“ „Mein erster Leutnant, den ich momentan schmerzlich vermisse, hat sich letztens in einer waghalsigen Aktion nach Andorhal durchgeschlagen, um die dortigen Wachtürme mit einer magischen Fackel zu kennzeichnen. Unser leitender Offizier ist der Meinung, dass die Untoten sich mit ihrer Hilfe koordinieren. Wir wollten unsere Angriffe darauf fokussieren, aber…“ „Er ist also reingekommen.“, unterbrach Schakal die ausschweifende Paladina. „Wie?“ Risingsun zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung. Vermutlich hat er sich mit seinem Dickschädel einfach durch die Menge gehackt und hatte Glück.“ „Dann müssen wir eben auch Glück haben.“, sagte Magenta und stand auf. „Die Risingsun, die ich kenne, hätte zumindest nicht so schnell aufgegeben. Sie hätte sich ihren Hammer geschnappt und wäre in die Schlacht gezogen und hätte es diesen Untoten gezeigt. Oder so.“ Ein winziges Lächeln huschte über Risingsuns Gesicht. Es war fast nicht zu sehen und doch war es, als wäre die Sonne für einen Augenblick zwischen den Wolken hervorgebrochen. Magenta spähte zu Abbefaria und wusste, dass der Druide es ebenfalls bemerkt hatte. Er stand auf und verbeugte sich förmlich vor Risingsun. „Es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr unsere Expedition anführen würdet.“ Schakal nickte ernst. „Wüsste nicht, mit wem ich mich lieber in einen Haufen Untote stürzen würde.“ Risingsun sah zu Magenta. Die Hexenmeisterin wusste, was sie jetzt sagen musste. Es brachte sie fast um, aber da es die Wahrheit war, rang sie sich schließlich doch dazu durch, es auszusprechen. „Du bist die Einzige, die uns helfen kann. Bitte, führe uns nach Andorhal.“ Risingsun schüttelte den Kopf. „Ich muss den Verstand verloren haben.“, murmelte sie. „Aber ich glaube euch. Die Geschichte ist einfach zu verrückt, um nicht wahr zu sein.“ „Dann bringst du uns nach Andorhal?“ Magenta verschränkte die Finger unter dem Tisch. Alles hing jetzt von Risingsuns Antwort ab. Die Paladina nickte. „Ja, das werde ich. Wir werden im Morgengrauen aufbrechen. Tagsüber sind die Untoten weniger aktiv und es sollte leichter sein, ihre Reihen zu durchbrechen. Aber ich warne euch. Das Ganze wird kein Spaziergang.“ Schakal schnaubte trocken. „Das hätte mich nach all dem jetzt irgendwie auch gewundert.“ „Und ihr seid euch sicher, dass ihr dort runter wollt?“ Risingsuns Frage richtete sich an die drei Abenteurer, die zusammen mit ihr auf der Kuppe eines Hügels im gelben Gras lagen und auf die Überreste und Ruinen der einst großen Stadt Andorhal hinunterblickten. Von vielen Gebäuden waren nur noch verfaulte oder verbrannte Gerippe übrig, andere hatten die Zerstörung besser überstanden und zeichneten sich jetzt als dunkle Schatten gegen den Nebel ab. Bereits seit dem Morgen, als sie das Chillwind Camp in aller Frühe verlassen hatten, wallten die trüben Schwaden wie lebendige Wesen über den Boden und bedeckten alles mit einem klebrigen, feuchten Film, den Magenta äußerst unangenehm fand. Auf Risingsuns Empfehlung hin, hatten sie die Stadt zunächst im Süden umritten und betrachteten jetzt das westliche Tor, dass laut der Paladina am wenigstens stark bewacht wurde. Die dicken Torflügel, die einst den Eingang der stolzen Handelsstadt gebildet hatten, hingen jetzt schief und zerschlagen in den Angeln. Auch die Stadtmauer hatte unter den Angriffen der Untoten gelitten und war vielerorts einfach niedergewalzt worden. Risingsun hatte ihnen erzählt, dass sich die Untoten dazu einer besonders makaberen Methode bedienten. Ihre Belagerungsmaschinen benutzten die Körper der Gefallenen oder wahlweise auch der eigenen Truppen als Katapultgeschosse. Magenta fröstelte, als sie eine der halb im Schlamm versunkenen Maschinen sah, deren rostige Messer und Schneiden wie lauernde Klauen eines schlafenden Tieres wirkten. Sie hoffte, dass sie nie einen der sogenannten „Leichenwagen“ in Aktion sehen würde. „Was ist das dort?“ Magenta deutete auf ein großes Gebäude, das relativ nah an der ehemaligen Stadtmauer stand. Seine Außenmauern waren noch intakt und wenn man von den Löchern im Dach und den zerschlagenen Fenstern absah, wirkte es lediglich ein wenig verfallen. Risingsun zuckte mit den Schultern. „Sieht mir wie das ehemalige Gasthaus aus. Du meinst doch wohl nicht etwa, dass euer geheimnisvoller Fremder sich ausgerechnet dort verbirgt?“ Magenta knetete mit den Fingern ihre Unterlippe, während sie mit der andere nach den Anhänger um ihren Hals fasste. Sie spürte ein leichtes Kribbeln und das unbestimmte Gefühl, dass sie genau dorthin mussten, wurde zur Gewissheit. „Doch, genau da werden wir Jeziba finden.“ Abbefaria warf ihr einen erstaunten Blick zu und deutete dann ein Lächeln an. „Also schön, worauf warten wir dann noch.“, brummte Schakal. „Auf in die Schlacht.“ Risingsun erhob sich, nur um gleich wieder auf ein Knie zu sinken. Sie hatte die Hände auf dem Griff ihres massigen Streitkolbens verschränkt und ihre Lippen bewegten sich in einem stummen Gebet. Magenta fühlte etwas Eigenartiges ihren Rücken hinaufkriechen. Das Gefühl war unangenehm und beruhigend zugleich. Risingsun beendete ihr Gebet und erhob sich. Magenta war sich nicht sicher, aber umgab die Paladina nicht tatsächlich ein leichtes Leuchten? Doch noch bevor sie sich dessen versichern konnte, stürmte Risingsun bereits mit einem gebrüllten „Für das Licht!“ den Hügel hinab und warf sich auf die beiden Untoten, die das Tor bewachten. Der Ghul fiel mit einem gurgelnden Laut unter einem sorgfältig geführten Streich von Risingsuns wuchtiger Waffe. Der Zombie, der sich schwerfällig zu der Paladina herumdrehen wollte, verging mit einem Aufschrei in einem Blitz aus weißem Licht. Ein Feuerball traf einen weiteren Ghul, der aus dem Schatten eines nahen Hauses heranstürmte. Verwundert sah Magenta sich um und entdeckte einen Skelettmagier, der im Schutz einer Ruine verdeckt stand und von dort aus bereits den nächsten Zauber wob. Zuerst wollte Magenta nicht in den Kopf, warum er einen der eigenen Leute angezündet hatte, doch als sie Risingsun aufschreien hörte, als die brennen Fetzen des Ghuls sie trafen, wusste sie warum. „Der Kerl spielt falsch.“, grunzte die Hexenmeisterin. „Na das kann er haben.“ Mit einem schnellen Zauberspruch beschwor sie Sloojhom an ihre Seite und hetzt ihn auf den untoten Magier. Der Teufelsjäger ließ sich das nicht zweimal sagen und stürmte mit einem hungrigen Aufjaulen auf das – zwangsläufig – grinsende Skelett. Während dessen fiel ein weiterer Ghul unter Schakals Schwertern und zwei Zombies wurden von Ranken zerquetscht, die Abbefaria aus dem verseuchten Boden beschwor. Ein neuer Skelettmagier erschien und versuchte, sie mit Eiszaubern an den Boden zu fesseln und das Blut in ihren Adern gefrieren zu lassen. Magenta überzog ihn mit einem Flammenzauber und befahl dann Sloojhom, den Rest zu erledigen. Ein schriller Schrei zerschnitt die Luft wie ein Messer und eine spektrale Gestalt stürzte sich mit ausgestreckten Armen auf Abbefaria. Der Nachtelf duckte sich, ließ sich fallen und rollte zur Seite ab. Wütend warf sich der fliegende Geist herum und ging wieder zum Angriff über. Ein neuer Schrei erklang und Abbefaria ging zu Boden, die Hände über den langen Ohren. Eine Banshee! Magenta überlegte nicht lange und warf einen Schattenblitz nach dem Geisterwesen. Mit einem Fauchen warf der sich herum und fuhr die langen Krallen nach Magenta aus. Der grässliche Mund in dem geisterhaft blassen Gesicht öffnete sich erneut zu einem der grässlichen Klagelaute. „Rising!“ Die Paladina reagierte sofort auf Magentas Hilferuf. Ein weißer Lichtblitz traf die Banshee und wirbelte sie durch die Luft. In greller Panik heulte der Geist auf und floh. „Verdammt!“ Risingsun befreite sich mit einem gezielten Hammerschlag von dem Ghul, der gerade versuchen wollte, ihr buchstäblich ein Ohr abzukauen, und setzte dem flüchtenden Geist nach. Schakal erledigte derweil der verdutzten Ghul, indem er ihm den Kopf von den Schultern schlug. „Sie wird es nicht schaffen.“, rief Abbefaria und deutete auf Risingsun. Die Paladina setzte gerade über einen umgestürzten Zaun hinweg und erschlug im Vorbeilaufen ein weiteres Skelett, bevor sie schließlich schwer atmend an einer Wegkreuzung stehenblieb. Die heulende Banshee verschwand irgendwo im Nebel. Mit erhobenem Kriegshammer schien die Paladina zu lauschen, dann drehte sie sich plötzlich herum und kam zurück. Schon von Weitem konnte Magenta sie rufen hören. „Sie kommen! Rückzug! RÜCKZUG!“ Magenta brauchte nicht zu fragen, was Risingsun meinte, denn dort, wo die Paladina gerade noch gestanden hatte, wälzten sich jetzt die riesigen Umrisse von zwei Monstrositäten durch den Nebel. Um die massigen Schatten herum kreuchten und fleuchten kleinere Untote, größtenteils Ghule mit ihren verrottenden Bandagen und den messerscharfen Zähne. Doch auch Skelettmagier und andere Knochenhaufen, die Schwerter und Äxte schwangen, gehörten zu der sich nähernden Schar von Scheußlichkeiten. Wie es schien, hatte der Schrei der Banshee Alarm ausgelöst. „Wir müssen weg.“, keuchte Risingsun. Sie fasste Magenta am Ärmel und wollte sie mit sich ziehen. „Nein.“ Abbefaria hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt und wies auf die Ruine, vor der sie sich befanden. Es war das Gasthaus. „Wir sind fast am Ziel. Wir können jetzt nicht aufgeben.“ „Ich werde keinen von euch zurücklassen.“, fauchte die Paladina. „Hierzubleiben ist Selbstmord!“ „Entschuldige, Mädchen, aber wir müssen da rauf.“, mischte sich jetzt auch Schakal ein. Dem Zwerg klebten unappetitliche Reste von Untoten in Haar und Bart und seine Schwerter waren über und über mit dunklem, geronnenem Blut bedeckt. „Wenn wir jetzt umkehren, schaffen wir es vermutlich niemals.“ Risingsun schüttelte den Kopf. „Ihr seid wahnsinnig. Vollkommen übergeschnappt. Aber gut, wenn es denn sein muss, dann beeilt euch wenigstens. Ich werde sie so lange aufhalten.“ „Allein?“ Magenta überlegte, ob der Schrei der Banshee wohl auch Risingsuns Gehirn in Mitleidenschaft gezogen hatte. Die Paladina grinste überheblich. „Wenn nicht ich, wer dann? Außerdem muss es ja nicht für lange sein. Ihr werdet dort oben sowieso niemanden finden. Also geht und sucht diesen Jeziba. Aber beeilt euch zurückzukommen, wenn ihr ihn nicht findet. Ich halte hier so lange die Stellung. Die werden sich noch wünschen, heute Morgen in ihren Gräbern geblieben zu sein.“ „Also schön, beeilen wir uns.“, knurrte Schakal und lief mit erhobenen Schwertern voran zum Gasthaus. Abbefaria deutete eine Verbeugung in Risingsuns Richtung an. „Möge Elune Euch schützen.“ Dann folgte er Schakal. Magenta warf noch einmal einen Blick auf die heran rollende Horde von Untoten. „Bist du dir…“ „Wenn du jetzt fragen willst, ob ich mir sicher bin, dass das hier eine Schnapsidee war, dann sage ich von Herzen ja.“, unterbrach sie die Paladina. „Und wenn die Frage lautete, ob ich das ernst meine auch. Also geh endlich. Ich werde hier nicht ewig durchhalten.“ Magenta wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Demuny wäre der heiligen Kämpferin vermutlich freudestrahlend um den Hals gefallen, aber das war nicht Magentas Art. So beschränkte sie sich auf ein schiefes Lächeln und ein genuscheltes „Danke“, bevor sie den anderen beiden folgte. Im Inneren des Gasthauses war es so dunkel, dass Magenta unwillkürlich langsamer wurde und sich vorsichtig durch die Finsternis tastete, bis sich ihre Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Sie trat im Dunkeln auf etwas Weiches und ihr Herzschlag stockte für einen Moment, bis sie merkte, dass es sich nur um die Überreste eine Ghuls handelte. Einige Schritte weiter leuchteten die bleichen Knochen eines Skelets im spärlichen Licht. „Magenta?“ Abbefaria und Schakal kamen ihr aus einem Raum entgegen, der früher wohl einmal die Küche gewesen war. „Dort und im Keller ist nichts.“, erklärte der Zwerg und sah nach oben. „Wir müssen wohl in den ersten Stock.“ Magenta nickte und stolperte unsicher zur Treppe vor. Dort blieb sie stehen und lauschte. Waren das dort oben nicht gerade Schritte gewesen? Langsam schob sie sich die knarrenden Stufen hinauf. Die Luft war kalt und modrig und das Holz unter ihren Füßen unangenehm glitschig. „Lass mich vorgehen.“, wisperte Abbefaria neben ihr und schob sich an der Hexenmeisterin vorbei. Der Nachtelf huschte bis zum oberen Treppenabsatz und verschmolz dort mit den Schatten. Magenta wartete mit angehaltenem Atem. Etwas in der Dunkelheit knurrte und fauchte, ein gurgelnder Schrei und etwas Schweres polterte die Treppe hinunter. Es landete direkt vor Magentas Füßen und starrte sie aus leblosen Augenhöhlen an. Der Kopf eines Ghuls. „Der Weg ist frei.“, rief Abbefaria von oben. Magenta und Schakal beeilten sich zu ihm aufzuschließen. Zu dritt standen sie schließlich vor einer verschlossenen Tür, unter der ein schwacher Lichtschein hervordrang. Der Nachtelf legte die Hand an das Holz und sah seine beiden Begleiter an. „Beten wir, dass wir Jeziba gefunden haben.“, sagte er und drückte entschlossen gegen die Tür. Warmes Licht flutete den verrotteten Flur und vor ihnen erstreckte sich ein gemütliches Zimmer. Es gab ein weiches Bett, einen Bücherschrank und einen Kamin, in dem ein warmes Feuer lustig vor sich hin prasselte. Mit staunenden Augen trat Magenta ein und sah sich um. Vor dem unzerbrochenen Fenster hingen schwere, rote Vorhänge und draußen konnte man einen sorgfältig geharkten Hof mit weißen Kieselsteinen und umsäumt von grünem Gras erkennen. Auf einem Tisch vor dem Fenster stand ein Teller mit einer angebrochenen Mahlzeit und ein Kelch mit dunklem Wein. Jemand musste vor kurzem noch hier gewesen sein. Schritte hinter ihnen ließen die drei herumwirbeln. In der Tür erschien ein hochgewachsener, blonder Elf in einer leichten, bronzefarbenden Kettenrüstung. Er wirkte nicht alt, wie Magenta es erwartet hatte, doch in seinen blauen Augen stand eine Erfahrung und Weisheit, die seine Erscheinung Lügen straften. Er lächelte freundlich. „Wie es aussieht, habe ich Gäste zum Abendessen.“, sagte er und betrat den Raum. „Chromie hätte mich wirklich vorwarnen können.“ „Seid Ihr Jeziba?“, fragte Abbefaria und machte dem Elf Platz, der ein Tablett balancierte und auf dem Tisch absetzte. Darauf befand sich neben verschiedenen Früchten ein ganzer Haufen Bücher. Er griff nach einem davon und machte sich daran, es in dem vor Schriftstücken fast überquellenden Schrank zu verstauen. „Jeziba, den Bildhauer, so nennen ich viele.“, sagte der Elf und musterte die drei Abenteurer. „Doch es sind keine Statuen, die ich erbaue, sondern Helden. Daher sagt mir, welcher Wind euch hierher geweht habt, damit ich mehr über das erfahre, was ich für Euch tun kann.“ „Haleh schickt uns.“, begann Abbefaria. „Wir wollen…“ Er kam nicht weiter, als sich die Tür ein zweites Mal öffnete und noch einen Gast einließ. Es war eine Gnomin in einer weißen Robe mit schwarzen und goldenen Tressen, die, als sie sie erblickte, wie angewurzelt stehen blieb. In ihren großen, grünen Augen spiegelten sich die Flammen des Kaminfeuers, so dass Magenta für einen Augenblick glaubte, sie wären goldfarbend. Die Gnomin legte den Kopf mit der blonden Schneckenfrisur schief und blinzelte zweimal. „Gäste? Oh Jeziba, warum hast du nichts gesagt?“ „Ich?“, echote der Elf. „Wenn hier jemand über unangemeldeten Besuch informiert sein müsstest, dann doch du.“ Die Gnomin runzelte die Stirn. „Stimmt, du hast Recht. Aber ich habe nichts geahnt. Wie eigenartig. Das müssen diese verdammten Maden draußen bei den Silos sein. Die rauben mir noch den letzten Nerv.“ Die Gnomin ersetzte die bekümmerte Miene blitzschnell durch ein breites Lächeln. „Ihr müsst entschuldigen, ich war unhöflich. Mein Name ist Chronormu, aber Ihr könnt mich ruhig Chromie nennen. Allerdings muss ich zugeben, dass ich Eure Namen nicht kenne, was sehr verwunderlich ist.“ Abbefaria verbeugte sich mit vor der Brust gefalteten Händen. „Abbefaria.“ Magenta versuchte sich an einem Knicks und nannte ebenfalls ihren Namen. Schakal hingegen ließ es sich nicht nehmen, der Gnomin die Hand hinzustrecken. „Schakal, angenehm.“ „Es freut mich, Euch kennenzulernen.“, erwiderte die Gnomin und ergriff Schakals Hand. In dem Moment, als sie sich berührten, zuckte die Gnomin zusammen. Sie zog scharf die Luft ein und starrte den Zwerg aus großen Augen an. „Schakal? DER Schakal? Oh weh oh weh…“ Der Blick der Gnomin irrte jetzt zu Magenta und Abbefaria und sie stieß einen kleinen Schrei aus. Wie von einer Biene gestochen ließ sie Schakals Hand los. Ein heftiges Zittern ging durch ihren Körper. „Entschuldigt mich, ich muss etwas nachsehen.“ Die Gestalt der Gnomin begann zu flackern, während sie ihren Augen halb geschlossen hatte. Ein bronzefarbender Schimmer, der sich langsam im Zimmer ausbreitete, erschien um sie herum. Kurz bevor es Schakal erreichte, brach das Leuchten ab und Chromie stand etwas atemlos vor ihnen. Ihre Augen funkelten zornig, während sie mit dem Zeigefinger vor Schakals Nase herum wackelte. „Du solltest überhaupt nicht hier sein.“, schimpfte sie. „Nicht JETZT! Und ihr beide…“ Sie wandte sich drohend zu Abbefaria und Magenta um. „Ihr solltet erst RECHT nicht hier sein. Oh, womit habe ich das nur verdient. Wer bitte hat denn diesen Schlamassel nun wieder zu verantworten? Diese verdammte Geißel. Sie wissen ja nicht, was sie hier alles anrichten! Irgendjemand sollte ihnen endlich das Handwerk legen.“ Magenta sah Abbefaria an. „Verstehst du, wovon sie redet?“ Der Nachtelf schüttelte den Kopf. Währenddessen wuselte Chromie im Zimmer umher und zeterte vor sich hin. Jeziba beobachtete sie schweigend und mit steigender Sorge. „Ich glaube es ja nicht. Wie konnte das nur passieren? Was mach ich jetzt nur? Was mach ich jetzt nur? Ich kann die drei doch nicht hier lassen. Und der König…was passiert mit dem König? Das geht doch nicht. Oh weh, oh weh…was für ein Chaos. “ Schließlich blieb sie stehen und fasst die drei Abenteurer scharf ins Auge. „Die Lage, in der Ihr Euch befindet, ist mehr als ernst. Irgendjemand hat den Lauf der Geschichte, über den ich und mein Schwarm zu wachen beauftragt wurden, ganz gewaltig durcheinander gebracht. Keiner von euch befindet sich zurzeit an dem Ort, an dem er bestimmungsmäßig sein sollte und so leid es mir tut, das muss ich ändern. Ich muss Euch wieder in Eure richtige Zeitlinie zurückschicken.“ „Moment mal. Sagtet ihr Zeitlinie? Drachenschwarm?“ Abbefarias Augen wurden immer größer. „Sagt nicht, Ihr seid ein Mitglied des Bronzenen Drachenschwarms!“ Chromie schürzte die Lippen. „Und ob. Hatte ich das nicht erwähnt? Meine Aufgabe ist es normalerweise, die hier in Andorhal mehr als durcheinandergeratenen Zeitlinien wieder ins Lot zu bringen. Und als gäbe es nicht schon genug Schwierigkeiten dabei…habt ihr schon mal temporale Parasiten gesehen? Widerliche, schleimige Biester, die sich von Zeitresten ernähren und Löcher in die Zeitlinien fressen…aber ich schweife ab. Na zumindest habt ihr mir dabei gerade noch gefehlt. Also nicht, dass ich nicht Hilfe begrüßen würde, die mir bei der Bewältigung meiner Aufgabe jenseits dieser Zeitblase helfen würde. Nicht, dass ihr mich falsch versteht. Ich wäre froh über Hilfe, nur eben nicht von euch. Ihr alle….oder sagen wir mal zumindest fast alle, habt wichtige Aufgaben zu erledigen. Oder etwa nicht?“ Magenta fühlte sich verpflichtet, zu antworten. „Also ich glaube nicht, dass…“ „Von dir redet ja auch keiner.“, unterbrach Chromie sie freundlich aber bestimmt. „Obwohl du jetzt auch was anderes machen solltest. Aber viel wichtiger ist eigentlich auch, was ihr bis jetzt getan habt. Es war nicht Eure Aufgabe, den Verrat durch Onyxia aufzudecken. Diese Aufgabe war für jemand andere reserviert. Das bringt doch alles durcheinander.“ Die Gnomin ließ sich auf einen Stuhl plumpsen und verbarg das Gesicht in den Händen. Jeziba trat an den Tisch setzte sich ihr gegenüber. „Wenn ich dir vielleicht irgendwie helfen kann?“ „Mhm, das könntest du tatsächlich.“, murmelte Chromie. „Ich brauche einen Beutel voll Gold, zwei Schattenmachtelixiere, sechs große, glänzende Splitter, drei schwarze Drachenschuppen, einen Arkanitbarren und fünfundzwanzig Einheiten Dunkeleisenerz. Meinst du, du hast so etwas da? Das würde helfen, zumindest einen Teil der Zeitlinie wieder auf Kurs zu bringen. Beim Rest muss ich eben einfach auf das Beste hoffen.“ Der Elf ließ zwar Erstaunen erkennen, antwortete aber nur: „Ich werde sehen, was ich tun kann.“, bevor er den Raum verließ. Chromie schien indes einen Entschluss gefasst zu haben, auch wenn sie nicht aussah, als würde er ihr gefallen. „So leid es mir tut, aber ich muss euch zurückschicken. Das Schicksal der Welt hängt davon ab. Allerdings werde ich dafür euch…eure Erinnerungen etwas verändern müssen. Wir wollen ja nicht, dass ihr mehr wisst, als gut für euch ist. Ihr würdet den Lauf der Zeit nur wieder durcheinander bringen, selbst wenn ihr es gar nicht wolltet.“ Abbefaria fasste nach Magentas Hand. „An was werden wir uns nicht mehr erinnern?“ Anscheinend hatte der Nachtelf sich bereits entschieden, dieses Schicksal zu akzeptieren. „Nun jaaaa.“, antwortete Chromie gedehnt und wies auf ihre gefassten Hände. „Ich fürchte daran, werdet Ihr euch zum Beispiel nicht erinnern können.“ „Was?“ Magenta konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. Dieser…Drache wollte ihr Abbefaria wegnehmen?“ „Keine Sorge, du wirst ihn nicht vermissen.“, sagte Chromie sanft. „Ich sorge schon dafür. Ah, Jeziba ist zurück. Hast du alles?“ Der Elf stellte eine Kiste vor Chromie und nickte. „Alles dort drin. Aber meinst du wirklich, dass es nötig ist?“ „Oh ja, das ist es.“, gab die Gnomin bestimmt zurück. „Ich werde die drei jetzt an ihren eigentlichen Bestimmungsort bringen. Beten wir einfach, dass es noch nicht zu spät ist, um die Zeitströme zu reparieren. Und jetzt tretet beiseite.“ Chromie stellte sich in die Mitte des Zimmers, schloss die Augen und schob die Ärmel ihrer Robe zurück. Sie begann mit den Ärmchen zu wedeln und murmelte dabei Silben in einer fremden Sprache, die Magenta nicht verstand. Voller Panik wandte die Hexenmeisterin sich an Abbefaria. „Das darfst du nicht zulassen!“, rief sie. „Du musst sie aufhalten!“ Ein goldener Strudel war jetzt vor Chromie erschienen. Wie flüssiges Metall schwappte die temporale Magie hin und her und kreiselte um einander wie Sand in einer riesigen Sanduhr. Mit jeder Umdrehung wurde der Wirbel breiter. „Schakal!“ Magentas gehetzter Blick suchte den Schurken. Der Zwerg zuckte mit den Schultern. „Was willst du machen, Mädel? Fortlaufen und dich verstecken? `S tut mir leid, dass es so kommen musste, aber ich glaube, Chromie hat Recht. Ich sollte jetzt eigentlich woanders sein. Hab das schon seit ner ganzen Zeit geahnt.“ Mit diesen Worten trat Schakal nach vorn in den goldenen Strudel, wurde von ihm erfasst und hineingezogen. Das Letzte, was Magenta von ihm sah, war seine zum Gruß erhobene Hand. „Jetzt ihr beiden.“ Chromies Stimme duldete keinen Widerspruch. „Nein, nein, ich will nicht.“ Magenta fühlte, wie Tränen ihre Wangen hinunterliefen. Abbefaria schloss die Arme um sie. „Ich werde dich niemals vergessen.“, flüsterte er in ihr Ohr, bevor der goldene Strudel auch sie erfasste und in die Tiefe zog. Als die beiden verschwunden waren, schloss sich der Zauber mit einem leisen Plopp. „Abbe? Abbe wo steckst du? Komm schon raus, ich weiß, dass du hier irgendwo steckst.“ Abbefaria öffnete träge ein Auge. Über ihm raschelte leise das Laub von Teldrassil und hunderte Meter unter ihm brandete das verhüllte Meer an die Insel, auf der der neue Weltenbaum stand. Ein Plätzchen wie gemacht für ein ausgiebiges Schläfchen. Zumindest war er das gewesen, bis die Stimme seiner Schwester ihn aus seinen süßen Träumen gerissen hatte. „ABBEFARIA!“ Wie es schien, wurde die Lage ernst. Wenn er nicht riskieren wollte, sie so zu erzürnen, dass sie tagelang nicht mit ihm sprach, sollte er sich lieber zu erkennen geben. „Ich bin hier!“, rief er, während er die Augen wieder schloss und versuchte, eine neue, bequeme Position zu finden. Dieses Unterfangen wurde empfindlich gestört, als der Ast unter dem Gewicht seiner Schwester zu zittern begann. „Hier steckst du also.“, schnaubte Navala wütend und ließ sich neben ihn auf den Ast fallen. Gerade noch rechtzeitig langte Abbefaria nach einem Halt. „Pass doch auf.“, knurrte er. „Wenn ich da runterfalle…“ „…könntest du nicht mehr mit mir zum Mondfest gehen.“, grinste Navala. „Ich gebe zu, das wäre sehr bedauerlich.“ „Mondfest?“ Abbefaria gähnte ausgiebig und streckte sich. „Nie davon gehört. Müsste ich davon wissen?“ Seine Schwester blies sich die grünen Ponyfransen aus dem Gesicht und versetzte ihm einen schmerzhaften Knuff gegen den Oberarm. „Oh, du weißt genau, dass du versprochen hast, mit mir zusammen hinzugehen. Und du wolltest mir ein neues Kleid kaufen. Du hast es verspochen.“ „Habe ich?“, antwortete der Druide gespielt erstaunt. Er gab seine Maskerade jedoch auf, als er das zornige Gesicht seiner Schwester sah. „Oh, das Mondfest meinst du. Mit all dem Lampions und dem Feuerwerk und dem bösen Gespensterhund Omen, der nachts aus dem See steigt und kleine Druidinnen frisst.“ Navala kreischte auf und versetzte ihm noch einen Schlag. „Für Geistergeschichten bin ich nun wirklich schon zu alt.“, maulte sie. „Jetzt komm endlich. Die fangen sonst noch ohne uns an.“ Abbefaria gähnte noch einmal und erhob sich dann. „Also gut, Schwesterherz. Du hast gewonnen. Gehen wir feiern.“ Mit einem Jubelschrei hängte Navala sich an seinen Arm und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu einem der magischen Kreise, der sie nach Moonglade bringen würde. Kurz bevor sie den Ast verließen, auf dem Abbefaria geruht hatte, sah er noch einmal zurück auf das Meer hinaus. Irgendwann würde er auch einmal zu dem Kontinent auf der anderen Seite des Mahlstroms reisen, doch dafür war noch so viel Zeit. Er hatte es nicht eilig. Ganz im Gegensatz zu seiner Schwester, sie jetzt an seinem Arm hing und ihn ungeduldig weiter zerrte. Lachend folgte der Druide ihr und ließ Ast und Meer allein im Mondlicht zurück. Der sturmgepeitschte Himmel über der Brennenden Steppe wurde von Blitzen zerrissen. Windböen trieben Staub und Sand durch die steinigen Schluchten und heulten wie wilde Wölfe. Eine einsame Gestalt stand mutterseelenallein auf einem Pfad, der sich halb versteckt in die Berge schlängelte. Zu ihren Füßen stand eine hölzerne Kiste und neben der Kiste hockte eine kleine, gehörnte Gestalt. Sie schien zu brennen. „Nimm die Kiste, Rulpep.“, befahl Magenta. Der Wind zerrte an ihrer Robe und ließ ihre Haare wie Flammen um ihren Kopf lodern. „Aber Meisterin, es ist zu schwer.“, winselte der Wichtel und duckte sich hinter die Kiste. „Erbärmlicher Wurm.“, fauchte die Hexenmeisterin. Sie entließ ihren nichtsnutzigen Wichteldiener mit einem Fingerschnippen und zitierte den großen, blauen Leerwandler Zogoth herbei. Sie wies stumm auf die Kiste und der Dämon beeilte sich, sie auf seine breiten Schultern zu stemmen. Ergeben folgte er seiner Meisterin auf dem Weg zum Altar der Stürme, der irgendwo oben in den Bergen zu finden war. Dort würde sie einen mächtigen Hexenmeister namens Mor’zul Bloodbringer treffen. Einer ihrer Lehrer hatte sie hierher geschickt. Mor‘zul würde ihr neue, noch dunklere Zauber beibringen können. Sie würden ihre Macht noch weiter steigern, bis sie sich irgendwann sogar über ihre Lehrmeister erheben würde. Ein grausames, kleines Lächeln umspielte Magentas Lippen, während sie den Felspfad erklomm, als plötzlich etwas vor ihre Füße geweht wurde. Sie hob es auf und erkannte, dass es sich um eine kleine, weiße Vogelfeder handelte. Vielleicht von einer Taube. Aber ein solcher Vogel in dieser Gegend? Magenta drehte sich um und blickte zurück auf den Weg, den sie bereits genommen hatte. Der dunkle Himmel über ihr wurde von einem weiteren Blitz erhellt, der die wolkenverhangene Schwärze danach nur noch finsterer wirken ließ. Magenta fühlte ein eigenartiges Gefühl der Leere in sich aufsteigen. Eine Leere, die bald wieder gefüllt werden musste, mit neuen Zaubern, neuen Eroberungen, neuen Errungenschaften. Die Hexenmeisterin schüttelte den Kopf und schalt sich selbst eine sentimentale Ziege. Schon bald würde sie ein Xorothianisches Schreckensross ihr eigenen nennen. Nur wenige Hexenmeister taten das. Es würde die Leere füllen. Für eine Weile. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)