Zerbrochener Spiegel von Technomage (für Tsche) ================================================================================ Vogelscheuchenopferlamm ----------------------- Als ich sie zum ersten Mal traf, war mein Vater noch Chefarzt in einer der großen Kliniken der Stadt. Ich jobbte damals als Nachtwächter in der städtischen Leichenhalle. Eine Arbeit, die meiner Meinung nach nur erfunden wurde, um in Hollywood - Horrorstreifen verwendet zu werden und die Söhne reicher Ärzte dort unterzubringen. Es war nicht so, als ob ich es nötig gehabt hätte zu arbeiten, doch mein alter Herr hatte irgendwann genug davon gehabt, dass ich sein Geld für Alkohol und Drogen hinauswarf. Teure Sportwagen und Klamotten für eine bizarre, aufgetakelte Freundin wären ihm scheinbar lieber gewesen. Auch wenn der Job wohl eher als Abschreckung und Erziehungsmaßnahme gedacht war, genoss ich die stillen Nächte im Pförtnerhaus des großen leeren Trakts und den anhaftenden Leichengeruch. Es brach die Zeit an, in der selbst meine Freunde begannen mich "seltsam" zu nennen. Die Gänge einer Leichenhalle sind so kalt und Furcht einflößend wie Menschen sie in ihren Alpträumen sehen. Ich war so tief im Meskalin versunken, dass ich Teil des Alptraums war. Wie ein Geisteskranker schlich ich durch das Labyrinth der Toten. Erschreckte überarbeitete Pathologen. Das Geschrei aus meinen Kopfhörern kündigte mich meilenweit an wie das Grollen eines Gewitters den Donnergott. Blutige Tränen meiner Kindheit rannen mir über die Wangen, bis ich sie mit den Fingern auffing. Ich malte das Lied des Feuers mit glühenden Blutfingern an die Wände. Die Moiren erschienen, auf einem schwarzen Wagen aus Eiskristallen; ich fiel flehend auf die Knie und lachte, bat um nichts. So ging es Nacht um Nacht bis der Morgen anbrach und ich aus meinem Traum erwachte. In der Nacht, als ich sie traf, folgte ich einem Hundedämon durch den Trakt mit den Obduktionssälen, bellte und sang Lieder über Luzifers Badezimmer, bis er mich abhängte und ich röchelnd wie ein Sterbender vor einer Tür liegen blieb. Das dumpfe Leuchten, das von der Tür ausging und mich anzog, kann ich bis heute nicht genau den Geistern der Illusionen oder etwas weitaus Höherem zuordnen. Broken liebte schon damals Bibelverse über alles. Die Wände, die Decke, der Boden, alles war mit ihnen voll geschrieben. Ich wurde von Haus aus sehr christlich erzogen und auch wenn ich keinen Respekt davor hatte, kannte die Religion doch durch und durch. Aber was ich sah, als ich die Tür aufstieß, überstieg alles Bisherige in meinem Leben, selbst meine dunkelsten Vorstellung. In der Mitte des Saales hatte sie es irgendwie geschafft aus allem, was sie für brennbar erachtete, Feuer zu machen. Es brannte schon mehr als einen Tag, anfangs, wie die Brandspuren verrieten, in Form eines Ankhs, nun nur noch als großes Scheiterhaufen. Das Feuer warf düsteres Licht und tanzende Schatten in den Raum. Die Wände waren von oben bis unten mit blutigen Versen beschrieben, die aussahen wie die Arbeit eines Typographen im vorgeschrittenen Krankheitsstadium. Von der Decke hingen Girlanden aus den Därmen der Ärzte. Sie selbst waren nur noch als Fleischberge auf dem Boden zu vermuten, an denen nichts menschliches mehr war. Das Blut rann von den Operationstischen, den Schränken, war einfach überall. Es klebten Eingeweide an den Wänden, waren mit Operationsbesteck fest gepfählt, hingen an Nähfäden von der Decke. Der Rausch war weggefegt und ich wünschte ihn mir sehnlichst zurück. Die Realität vor meinen Augen überstieg zum ersten Mal in meinem Leben die Wahnvorstellungen und Visionen im meinem Kopf. Irgendwo hatte sie angefangen ein groteskes Gerüst aus Rippen und Wirbelsäulen zu bauen. Gelähmt vor Ekel und Entsetzen lehnte ich in der Tür. Solange bis die Faszination mich übermannte und hineintrieb. Damals fand ich dich blutüberströmt wie ein Neugeborenes. Schlafend. Ich wusste beim ersten Anblick, dass du und niemand sonst es gewesen sein konntest und hatte doch keinen Gedanken daran, dir ein Ende zu setzen. Hätte es vielleicht tun sollen und doch nie tun können. Mit wankenden Schritten bewegte ich mich meinem Schicksal entgegen. Ende des Anfangs . . . wer bis Hierhin durchgehalten hat, ohne dass es ihm zu widerlich wurde, dem kann ich versichern, dass es sich um keine Spladder-Geschichte handelt und es ab hier weniger Massaker und mehr Irrsinn gibt ^_^ Aus schwärzester Nacht ---------------------- Wenn ihr dies lest, habt ihr den Ekel überwunden und die zweite Kapitel erreicht. Vielen Dank und Gratulation von meiner Seite. Ihr befindet euch auf dem direkten Weg tiefer und detaillierter in den Wahnsinn einzutauchen. Genug der vielen Worte und viel Verwirrung: Rising in the darkest night Ich schwanke zu der Ecke, in der ich dich liegen sah. Meine Sicht verschwamm, wankte und drehte sich um mich. Ich spürte wie die Augen meinen Kopf verließen und ich mich selbst betrachtete, wie ich einem Zombie gleich durch ein Horrormassaker stolperte, unfähig meinen Körper zu kontrollieren. Es ist sehr erbärmlich sich selbst dabei zu betrachten, wie die eigenen Nerven einen belügen und die Muskeln simulieren, sie täten ihre Pflicht. Doch in diesem Moment empfindet man es als nicht mehr als amüsant. Meine Augen kehrten zurück. Ich hatte mich in der letzten Viertelstunde einen, vielleicht zwei Meter zu meinem Ziel bewegt. In meinem Kopf drehte sich ein gleißendes Jahrmarktskarussell aus Blut, Feuer und Verderben. Ich hörte ein Kreischen irgendwo zwischen meinen Schläfen. Erst nur ein schwaches Kratzen. Als würde ein Kobold langsam mit seiner Spitzhacke meine Schädeldecke abtragen. Dann lauter. Das Fauchen einer schwarzen Katze. Anwachsend. Eine Säge auf knirschendem Schiefer. Sekunden vollkommene Stille. Aus dem Nichts ein verzehrender Urschrei, hirnzerreißend und gewalttätig. Ich kannte dieses Gefühl, denn es war mir in meiner Welt der Illusionen schon öfter begegnet. Ich musste nur mit dem Finger schnippen und es würde vorbei sein. Nicht nur der Schrei, sondern auch die Droge in meinem Organismus. Verschwunden von Jetzt auf Gleich. Ich schnippte. Ich hatte es schon öfters erlebt und es war für mich die Art einer höheren Stimme mir zu sagen, wenn ich aufwachen musste, um der Realität in die toten Augen zu sehen. Ich öffnete noch einmal die Augen, obwohl sie bereits offen waren. Ich sah, was ich schon vorher gesehen hatte, nur dieses Mal kam die Information wirklich an. Ich sah ein Mädchen, zusammengekauert und blutüberströmt, friedlich schlafend. Wohl kaum älter als ich und splitternackt in einem Raum, der dem Kinderzimmer eines Psychopathen glich. Sie atmete sanft im Schlaf. Selbst in der Wirklichkeit stand wie auf Papier im Raum geschrieben, dass dieses Schlachtfeld ihr Werk war. Trotzdem gab mein Gehirn mir damals das Wort "unschuldig" ein, als ich ihr friedliches, blutverkrustetes Gesicht betrachtete. In den Gedanken der Menschen geschehen eigenartige Dinge. "Verbindungen" werden gezogen, die mit Worten nicht logisch nachzuvollziehen sind. Synapsen spielen in ihrem eigensinnigen Takt und die Menschen tanzen dazu. Jeder auf seine Art und Weise. Als ich Broken zum ersten Mal sah, empfand ich Schönheit. Genau jene Schönheit, die nicht in Worten existiert und sich nicht um den Verstand des Menschen oder die Einteilungen und Kategorien der Normalität schert. Es war jenes Gefühl, das Menschen mit Bestätigung und Bestimmung erfüllt, "zu wissen, was zu tun ist". Für Sie. Obwohl ich nie, damals wie heute, wirklich die Begeisterung für die einfache Freude der Hausarbeit empfunden habe, erfüllte in den nächsten Stunden etwas meinen Geist, das ich nur als "infernalischen Putzanfall" bezeichnen kann. Die abstoßende Widerwärtigkeit der Szenerie, die ich beseitigte, machte mir dabei seltsamerweise keine Schwierigkeiten. Es war als würde ich das verwüstete Zimmer eines Kindes aufräumen. Ich sammelte müllsäckeweise Knochen, innere Organe und menschliches Fleisch, wischte so viele Liter Blut auf, wie selbst ein Chirurg nicht in seinem Leben sieht, putzte den Obduktionssaal so gründlich, dass die nächsten Benutzer vom Glanz geblendet würden. Selten wird aus etwas so Hässlichem etwas so Sauberes. In einem der Lagerkeller der Leichenhalle, in die sich kaum alle zehn Jahre ein neugieriger Arzt verirrte, gab es eine große Knochenmühle. Ich hatte sie während meiner früheren Wanderschaften einmal entdeckt und bei der Vision eine Najade zu zerstückeln fast meinen rechten Arm verloren. Wirklich erfahren, wie die Maschine dort hinkam, habe ich nie, aber ich vermute einfach, dass man als Leiter einer Leichenhalle mit der Zeit exzentrisch wird. In dieser Nacht wurde diese Manifestation des menschlichen Eigensinns zum Höllenwerkzeug meiner Gedanken. Ich gab dem Magen der Maschine alles zu Fressen, was verschwinden sollte und saß stundenlang daneben, hörte seinem kreischenden Kauen zu, betrachtete wie Sinn zu Nichts wurde. Zwischenzeitlich war ich aus Müdigkeit, Erschöpfung und den Nachwirkungen des Meskalins kurz davor auf der Stelle einzuschlafen, doch das Knirschen der Stahlzähne hielt mich wach. Mit einem ausgezehrten Gefühl in meinen Knochen und meinen Gedanken lehnte ich an der Höllenmaschine und rauchte. Da ich keinen klaren Gedanken fassen konnte, der blutige, nackte Mädchen und geschlachtete Pathologen betraf, schweifte ich bald darüber ab, wie ich den Brei, den der Schlund neben mir wieder ausspuckte, in das Essen von Highschool- und Collegekantinen mischen würde. Am Ende begnügte ich mich doch damit den blutigen Brei Eimer für Eimer der städtischen Kanalisation zu übereignen und mit dem Gefühl, dass in vielleicht zwei oder drei Stunden der Morgen grauen würde, schlurfte ich in den wohl saubersten Obduktionssaal weit und breit zurück. Als ich in den Gang einbog, der mich zu meinem Ziel führte, hatte ich, und das ist eine der wunderbarsten Gaben des Menschen, die ich kenne, für einige Minuten vergessen, was mich dort erwartete und dachte gerade darüber nach, ob ich eine meiner verflossenen Ex-Freundinnen mal wieder anrufen sollte. Alle meine Ex-Freundinnen erfüllten, obwohl sie alle völlig unterschiedliche Wesenszüge hatte und keine von ihnen mit der anderen in eine Schublade gepasst hätten, einige entscheidende Merkmale: Sie waren schüchtern und leicht zu verunsichern, auch wenn es sich bei vielen erst unter einem Mantel der Selbstsicherheit zeigte, waren zu beeindrucken durch Spleenigkeit und die Fähigkeit poetisch und verträumt das Schwarze aus der Nacht zu lügen, keine war älter als ich oder hätte mir geistig das Wasser reichen können und, das war das Wichtigste, bei ausnahmslos jeder genügte ein Anruf, um ihr genug Hoffnungen zu machen, um zumindest wieder mit mir zu schlafen, egal wie oft ich das Spiel wiederholte. Insofern war diese Nacht ein guter Anfang für einschnittige Veränderungen dieser statistischen Konstante meines Lebens gewesen. Als ich die Tür erreichte und sie müde mit dem Fuß aufstieß, konnte ich förmlich das Klicken in meinem Kopf hören, dass mich wieder in die Realität zurückbrachte. Es war das zweite Mal in dieser Nacht, dass ich mich wieder hellwach fühlte. Die Szenerie hatte sich kein Bisschen verändert, der Saal war immer noch zum Spiegeln sauber, bis auf das blutüberströmte Wesen in der Ecke des Raumes, dass nun seltsam bizarr wirkte. Etwas in meinen Gehirnwindungen ließ mich stocken und ich stand lange regungslos, kaum atmend auf der Türschwelle. Es war als träte mein Verstand wie ein saubereres und besorgtes Bild meiner Selbst vor mich hinaus und hielte mich schützend davon ab, den Raum zu betreten. Zum Glück hatte ich meinen Verstand schon immer als Feind betrachtet, der von Außen meine Gedanken bearbeiten will und keinesfalls ein Teil von mir ist. Mir ist mittlerweile klar geworden, dass, wenn man sich an der Schwelle des Irrsinns bewegt, es klüger ist sich nur auf sich selbst zu verlassen und alles Gelernte, zuallererst das, was die "Gesellschaft" einem Menschen übermitteln will, auszusperren. Auf dieser Gratwanderung hatte ich gelernt meinen Verstand in die bodenlose Schlucht zu stoßen, an deren Rand ich balancierte. Mit neuer Gewissheit betrat ich den Raum, stieß meinen Verstand beiseite und hörte im Vorbeigehend wie er unter Schmerzen am Boden liegend jammerte. Ich nahm einen Operationskittel und Handschuhe aus einem der Schränke und hüllte mich in Weiß. Der ungewohnte Anblick ließ mich für einen Augenblick schmunzeln. Mit einer mir sonst fremden Entschlossenheit hob ich den schlafenden Mädchenkörper auf und nahm ihn in beide Arme. Ihr Kopf lehnte auf meiner Schulter und ihr Gesicht wirkte kindlich zufrieden, während ihr Körper mich über und über mit Blut beschmierte. Sie fühlte sich leicht an in meinen Armen und so machte mir der Weg durch die Leichenhalle bis zu den Spind- und Duschräume keine Probleme. Der große Duschraum war wie erwartet um diese Zeit leer. Das Licht der Straßenlaternen fiel durch die kleinen hohen Fenster und erschuf eine Atmosphäre so gespenstig, wie eine Dusche nun mal sein konnte, wenn man ein blutüberströmtes Mädchen im Arm haltend und übermüdet in den Endausläufern eines Meskalinrausches steht. Ich drehte das kalte Wasser der Dusche voll auf, unter der ich sie abgelegt hatte und mit einem ohrenzermartenden Schrei erwachte mein Dornröschen zum Leben. Es war weniger ein Schrei als das Brüllen eines Raubtieres in Menschengestalt. Ein Schrei, der jedes Wesen, das nur einen Funken Verstand und Selbsterhaltungstrieb in sich hatte, zu Panik und Flucht veranlasste. Aber ich sagte ja schon, wie sich das Verhältnis zwischen mir und meinem Verstand verhielt. So stand ich ungerührt und neugierig, vielleicht aber auch viel zu abgestumpft um wirklich zu reagieren oder Angst um mein Leben zu haben, in einigen Metern Abstand zu ihr, als ihr Körper sich unter Geschrei und Zuckungen zu rühren begann. Das Blut begann sich von ihrem Körper zu lösen und floss als dunkler Wirbel in den Abfluss, während ihr Körper sich aufbäumte. Ich hörte jeden einzelnen ihrer Knochen knacken, als würde es ein Vorzeichen auf das Brechen meiner eigenen sein. Ich war erstaunlich ruhig, als ihr Blick mich fixierte und ihr Körper begann zu mir zu kriechen. Ihre nassen langen Haare hatten sich wie ein klebriger Schleier über ihr Gesicht gelegt und nur noch ein Auge lugte mich wie aus einer Höhle hinaus an. Der Eindruck eines wilden goldgelben Tierauges brannte sich in mein Gedächtnis ein, auch wenn Brokens Augen grau und sanft sind. Meistens zumindest. Sie keuchte schwer, vielleicht weil sie Wasser in die Lunge bekommen hatte, vielleicht weil ihre Beine sich nicht bewegen wollten und sie sich mit den Händen zu mir zog und dabei trotz der Lautstärke des Wassers ein hörbar kreischendes Knirschen auf den Fliesen erzeugte. Ihre Fingernägel schienen Krallen aus Stahl zu sein. Wie Recht ich damit hatte, sollte ich erst noch zu spüren bekommen. Sie lag mir nun unmittelbar zu Füßen und ihr Auge funkelte mich an. Ihr Blick war der eigenartigste, den ich je gesehen hatte. Es war eine Mischung aus Neugier, Einschätzung, Irrsinn, Freude und etwas Fremdem. Etwas, das man in Menschenaugen nie zu sehen bekommt. Als ich mich gerade an den Blickkontakt mit ihr gewöhnte, schien für sie, kairos, "der richtige Moment" gekommen. Ihr Körper entäußerte jene Art von Kraft, die Raubtiere in eine finale Bewegung umsetzen, die ihre Beute fassen und niederreißen will. Nur dass sich in ihrem Fall nicht nur Körper, sondern auf Geist in diese Kraft zu legen schienen. Selten habe ich seitdem die Macht des Geistes so stark zu spüren bekommen. Ich schaffte es trotz der Wucht, die auf meinen Oberkörper traf, irgendwie auf den Beinen zu bleiben und so hing sie wie ein Torso ohne Beine an meinem Körper. Ihre Nägel, besser gesagt Krallen, hatte sie tief in meine Schultern gebohrt und jetzt, da die Schwerkraft bemerkbar machte und sie keine Ambitionen zeigte loszulassen, zogen sie sich in 10 blutigen Linien meine Arme herab und verbreiteten dabei ein Geräusch, das zu beschreiben selbst meine Nerven und Worte übersteigt. Die Schmerzen müssen in diesem Moment unerträglich gewesen sein, doch das Meskalin und die wahnwitzige Absurdität der Situation linderten sie erheblich. Was sich hätte anfühlen müssen, als zöge mir jemand mit einer Gabel Haut und Fleisch von den Knochen, war mehr wie Nadelstiche, tausende und wieder abertausende von tiefen Stichen einer winzigen Nähnadel, die sich wieder ein Schauer meine Arme hinab zogen. Kein schönes Gefühl, aber interessant. Ihr Auge ließ während all dieser Prozedur keine Sekunde von mir ab und ich konnte mich ebenso wenig ihrem Blick zu entziehen. Er war erfüllt von übermenschlicher Neugier, in irrsinnige Unschuld getaucht und wartend, vor allem wartend. Er schien mir zu zuflüstern " Geht es dir nicht gut, Darling? Tut es irgendwo weh?" und " Diese Schnitte folgen in exakt gleichmäßigem Abstand parallel deiner Hauptschlag. Deine Mathematik-Lehrer wird beeindruckt sein, wenn du es ihm Montagmorgen zeigst!". Seltsamerweise fühlte ich etwas unendlich Liebevolles in deinem Auge damals. Kurz bevor mein Körper höchstwahrscheinlich im Begriff gewesen war den Schmerzen nachzugeben und meinen Geist dazu zu zwingen, das Bewusstsein zu verlieren, hatte ich das Gefühl eine Hand auf meiner blutenden Schulter zu spüren. Danach überzog die Schwärze meinen Geist. Als ich wieder zu Bewusstsein kam, fand ich mich auf dem Boden meines Pförtnerhauses wieder. Für einen Moment schloss ich meine Augen erneut und grub so tief in meine Erinnerung hinein, wie ich nur konnte. Aber es war wie das Gefühl, wenn man morgens schweißgebadet aus dem Schlaf hochschreckt und seine Gedanken darauf konzentriert die verlorenen Fetzen und sich verflüchtigenden Stücke des Traumes festzuhalten, der sich schnell fallend in den Tiefen des Unterbewussten verliert und einen zerstückelten Film zurücklässt, bei dem das Ende, der entscheidende Dialog und die Zeichen an der Wand fehlen. Es ist als würde man sich mit ausgestreckten Armen in Sand stürzen und versuchen ihn an sich zu drücken und zu umarmen. Doch für mich war das Gefühl um Weiten schlimmer als gewöhnlich, denn ich musste mir selbst eingestehen, dass diese Nacht ebenso krank und real gewesen sein konnte, wie ich sie erlebt hatte, als auch eine einzige große Wahnfantasie. Ich wurde zunehmend wacher und betastete meine Schultern und Arme. Das heißt, ich versuchte es soweit es möglich war, denn die Schmerzen waren unerträglich. Ich öffnete meine Augen. Mein Blick fiel auf die großen roten Balken der Digitaluhr über dem Eingang des Raumes. 5:34. Ich hatte kaum länger als zwei Stunden "geschlafen". Ich richtete mich unter Schmerzen auf und betrachtete meine Arme. Zu meiner Überraschung waren sie mehr oder weniger ordentlich verbunden und ich konnte nur einen leichten roten Schimmer der fünf Streifen auf jedem Arm erkennen. Normalerweise hätten die Wunden in diesem Zustand bereits genug ausgeblutet haben um den ganzen Fußboden zu überschwemmen. Mehr oder weniger. Ich beschloss nicht nachzusehen, was sich unter den Verbänden befand. Es ist ein wenig wie mit Geistern, Dämonen und dem Tod. Solange man sie nicht hört, nicht spürt, nicht ihren Atem riecht und vor allem die Paranoia der Spukgeschichten, die sich um sie weben, nicht im Kopf hat, sind sie halb so schlimm, eigentlich fast nicht da. Nachdem ich einmal durch die Leichenhalle zu den verschiedenen Schauplätzen meiner nächtlichen "Geschichte" gewankt war, kehrte ich wieder in den kleinen Raum am Eingang der Einrichtung zurück und ließ mich in den großen gemütlichen Stuhl fallen, in dem ich schon viele friedliche Nächte verbracht hatte. Ich zog ihn dem Ausklappbett vor, denn allgemein schlief ich damals schlecht in Betten. Ich denke, ich fühlte mich unvorbereitet, wenn ich ruhend auf einem Bett lag, entblößt und schutzlos, im Frieden des Schlafes angreifbarer. Schwer zu beschreiben. Ich hatte alles so vorgefunden, wie ich es in schwammiger Erinnerung hatte. Der glänzende Obduktionssaal, die noch nasse Dusche, ja sogar die Knochenmühle war noch leicht warm von ihrer anstrengenden Arbeit. Nur die letzten Spuren Blut, die ich hinterlassen hatte, als ich Dich in die Dusche trug, mein blutiger Kittel, die kleinen übrig gebliebenen Details waren verschwunden, beziehungsweise während meiner Ohnmacht beseitigt worden. Noch immer schwankte in mir die Klarheit darüber, ob alles Wahn oder Wahrheit gewesen war. Ich konnte mir nicht trauen, denn ich hielt mich damals durchaus für fähig, mir selbst in den Tiefen des Irrsinns sogar solche Verletzungen zu zufügen. Doch als ich in das Leder des Stuhls einsank, spürte ich erst, wie müde nicht nur mein Körper, sondern auch mein Geist war und der Schlaf überkam mich nicht langsam, er war eilig und fordernd, hatte keine Zeit zu verlieren. Ein letztes Mal schreckte ich noch hoch, als ein Gedanke in meinem Dämmerzustand erschien. Ich suchte aus den Regalen den Plan heraus, der die Belegungen der Säle und Räume in den letzten Wochen verzeichnete. Die Spalte des Obduktionssaals 104, jener, in dem ich Sie gefunden hatte, war blütenweiß und rein zwischen seinen schwarzen Linien. Kein einziger Termin, keine auch nur kurze Belegung oder Nutzung war seit zwei Wochen und auch für die weiteren drei Wochen verzeichnet. Genau in diesem Moment war ich davon überzeugt gewesen keine Sekunde der letzten Nacht geträumt oder phantasiert zu haben. Zufrieden sank ich in den Stuhl zurück und hinein in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Nun, wie war der Blick in den nächtlichen Wahnsinn? Ich hoffe unterhaltsam. Falls sich jemand über das Wort "kairos" gewundert haben sollte, wovon ich ausgehe, es ist ein Wort aus dem altgriechischen, das sich eben genau als "der richtige Moment" übersetzen lässt (im Neugriechischen bedeutet es seltsamerweise soviel wie "Wetter"). Würde mich über eure Meinung freuen. Paranoides Paradies ------------------- Seit ich vierzehn bin, mache ich Menschen so wenig wie möglich glücklich. Utilitarismus vice versa. Am Anfang war ich wohl noch ein Kind, das handelte, wie es ihm richtig erschien oder vielleicht einfach tat, was ihm Spaß machte. Doch mit der Zeit entwickeln "Abnormalitäten" bekanntermaßen eine gewisse Eigendynamik. Seit zum ersten Mal mit dem Finger auf mich gezeigt wurde, suche ich nach dem Fleck auf meiner Schale, den der Rest der Welt nicht versteht. Je älter ich werde, desto weiter wandern meine Augen von der Schale tiefer ins Fleisch meiner Seele. Ich habe auf dem Weg einige Eigenarten und viel Widerwärtiges gefunden, doch auf einen Fremdkörper bin ich nie gestoßen. Nichts, was mir nicht entspricht. Doch je mehr ich von meinem Inneren, von mir selbst sehe, desto fremder wird mir die Außenwelt. Heute fällt es mir schwer die Realität so wahrzunehmen, wie sie von der Mehrheit empfunden wird. An Anerkennung einer scheinbar vernünftigen, geschweige denn gesetzlichen Ordnung gar nicht zu denken. Wenn ich versuche zu etwas in der Welt Bezug zu nehmen oder es zu berühren, dann fühlt es sich an, als läge eine dicke Schicht geschmolzenes Glas zwischen mir und der Materie. Eine zähe Masse, durch die ich alles erkennen kann, aber empfinde, als liefen meine Nervenenden irgendwo in der Dunkelheit unter meiner Haut ins Leere. Ich weiß nicht genau, ob ich krank bin, aber die Zeit ist lange vorbei, als Mum und Dad beim Abendessen darüber gelacht haben, dass ich meine Matheaufgaben mit Fingerfarben über den ganzen Klassenraum verteilte. Ich fand meine Lösung damals ausgesprochen intelligent und das war sie auch für einen Zehnjährigen. Nur nicht jeder schmiert sie wohl deshalb an die Wände. Es war bei mir wie bei jeder Familie, wenn die Söhne sie verlassen und nie wieder zurückkehren werden. Die Mütter weinen bitterliche Tränen und die Väter schütteln in standhafter Verzweiflung die Köpfe. Gott trägt schwarz. Nur dass ich nicht in den Krieg gezogen bin, sondern immer noch im Eckzimmer unterm Dach wohne und wir gemeinsam beim Abendessen sitzen. Mein Vater war kein schlechter Mensch, aber wenn ich ihm in die Augen sah, dann ist darin etwas unendlich Trauriges und ein Mitgefühl, das ich nicht verstand. Das Schlimmste war es seinen Blick immer verletzlicher und ratloser werden zu sehen, je mehr ich ihm zeigen wollte, dass ich unabhängig war und er sich nicht darum scheren musste, wer oder was sein Sohn ist. Ich verstand nicht einmal selbst, wer ich bin. Es war einige Monate her, dass mein Vater mir mein Leichenhallenleben vermittelte. Er hoffte wohl, dass es mich "kurieren" würde. Ich hatte versucht, ihm Schemen meiner Gedanken und meiner inneren Leere zu beschreiben. Als ich ihm die Bilder zeigte, die ich nachts zeichnete, um meine Gefühle irgendwie in dieser Welt zu verankern, verriet sein Blick mir, dass er mich nicht mehr ganz ernst nahm. Er hielt es wohl für die Anwandlungen eines Siebzehnjährigen, der zu wenig unter Menschen geht, und mein Vater war schon immer ein Anhänger der "Schocktherapie" gewesen. So landete ich in meinem Pförtnerhaus der Leichenhalle, weil es angeblich Zeit für mich wäre, das Geld zu verdienen, das ich zum Fenster hinauswarf. Leider blieb die gewünschte "Reinigung durch Schrecken und Realität" aus und ich zog mich noch mehr in mich und die Dunkelheit zurück. Menschen fürchten nichts mehr als die Dunkelheit; niemand wird dagegen "resistent", auch ich nicht. Mir geht es wie fast jedem, der gegen die menschliche Natur in der Nacht lebt. Die Nacht umgibt mich wie ein Schleier, sie dämpft die Geräusche der Welt, ist weniger hektisch als der Tag und lässt den Gedanken mehr Weite, sich zu entfalten. Aber sie macht paranoid. Für jedes schimmernde Detail, um das sie unsere Sinne erleichtert, kommt eine Leerstelle in die Gedanken. Gedanken sind wie ein hyperaktives, hochbegabtes Kind, das spielen will und wenn es sich nicht wie tagsüber mit fraktaler Geometrie beschäftigen kann, dann wandert es durch die stockfinstren Flure seines Elternhauses und tritt Türen ein. Und dort wohnen mehr Ungeheuer, Dämonen, Engel und Scheusale als in den meisten klassischen Mythologien. Schließlich wurde jeder Gott und jeder Teufel einmal hier geboren. Nach jener Nacht wusste ich nicht, wie tief ich mich vergraben sollte, um mich von ihr abzulenken. Ihr Auge war überall. Irgendwann konnte ich sie neben mir atmen hören, wenn ich nachts wach lag. Ohne, dass sie jemals da gewesen ist - hoffe ich jedenfalls. Wenn ich schlief, schlich sie in meine Träume. Ich sah alles wie in einem Videospiel von Oben herab und war meine eigene Spielfigur: Ich war wieder vierzehn Jahre alt und meine Mutter hatte mich an einem verregneten Tag zum Spielen rausgeschickt. Ich hatte Angst und irrte orientierungslos umher, weil mir aus dem Nebel heraus gierig leuchtende Augen drohten. Aus dem Grau erschien ein alter Spielplatz vor mir. Ich stieß das verrostete Eisentor auf und trat auf den verwelkten Rasen. Der Trümmer-Spielplatz. Ich konnte sehen wie der Schriftzug in Videospiel-Manier auf dem Bildschirm aufleuchtete und gleichzeitig war ich mein vierzehnjähriges Selbst, für den die abgerissenen Schaukeln und der Sand voller Rostsplitter und Glasscherben Realität war. Meine "Spieler" - Hände fühlten, wie ich Controllertasten drückte, meine Statuswerte, mein Charakterlevel überprüfte und das Spiel speicherte, während mich der widernatürliche Anblick des Ortes Furcht einflößend traurig machte. Ich bewegte das Steuerkreuz und trottete vorwärts. Meine Kleidung hing durchnässt an mir und ich fror bitterlich. Ich drückte eine der Tasten, um mit der Rutsche zu interagieren. Die Rutsche war einmal ein kitschiger Plastikbau in Form eines aufgeplusterten Comic - Elefanten gewesen, auf dessen Rüssel man herunterrutschen konnte. Jetzt waren seine bunten Farben verbleicht und die wenigen übrigen Töne wirkten im Regen, als weine er seine eigene Farbe ab. Eines seiner großen, süßen Augen war herausgeplatzt und ließ eine Augenhöhle aus splittrigen Zacken zurück. Er war überall aufgerissen wie alte Haut und scharfkantig, doch sein heiles Auge strahlte immer noch verblasst fröhliche Herzlichkeit aus. Es war so abstoßend für mich, dass Mitleid und Traurigkeit kaum ausreichten, um diesen Anblick zu ertragen. Diesen Glücksfriedhof. Ich bewegte das Steuerkreuz, um auf den Elefanten zu klettern. Ein Stück rostiges Metall bohrte durch meinen Fuß und ragte zersprungen und rot aus meinem Schuh. Mein tiefrotes Blut hob sich gegen die graue Welt ab und sickerte den Rücken des Elefanten hinab, erfüllte den Sand und meinen Blick mit seiner Intensität. Ich wählte das Menü aus, um mir einen Heil - Gegenstand zu geben. Doch dann merkte ich, dass ich eins mit mir war und der Schmerz wurde realer. Das Spieler - Ich war verschwunden und ich war wieder allein ich selbst. Ich setzte mich auf den splittrigen Rücken des Monsters unter mir und weinte. Über das begrabene Glück. Über mein vergossenes Blut. Über den traurigen Elefanten. Über einfach alles, was nicht in Ordnung war. Und gar nichts war in Ordnung. Gefangen im Traumland eines traurigen Clowns. Da erschien Sie durch einen Tunnel aus weißem Nichts auf der anderen Seite des Spielplatzes, nahe der Schaukel mit den von Rost zerfressenen Ketten. Ich sah sie als kleines Mädchen im Sonntagskleid mit aufgeschürften Knien und rostigen Nägeln, die aus ihrem Armen ragten, wie sie mit einer langen, spitzen Schere in der Hand auf mich zu kam und zu mir hinauf sah. Ihre Augen waren groß und ausdruckslos, geschwollen vom Weinen und mit violetten Augenrändern. Sie passten nicht zu ihrem unwirklich breiten Lächeln. Als sie näher kam, verwandelte sie alles in eine Bleistiftskizze und ich spürte wie mein Gesicht zu rauen Linien wurde, weinte Tuschetränen. Doch sie tröstete mich und versprach mir ein Leben auf einem großen, weißen Mantarochen. Sie schwebte so nahe heran, bis ihre Augen genau in meine blickten und unsere Nasenspitzen sich fast berührten. Zwischen zwei Herzschlägen wurden ihre Augen zum Raubtierblick, der mein Blut gefrieren ließ. Ich schreckte in meinem Bett hoch und riss die Augen auf, um mich von diesem Alptraum zu befreien. Die Augen waren immer noch da. Vor mir. Es waren Raubtieraugen, das sagten jede meiner Zellen und alle Gedanken, obwohl sie groß, sanft und grau waren. Für einen Moment war Rauschen in meinem Kopf. Wie das Störbild eines Fernsehers. Dann sprang der Horror-PayTV-Sender wieder rein. Ich schrie. Niemand störte sich daran. Meine Eltern nicht. Sie waren es gewohnt, dass ich Nächte damit verbrachte immer wieder ein und dasselbe Lied laufen zu lassen und bei jeder Wiederholung den Lautstärkeregler ein kleines Bisschen höher zu drehen. Nur ein Schrei war kein Grund zur Sorge. Auch sie nicht. Sie saß auf mir und betrachtete mich weiter regungslos, als wäre nichts geschehen. Ich mich im nächsten Moment auch nicht mehr. Seltsamerweise. Es war wie Anteilnahme an der Absurdität der Situation. " Der Leichhallen-Boy und das blutige Porzellan-Girl". Ein neoklassisches Gemälde. Ich ließ mich auf die Realität ein und es fiel mir leichter als mich morgens auf die Existenz eines Klassenzimmers zu konzentrieren. Mein Geist tauchte in meinen Körper ein und vertrieb die Panik aus meiner Wahrnehmung. Ich sah sie und mich selbst. Ich stand unbeteiligt daneben und betrachtete wie ein Dritter die Szenerie. Vielleicht sollte ich besser sagen, ich stellte mir vor daneben zu stehen, aber es war wie ein natürlicher Wahrnehmungsprozess. Das Zimmer lag im Halbdunkel. Vielleicht drei oder vier Uhr morgens. Ich lag aufgerichtet, auf die Ellenbogen gestützt in meinem Bett. Die Decke war bis zu meinem Becken heruntergerutscht und ich sah meinen nackten schmalen Oberkörper. Aus dieser Perspektive kam ich mir tatsächlich etwas dürr und blass vor, wie Mum es immer behauptete. In meinem Blick las ich einen Ausdruck zwischen Wahnsinn und Unsicherheit. Mir war vorher nie bewusst gewesen, wie sehr meine Augen zuckten, wenn ich einem Blick standhalten wollte, obwohl ich Angst hatte. Sie saß mit angewinkelten Beinen auf meinen Oberschenkeln, ruhig und entspannt. Ich hatte das Gefühl, sie würde nicht einmal blinzeln. Sie trug eine viel zu saubere Schulinform mit noch viel kürzerem Minirock, wie ich sie aus schlechten japanischen Filmen kannte. Es erstaunte mich kaum, obwohl ich sicher war mitten in Amerika zu wohnen. Ihr Körper war zierlich und ihre Haare fielen wie ein Schleier um ihr ausdruckslos neugieriges Gesicht. Sie war genau so wie in meinen verschmierten Erinnerungen, nur weniger blutig und mörderisch. Der Geruch von Eisen lag in der Luft. Ich ließ die Szene eine Weile geschehen, den Film laufen. Einige Minuten, vielleicht eine Viertelstunde. Ich beobachtete mich und sie, doch keiner von uns beiden rührte sich. Nichts geschah. Sie saß dort, abwartend auf meine Reaktion. Ihr weißes Gesicht schien mir zu sagen: " Ich bin in dein Zimmer geklettert, habe mich hier hingesetzt und gewartet, dass du aus einem Alptraum aufwachst. Jetzt bist du dran. Tu etwas Unerwartetes!" Als ich darüber nachdachte, musste ich ihr zustimmen. Ich warf sie samt Decke wie in einem verzögerten Reflex vom Bett und sie fiel mit einem dumpfen Tone auf den Fußboden. Das schien mir dem Zusammenhang angemessen. Ich wartete. Das Bündel auf dem Boden räkelte sich und ihre Augen lugten mich an. " Aua." Ihre Stimme war monoton und unbeteiligt wie ein abgelesener Text. Keine Mimik, aber gerade deshalb fesselnder als jedes heulende Mädchen mit gebrochenem Herzen, denen ich schon lange nichts mehr abgewinnen konnte. Kein Gefühl, es war wie die manifestierte Intensität meiner emotionalen Leere. Ohne einen Farbkasten voller Meskalin waren mir Gefühle kalt und fern und seit sie mir begegnet war, wirkte keine Traummaschine und kein Farbenspiel mehr auf mich. Ihr Wahnsinn war stärker als jede Droge und erlaubte keine Ablenkung. In diesem Moment erschien sie mir wie ein eisiger Körper aus Stahl und ich wollte ich nichts mehr als sie an meine menschlich warme Haut zu drücken, bis Eisenkanten und Rasierklingen mich zerreißen würden und sie wie heißes Metall in mich hinein flöße, um das Nichts unter der Oberfläche zu füllen. Ich starrte sie wie gebannt an und in meinem Gehirn entbrannte eine wilde Überlagerung von Bildausschnitte, Melodiesekunden, Satzfetzen, die sich wie Farben vermischten zu Formen, Versen und grotesken Missgebilden. Während das Außen völlig ruhig und in kaltes Nachtlicht getaucht war, brachen in mir alte Krusten auf, erschütterten sich meine Nervenenden und erschütteten vergessene Gedanken und Ideen, völlig verdreht und nach nur einer Sekunde wieder sinnentleert, doch alles bebte und rotierte und erbrach sich weiter und formte einen Fluss aus oszillierenden Farbgespinsten und zerstückelter Geometrie. Design im Endstadium. Phantasie am Rande des Irrsinns, aber keine Spur Genialität am Horizont. Wie weiche Drahtbälle aus Augenblickstodgeburten schlug mein Innenleben an die Außenhülle, schabte an meiner Haut und schüttelte mich für Sekunden am ganzen Leib, als hätte ihn etwas in Schwingung versetzt. Ich stellte mir vor, von meiner Stirn herab bis zu meinem Bauchnabel bilde sich ein Riss aus Licht und das Gewirr aus Farbe, Ton und Form breche hervor. Alles würde wie eine Welle aus mir heraus in mein Zimmer schwappen und Broken würde mir gegenübersitzen, übergossen von einem Farbkasten, tropfende Strähnen und ein bunt verschmiertes Gesicht und mit Überresten meiner Gedanken im Haar und in ihrer Kleidung verfangen. Und sie würde lachen, von ganzem Herzen lachen und ich könnte nicht anders, als es ihr gleich zu tun. Doch meine Gedanken blieben in mir und ich blieb leer und mein Zimmer blieb steril und halbdunkel und ich konnte mir kein Wort abringen, mit ihr zu sprechen. Bis ich die Denkgerüste ausblendete. " Wer bist du?" Sie sah mich einige Sekunden an, als würde sie ihre Antwort wählen, öffnete dann ihren Mund einen Spalt breit, sodass ich ihre weißen, geraden Zähne sehen konnte, und verharrte so noch einen Moment, bis sie antwortete. " Ich bin zerbrochen." Ich spürte mich nicken, denn sie hatte es mit einer eigenartigen Selbstverständlichkeit gesagt. Ich war bereit den Fragebogen weiter durchzuspielen. " Warum bist du hier?" Sie legte den Kopf schief, so wie ich es selbst oft tat, wenn ich eine Frage überflüssig fand. " Weil ich dich gesucht habe." Sie lächelte schwach, nur für eine Sekunde. " Ich wollte dich wieder sehen." Es war ihr ernst, das spürte ich, aber ich war mir damals noch nicht sicher, was ich von der Sehnsucht eines solchen Wesens halten sollte. " Um mir endgültig die Haut von den Armen zu ziehen?" Meine Arme waren immer noch ordentlich verbunden, vielleicht weniger der Wunden wegen, denn sie waren besser verheilt, als es menschenmöglich war, sondern mehr, damit ich die Narben nicht ständig sehen musste. Sie entflammten nur allzu gerne meine Phantasie. " Ich weiß nicht." Sie zog sich die Decke auf die Schultern herab. Ihr Gesicht erinnerte mich an das einer nachdenklichen, altklugen Zehnjährigen. Für eine Sekunde zumindest. Es beruhigte mich zu wissen, dass ich seit Tagen mit einem Teppichmesser auf dem Nachttisch schlief, auch wenn ich nicht sicher war, ob er mir irgendetwas nützen würde. Ich beschloss, mich etwas weiter vorzuwagen. " Wie hast du es geschafft ein ganzes Pathologenteam abzuschlachten?" Sie wirkte überrascht. " Ich glaube, ich habe mich nur gewehrt." Ich musste grinsen. " Du glaubst?" Sie nickte. " Ja. Warum stellst du so viele Fragen?" Ich bewegte mich versuchsweise, um zu sehen, ob es sie dazu motivieren könnte, mich zu zerfleischen, doch sie blieb ruhig sitzen. " Wenn du bessere Fragen hast, frag' mich." Sie winkelte die Knie an und schlang ihre Arme darum. " Warum hast du mir geholfen?" Ich sah sie einige Zeit nachdenklich an, dann entschied ich mich dazu Zeit zu schinden, indem ich am Bettrand meine Hose suchte und sie anzog. Als ich beim Zuknöpfen angekommen war, fiel mir die einzig passende Antwort ein. " Es schien mir notwendig." Es war eine Antwort, mit der sich normalerweise kein Mensch zufrieden gab, aber sie nickte nur, fast als wollte sie mir zustimmen. Dann wurde ihr Blick durchdringender als zuvor. Ich wartete darauf, dass ihre Augen wieder gelb und räuberisch wurden, doch sie blieben groß und grau und sie gruben sich durch meine Augen tief in meine Nerven und Synapsen, um dort nach meinen Gedanken zu fischen. Sie sagte kein Wort, doch zwischen meinen Schläfen konnte ich Welle um Welle von Myriaden Fragen hören, die durch meine Gehirnströme spülten, um entweder etwas heraus zu waschen oder alles glatt wie Kiesel zu hinterlassen. Statt mich zu widersetzen oder dem Spuk mit meinem Verstand ein Ende zu bereiten, ließ ich mich mit der Strömung treiben und begann wahllos Fragen herauszugreifen und Rätsel entwirren. Es schien zu wirken, denn nach einiger Zeit legte sich die Flut wieder und floss wieder aus meinen Augen hinaus. Die Metapher war so real vor meinem geistigen Auge, dass mir einige Tränen übers Gesicht liefen. Langsam griffen meine Sinne wieder nach der Realität und ich merkte, dass viel Zeit vergangen sein musste, denn es war heller geworden und würde bald dämmern. Als ich zu Broken hinunter blickte, sah ich, dass ihr ebenfalls Tränen über die Wangen rannen. Doch sie schien es überhaupt nicht zu bemerken und sah mich nur ungläubig an. " Warum hast du nicht den Verstand verloren?" Ich konnte ihr ansehen, dass sie jetzt erst darüber nachdachte, was sie gerade gesagt hatte. " Neulich, meine ich, als du mich gefunden hast." " Woher willst du wissen, was ich gesehen habe?" Ich glaubte einen Anflug von Grinsen über ihr Gesicht huschen zu sehen. " Ich kann es mir vorstellen." Ich seufzte, denn mir fiel jetzt erst auf, dass es wohl tatsächlich die meisten Menschen zumindest in schwer traumatischen Schockzustand versetzt hätte, was ich in der Leichenhalle gesehen, geschweige denn getan hatte. " Wer weiß. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich nicht gern von meinem Verstand leiten lasse." Einen Augenblick konnte ich sehen, wie ihr Innenleben verarbeitete, was ich gesagt hatte, und dann lächelte sie schüchtern. Sie sah aus meinem Fenster nach Draußen und war im selben Moment auf den Beinen. Es war eine fließende Bewegung ohne Mühe. " Ich sollte jetzt gehen." Sie öffnete das Fenster und ich wollte sie nicht aufhalten, da sie es eilig zu haben schien. " Bis bald?" Mit schon einem Fuß auf dem Fenstersims, drehte sie noch einmal den Kopf zurück und lächelte. " Ja, bis bald." Seitdem bekam ich öfter nächtlichen Besuch von Broken und ich konnte mehr und mehr ein Kribbeln in meinen Armen spüren, als hätte sie sich durch die Narben in mich eingesät. Wahnsinns Wiegenlieder und Schmerzschreis Schlafgesänge ------------------------------------------------------- Warum habe ich nicht den Verstand verloren? Nach der zweiten Begegnung hatte ich wohl endgültig ihr Interesse an mir geweckt und Broken besuchte mein Zimmer unterm Dach regelmäßig. Zu dieser Zeit begannen meine Eltern über streunende Katzen in unserem Garten zu klagen und mussten nach ausgiebigen Nachforschungen feststellen, dass niemand sonst in der Nachbarschaft ein Problem damit hatte, geschweige denn eine Katze besaß. Sie schaffte es irgendwie die Hauswand hinauf und durch das Fenster in mein Zimmer zu kommen, meistens ohne dass ich es bemerkte, bevor sie nicht hinterrücks ihre Arme um mich schlang, einfach anfing zu reden oder begann Sätze in die Zimmerwände zu kratzen. Ihre Fingernägel mussten wohl wirklich aus Stahl gewachsen sein. Ich lebte mehr als je zuvor in einem Zustand anhaltender Paranoia, aber zum ersten Mal hatte ich das Gefühl mich daran gewöhnen zu können. Broken war einzigartig. Oft saß sie mir stundenlang gegenüber, reagierte auf nichts und starrte mich nur unentwegt an. Sie beobachtete einfach nur, wie ich zeichnete oder las oder sie ebenfalls anstarrte, und war dabei selbst völlig regungslos. An anderen Tagen unterhielten wir uns die ganze Nacht hindurch, bis sie kurz vor dem Morgengrauen verschwand. Mit ihr zu sprechen war eine seltsame Erfahrung. Broken hatte keinerlei Verständnis für Abstraktion und alle hypothetischen oder theoretischen Gedanken waren reine Leere für sie. Je weiter sich etwas von der Erde entfernte, umso weniger könnte sie den Sinn darin erfassen oder es überhaupt begreifen. Ich meine damit nicht, dass sie dumm war. Ganz im Gegenteil kam es mir oft so vor, als würde das hübsche Mädchen mir gegenüber mit soviel mehr Wissen und Gewissheit sprechen, als wäre ich um Jahre jünger als sie. Es war mehr so, dass ihre Gedanken alles ausblendeten, was nicht direkt vor Augen lag. Sie drückte sich in präzisen und gleichzeitig gefühlvollen Worten über die Beschaffenheit der Nacht, die Ästhetik eines Gemäldes oder den Anmut einer Katze aus und konnte auch ebenso genau das Gefühl einer Verliebten oder die morbide Faszination von Krieg und Verfall beschreiben. Aber wenn ich dabei über das Wechselspiel von Körper und Seele und die Ästhetik der Formen auf Grund ihrer mathematischen und logischen Schönheit sprach, - Dinge, von denen ich selbst eigentlich auch keine Ahnung habe - stieß ich auf reinstes und ehrlichstes Unverständnis, das nicht einmal die Möglichkeit enthielt, über die Bedeutung meiner Worte nachzudenken. Für sie gab es keine Widersprüche, keine Paradoxa und keine Transzendenz. Vor allem aber gab es ebenso wenig das Böse wie das Gute, für Broken war alles vollkommen natürlich. Sie kam mir vor wie ein Kind, das alles lernen wollte, und eine Weise, die doch schon alles wusste. Wenn ich so von ihr spreche, muss ich allerdings dazu sagen, dass diese Unschuld wie die in den Augen einer Katze war. Immer wenn sie zu mir kam, brachte sie den ihr anhaftenden Eisengeruch von Blut mit in mein Zimmer. Glücklicherweise fiel er nur verschwindend gering neben dem Leichenduft auf, der sich wie an mir auch im Raum festgesetzt hatte und ihm fast die Atmosphäre einer Gruft verlieh. Manchmal waren es nur winzige Blutspritzer auf ihrer Kleidung, aber öfter war sie blutüberströmt und ganz selten war es selbst für mich so unerträglich, dass ich sie trotz aller Risiken unter die Dusche scheuchte, bevor ich in Ruhe mit ihr in einem Raum sein konnte. Abgesehen davon glich sie auch in ihren Eigenarten gewissermaßen einer Katze. Ohren, Augen, Pfoten, Finger, Haut, Organe oder einfach nur undefinierbare Fleischstücke von scheinbar jeder Form von Lebewesen hatte Broken regelmäßig bei sich und hütete sie wie Beute. Ich fragte sie sehr schnell nicht mehr nach diesen Dingen, denn selbst wenn ich Antworten von ihr bekam, ergaben sie für mich keinen Sinn. Es gehörte zu ihrer Welt und ich konnte es nur akzeptieren, aber nicht begreifen. Ihre Art zu lernen und sich weiterzuentwickeln, war dementsprechend interessant. Während der Nächte, die sie in meinem Zimmer damit verbrachte meine Wände mit Farben und Blut zu beschreiben, sah ich ihr zu, wie einen Körperfetzen immer wieder wie einen Farbkasten benutzte, um ihre Finger mit Blut zu benetzen. Irgendwann riet ich ihr mehr aus Spaß, sich gleich die Fingerkuppen abzuschneiden, um sich die Arbeit zu erleichtern. Seitdem sah ich Broken zu, wie sie sich mindestens einmal in der Woche die Fingerkuppen abtrennte, ohne Narben oder bleibende Schäden davon zu tragen, und mich jedes Mal zufrieden angrinste. Ich habe mich oft später gefragt, wie ich ihre Anwesenheit und alles, was sie umgab, so einfach hinnehmen und sorglos ertragen konnte, aber bis jetzt fällt mir kein wirklicher Grund ein, sondern nur Überlegungen, die in meinem Kopf widerhallen, als würde ich sie über einen Unbekannten anstellen. Vielleicht hatte das Meskalin mich tatsächlich innerlich zerfressen und so abgestumpft, dass ich nicht mehr dazu in der Lage war menschlich zu empfinden. Es klang nach einem Argument meiner Eltern, denn ich wusste, dass ich in meinen Illusionen so sehr Mensch war wie nirgendwo sonst. Allerdings konnte ich, seit Broken mein Leben veränderte, so viele Chemikalien in meine Blutbahn mischen wie ich wollte, ohne dass auch nur die geringste Wirkung eintrat, und ich war mir nicht sicher, ob es ein Gegenmittel oder eine Steigerung war, das mich gegen die Drogen immun machte. Irgendwann verlor ich dadurch das Interesse an den künstlichen Farben und wurde damit auf wundersame Weise "clean". Eine andere Überlegung war, dass tatsächlich in mir "das Böse" schlummerte und nur darauf wartete von einem Wesen wie ihr geweckt zu werden, um mich zu dem zu machen, was ich wirklich war. Auch das klang sehr nach meinen Eltern, nachdem sie wieder einmal mit dem Schulpsychologen gesprochen hatten. Leider war ich seit mich Broken besuchte innerlich viel ruhiger und nach Außen sogar fast freundlich. Meine Freunde fingen nun langsam an mich "wirklich seltsam" zu finden. Also war meine Zukunft als Küchenmesser-Mörder weiterhin nicht näher als sonst. Zuletzt wäre noch die Möglichkeit des "künstlerischen Realitätsverlusts". Wer viel liest, schreibt und kreativ in seiner Phantasie lebt und arbeitet, für den lösen sich oft die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Gedanke zu Gunsten der Welt auf, in der er sich lieber aufhält. Es hilft dabei den Alltag nicht ernst nehmen zu müssen und enthüllt enge Gassen und kleine Details der Realität, die für das wache und aufmerksame Auge nicht sichtbar sind. Allerdings fängt die Welt dabei mehr und mehr an zu Papier zu werden, das sich als einzelne Seiten in das große Buch einwebt, und Menschen zum Kratzen einer Schreibfeder auf Pergament, dem Hacken einer alten Schreibmaschine oder sind gar nicht zu hören, weil sie das leise und schnelle Tippen einer Computertastatur sind, das man nicht bemerkt. Alles wird interessant mitzuverfolgen und spannend anzusehen, aber nur noch wie eine Geschichte, die der Leser nicht beeinflusst oder beurteilt und gerade deshalb umso intensiver "liest". Es gibt in dieser Betrachtung nicht mehr falsch oder richtig, den Bösen und die Guten, sondern genau wie in einem Buch nur noch stimmig und unstimmig. Hätte die Überlegung nicht beinahe wörtlich von einem Psychologen stammen können, wäre das wohl damals meine Erklärung gewesen. Letzten Endes konnte ich wieder nur die Antwort finden, dass es mir notwendig und in allem Widersinn und Abartigkeit als natürlich erschien. Brokens Sicht der Welt war weit entrückt von Worten wie "Realität", "Norm" und letztlich auch vom "Wort" selbst und ich war dabei immer tiefer in sie einzutauchen und mich von der Oberfläche zu entfernen. Ich habe Broken einmal gefragt, wie die Welt aussah, in der sie lebte und ihre Worte werden mir immer im Gedächtnis bleiben. Sie antwortete folgendes: " Früher war die Welt in meinem Kopf ein Spiegel. Alles reflektierte sich in meinem Geist und wurde zur Realität, wie sie zu sein schien; vielleicht auch, wie ich sie wollte. Eines Tages zerbrach der Spiegel und ich erkannte, dass etwas dahinter liegt. Das Glas war nur die Oberfläche, eine Ablenkung, reine Illusion. Seitdem sehe ich Das, was durch den Spiegel zu Realität wird. Doch in meinem Kopf sind Spiegelscherben, durch die sich noch immer die zersplitterten Reflektionen der Wirklichkeit in meine Gedanken hinein brechen. Beide sind sich so ähnlich. Ich kann es kaum unterscheiden." Damals fühlte es sich an, als könnte ich ihre gebrochenen Gedanken in einem Kopf hören und das Leid empfinden, welches sie in sich trug. Ich spürte die Zerrissenheit, die in ihr wohnte und es war, als könnte ich den Wahnsinn nicht nur akzeptieren, sondern verstehen. In dieser Nacht, nachdem sie gegangen war, träumte ich. Ich sah wie Glassplitter und feiner Kristallstaub auf mich nieder rieselten und in die Mulden und Lappen meines Gehirns fielen. Sie begannen zu wachsen und wurden zu kleinen Kristallpflanzen, die in mein Gehirn eindrangen und sich immer tiefer hinein gruben. Dann sah ich mich selbst von einer wabernden, warmen Finsternis umgeben. Meine Augen waren zu Glas geworden und fielen leblos aus den Augenhöhlen. Überall traten blutverkrustete Glasscherben aus meinem Körper. Zuletzt, bevor ich schreiend aufwachte, spürte in ein Spannen, das durch die Haut meiner Arme wanderte, bis weiße Ranken aus Eis und Diamant hervorbrachen und mich in einen gläsernen Kokon einhüllten. Auf diese Weise wurden Broken und Ich zuerst eine groteske Form von besten Freunden und mit den Wochen das Zerrbild einer heimlichen nächtlichen Liebe. Nachdem wir uns über lange Zeit nur in meinem Zimmer getroffen hatten, traten wir irgendwann auch mit der restlichen Außenwelt in Kontakt. Wir zogen durch die Straßen, saßen in Nachtcafés oder sie besuchte mich während meiner Arbeitszeiten in der Leichenhalle. Es fühlte sich wie der Spaziergang eines Paars durch den Park an, in dem sie sich kennen gelernt hatten. Nur, dass es statt singenden Vögeln, schattenspendenden Bäumen und Wiesen nur Stille, kränkliches Licht und Dunkelheit gab. Eine Welt der ursprünglichen Dreifaltigkeit für Gottes Anti-Archetypen. Ich fühlte mich in diesen Nächten wie der Erschaffer und Zerstörer von Welt, ein manisch-depressiver Odem des Lebens. Obwohl bei unseren Treffen das Unnatürliche fast aus der Luft zu greifen war, kam mir Broken von Abend zu Abend menschlicher vor. Sie war nicht mehr die wandelnde Willkür aller Möglichkeit neben mir, sondern erschien mir fast wie ein süßes, liebenswertes Mädchen von 17 Jahren, das voller Hoffnungen und Ängste mit ihrem ersten Freund durch eine erwartungsvolle Welt wandert. Das alles erfand mein Gehirn natürlich völlig frei und ich hatte in Wirklichkeit keine Ahnung, was in ihr vorging. Während wir uns die Nächte durch herumtrieben, traf ich mit Broken zusammen auch meine Freunde. Interessanterweise war sie das erste der Mädchen, die ich zu ihnen mitbrachte, was sie nicht für gestört, völlig am Ende oder eigenartig hielten. Aber ich sollte vielleicht dazu besser ein wenig mehr über den seltsam zusammen gewürfelten Haufen von Wesen erzählen, die ich als "Freunde" bezeichne. Im Gegensatz zu den meisten Freundeskreisen verbindet uns oberflächlich rein gar nichts. Wir teilen nicht dieselbe Lebenseinstellung, haben keine gemeinsamen Hobbies oder Gewohnheiten und wenn sich einer von uns die Musik des anderen länger als eine Stunde gefallen lassen muss, ist für niemandes Sicherheit garantiert. Falls wir uns einigen können abends gemeinsam weg zu gehen, grenzt das an ein Wunder. Was uns zusammenhält sind zwei Eigenarten: Zum einen die seltsame Fähigkeit im Laufe eines Abends alle unverabredet am selben Ort zu erscheinen und zum anderen, es ohne all die so genannten "Gemeinsamkeiten" bis in den Morgen dort auszuhalten, ohne uns gegenseitig aus Langeweile umzubringen. Es ist für mich etwas fast spirituelles, wenn ich manchmal stundenlang durch die Straßen der Stadt laufe, nur um irgendwann zufällig auf die anderen zu treffen. Ich bin mir nie ganz sicher, ob ich für irgendeinen der anderen überhaupt irgendetwas übrig habe oder ob es tatsächlich nichts weiter als eine Art Fügung war sie zu treffen, genauso wie es sich gewissermaßen gefügt hat Broken zu treffen. Unter diesen zusammengefügten Freunden wären da zum einen Alice, K und A. Sie sind am einfachsten ausgedrückt drei Menschen, die einander lieben. Alice ist das bezaubernde Mädchen mit den feuerroten Locken, das sofort den Wunsch auslöst es beschützen oder vergewaltigen zu wollen. So drückte es A aus und K nickte nüchtern zustimmend dazu. A war äußerlich der Ordentliche mit monatlichem Haarschnitt und randloser Brille, K der Poet mit der wilden Mähne und hungrigen Augen. Beide sind schweigsame Gestalten, K wenig größer als A, die jedes Atom erklären können, ohne auch nur ein wahres Wort zu sagen, umso mehr, wenn sie sich gegenseitig dabei helfen. Ich bin aus keinem der beiden schlau geworden und fühle mich dadurch eigenartig wohler in ihrer Gegenwart. Alice kann mir und sich selbst nicht erklären, wie sie es länger als 5 Minuten alleine mit beiden aushält, A und K sagen dasselbe. Ich kann nicht genau sagen, wie die Beziehung der Drei zu- und untereinander abläuft und ernte nur Lächeln und gute Geschichten, wenn ich danach frage, aber ich bin mir sicher noch nie glücklichere Menschen unter dem Himmel gesehen zu haben. Dafür genügt mir immer wieder nur ein Blick auf das "Paar" und ich habe keinen Zweifel daran. Da ist D. Man kann ihn einen "Sohn der Stadt" nennen. Seine ganze Erscheinung ist nichts als Narben und Energie. Wenn ich ihn reden höre, dann klingt es nach Schlachten und Befreiung und "wie wir jede Nacht in den Gassen die schönsten und stärksten Söhne der Stadt verlieren". Alles steckt voller Kraft und Möglichkeit, ein Freudenfeuer, das die Stadt erleuchtet, wenn ich ihm zuhöre. Ich höre D gerne zu, auch wenn ich eigentlich keinen Schimmer habe, wovon er spricht, und trinke dabei mit ihm Glas um Glas von dem Zeug, das er mit sich herumträgt, ebenfalls ohne einen Schimmer, was ich da trinke. Er ist eine Kämpfernatur und eine große Freundschaft scheint ihn mit der ganzen Stadt zu verbinden. Manchmal denke ich seine großen starken Hände könnten Welten genauso halten wie zerstören. Wenn D grinst und spricht, dann glaube ich wirklich, die Welt könnte sich gleich Morgen verändern. Auf der Straße, auf der wir gehen. Dann sind da noch N und Schwarzherz. Sie sind die düster gekleideten Gestalten mit den offenen Gesichtern. Kein Funken Boshaftigkeit in der Kluft finsterer Okkultisten. N ist ein Weltverzweifler, der stundenlang über Licht, Dunkelheit und Schatten spricht, während er die Sterne betrachtet. Wenn seine Bedeutungstiefe mich nicht gerade wahnsinnig macht, dann spüre ich durch seine Worte wie mir der Sinn aller Welten über die Backe leckt. Er gibt mir das Gefühl beinahe alles in einer großen tiefsinnigen Einheit zu betrachten. Schwarzherz ist die dunkle Schönheit, die ein Mensch wie N zur Seite hat. Es ist wie eine Art Naturgesetz. Sie ist das Mädchen mit den Rehaugen voller Leidenschaft und Kummer. Ihre Gesellschaft ist die reine Inspiration. Ich sehe sie in letzter Zeit selten. Mit diesen Wesen wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, verbrachten Broken und ich die Nächte und ich fühlte mich in der Gegenwart anderer Menschen wohler denn je. Broken schien zu wissen, wie sie sich außerhalb von Leichenhallen verhalten musste und erschien zu diesen nächtlichen Treffen erheblich weniger blutig, als ich es von ihr gewohnt war. Auch das war für mich erheblich angenehmer, obwohl ich eigentlich glaubte, mich daran gewöhnt zu haben. Damals sah ich zum ersten Mal, wie sie mit anderen Menschen umging und war überrascht, wie erstaunlich gewöhnlich sie sich verhielt. Natürlich half ihr dabei auch die Spleenigkeit der anderen. Schließlich hängt die Abweichung von der Normalität immer davon ab, was als Norm empfunden wird. Wenn sich das irgendwo zwischen der Lebendigkeit des gesellschaftlich Unnatürlichen, der Befreiung der Stadt und einer Welt voll schwarzer Poesie bewegt, dann kann ein Mädchen in Schuluniform mit hyperaktiven Gemütsschwankungen und der Angewohnheit leicht kranke Gedankengänge im Selbstgespräch mit verteilten Rollen zu durchdenken, wie der durchschnittlichste Mensch der Welt wirken. Wir lagen in diesen Nächten herum auf verlassenen Spielplätzen und den menschenleeren Orten der Stadt, den Nischen der Welt, in die sich auch nachts kein gewöhnliches Wesen verirrt, und reichten Whiskeyflaschen im Kreis herum und tranken auf alles, was uns einfiel, und dann auf das, was uns nicht einfallen wollte, und schließlich auf das, was wir nicht vergessen konnten, und lachten erst den Mond und dann jeden einzelnen Stern aus. Ich erinnere mich, wie ich zufrieden auf einer alten Rutsche lag, die mir furchtbar weich vorkam, und Broken dabei zusah, wie D versuchte ihr Teakwondo beizubringen, und Alice mir in den Rücken rutschte und mir fast das Genick brach. Wir sahen wie Broken ihm einen Tritt an den Kopf setzte, der ihn zu Boden riss und mir wohl tatsächlich das Genick gebrochen hätte, aber D lachte nur, wie er blutend am Boden lag und ich fragte mich, woher Broken so zutreten konnte. Eine Sekunde später wollte ich es mich nicht mehr fragen. Alice schob ihre Beine um mich und mein Kopf lag auf ihrem Schoß. Der Mond wurde von ihrem Gesicht verdeckt, als sie sich nach vorne beugte und herunter sah und ihr Gesicht wurde verdeckt von ihren Brüsten. In diesem Moment war ich tatsächlich froh, dass K mir einmal erklärt hatte, was er mit mir machen würde, wenn er mich dabei beobachten würde, dass auch nur meine Gedanken länger als drei Sekunden um Alices Brüste kreisen würden. Obwohl er bei der darauf folgenden Erklärung sehr glücklich ausgesehen hatte, half es mir dabei, mich auf Alices hübsches Gesicht zu konzentrieren. " Sie ist was besonderes, nicht wahr?" Ich dachte darüber nach, dass dieser simple Satz gar nicht ausreichen konnte, um alles zu vereinen, was mir an Gedanken und Bildern über Broken durch den Kopf ging, vor allem darüber, was sie ist. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass Alice genau das gesagt hatte. " Ja, das ist sie." Ich erinnere mich an Tage, Wochen, vielleicht Monate, in denen ich scheinbar einfach nur dalag und Sie beobachtete, wie sie redete, wie sie herumlief und mit mir und den anderen lachte und hin und wieder jemand vorbeikam und mir eine Flasche hinhielt, aus der ich einen Zug nahm, einige Worte von zeitloser Weisheit und Nichtigkeit wechselte und mich wieder zusehen ließ. Ich erinnere mich aus dieser Zeit an Alles, an jede Geste, jedes Wort. Es war das Gefühl am Leben zu sein und im Moment zu sein, auch wenn das wie eine Phrase klingt. Ich erinnere mich, wie während einer dieser Nächte mein Vater starb, als er "kurz raus ging, um eines dieser streunenden Biester zu verscheuen" und nie wieder kam. Niemand hat je davon gesprochen, dass er sicher tot sei, aber ich war mir eigenartig klar darüber, dass er es war, und konnte Broken trotzdem noch in die ruhigen Grauaugen sehen. Ich kann nicht sagen, warum ich damals keine Trauer für den Tod meines Vaters empfand, als meine Mutter um ihn weinte, und auch nicht, als sie begann sich mit dem Geld seiner Lebensversicherung zu trösten. Es kommt mir jetzt wie ein Bann vor, der über dieser Zeit liegt. Obwohl alles klar und deutlich vor mir liegt, ist es doch auf eine Weise verdreht und unnatürlich, doch ich bin unfähig meinen Kopf zur Seite zu legen und es aus dieser Perspektive zu betrachten. Doch da sind Momente, Fragmente von Sekundenbruchteilen eines fesselnden Films, in denen mich Broken mit ihrem einen Auge aus jener ersten Nacht durch den Film hindurch ansieht. Sie bleckt die scharfen Zähne und grinst. Dann geht der Film nahtlos weiter, doch ihr Gesicht bleibt in meinem Kopf. Überall um mich herum sind Messer und Scheren und rostige Kanten, die nur auf meinen entscheidenden Schritt warten. In dieser Zeit war meine Paranoia tagsüber am Schlimmsten, während die Sonne schien, und Broken nicht da war und ich mich nur fragte, warum ich nie die anderen nach ihren Nummern gefragt hatte, und ich mich in meinem Bett verkroch wie ein Kranker, bis die Nacht hereinbrach. Stimme in der Stille -------------------- An jenem Abend kniete ich Broken gegenüber am niedrigen Tisch, der in der Mitte meines Zimmers stand. Es kam nicht oft vor, dass sie länger als eine Nacht bei mir blieb, doch damals war es schon der dritte Tag, an dem sie den Raum nicht verlassen hatte. Zumindest nicht, dass ich es gemerkt hätte. Wenn sie bei mir blieb, dann waren die Rollladen stets herunter gelassen und die Tür verschlossen, denn Broken konnte Tageslicht nicht ausstehen. Tagsüber schlief sie in meinem Bett wie eine Tote und war kaum aufzuwecken. Der Wahnsinn, der wie eine Nebelbank im Raum schwebte, war zum Schneiden dick. Ich konnte mich kaum länger als fünf Minuten auf etwas konzentrieren, weil ich ständig glaubte die klebrigen Teerarme einer wabernden Finsternis in einer Zimmerecke zu sehen oder einen nasskalten Hauch im Nacken spürte. Allerdings war ich ebenso außerstande das Zimmer länger als zehn Minuten zu verlassen, weil mich ein zwanghaftes Bedürfnis immer wieder hineinzog, dem ich mich nicht widersetzen konnte. Ich war mir nicht mehr sicher, wann ich wach war und wann ich schlief, ob ich wach war oder schlief. Wenn sie schlief, konnte ich nur dasitzen und sie ansehen und bekam kein Auge zu. Sobald sie wach war, hätte ich gerne geschlafen, aber Broken hielt mich wach. Schlaflosigkeit ist ein beängstigender Zustand. Es ist wie die Schwelle zu einer anderen Welt, die man ab einer gewissen Dauer der Prozedur sehen und vor allem spüren kann. Die Realität gibt irgendwann den Geist auf und vor den eigenen Augen entsteht langsam eine Art Zwischenraum. Man sieht verschwommen den Ariadnefaden alles Wirklichen und Richtigen, aber in einer sanften Schwingung macht die eigene Orientierung eine Kurve und driftet langsam zur Seite, ab vom Weg und ins Abstrakte. Auf dem Höhepunkt des Rituals, nach sechzig oder siebzig Stunden ohne Schlaf, ist die Distanz zwischen beiden Wegen so groß, dass es zu einem Gefühl wird, als würde man zerreißen; als könne man sich selbst zerreißen. Dieser Zustand erlaubt einem einige interessante Spielereien, die ein ausgeruhter, wacher Mensch nicht vollbringen kann. Man kann die Augen schließen und spüren, wie die Seele sich aus den Verästelungen des Körpers herausschält, die sie an Ort und Stelle halten. Man kann sich ein Stück nach Vorne lehnen und den tiefen, leeren Abgrund zwischen den Wegen sehen, und zwar überall, in der Maserung eines Tisches und den Farben eines Fernsehbildes. Man kann Totengeister atmen. An diesem Punkt nimmt man die Realität nicht mehr in der Struktur wahr, in der man sie beigebracht bekam. Alles bekommt eine neue und eigensinnige Form von Sinn. Zuletzt trennt einen nur noch ein undefinierbar kleines Moment von einer Veränderung, der großen Wende, und das ist ironischerweise genau der Augenblick, an dem ich jedes Mal einschlafe. Irgendwann am frühen Abend des dritten Tages war ich immer noch eigenartig wach, als ob die Energie, die um Broken in der Luft lag, mich durchströmen und nähren würde. Ich saß ihr, wie gesagt, gegenüber an meinem Tisch, den Kopf auf die Arme gelegt, und hörte mir selbst dabei zu, wie Worte meinen Mund verließen, über deren Sinn oder Inhalt ich mir nicht ganz im Klaren war. Seit einigen Minuten sah ich ein schwarzes Gleißen, das Brokens Körper umgab, aber es hinderte nicht einmal meinen Redefluss. Wie eine dämonische Schwarzlichtstatue saß sie da. Ich kann nicht sagen, ob diese ‚Aura’ schon immer um Broken gewesen war und man sich nur erst daran gewöhnen musste es zu sehen oder ob sie sich nur an diesem Abend damit umgab, aber ich bin mir unerklärlich sicher, dass ich es mir nicht nur eingebildet habe. Sie lächelte und wirkte seltsam vergnügend, wie immer wenn sie mir zuhörte. Mittlerweile hatte sie während sie wach war, fast gar nichts mehr an, doch auch darüber half mir die Schlaflosigkeit recht gut hinweg. „. . . es gibt Nichts, was das Wesen eines Menschen ändern könnte.“ Hatte ich das gesagt? Hatte sie das gesagt? Hatte ich es nur gedacht? Sie überlegte kurz und beugte sich dann nach Vorne, legte einen Arm auf den Tisch. Das wabernde Dunkel flackerte und folgte ihrer Bewegung. Wie ein Schwarzlicht deckte es Buchstabengewirr und Satzgebilde auf, das sich über meinen Tisch zog. Ich lehnte mich zurück und sah, dass die Wände, der Fußboden, die Fensterscheiben und jeder ach so winzige Gegenstand im Raum voll mit Worten und Zeichen war. Es waren nicht Brokens Blutschriften, die sich über meine Wände zogen. Ich fand auf dem Schirm der Nachttischlampe Sätze, die ich im Laufe der letzten Stunden gesagt hatte und Weisheiten aus einem meiner Bücher klebten an meinem Bett. Meine Bilder, die überall im Zimmer herumstanden waren zu reiner Lautmalerei und Reim-Vers-Gebilden geworden. Während Broken sprach durchschnitten ihre Worte ein Satzgefüge, das gerade noch meine vorherige Ausführung gewesen war. Aus der klaffenden Wunde traten neue Worte, die sich über den ehemaligen Sinn legten, die alten Worte verschoben, überdeckten, veränderten oder gänzlich zerrissen. Ich konnte die verlorenen Worte schreien und trauern und lachen hören, genau so, wie man sich die Gefühle von Buchstabenkonstrukten vorstellt. Was ich sah, könnte man wohl sichtbar gewordene Gedankenflüsse nennen, einen direkten Einblick in die Welt der Information, für den Neurologen und Sprachforscher ihr Leben geben würden. Alles Rätselhafte des menschlichen Geistes, die unerklärliche Verbindung zwischen Synapsen, Neuronen und Sinn in einem einzigen klaren Blick. Ich sah zu und diese Landschaft aus Gedanken, Schrift und Sprache war eine Welt, die wie ein dünner Film über meine Welt lag, eigentlich eher in das Gefüge eingebettet war. Mir ging das Gefühl für die dritte Dimension und die Stofflichkeit von Materie verloren und für einen Moment blickte ich auf den Tisch vor mir und fand dort, direkt vor mir, eine Formel, die mir die Einheit von Geist und Materie erklärte. Es war so wie meine Welt, aber doch nicht meine Welt. Die Menschenwelt, wie ich sie kannte, aber wie mit einer weiteren Ausdehnung, einer vierten Dimension, versehen, die den Raum jedoch nicht komplexer gestaltete, sondern in sich schloss. So als wäre die erste Dimension ein loses Fadenende, an das man anknüpft, um einen Kreis zu schließen. Alle Wertigkeiten und Kategorien, in denen ich denken konnte, wurden darin aufgehoben und erlangten eine neue, verständlichere Bedeutung, ohne sich wirklich zu verändern. Ich verspürte eine Art intuitives Allwissen. Ich starrte eine undenkbare Zeit auf meinen Tisch, bis Brokens Hand nach der Oberfläche griff und ihre Fingernägel hineinkrallte. Es knisterte als die Tischplatte in ihrer Hand zusammenknüllen wie Papier, aber gleichzeitig ohne den Tisch auch nur im Geringsten zu beschädigen. Sie riss es herunter wie das Blatt eines Ringblocks und warf es hinter sich. Darunter lag eine neue, leere Fläche, die sich sogleich wieder mit Zeichen und Formen füllte. Ich nahm in diesem Zustand nicht mehr wahr, dass es Brokens und meine Worte gewesen sein mussten, die die Leere füllten, denn meine Auffassung von Sinneswahrnehmung war auf eine Weise verschoben, die eine simple Beschreibung durch fünf Sinne überstieg. Auch die Annahme von mir und ihr als separate Existenzen verschwamm, jedoch ohne, dass sich mein Selbstverständnis als Individuum veränderte. Womit wir den Raum füllten, waren für mich keine Worte oder Sätze mehr, sondern reine Gedanken ohne Zügel und Grenzen. Mir wurde plötzlich wirklich klar, was Broken mir versucht hatte zu beschreiben, als sie von Dem erzählte, was hinter einem zerbrochenen Spiegel liegt. Was sie vergessen hatte zu erwähnen war, dass sie keineswegs eine Gefangene der Windungen und Verzerrungen dieser andersartigen Dimension war, sondern Herr über sie. In meinem Kopf begannen, scheinbar unendlich langsam, Verbindungen aneinander zu knüpfen und längst überfällige Schlussfolgerungen zu entstehen. Ich verstand auf einmal, warum sie trotz aller Grausamkeit und Absurdität den Schein des Natürlichen und Selbstverständlichen um sich trug, und auch woher ein zierliches Mädchen die Kraft einer Bestie nahm. Broken sah die Welt von einer Ebene, in der die Fäden zusammenliefen, um alles Oberflächliche wie Puppen tanzen zu lassen, und musste sich nur darum sorgen an den richtigen zu ziehen. So etwas wie Naturgesetze oder die Grenzen der Wirklichkeit scherten sie wenig. Sie stand sozusagen hinter dem Vorhang. Aber wie weit stand sie über den Dingen? Was sah ihr Blick am Horizont? War es gelogen, dass sie das Wahre und die Scherbenwelt oft nicht auseinander halten konnte? Ich sah mich selbst als verschlissenen Läufer auf einem verzerrten Schachbrett aus Blend-Weiß und allverschlingendem Schwarz. Die Vorstellung die ganze Zeit nur umher geschoben worden zu sein von einem übernatürlichen Dämon, der mir gegenüber saß und gespannt auf meinen nächsten Zug wartete, machte mich zornig. Aber war ich nicht gleichzeitig Figur und Gegenspieler des Dämons, der Raubtieraugen in seinen leeren Augenhöhlen trug? Wieder kam in mir das Gefühl hoch mich selbst von außerhalb meines Körpers zu betrachten und aus dem Winkel der eigenartigen vierten Dimension aus, die meine Sinne durcheinander brachte, bekam es eine einzigartige Bedeutung. Ich erinnerte mich an die Nacht, als ich das Gefühl gehabt hatte, Broken würde mit ihren stummen Fragen in meinem Geist eindringen und ihn erobern wollen. So betrachtet wahrscheinlich um Weiten mehr als nur ein einfaches Gefühl. Ich hatte wieder ihr überraschtes Gesicht vor Augen und ihr danach aufkeimendes Interesse an mir, das mich erst in diese Lage gebracht hatte. Es war natürlich lächerlich zu glauben einer unberechenbaren Seltsamkeit ebenbürtig zu sein, aber ich war auch kein willenloses Objekt. Möglicherweise war ich wichtig für sie. Erst da wurde mir klar, dass alles, was ich gerade gedacht hatte, sich in einem eleganten Bogen von meiner Tür aus über die Decke schwang und Broken den Kopf in den Nacken gelegt dort saß und las. Sie blickte mich lächelnd an und ich fragte mich, ob sie jedes einzelne Wort meiner Gedanken kannte, seit dem Tag, als ich ihr Kinderzimmer in der Leichenhalle aufgeräumt hatte. „Mehr als du dir vorstellen kannst“ nahm ich wahr, ohne dass sich ihre Lippen bewegten. „Aber trotzdem bin ich noch nicht tot.“ Ich saß nur da und sah sie an, die Worte kamen nicht mehr aus meinem Mund, sondern aus meinen Gedanken. „Was meinst du?“ „Wenn du den Grund dafür gefunden hättest, dass ich damals nicht wahnsinnig wurde . . .“ „. . .“ „ Wäre ich dir unterlegen, wäre ich nur noch wertloses Fleisch und Knochen, die du auf durch die Gassen und Wege verstreust.“ „Wer weiß . . .“ „Wer bist du?“ „Ich bin zerbrochen. Das weist du.“ Ich hatte schon tausende solches sich um sich selbst drehenden Gespräche mit Broken geführt, doch noch keines, während ich es aus mehr als meinen Augen sah. Etwas Großes erhob sich wie ein Schatten um Sie. „Was bist du?“ „Mehr als du dir vorstellen kann.“ Ich sah in Broken hinein. In etwas Uraltes. Etwas Zeitloses. Ein Flickenteppich zog an mir vorbei, für dessen Elemente mir fast vollständig die Worte fehlten. Viel zu wenige waren behaftet mit Bedeutung und Begrifflichkeit, sodass ich etwas daran wahrnehmen konnte. Wie funkelnde Zahnräder in einer großen dunklen Maschine. Selbst jene Einzelteile bereiteten mir Kopfschmerzen. Broken ist alt wie die Welt und so jung und ahnungslos wie der Morgentau. Sie ist rein, kennt das Böse nicht und steht doch im Zeichen der ältesten Übel der Welt. Sie spielt mit Mächten, den Göttern gleich, und bleibt auf ewig eine Gefangene der kleinen Menschenwelt. Sie weiß alles, doch sie kennt sich selbst nicht. . . . Broken kann sehen, was ich gerade sehe. Und sie ist wütend. Die Realität greift wie eine Vollbremsung bei 120 km/h und holt mich zurück. Raus aus dem tiefsten Einblick in Brokens Bewusstsein, diesen intimsten Moment. Weg von der Tiefe der anderen Welt. Das Wunder der alles klärenden Formel, die hauchdünne Schicht Tränenglas zerbricht in tausend Scherben. Für immer verloren. Ich sitze einfach nur da. Hellwach. Und Broken einfach nur mir gegenüber. Tiefer Groll in ihren goldgelben Augen. Die Luft vibriert. Der ganze Raum scheint vor ihr zu fliehen, nur ich kann mich kein Stück bewegen. Das Kitzeln in meinem Armen wird verzehrend, als wollten sich Pflanzensamen ihren Weg ans Mondlicht graben. Die Spannung von Innen, der Druck von Außen, das Ungleichgewicht droht mich zu zerreißen. Dann ist die Slow – Motion Sequenz, der lange Gedankenmonolog, das retardierende Moment vorbei und der Film läuft gnadenlos mit normaler Geschwindigkeit und Geschmeidigkeit weiter. Broken erhebt sich, kerzengerade, und ich höre jeden ihrer Knochen knacken. Mit einem Handstreich reißt sie den Tisch zur Seite und ich höre das Splittern von Holz an meiner Wand. Diesmal ist es der echte Tisch und nicht nur ein Blatt Gedankenpapier. Die gerade Linie zwischen mir und ihr ist frei, nur zwei Schritte Entfernung und doch sind ihre zwei Schritte wie ein Ansturm, um mich niederzureißen und am Boden zu zerfleischen. Ich hatte mich schon einmal nicht niederreißen lassen, damals im nassen Zwielicht der Leichenhallenduschen, vielleicht würde es auch dieses Mal klappen. Ihr Geist erreicht mich noch bevor sie vor mir steht und ich spüre, wie er sofort beginnt sich in meine Pupillen zu fräsen und weiter in den Sehnerv zu hämmern, um meine Hirnlappen abzuschälen. Ich hatte schon einmal nicht den Verstand verloren, damals in genau demselben Raum, vielleicht konnte ich es auch dieses Mal ertragen. Ich versuche Pandas zu denken oder das zwei Gesetz der Thermodynamik. Broken steht vor mir und steigt auf meinen Schoß, lässt sich auf mir nieder. Federleicht und mit dem Gewicht von Welten. Ich kann mich nicht rühren und der ganze Fluss ihrer Gedanken dringt in meinen Kopf ein, das alleinige Bedürfnis alles darin Befindliche zu zerstören, nichtig zu machen. Eine Sandburg mit der Flut wegzuspülen. Meine Gedanken winden sich und wollen sich auf ihre Fragen, die Tatsachen, die von ihrem unendlichen Wissen her abflammen, einzustellen, doch es ist zuviel. Zuviel, um es zu kontrollieren; zuviel, um es einfach laufen zu lassen. Broken sitzt nur da und sieht mich an, doch in meinem Kopf packt sie meinen Geist mit tausend Teerarmen, vergewaltigt mich, bis alles ganz taub und widerstandslos wird in mir. Ihre Lippen nähern sich, um mir einen Todeskuss zu geben, doch gleichzeitig sitzt sie nur da und betrachtet meinen regungslosen Körper, sieht in meine verschreckten Augen. Für den Bruchteil eines Moments spüre ich Broken verharren. Vielleicht lebt sie wie gerade eben unsere Zeit noch einmal durch, bevor sie mich beenden will. Negieren, aus der Menge der Möglichkeiten tilgen, aus der Welt streichen. In dieser mikrokosmischen Ewigkeit ist sie hilflos, schutzlos, kraftlos und ohne denken zu können, greift eine Hand, meine Hand, nach dem Cutter auf meinem Nachttisch. Ich ziehe eine lange rote Schärpe über meinen Brustkorb und die zerbrochene Glaswelt aus Gedanken ist eine Sekunde lang wieder da. Ich sehe die Verwirrungen, Gedanken und Rätsel, durch die Broken meinen Geist zermahlen und ersetzen wollte, wie weißen Wasserdampf, der dicke schwarze und graue Tropfen abwirft, aus meiner Brust quellen und sich in den Tiefen des Raumes verlieren. Mein Kopf beginnt sich leichter anzufühlen und langsam bewegt sich wieder alles normal. Ich sehe Broken und sehe das ungläubige Erstaunen in ihren Raubtieraugen und sehe wie ihre überwältigend schwere Aura blass wird. In diesem einzig schwachen Moment, in dem ich Broken je anrühren könnte, gebe ich ihr auch eine rote Schärpe in ihr makellos grausames Gesicht und stoße sie, während sie wie ein verwundetes Tier aufschreit, von mir. Ehe ich verstehe, dass ich die Zimmertür aufreiße, renne ich schon draußen durch die Straßen. Durch den Regen. Irgendwohin. Weiter weg von Broken. Wie nach Drehbuch schlägt ein Sturm los und der Regen fällt in Strömen auf die Stadt nieder. Die mäandernden Gassen werden zu reißenden Bächen. Nur ohne großen Fluss, in den es mich spült. Kein Ozean in Sicht. Ich stolpere durch die Straßen wie ein Kater, dem ein Neunjähriger aus Spaß die linken Schnurhaare abgeschnitten hat. Schneid’ mir jemand die Restlichen ab, damit ich in Frieden und blind vor die Scheinwerfer laufen kann! Bitte jag’ mir irgendjemand kaltes Metall durch mein Stammhirn! Lasst mich nur nicht in einer Welt allein, die schief hängt! Die Buchstabenwelt ist wie ein Bruchstück über der Realität übrig geblieben und ich blicke durch sie in die Häuserschluchten, wie auf ein zerfressenes Pergament alter Weisheiten voller Lücken. Im Himmel über der Stadt hängen Buchstaben und Zeichen, jedes Wesen und jede Maschine schleifen Wortketten hinter sich her, tragen Markierungen im Nacken. Selbst der Sternenhimmel ist verdeckt von Informationen. Alles ist bruchstückhaft bezeichnet, trägt Geheimnisse seiner selbst auf die Stirn geschrieben, als wäre es nie anders gewesen. Ich frage mich, warum es mir nie vorher aufgefallen ist, und doch kriege ich Kopfschmerzen beim Anblick all dieses Wissens, das mein Gehirn unmöglich verarbeiten kann. Meine Sachen kleben an mir, aber immerhin wäscht der Regen auch das Blut ab und ich bin nur noch ein herumirrender Junge mit zerrissenem Hemd. Ich wandle durch die Gassen und über leere Stadtautobahnen, ohne Orientierung, aber nicht ziellos. Etwas zieht mich an. Wie ein Ruf aus weiter Ferne, dem ich folgen will, doch ohne Geräusche. Es ist ein Element der neuen Welt, das mich darauf aufmerksam macht. Es ist ein Sog aus Gedanken und Mustern, ein Spinnennetz, das um ein Zentrum kreist. Doch mein Weg ist nicht gradlinig, ich bin nicht gefangen. Eine Fährte aus Momentaufnahmen und Wissensfetzen, manchmal sogar verständlichen Gedanken, treibt mich durch das Labyrinth der Hinterhöfe und schmalen Wege zu verschiedenen Schauplätzen einer nächtlichen Wanderschaft, an denen noch verblassende Hirngespinste und Formeln kleben. Ich folge dem abendlichen Weg und den Gedankengängen eines Lebewesens. Langsam wird mir klar, dass ich einem Menschen hinterher jage. Ich kann nicht seinen Schweiß riechen oder seinen Herzschlag hören, aber ich fühle seine Gedanken. Die ganze Stadt wird zu einem Kunstwerk. Der Regen spielt Drums und Sorgen der Menschenkinder spannen sich wie eine Leinwand auf, die Lichter der Häuser und jedes Schaufenster riechen nach Lug und Trug und irgendwo sagt ein lächelndes Mädchen, klatschnass vom Regen, Ich liebe dich und die Worte streifen mir sanft über den Arm. Aber immer ist darunter der Bassrhythmus Ihrer Gedankengänge, auf denen ich wandle. Es lässt mich schwerelos gleiten durch Lichtermeere, alles wird grau und erst in der Tiefe ohne Töne kann ich Farben sehen. Ich kann verstehen, warum mich Nebel aus Stahl einhüllt und dann wieder gehen lässt; warum auch nicht? Ich brauche nicht auf den Weg zu achten, nicht darauf, wo ich die Straße überquere oder was die kürzeste Strecke ist, denn der Weg ist selbstverständlich geworden. Er könnte genauso gut auf mir gehen, wie ich auf ihm, das ist kein Unterschied. Doch manchmal habe ich Einbrüche, ein Gefühl aufzuwachen, wohl wenn ich die Buchstabendimension, diese Anderswelt, verlasse und der Realität ins Gesicht sehe. Ich bin unverständig wie ein Kind und denke Was ist passiert? Warum bin ich hier?, bis mich ein Riss im Gefüge wieder in die neue Ebene bringt, die mir mehr und mehr vertraut wird. Ich frage mich, wie ich überhaupt etwas verstehen konnte. Zuvor. Mit meinen einfachen Augen und klarem Verstand. Nun erkenne ich, wie im Vorbeigehen. Formeln. Theorien. Gleichungen. Komplexitäten, die mich früher meine ganze Aufmerksamkeit gekostet haben, um auch nur Scherenschnitte daraus in meine Gedanken zu übernehmen. Es ist um mich. Das Allwissen, die Weltformel, die letzte Zahl. Nur kein Verlangen mehr danach zu greifen. Kindliche Fragen überfüllen meine Gedankenwelt und lassen keinen Raum für gezieltes Denken: Warum das Wissen über alle Dinge und Wesenheiten dieser Welt erfahren, wenn es doch da ist? Wieso es besitzen wollen? Welcher Sinn hat es eigentlich? Ich fühle mich gefangen, festgesetzt und an der Nase herumgeführt von mir selbst. Ich möchte über mich selbst lachen und die ganze Ironie des Schicksals, die mir bis in diese entrückte Form von Dasein gefolgt ist. Aber noch fehlt mir die Pointe, der universale Witz an der Sache. Ich komme Ihr näher. Einen Moment denke ich darüber nach, ob es Broken ist, die mich anzieht, und ich gerade einfach in mein Verderben laufe. Doch mir wird selbstverständlich klar, ehe ich zu Ende denke, dass sie mich nicht zu sich leiten würde. Broken würde mich finden. Was ich verfolge, ist anders. Ich streife aus einer Seitengasse heraus um eine Ecke und da sehe ich Sie vor mir. Wie die Schönheit auf der Lichtung eines Waldes, mit Abendsonne im Gesicht und Vögeln in ihrem goldenen Haar. Nur in den Tiefen der grausten Stadt. Sie sitzt seelenruhig in einer Häuserschlucht, mitten auf einer alten Parkbank, so als hätte sie seit Jahr und Tag dort gesessen. Es ist, als sei sie dort, um von mir gefunden zu werden. Um sie verschwimmt die Stadt in Sturm und Nebel und den Bedenken und Zweifeln und großen Gedanken der Menschenkinder, doch Sie ist einfach da. Alles wird weich und haltlos und droht weg zu fließen, nur sie bleibt unbewegt. Der Regen legt sich um alles Warme, alles Feste und wäscht die Farben weg. Er spült die Stadt weg. Wie die Straßen mäandern, wie die Städte zerfallen . . . Sie wartet dort, hat die Augen geschlossen und die Arme ausgebreitet. Eine Regentropfenfängerin. Ihre glutrote Mähne und die Kleider kleben klatschnass an ihrem Körper und ein Feuer geht von ihr aus. Ein flammendes Leuchten im Chaos. Ein Zentrum. Immer, wenn ich einsam bin, zieht es mich zum Feuer hin. Regentropfenfeuerfängermädchen. Da ist etwas Warmes um sie, etwas Vertrautes, ein altes Gefühl. Keine Ahnung, ob es aus mir stammt oder aus der Welt der Buchstaben. In ihren Zeilen und Winkeln trägt sie auch die Erinnerungen der Welt, des Himmels und der Erde, des Lichts und der Nacht und der mannigfachen Augen und Ohren des Lebens in sich. Die große Kristallbibliothek. Die Erinnerung durchfließt mich immer wieder in den letzten Stunden, teilt sich meinem Bewusstsein mit und alles erscheint mir mehr und mehr verbunden, unwidersprüchlich, durch die Weite jener Sicht. In der Wärme, die sie umgibt, steckt eine Verzweiflung, ein Schmerz, der sie jedoch nicht verzehrt, sondern ihr Feuer schürt, eine eigenartige Hoffnung, die durch Leid nur zu wachsen scheint, statt sich ersticken zu lassen. Wie der Phoenix, der aus dem Tod die Kraft zum Leben schöpft. Es zieht mich zu ihr hin. Meine Schritte auf Sie zu, kommen mir wie Erdbeben vor. Jeder einzelne eine tektonische Plattenverschiebung in den Pflastersteinen. Die Straßen brechen auf und der Weg zu ihr wird ein Hindernis. Viel einfacher umzukehren und wegzulaufen. Der Pfad zu ihr wird schmaler und länger, zieht Kreise und Kurven durch ungeahnte Unsinnigkeiten, ein Gedankenrätsel auf der Straße zur Sonne. Das Neue in mir kennt die Antworten auf alle Fragen und macht sich einen Spaß daraus sie um mich in der nassen, nebligen Luft herumschwirren zu lassen. Wie ein kichernder Dämon meiner eigenen Gestalt auf der Schulter. Ich klaube die Fetzen aus ihrem Flug und setze daraus Sinnworte und Weisheiten zusammen, die ich nicht verstehe, aber dem Rätselspiel des Weges zu fressen gebe. Es schlingt sie hinunter und lässt mich wenige Schritte näher ans Ziel heran. Eine Unzeit vergeht, bis ich endlich vor Ihr stehe. Es geschieht nichts. Dann öffnet sie langsam die tiefblauen Ozeanaugen. Auf einmal sieht der Regen auf ihrem Gesicht wie Tränen aus. Sie spricht nicht, wird mir plötzlich unerklärlich klar, sie kann nicht sprechen. Aber ich höre eine Stimme aus ihren Gedanken, die mir von Ihr erzählt. Nimm’ mich mit. Zieh’ eine Kette fest um meinen Hals und nimm’ mich mit. Höre ich die Stimme sagen. Ohne Worte, die überflüssig sind, reiche ich Ihr die Hand entgegen. Sie nickt mir zustimmend zu und zieht sich daran hoch. Sie folgt mir auf Schritt und Tritt durch die zerfließenden Gassen. Während des ganzen Weges zurück in mein Zuhause sagt sie kein Wort und ich lausche ihren Gedanken. Als ich durchnässt meine Zimmertür öffne, ist es, als wäre Broken nie dort gewesen. Die Figuren stehen noch auf einem lang verlassenen Schachbrett. Der Teufel ist ausgeflogen. Ein Märchen aus uralten Zeiten. Es überrascht mich nicht. Der Weg zurück hierher hatte keine Sorge in mir wachgerufen. Es ist fast so, als hätte ich von Anfang an gewusst, dass es so sein würde. Epilog: Some say the devil is dead ---------------------------------- Sie sagt, ihr Name ist B. Sie ist wie ein urbanes Märchen von längst vergessener Schönheit. Die Geschichte, die sie umgibt, ist so wunderbar wie lächerlich und so, wie sie nur unter den Schatten der Dächer der großen Stadt passieren kann. Eine andere Welt ließe solche Möglichkeiten gar nicht erst zu. Doch in den Zwischenräumen der Pflastersteine und Nischen zwischen den Häuserschluchten ist Platz, an dem die unglaublichste Geschichte wachsen und gedeihen kann. Eine Geschichte nach meinem Geschmack und in meinem Rhythmus. B ist hochbegabt. So einfach klingt der Anfang der Geschichte. Sie lebt in einem Institut am Stadtrand, das Dad öfters einmal erwähnt hatte. Wahrscheinlich hatte er sogar schon von ihr gesprochen, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Mit nicht mal Sechzehn Jahren löst sie Gleichungen, die ich nicht einmal richtig ablesen könnte, sie betet Gesetzbücher herunter und spielt Violine wie eine virtuose Göttin. Sie spricht fließend fünf Sprachen und deswegen entschied sie sich dazu, gar nicht mehr zu sprechen. Auch gar nichts mehr zu lernen oder zu verstehen. Sie entschied sich dazu auf einer Bank sitzen zu bleiben, so weit weg von ihrem Heim wie möglich. Das tat sie für drei Tage, bis ich sie fand und mit nach Hause nahm wie ein seltenes Tier. Zum ersten Mal in meinem Leben komme ich mir einer Frau oder einem Menschen überhaupt unterlegen vor. B weiß so viel mehr, alles beschäftigt sie und unzählige Möglichkeiten und Antworten entstehen pausenlos in ihrem Kopf. Es ist wie ein Wunder, ein Wesen zu sehen, dass so viel und wunderschön denkt. Alles erhält eine gewisse Ästhetik in ihren Gedanken, einen eigenartigen Sinn, den ich noch nie vorher geschrieben oder geäußert erlebt habe. Ich komme mir klein und furchtbar dumm vor, als würde mich der Mantel meiner neuen Augen, die in das hübsche Mädchen hineinsehen können, nur davor schützen, dass sie mich als den Lügner entlarvt, der ich bin. Doch ich wünschte, es würde passieren und ich könnte splitternackt und bloß vor ihr dastehen, sehen, ob wirklich ich es bin, dem sie gefolgt ist, und nicht dem Allwissen – Generator unter meiner Haut. Ich hoffe darauf und, dass sich die Buchstabenwelt wieder aus meinen Gedanken verflüchtigt. Ich bin lieber Mensch, will gerne Mensch sein, um nicht auf B’s Gedanken herabzusehen. Es fühlt sich manchmal schon an, als würde die andere Welt blasser werden und bald gänzlich im Übersehenen und Nebensächlichen verschwimmen, worin sie zuvor begraben gelegen haben muss. B fragt mich nicht nach Formeln oder untersucht mein Wissen, sie sitzt dort und zu Zeiten bekommt sie glasige Augen und lehnt sich an mich. Selten spricht sie einige Worte. Ich brauche weder das Allwissen, noch eine andere Scherbe der Welt hinter dem Spiegel. Es ist das Denken eines Kindes, aber es reicht mir die Haarrisse in der Oberfläche zu sehen, wenn ich in den Spiegel blicke. Ich ziehe es vor, mir dabei noch selbst in die Augen sehen zu können. Mich darin zu spiegeln. B braucht mich. Es ist herrlich zu leben. Die Wochen sind verflogen und langsam ist alles wieder an seinem alten Platz. Ich verstehe nicht mehr, was ich während dieser einen Nacht sehen konnte, und ich spüre kein Kribbeln mehr in meinem Armen. Die Buchstaben sind verschwunden und die verborgenen Ecken und ungesehenen Winkel mit ihnen. Einsicht in die Welt ist mir wieder versagt. Manchmal komme ich mir für Augenblicke leer vor. Es ist wie der Phantomschmerz, einmal ein bodenloses Gefäß gewesen zu sein und nun kaum ein Wasserglas zu füllen. B ist schön, unverdorben bis zur Unschuld und ihre wenigen Worte sind reine Anmut. Ich komme mir wie ein dummes Kind vor, wenn sie nur den Raum betritt, doch sie nimmt mir meine Anfälle von Verzweiflung nicht übel. Auch wenn sie mich nach zwei Nächten ohne Schlaf und am Rande des Wahnsinns über einem ihrer Bücher jede Hoffnung in meine Intelligenz verlierend findet, schickt sie mich noch mit einem Lächeln unter die Dusche und treibt etwas zu essen für mich auf. In den schlimmsten Fällen begleitet sie mich sogar. Ich fühle mich glücklich, auch wenn ich kein Wort so verabscheue wie Glück. Noch nie war ich so wenig rastlos, so beständig. Ich erkenne mich kaum selbst wieder. Wenn ich K, Alice und die anderen nachts auf einem alten Spielplatz und an einem vergessenen Brunnen treffe, während B und ich durch die Seitenwege und Häuserschluchten ziehen, dann fragen sie manchmal nach Broken. Doch Broken ist selbst für sie wie ein Schatten, dessen sie sich immer weniger gewahr sind, je mehr Zeit vergeht. Hin und wieder fürchte ich, es ist nichts als die Ruhe vor dem Sturm. Alice scheint mir meine Angst anzusehen. Sie tritt mich, wirft die Feuermähne zurück und sagt, ich sähe jetzt besser aus als früher. Was auch immer das bedeutet. A und K verkünden mit zufriedenen Gesichtern, dass „endlich eine Frau versteht, worüber sie reden“, nachdem sie B ein Gespräch entlocken konnten. D ist der Alte, nur mit mehr Narben, die das Feuer schüren. N erzählt mir, dass Schwarzherz tot ist, und ich verspüre wahrhaftes Mitgefühl, wenn ich in seine Augen sehe, wie es mir noch nie im Leben passiert ist. Der Glasfilm zwischen mir und der Welt scheint zu schmelzen und ich hätte nie gedacht, dass es so angenehm sein könnte. Im tiefster Nacht stehe ich vor dem Spiegel, kein Licht im Bad und die Schatten vom Fenster her wie tiefe Risse im Raum, zwei Türen weiter wartet mein Bett auf mich, und B, vor allem B, letztlich dreht sich alles nur um sie für mich, so kindisch und kitschig es klingt, ich blicke mir tief in die eigenen Augen meiner düsteren Spiegelgestalt – meine Schritte auf dem Gang fast geräuschlos, irgendetwas fühlt sich anders an, falsch, trügerisch, unehrlich, gefährlich, aber alles erscheint wie immer . . . die Gänge damals in der Leichenhalle, die langen, dämonischen Gänge und die alte Knochenmühle . . . und Broken, ja, Broken hatte auch den Trug an sich haften wie einen zu klebrigen, zu lebendigen Schatten, vor dem man sich in kalten Nächten zu fürchten beginnt, der mit Paranoia zu kriechen beginnt . . . dass mir das jetzt erst auffällt . . . doch Broken ist gegangen, lange fort, ein alter böser Schein aus blutigen Kindeskindertagen, der in den Träumen auftaucht und sich nicht erklären lässt, jede Urangst und jede Gier im Menschen fördert, bis sie sich gegenseitig fressen . . . wer sagt, dass Broken fern ist, sie ist ein Jäger, ein lauerndes Biest, je weiter ich sie von mir schiebe, desto näher kann sie an mich heran . . . was wenn ich zu blind war in den letzten Wochen . . . was wenn . . . etwas ist anders, etwas Schweres, Altes liegt in der Luft, hängt an den Wänden, die höher werden und höher wirken . . . und der Weg zur Tür ist länger, die zehn Meter zu meiner Zimmertür, verdammte Angst, Göttin Paranoia mit dem Ascheschleier und den giftgrünen Augen . . . jede Tür ist wie die Saaltür 104 in der alten Leichenhalle für kurze Augenblicke, die Möglichkeit in Brokens Spielzimmer zu stehen, Blut vom Boden wischen zu müssen, irgendwo in der Entfernung ein Kratzen, als würde eine Knochenmühle mahlen . . . warum habe ich eigentlich nie nachgeforscht, was Broken in eine Leichenhalle gebracht hat . . und die Hand auf meiner Schulter . . das Blut an meinen Wänden . . mein toter, verschwundener Vater, meine Mutter in Vereinsamung, am Rande der Selbstverzweiflung, warum hat mich das nicht interessiert . . . natürlich, ich vergesse es immer wieder . . . Broken spielt mit der Welt und ist eine schlechte Verliererin . . . ich kann kein Spiel gewinnen, in dem ich meine eigene Schachfigur bin und mit Mühe meine eigenen Züge sehen kann, also kann ich auch nicht erkennen, was nahe liegend ist – hatte ich das Licht ausgemacht, als ich ins Bad gegangen bin, hat B es ausgemacht . . . ach B, ich könnte bis ans Ende aller Tage mit dir in einem Bett liegen und einfach nur auf deinen Herzschlag hören . . . etwas ist anders, viel zu anders, ich schaffe keinen Schritt ins Zimmer . . . die Schatten sind wie Teer, haben Augen, durch das Fenster will kein Licht fallen, alles ist finster und widersinnig, zu viele Kontraste, wie eine Schwarz – Weiß – Photomanipulation . . . Ist das Blut an den Wänden, Schrift an den Wänden, ist da Blut auf der Decke, auf dem Laken, ein Rinnsal nur . . . wohin ist eigentlich all das Blut, all die Spuren von Brokens Treiben, verschwunden . . . war es jemals weg oder . . . Broken, verdammte Puppenspielerin, verteufeltes Narrenkind, deine Streiche sind in meinem Kopf . . . was wenn du da bist, wenn du nie weg warst, wo eine Nische ist, kannst du auf mich lauern und die Stadt hat Winkel genug für alle ältesten Übel der Welt . . . oh B, ist das Blut an dir, B, bist du da . . . ich will zu dir, aber meine Füße bewegen sich nicht, meine Stimme meldet sich nicht, meine Gedanken denken nur im Kreis . . . B, steh auf und sag mir, dass ich dich nie verlieren werde, mach das Licht an und frag mich, wo ich so lange war, sieh mich verschlafen an mit deinen dunklen klugen Augen . . . nichts wird passieren, die Luft vibriert und die Welt bewegt sich nicht . . . etwas ist ganz anders, als ich es glauben wollte, nichts stimmt mehr, gar nichts ist richtig – Nadelstiche, wie zwei Eisenmesser durchstoßen meinen Hals wie Papier. Ein alter Schatten steht hinter mir. Etwas beginnt Sinn zu verlieren. Ist B tot? Ist Broken zurückgekehrt, nur um mich zappeln zu lassen, bevor sie mich zu Grabe schleift? Ich war viel zu blind davon, dass ihr Schein sich gelichtet hatte und verschwunden war, als dass ich hätte merken können, dass Broken betrügt. Ich habe nie gemerkt, welchen Trug sie sich als Maske aufsetzt. Hat es Broken je gegeben? Vielleicht habe ich nichts verstanden, nichts durchschaut, was sie tat, und habe mir nur meine Arroganz hegen und pflegen lassen von ihren Illusionen. Sind nicht die Täuschungen am Schönsten, in denen der Verhexte glaubt, Illusionen zu überwinden und mit der Möglichkeit spielt, ebenbürtig zu sein? Aber was würde sich ein uralter Dämon solche Mühe machen ein kleines Menschenkind bis ins Detail zu quälen, wenn es nicht ein besonderes wäre? Alles verschwimmt, die Erinnerungen zerfließen wie Sand in meinen Händen. Ist irgendetwas geschehen von all den Nächten in der Leichenhalle? Habe jemals ein Mädchen namens Broken getroffen? Ist das Realität? Der Sinn gleitet mir durch die Finger. War jemals Blut an meinen Wänden, überall im Obduktionssaal? Wo sind die Narben auf meinen Armen? Ist etwas geschehen von den Nächten in diesem Zimmer? Mit Broken? Mit B? Vielleicht muss ich nur blinzeln oder ausatmen und ich stehe wieder in meiner Zimmertür, nur ergriffen von Paranoia, Phantasie, weiter nichts. Ich kenne meine Geschichte und Broken ist fort, weit weg. Aber was ist mit den Scherben, den Geschehnissen hinter dem Spiegel? Wie sollte es eine Welt der Sinnformeln und der Allwissenheit geben? So ein Unsinn. Aber was hat mich dann zu B geführt? Gibt es B überhaupt? B, geh nicht. Ich wache auf und liege neben dir! Langsam gräbt sich das Metall in meiner Haut durch die Seiten meiner Erinnerung und saugt die Buchstaben heraus. Alles fließt aus mir heraus und mit der Welt zusammen. Alles verliert einen Sinn und nur ich bleibe. Ich warte darauf zu erwachen und spüre den Biss aus Eisen. ENDE. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)