Abbey ~ Life in Twilight von Blackwolf (Denn niemand weiß, wer du bist - nicht einmal du selbst) ================================================================================ Kapitel 8: *+~ Revelations ~+* ------------------------------ Ein angenehmes Erwachen war es zwar nicht, allerdings um einiges besser als das vom letzten Morgen, denn ímmerhin schien in seinem Schädel kein wütender, Hammer schwingender Verrückter mehr zu sitzen; dieses Gefühl hatte einer vergleichsweise entspannten Morgenmigräne Platz gemacht. „Morgenstund hat Gold im Mund!“, flötete Tala, das Haar auf der einen Seite verwuschelt, auf der anderen Seite platt an den Kopf gedrückt, von der andern Seite des Raumes, wo er sein Kissen aufschüttelte, wobei er Bryan einen tadelnden, leicht mitleidigen Blick zu warf. „Junge, aufstehen! Wir waren lange genug halbtot, oder?“ „Sicher...“, murmelte Bryan zerknautscht, drehte sich demonstrativ stöhnend auf seinen Bauch und vergrub den Kopf so tief es ging in das Kissen. „Kai ist schon wach. Er wollte glaube ich in die Bibliothek und irgendetwas nachschlagen. Du weißt ja, er meint es ernst mit seinem Jurastudium. Auch wenn ich nicht glaube, dass das was wird. Wenn’s nach seinem Grandpa und vor allem Balkov geht, dann wird er Sport studieren und den Laden hier übernehmen.“ „Sicher...“ „Und außerdem ist heute Nacht ein rosagrün karierter riesiger Hamster mit Rüssel im Innenhof gelandet. Willst du ihn dir nicht mal ansehen?“ „Sicher...“ Talas Augenbrauen verschwanden fast unter dem Haaransatz. „Hörst du mir überhaupt zu, Bryan?“ „Sicher...“ „Bryan!“, knurrte Tala halb beleidigt. „Hast du was gesagt?“ Bryan hob seinen Kopf leicht hoch blinzelte ihn wie eine große, vom Tageslicht geblendete Eule an. Der Rothaarige schnaubte hemmungslos und knurrte: „Nichts, was dich interessiert.“ Dabei schüttelte er erneut den Kopf und sah auf das leuchtende Weckerdisplay. „Willst du nicht einmal aufstehen?“ „Ich hab Hunger.“, murmelte Bryan daraufhin. Das Knurren seines Magens, das die Stille im Raum durchbrach, bewies den Wahrheitsgehalt seiner Aussage. Tala verdrehte die Augen. „Steh jetzt auf, Junge. Du kriegst nur was zu essen, wenn du deinen werten Hintern aus dem Bett bewegst und ihn in die Kantine beförderst.“ „Das hast du schön gesagt...“ Bryan gähnte ausgiebig und schob sich vorsichtig unter seiner Decke hervor. „Oh, Junge, jetzt beeile dich doch, oder ich geh schon vor.“ Talas anfängliche gute Laune und Redseligkeit schienen verflüchtigt angesichts Bryans Morgenmuffeligkeit und er starrte Bryan eindeutig genervt an – verständlicherweise. „Geh. Hau ab. Ich komm gut zurecht.“, murmelte Bryan in aller Seelenruhe und verharrte in seiner Position, dreißig Zentimeter neben Talas Gesicht an die Wand blinzelnd. Mit einem resignierten Seufzen, gefolgt von einem unterstreichenden Kopfschütteln, drehte sich Tala um und schlug die Tür zu. Verdammter Idiot. Sollte er eben den Tag verschlafen, der würde schon sehen, was er sich da für einen Ärger einhandeln würde... Die Kantine war schon fast leer, nur noch vereinzelt saßen Gruppen von jüngeren Schülern an den Tischen. Wie jeden Morgen war das Brot trocken und auch wenn es frisch gewesen wäre, hätte sie es jedenfalls nicht gegessen. Und das lag daran, dass es voll mit Kümmel war. Der eigentümliche Geschmack des Brotes hatte sich in ihrem Mund eingenistet und ein Glas Wasser schien nicht in Reichweite. Sie hustete ausgiebig. Heftiges Klopfen auf den Rücken half ihr auch nicht weiter. „Glas Wasser!“, brachte sie mühevoll hervor. „Bitte sehr!“ Das Glas kratzte über den Holztisch. Sie nahm es und nickte Tala dankbar zu. Er saß ihr gegenüber und wirkte fast schon belustigt. „Du magst keinen Kümmel?“, fragte er überflüssigerweise. Ilynea schnaubte und biß in einen der leicht angematschten Äpfel, die auf den Tischen lagen, und nur von wenigen angerührt worden waren. Der Rothaarige lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah sie immer noch mit einem jovialen Grinsen an, ein Gesichtsausdruck, den er anscheinend gerne praktizierte. „Danke, Tala. Gibt es etwas, was du mir sagen willst, wenn du mich schon so seltsam anguckst?“, fragte Ilynea und versuchte einigermaßen gleichgültig zu wirken. Denn Gleichgültigkeit wurde in der Abtei sehr großgeschrieben, wenn man sich erfolgreich durch boxen wollte. Und das wollte sie ja. Ein Zähne blitzendes Grinsen. „Nein.“ „Was?“ „Ich sagte ‚Nein‘.“ Talas Grinsen hielt sich hartnäckig. „Warum schaust du mich dann so dämlich an?“, fauchte sie schließlich. Diesmal war von Gleichgültigkeit keine Rede mehr. Man brauchte eben Übung. Tala wandte den Blick nicht ab. „Ich finde das amüsant. Es gefällt mir.“ „Oh ja? Und was gefällt dir daran?“ „Neulinge zu mustern ist wirklich sehr interessant, musst du wissen.“ Er zwinkerte ihr gutmütig mit seinen Eisblauen zu. „Sie lassen sich dadurch so schnell reizen. Gehen gerne an die Decke, die Neuen, weißt du?“ Ein Test also. Sehr schön, und sie war, dumm wie sie war, total durch gerasselt. Sie sollte sich wirklich etwas mehr zusammen reißen. Wahrscheinlich sollte sie am besten mit Yoga anfagen... damit sie ihre innere Ruhe finden konnte... immer schön ruhig blieb... Aber wer konnte angesichts dieser Augen nicht durchdrehen? „Sehr gut!“, drang Talas Stimme zu ihr durch. Verwirrt sah sie ihn an und realisierte, dass er von ihr erwartete, dass sie sich und andere Neulinge verteidigen würde. „Ihr bleibt selten ruhig, wenn man euch sowas an den Kopf wirft. Aber macht nichts, ihr werdet euch dran gewöhnen. Wir haben’s ja auch geschafft.“ Er zwinkerte ihr zu und stand ohne ein weiteres Wort auf und verließ die Kantine. Ilyneas Mund stand einen Spalt breit vor Überraschung auf. War das eine Art Kompliment gewesen? Und hatte sie dies Kompliment nur bekommen, weil sie viel zu sehr von seinem umwerfenden Aussehen gefesselt gewesen war? Ja, verdammt. Ilynea seufzte resignierend, während sie ihre angesichts dieser Erkenntnis leicht erhitzten und geröteten Wangen mit einem Schluck Wasser abkühlte. „Da bist du ja!“ Leyla erschien so plötzlich vor ihr, als wäre sie gerade aus dem alten Steinboden gewachsen. Sie lächelte und knabberte an einem Stück Schockolade, während sie Ilynea mit leicht gehobenen Augenbrauen musterte. „Wow. Du siehst aus, als wäre Brad Pitt an dir vorbei gelaufen.“ „Wie bitte?“, fauchte Ilynea entsetzt. „Tala sieht nicht aus wie Brad Pitt!“ Im selben Moment überlegte sie sich, dass sie wohl erst nachdenken sollte, bevor sie den Mund aufmachte. Leylas noch etwas weiter hochgezogenen Augenbrauen sprachen eindeutig: „Wer hat denn was von Tala gesagt?“. Das ältere Mädchen quittierte Ilyneas erneute Schamesröte mit einem belustigten Lächeln. „Nun ja. Es steht ein Training an. Ich wollte dich nur holen. Ronny hat mir versprochen, dass er dir ein paar Tricks zeigt.“ Der Schweiß ran ihm in tosenden Bächen von der Stirn, während er den schwarzen, riesigen Granitfelsen mit den bloßen Händen in die Lüfte hob... nicht nur einmal, sondern tausendmal! „Bryan, verdammt, das ist kein Ich-rüttel-mal-eben-an-den-Gewichten-Training!“, unterbrach Iwans genervte Stimme die Stille im Trainigsraum. Er hatte, während er ernsthafte Push-Ups gemacht hatte, Bryans lustlose Trainingsübungen beobachtet, konnte allerdings nicht umhin, den Zuspätkommer zu rügen. Doch er würde nicht aufhören den Granitstein zu stemmen. Nur wenn er den Stein bis zum Umfallen stemmen würde, könnte er die Jungfrau Leyla aus den Klauen des dunklen König Ronny Delton befreien... „Lass mich.“, murmelte Bryan Iwan entgegen. Okay, er gab es zu, wie so oft waren seine Gedanken in Richtung Leyla/Ronny abgedriftet, und da er erst vor kurzem dieses wunderbare Buch gelesen hatte... er schüttelte den Kopf, um den Gedanken von sich in strahlender Rüstung zu vertreiben. „Lass mich.“, äffte Iwan ihn nach. Dabei wischte er sich Schweiß von der Stirn und sah Bryan an, als wäre er eine riesige Enttäuschung. „Wenn du weiter so trainierst, werdet nicht mehr ihr die Nummer Eins sein, sondern wir.“ Bryan erwiderte nichts auf Iwans Bemerkung, da er sowieso ein sturer Esel war, und außerdem recht hatte, sondern fing an, einige lustlose Klimmzüge an der Sprossenwand zu machen. Wenige Minuten betrat Kai mit einem wie üblich halb versteinerten und übellaunigen Gesichtsausdruck in den Trainingsraum und nickte ihnen beiläufig zu, bevor er sich auf das Laufband begab. Er stand mit dem Rücken zur Eingangstür und deshalb konnte sie die braunen, kurzen Haarstacheln an seinem Hinterkopf sehen. Ronny Dalton stand immer aufrecht – dass er ungeheuer selbstbewusst war, konnte man nicht übersehen. Aber es stand ihm gut, und so empfand sie es auch nicht als arrogant, auch wenn es die Tendenz dazu hatte. „Hm. Du bist Ilynea?“ Ohne sich auch nur umzudrehen, hatte er sie erkannt. Die Grauhaarige starrte einen Moment verwirrt auf seinen Rücken, während Leyla hinter ihn trat und ihm auf den Nacken küsste. Ilynea nickte erst, erkannte dann aber, dass er sie nicht sehen konnte, immerhin stand er mit dem Rücken zu ihr. „Ja, bin ich. Leyla meinte, du würdest mir ein paar Tricks zeigen, damit ich mich besser in mein Team integrieren kann.“ Sie nahm die Reißleine und ihr Beyblade in die Hand und sah ihn in schüchterner Erwartung an. Ronny drehte sich schließlich um und sah sie abschätzig an. Wahrscheinlich fand er sie zu klein, denn im Vergleich zu Leyla, die nur wenige Zentimeter kleiner war, als ihr Freund, der ziemlich groß war, war sie ein Zwerg. Vielleicht gefiehl ihm auch ihre blasse Haut nicht – Leyla hingegen hatte eine rosige, dunklere Haut als sie. Egal. Eigentlich ging es nicht darum, was Ronny von ihr hielt, sondern was Tala von ihr hielt. Andererseits... dachten sie vielleicht das gleiche, auch wenn Tala es nicht so offen zeigte, wie Ronny? „Naja. Fangen wir mit dem Einfachsten an. Deinem Start.“ Er deutete mit einer kleinen Handbewegung auf das Beystadium und schien von ihr zu verlangen, dass sie begann. Sie trat vor und legte entschloßen die Reißleine zum Start an. „Oh, Ronny!“ Tala stand aufeinmal an der Tür und betrachtete den Braunhaarigen mit einem verachtenden und gleichzeitig spöttischen Blick, die Augenbrauen leicht gehoben. „Willst du ihr etwa zeigen, wie man bladet? Denn wenn es so wäre, wäre es keine gute Idee, denn du kannst es nicht besonders gut.“ Ronny, der neben Leyla stand und sie mit einem Arm an sich gezogen hatte, während er Ilynea beobachtete wie ein äußerst kritischer Lehrer seinen schlechtesten Schüler, wandte seinen Kopf ruckartig in Talas Richtung, seine Augen verengten sich und er schnaubte. „Halt dich raus, verstanden? Wir sind gerade am Trainieren, du störst.“ „Schau sie dir doch mal an! Sie hat das Potential, und du willst sie mit deinem stümperhaften Methoden bearbeiten? Boris wird wütend auf dich sein, weißt du.“ Talas Mundwinkel hob sich leicht und er sah Ronny amüsiert an. Der hatte sichtlich mit sich zu kämpfen, denn er schien sich mit Tala ebenso gut wie mit Bryan und Kai zu verstehen, also gar nicht. „Wie schon gesagt, wenn du dich streiten willst, geh zu Iwan und versuch ihm Anna auszuspannen.“ Leyla schien sich raushalten zu wollen, doch trotzdem biß sie sich nervös auf die Unterlippe, schließlich kannte sie die hitzigen Gemüter der Jungs. Konkurrenzkämpfe, territoriale Streitigkeiten, Fortpflanzungsneid und all dass... wie mit einem Rudel hungriger Wölfe. „Sehr lahmer Konter.“, sagte Tala gelangweilt. „Wen wolltest du denn damit beeindrucken? Naja, wie schon gesagt, du weißt, dass wir hier das Zepter in der Hand haben. Nummer Eins bleibt Nummer Eins, verstanden? Boris hat selbst gesagt, dass wir euch aus den Trainigsräumen schmeißen können wann und wie wir es wollen.“ Diesmal trat Leyla vor und bedachte Tala mit einem ärgerlichen Blick. „Schön und gut, dass ihr euch nicht versteht, und meinetwegen könnt ihr euch auch mal Schlagen, wie kleine Schulkinder, aber ich lasse mich nicht aus dem Trainigsraum kicken, nur weil du Ronny nicht leiden kannst! Und Ilynea braucht das Training.“ Der Rothaarige grinste immer noch leicht. „Ich habe ja nicht gesagt, dass ich euch alle rausschmeiße. Nur Ronny muss gehen.“ Ronny schnappte nach Luft wie ein Goldfisch und machte Anstalten, Tala irgendwelche Schimpfwörter an den Kopf zu werfen, doch Leylas Ellenbogen sauste ihm zwischen die Rippen, so dass er stattdessen nur zischend Luft einatmete. „Okay.“, verkündete diese und warf Ronny, der protestieren wollte, einen mahnenden Blick zu. „Na, geh schon, Ronny. Ich will nicht, dass ihr euch andauernd streitet, und ob Tala oder du Ilynea hilfst, ist doch im Grunde egal.“ Dass dies nicht ganz im Sinne Ronnys war, machte dieser deutlich. „Was soll das, Leyla?“ Dabei sah er sie mit gerunzelter Stirn an, schüttelte dann den Kopf und schnaubte. Und tatsächlich, er schob sich an Tala vorbei, nicht ohne ihm einen Stoß mit der Schulter zu geben, ohne Leyla oder Ilynea ines weiteren Blickes zu würdigen. Der Rothaarige warf Leyla einen seltsamen Blick zu und beschloß, diesen Vorfall unverzüglich Bryan zu melden. Denn, wann geschah es, dass Ronny nicht ohne großes, fast schon spektakuläres Geplänkel mit Leyla oder gar ihm, den Rückzug freiwillig antrat? Die Stimmung zwischen Leyla und Ronny schien an einem neuerlichen, eisigen Tiefpunkt angelangt zu sein, eine Information, über die sich Bryan freuen würde. „So, Ladys, fangen wir an.“ Tala trat vor das Beystadium, stellte sich breitbeinig in Pose und warf Ilynea einen ungeduldigen Blick zu. Ein innerliches Seufzen ausstoßend, postierte sich die Grauhaarige das zweite Mal vor dem Stadium, legte die Reißleine an und hob die Hand. Nach mehreren von Tala gerufenen „Let it rip!“ war Ilynea genervt, denn Tala, so gut er auch aussah, war der denkbar schlechteste Lehrer, den man sich vorstellen konnte. Anstatt „Zwei Zentimeter tiefer“, sagte er „ein bisschen runter“, und da diese Angabe relativ war, kam nie das erwünschte Ergebnis heraus. Da Tala selbst seine Anweisungen für schlüssig und gelungen hielt, war auch er genervt, beinahe schon frustriert. „Okay. Dann eben noch einmal...“ Dabei drehte er sich um die eigene Achse und unterdrückte erfolglos ein entnervtes Stöhnen. Ilynea sah auf dem großen Bildschirm, der an der Wand hing, wie er die Augen verdrehte, und erkannte, wie Ronny sie identifizieren konnte, ehe sie auch nur ein Wort gesagt hatte. Tala räusperte sich, warf Leyla, die auf der Bank saß und in einem Buch blätterte einen Hilfe suchenden Blick zu. Wer auch immer behauptete, dass der Meister auch der beste Lehrer war, der hat sich wohl oder übel getäuscht. Es war irgendwie immer das selbe. Wirklich immer. Man war in einem A-Trupp, sogar im Team Eins, und wurde trotzdem wie irgendein Anfänger, wie Fußvolk, behandelt, und das nur aus einem einzigen Grund. Weil man nicht ganz so riesiges Potential zeigte, wie die drei anderen Teammitglieder. Man wurde zu nutzlosen, scheinbar identitäslosen Schatten degradiert, denen man weder Anerkennung noch Beachtung schenkte. Ian seufzte, während er einen der zwölf verstaubten Kartons öffnete – aus reiner Neugier. Wie die zwölf schweren, unhandlichen Kartons, Albträume jedes Hausstaubmilben-Allergikers, in ihre Hände gekommen waren? Irgend ein Mitarbeiter von Boris schien sich seine Arbeit einfacher vorgestellt zu haben, als sie war, und als man ihn mit dieser Aufgabe betraut hatte, nämlich die zwölf Kartons von Archiv B2 in Archiv B1 zu bringen, hatte er den nächstbesten Schülern, die ihm über den Weg gelaufen waren, diese Aufgabe übertragen, natürlich in aller Heimlichkeit. Pech für Spencer und Ian. Vorerst, zu mindest. Der Karton, den Ian geöffnet hatte, war voll mit alten Heftern und Ordnern über Abrechnungen und Versicherungsverträge. Ian zog wahrlos einen heraus und ließ die Seiten durch seinen Daumen flattern. „Wow, die haben wirklich alles versichert...“, murmelte er und legte den Hefter zurück in den Karton. Auch Spencer hatte einen der Kartons geöffnet und überflog einige Unterlagen. „Schau dir das mal an...“, forderte er Ian auf und hielt ihm eine abgegriffene, vergilbte Profilübersicht vor die Nase. „Wer ist das?“, fragte Ian überflüssigerweise und nahm Spencer den zerfledderten Hefter aus der Hand. Stanislav Dubrovnik stand als Überschrift auf dem Blatt, darunter klebte das Schwarzweißphoto eines Jungen, um die zehn Jahre. „Das ist Leon.“ Spencers Stirn legte sich in Falten, denn Leon, oder Stanislav Dubrovnik, war vor vier Jahren an den Folgen einer schweren Lungenentzündung gestorben. Der kleine Schwarzhaarige sah den großen Blonden mit leicht gehobenen Augenbrauen an. Dann blätterte er weiter und las: „Eltern verstorben... ist talentiert... verstorben am... Todesursache,“ An diesem Punkt sah Ian Spencer mit noch weiter gehobenen Augenbrauen an. „Todesursache: Überdosis Sedativa.“ „Beruhigungsmittel?“ Spencer sah Ian mit leicht überraschter Miene an. Leon war in Iwans Team gewesen, er war sogar der Leader. Auf dem Schwarzweißphoto sah man die kleine Zahnlücke zwischen seinen großen Schneidezähnen, ein Merkmal, über das sich besonders Tala gerne lustig gemacht hatte. Leon, der dunkelbraune Locken gehabt hatte, war ein Jahr älter als Iwan gewesen, er wäre also jetzt zwanzig Jahre alt. „Aus welchem Grund hätte er den Beruhigungsmittel bekommen sollen? Er hatte doch Lungenentzündung.“ „Blätter weiter, Ian.“ Das tat der Dunkelhaarige auch. Der nächste Text enthielt Leons Werdegang, von dem Tod seiner Eltern, bis zu seinem eigenen Tod. Ian blätterte weiter und richtete seine Aufmerksamkeit auf etwas, das aussah wie eine detailierte Krankenakte. „Versuche... Anabolikatransfusionen, Amphetamine... gescheitert... Versuchsobjekt nach zwei Jahren kollabiert und verstorben.“ „Die haben Versuche an Leon gemacht?“ Von Überraschung über die Fülle von Informationen, die sonst niemand über sich Preis gab, jedenfalls niemand den er kannte, und er kannte nur die Menschen, die in der Abtei lebten, änderte sich Spencers Blick zu leichtem Entsetzen. Dass faule Tricks gerne angewandt wurden, um Matches zu manipulieren, auch bei anderen Teams, war Gang und Gäbe. Medikamentenmissbrauch, oder wie auch immer man diese Versuchsreihe bezeichnen sollte, war gänzlich unbekannt, auch wenn es wahrscheinlich sein würde, dass Doping ebenfalls beim Beybladen Einzug finden würde, wie bereits beim Radrennsport oder der Leichtathletik. „Scheint so. Ich frage mich nur, warum sie das getan haben. Ich meine, da steht eindeutig Versuche, nicht Doping oder Leistungssteigerung.“ Ian betrachtete nachdenklich die Unterlagen in seiner Hand. Dann steckte er den Hefter zurück und suchte nach einem weiteren. Er griff nach einem schwarzen Ordner, der zwar neu Aussah, dessen Blätter allerdings schon gelblich verfärbt waren. Vorne, etwa in der Mitte des Ordners hatte jemand fein säuberlich ein Ettiket angebracht, auf dem in schwarzen, ungleichmäßigen Buchstaben ein Name stand. „Helen Ivanov.“ Der Schwarzhaarige zögerte angesichts des nachtschwarzen Ordners in seiner Hand und schluckte. Er wusste, dass Helen Tala stets löcherte, da sie mehr über ihre Herkunft wissen wollte. Und er wusste auch, dass Tala ihr immer erklärte, dass er jede Erinnerung verloren hatte. Verloren?, dachte Ian immer spöttisch. Verloren hatte Tala seine Erinnerungen gewiß nicht, dafür aber ständig und stetig verdrängt, so gut es ging. Dass einen die Vergangenheit immer einholen konnte, bewies die Existenz des schwarzen Ordners, der, wenn er ebenso ins Detail ging wie Leons Hefter, sicherlich einiges ans dämmrige Licht der nackten Neonröhren, die von der schmutzig grauen Decke des Archivs hingen, bringen würde. Was auch immer in dem Ordner stand, wahrscheinlich wären sie beide, Spencer und er, die, die am besten über Helens Wurzeln bescheid wussten – abgesehen von den Verfassern des Ordners, Balkov und dessen Leute. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)