Abbey ~ Life in Twilight von Blackwolf (Denn niemand weiß, wer du bist - nicht einmal du selbst) ================================================================================ Kapitel 2: *+~Misunderstanding~+* - Flashback: What's hidden inside... ---------------------------------------------------------------------- Kai legte das abgegriffene Silberbesteck bei Seite, seufzte und gähnte anschließend herzhaft, so dass seine Kiefer knackten. "Ich geh' 'n bisschen chillen, bis nachher...", verkündete er schläfrig. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und wankte zum Ausgang der Kantine. Ilynea bemerkte wenig überrascht, das viele Mädchen Kai beobachteten und mindestens genauso viele Jungs neidisch brummten. Schließlich kam Kai mit seiner sportlichen Figur und seinem großen Talent im Beybladen sehr gut an. Genauer gesagt: Er war einer der geilsten Jungs im A-Trupp. Dass das Kai ziemlich egal war, war ziemlich offensichtlich, jedenfalls benahm er sich sehr gleichgültig und ignorierte die schmachtenden und auch die bösen Blicke. Bryan brummte schlecht gelaunt vor sich hin und fragte dann schließlich: "Tala... wie wär's mit einem Match? Wenigstens würde mich das von den beiden da ablenken." Er nickte zu Leyla und Ronny hinüber, die wieder wild miteinander knutschten. Tala sah zu dem Pärchen. "Hmm... das wäre wohl das Beste.", bemerkte er richtig. Und so verschwanden die beiden in Richtung Trainingshalle. Auch sie waren sehr beliebt bei den Mädchen, und Tala schien das auch auf eine gewisse Weise sehr zu genießen. Er grinste gut gelaunt und sah einigen Mädchen immer etwas zu lange in die Augen. Helen grinste. "Tja, mein Brüderchen und Bryan sind extrem begehrt bei den Mädchen. Und Kai ist auch ein Schnuckelchen." "Kai ein Schnuckelchen?", Ilynea hob fragend eine Augenbraue, während sie sich Kais eisiges Gemüt in Erinnerung rief. "Zugegeben: Er sieht schon saugeil aus!", gab Helen etwas errötend zu. "Bahnt sich da etwa was an?", fragte die Grauhaarige neugierig. "Nein! Er ist nicht mein Typ... aber wie wär's mit dir und meinem Brüderchen?" "Ich und Tala? Nicht wirklich.", sagte Ilynea entsetzt. "Wer weiß...", bemerkte Helen dazu nur. Dann setzte sie noch hinzu: "Sollen wir auch noch ein bisschen trainieren?" Ilynea überhörte die erste Bemerkung und sagte: "Gute Idee!" Kai warf sich erschöpft aufs Bett und rollte sich dann auf den Bauch. Danach stöpselte er sich die Kopfhörer, die an die Musikanlage angeschlossen waren, ein und haute sich von den Distillers ,I'm a Revenant' um die Ohren. Schließlich hörte er von NOFX ,Don't call me white', entspannte sich langsam und schloß genüsslich die Augen. Er drehte die Musik noch ein bisschen lauter auf, so dass kein anderes Geräusch mehr zu ihm durchdrang. Folglich konnte er auch nicht hören, dass die Tür geöffnet wurde... "Buuh!", rief Anna laut und warf sich fröhlich auf Kais Rücken. Kai nahm die Ohrhörer aus seinen Ohren. "Anna...", grummelte er mürrisch. "Was soll das?" Anna, eine blonde 18-jährige mit Engelsgesicht, grinste ihn gutgelaunt an. "Jetzt tu nicht so schlecht gelaunt!" "Hmmh...", brummte er. "Iwan ist ja soooo verdammt süß!", seufzte sie verliebt, während sie ihr Gewicht auf Kais Rücken verlagerte. Kai zog scharf die Luft ein und knurrte mit zusammengebissenen Zähnen: "Das ist ja alles schön und gut, aber... mein Rücken!" "Was ist mit dem? Soll ich dich massieren?", fragte Anna besorgt. Kai knurrte abermals und verdrehte dabei genervt die Augen. "Du sollst einfach nur von mir runter geh'n!" Jetzt wirkte Anna allerdings noch besorgter. "Ich massiere dich jetzt! Vorher rühre ich mich nicht vom Fleck!" Sie packte also Kais Schultern und knetete die Muskeln heftig durch, so dass Kai glaubte seine Knochen splittern zu hören. Selbst eine Dampfwalzmaschine konnte gefühlvoller massieren... "Aua!", entfuhr es Kai, der sich unter seiner Last wand. "Hör auf damit!", beschwerte er sich lautstark. Doch Anna, durch Kais Proteste sogar noch mehr motiviert, ließ nicht locker und schaffte es sogar noch stärker zu kneten. Anna lachte und bemerkte überrascht: "Kai du bist ja richtig arg verspannt! Du solltest dich lieber mal öfters hinlegen und entspannen!" "Das habe ich ja gerade versucht! Und außerdem wärst du auch verspannt, wenn ich direkt auf dir drauf liegen würde und deine geprellten Rippen zusammen quetschen würde!", brummte Kai und versuchte sich von Anna zu befreien. Schließlich kam er zu dem Entschluss, das Anna wohl lieber Bäckerin werden sollte - die Knetkraft hatte sie allemal. Kai versuchte sie irgendwie von seinem Rücken zu rollen und siehe da! Es klappte - zu gut... "Kai!", quietschte Anna erschrocken, als sie zur Seite kippte und dann den Gerufenen gleich mit nach unten riss. Kai brüllte kurz empört auf als er mit seinem Kopf auf den Boden donnerte und knurrte schließlich leise: "Scheiße." Anna lag mit ihm verknotet auf dem Teppich und fragte verwundert: "Seit wann sind deine Rippen denn geprellt?" "Sind sie doch gar nicht! Aber es ist immer eine gute Ausrede...", erklärte Kai mit einem Grinsen. Anna kicherte und genau in diesem unpassenden Moment passierte es - die Tür wurde aufgerissen und Iwan kam herein. Noch bevor er wirklich bemerkte was sich vor ihm abspielte, fing er an zu reden: "Anna, Schatz, ich -", als er seine Freundin mit Kai kichernd auf dem Boden liegen sah, und zwar aufeinander, stockte er und öffnete seinen Mund, was ihm das verblüffte Aussehen eines Aquariumfisches verlieh. "Es sieht nicht nach dem aus, was du denkst!", erklärte Anna alarmiert als sie Iwans entsetztes Gesicht sah. Er verengte die Augen zu Schlitzen. "Ach nein?" "Nein, wirklich nicht!" Anna stand hektisch auf (und trat dabei fast auf Kais Gesicht...) und ging zu ihrem Freund um ihm beruhigend die Hand auf den Arm zu legen, was leider nicht sehr viel nützte. Iwan funkelte Kai böse an. "Dafür hast du aber sehr vergnügt mit Mister Eisklotz auf dem Teppich gelegen." Natürlich waren Iwans Bedenken nicht ganz unbegründet. Es war ein allseits bekanntes Geheimnis, das Anna und Kai einmal etwas miteinander gehabt hatten, ob man's glaubte oder nicht. Doch sie hatten sich nach kurzer Zeit getrennt - in der Erkenntnis, dass sie einfach nur wie Bruder und Schwester waren. Bald darauf war Anna dann mit Iwan, der schon vor Kai in sie verliebt gewesen war, zusammen und die beiden waren ein unzertrennliches Liebespaar, auch wenn es nun manchmal Krisen zu überwinden gab. Dazu gehörte auch, dass Iwan noch nie sehr gut mit Kai ausgekommen war und immer misstrauisch war und auf die nächste Gelegenheit wartete, die ihm bestätigte, dass Kai immer noch Gefühle der zarteren Art für seine Freundin hegte. Kai rappelte sich leicht verpeilt auf. "Mann, beruhig' dich doch, es ist ja nichts passiert!" "Also hast du sie angemacht, du Arsch?!", schrie Iwan wütend. "Nein!" Kai sah Iwan empört. "Hab ich nicht! Sie ist nur eine gute Freundin!" Kai sah Hilfe suchend zu Anna. "Stimmt's, Anna?" "Ja, wir sind doch wirklich nur Freunde, Iwan! Kai ist wie ein Bruder für mich und nicht mehr, aber auch nicht weniger!", sagte Anna und sah Iwan dabei bittend an. Er schenkte Anna ein kurzes Lächeln und sah dann wieder zu Kai, der nun auch langsam sehr sauer wurde. "Lass die Finger von meiner Freundin, Kleiner!", fauchte Iwan bissig. "Ich bin nicht ,Kleiner'.", knurrte Kai ebenso wütend. "Jaah? Aber du bist nicht größer als ich, Kleiner. Also, halt's Maul! Ich weiß genau dass du so ein Möchtegern-Weiberheld bist.", Iwan sah Kai abfällig an. "Sieht man ja auch schon daran wie du Leyla auf den Hintern stierst!" "Ich schaue Leyla nicht aufs Fahrgestell.", sagte Kai genervt. "Dafür aber auf die Titten?", keifte Iwan und errötete noch mehr vor Zorn. "Iwan, bitte, hör doch auf!", sagte Anna mit einer weinerlichen Stimme. Kai knirschte mit den Zähnen. "Sag mal, hast du ein Problem, das du hier so 'nen Aggress schiebst?", fragte er dann angriffslustig. "Hab ich, Hiwatari! Dich, du Dreckschwein! Also lass deine scheiß Finger von meiner Freundin!", keifte Iwan, der vor Wut fast überschäumte. Dann sah er Anna bestimmt an. Er bellte im Befehlston: "Ich will, dass du dich in Zukunft von ihm fern hältst!" Nun sah Anna ihrerseits fast ebenso wütend aus wie die beiden Jungs und ihr Engelsgesicht nahm ein wütendes Rot an. "Spinnst du jetzt total? Er ist doch nur mein bester Kumpel und nicht mein Geliebter; es gibt überhaupt keinen Grund so eifersüchtig zu sein! Also lass dieses Theater, das ist doch alles total lächerlich!" "Lass DU sie doch in Ruhe, Iwan! Ich denke, sie kann selbst entscheiden was sie macht!", warf Kai provokant ein. "Halt's Maul, Hiwatari!", brüllte Iwan, dem die Zornesröte immer noch im Gesicht stand und auch Kais Gesicht nahm langsam aber sicher einen karminroten Ton an. "Nein, du Idiot, sehe ich aus als würde ich auf ein Arschgesicht wie dich hören?", fauchte Kai. Iwan grinste boshaft. "Klar. Willste ein paar auf die Fresse? Das bekommst du nämlich, wenn du Anna nicht in Ruhe lässt!" "Hey, Mann, langsam werden deine Vorwürfe alt... aber... du wirst mir wohl ein paar reindrücken müssen,", knurrte Kai und lachte kurz auf. "Einverstanden.", zischte Iwan. Dann rammte er sein Bein genau in Kais Magen und die linke Faust streifte knapp die Schläfe. Kai, der zu Boden gesunken war, keuchte kurz, rappelte sich aber blitzschnell wieder auf und stieß Iwan hart gegen die spitze Kante des Türrahmens. Iwan wich Kais nächstem Schlag aus und verpasste ihm einen saftigen Kinnhaken. Allerdings zahlte Kai es ihm gleich zurück: mit einem Fausthieb genau auf das linke Auge. Währenddessen stand Anna hilflos in der Ecke des Zimmers. "Hey, verdammt! Hört doch auf mit der Schlägerei!", rief sie, doch die bei den Jungs ignorierten sie vollkommen, während sie sich gegenseitig versuchten zu erwürgen. Da stand Bryan plötzlich in der Tür und blinzelte verwirrt wie eine Eule zu Kai und Iwan hinüber. "Gott sei Dank!", sagte Anna erleichtert. "Tu was, Bryan, sonst schlagen die sich noch gegenseitig die Köpfe ein!" Iwan und Kai bemerkten Bryan immer noch nicht, denn Iwan war vollkommen damit beschäftigt Kai im Schwitzkasten zu halten und gleichzeitig sein bestes Stück vor Kais Füßen zu retten. Bryan räusperte sich kurz. Er wurde immer noch nicht bemerkt. Also zog er vielsagend die Augenbrauen nach oben und - zog die Ohrhörer aus dem Player, was die Boxen des Sound Systems erheblich zu vibrieren. Um das Volumen noch etwas zu erweitern drehte Bryan die Musik auf volle Lautstärke. Die beiden Streithähne zuckten zusammen, während ,Sinner' von Drowning Pool spielte. "Bryan!", bemerkte Kai überrascht und hörte auf seinen Kopf gegen Iwans Kinn zu donnern. Iwan ließ ihn plötzlich los, was veranlasste, dass Kai sich quer über Bryans Nachttisch legte. Sämtliche Habseligkeiten Bryans flogen durch den Raum. "Sagt mal, was soll'n der Scheiß? Irgendwann langt's ja mit eurer ewigen Streiterei...", beschwerte sich Bryan. "Und - hey - könnt ihr nicht aufpassen?" Nun wirkte Bryan wirklich verletzt. Er hob das kleine, gerahmte Bild vom Boden auf. "Echt, ihr seid solche Idioten. Wenn ihr stressen wollt, dann irgendwo, wo ihr nicht das Eigentum von anderen beschädigt oder durch die Gegend schmeißt!" "Mann, beruhig' dich, ist doch nich' so tragisch!", sagte Iwan mit einer wegwerfenden Geste, denn er bemerkte nicht, was da auf dem Boden gelegen hatte. Kai sah ihn scharf an. "Halt's Maul, Iwan!" Er sah ziemlich genau, was er da von Bryans Nachttisch gefegt hatte. Gib mir ein Fettnäpfchen und ich tret' rein, dachte Kai bei sich und hoffte darauf, schnell abzuhauen. "Ähm... vielleicht solltet ihr jetzt lieber gehen, Jungs.", bemerkte Anna besorgt. "Alles in Ordnung, Bryan?", fragte sie den Grauhaarigen, der ihnen den Rücken zugewandt hatte und immer noch das Bildchen umklammerte. Er nickte fast unmerklich und so verschwanden die Streithähne hastig zusammen mit Anna, die vorher noch die Musik ausschaltete. Bryan drückte das Bild an seine Brust und versuchte erfolglos nicht zu heulen. Er kam sich fast vor wie so ein Mädchen, das bei jeder Kleinigkeit los flennte; es war ihm absolut peinlich, auch wenn niemand im Raum war. Er betrachtete das Bild. Das war das einzige, was ihm geblieben war. Ein Bild. Ein kleines, verknittertes Bildchen. Ihm wurde auf einmal kalt, er konnte förmlich spüren, wie die Wärme aus seinem Körper verschwand und sich im Raum verlor. Die Hitze der Wut, die seinen Körper noch vor einer Minute beherrscht hatte war verflogen und seine Haut fühlte sich kalt und klamm an. Das kleine Mädchen, das ihm auf dem Bild entgegen lachte, hatte eine Zahnlücke und seidige braune Haare, wie er, wenn er sie nicht färbte. Man konnte sehen, dass sie einmal ein schönes Mädchen sein würde. "Schwesterchen...", flüsterte er kaum hörbar und stellte das Bild wieder auf seinen Nachttisch. "Faith...", flüsterte er. Sie war die einzige, kleine Hoffnung, seine Familie wieder zu finden. Das Bild und der Name, der auf der Rückseite stand. Faith Kutznetsov. *~+Flashback+~* Er war tot. Doch andererseits tat ihm der Kiefer höllisch weh, was ihm unter den Umständen etwas seltsam erschien. Zwar war er sich sicher, dass sein Gott ihn mit Gnade und Verständnis empfangen würde, aber wie jeder Mensch verspürte auch er eine gewisse Spur von Schuld in seinem tiefsten Inneren, die einen vor der Hölle zittern lässt. Und außerdem hielt er es für unwahrscheinlich, dass sich die Qualen der Hölle nur auf einen schmerzenden Kiefer beschränkten. Allerdings war dies hier keineswegs der Himmel. Zum einem hatte er ihn bestimmt nicht verdient. Zum anderen sah es hier auch nicht unbedingt danach aus, soweit er etwas durch seine Augen erkennen konnte, die mit Blut verkrustete waren. Und außerdem glaubte er nicht das der Lohn der Guten - und auch der Schlechten - ein weher Kiefer war. Er hatte sich die Hölle immer als düsteren Ort vorgestellt. Das rötliche Licht, das ihn umgab, schien gut dazu zu passen. Während er wartete, dass ein Engel oder ein Teufel kam, und ihn an seinen Platz im Reich der Toten führte, fuhr er fort mit der Bestandsaufnahme seiner Gliedmaßen. Er hatte bestimmt Wunden, Schnitte und blauen Flecken, und er war sich sicher, dass etwas mit seiner linken Hand nicht stimmte, denn auch sie tat sehr weh. Entsetzt musste er feststellen, dass ihm sein rechtes Bein abhanden gekommen war. Er spürte es nicht mehr. Aber wahrscheinlich würde er es zu einem gegebenen Zeitpunkt zurückerhalten. Allerdings ging ihm das trotzdem sehr gegen den Strich. Er biss seine Zähne zusammen und befahl sich, was immer auch nun kommen würde, mit Würde und Anstand zu ertragen - ohne loszuheulen. Soweit das in seinem Alter möglich war. Trotzdem erwischte er sich dabei, wie seine rechten Hand suchend nach unten fuhr, um zu ertasten wo sein Bein nun aufhörte. Die Hand stieß auf etwas Hartes, und die kleinen Finger verfingen sich in feuchtem, verklebtem Haar. Erschreckt fuhr er auf und brach die Blutkruste über seinen Augen auf. Er stöhnte entsetzt auf. Er hatte sich geirrt. Er befand sich doch in der Hölle. Aber leider war er nicht tot. Der Körper eines Mannes lag quer über ihm. Sein Gewicht lastete auf seinem linken Bein, was wohl der Grund war, dass er es nicht mehr spürte. Um ihn war wahrhaftig die Hölle los. "Hey! Hier ist noch einer!", rief ein großer Mann. Nun konnte er auch die heulenden Sirenen von verdammt vielen Krankenwägen hören. Und ihm wehte warmer, schwarzer Rauch entgegen. Er konnte die Schatten der Flammen an einem großen Trümmerteil erkennen. Deswegen hatte er wohl gedacht, er sei in der Hölle... Nun kam der Mann näher, wobei er um riesige Gesteinstrümmer herum eilte. "Oh mein Gott! Er ist tot!", rief der Mann entsetzt. Also war er jetzt doch tot? "Verdammt, da liegt ja noch ein Kind!", brüllte ein anderer Mann, mit Verbandskasten. Er kam nun auch herbei. "Wir müssen den Mann da von ihm heben!", befahl der eine, der gerade gekommen war. "Der Junge lebt noch!" "Gott sei Dank!", sagte der andere und versuchte den Körper des Toten von ihm zu schieben. "Kannst du mich hören?", fragte der andere. "Hallo? Kannst du mich hören?" "Hmmh!", brachte er weinerlich hervor. Er spürte wie er von dem unsäglichen Gewicht befreit wurde und atmete auf, wobei giftiger Qualm in seine Lunge drang. "Wir müssen ihn hier wegbringen! Solange die Feuerwehr den Brand nicht unter Kontrolle hat müssen wir vorsichtig sein!" Welcher Brand?, dachte er. Sein Hirn arbeitete fieberhaft nach einer Erinnerung. Doch da war nichts. Er hatte keine Ahnung wer er war. Und was hier los war. Dann kamen auch schon andere Männer. Sie schoben ihn vorsichtig auf eine Bahre und trugen ihn zu einem Krankenwagen. Dort wurde er hinein geschoben, fest verschnürt wie er war. Nun war ein weiterer Mann über ihn gebeugt. "Rauchvergiftung, leichte Schädelverletzungen. Schnitte und andere Wunden. Und eine gebrochene Hand. Rechtes Schienbein ist gebrochen!", sagte er und ein Sanitäter notierte sich alles, während der Wagen mit mörderischem Tempo die Straßen entlang kurvte und höllischen Lärm mit der Sirene veranstaltete. "So, Kleiner!", sagte der Arzt schließlich mit einem freundlichen Lächeln. "Wie heißt du denn?" Und genau das war der Augenblick, als der Kleine dachte, schlimmer geht's nicht mehr, doch da hatte er sich geirrt. Nicht nur, dass er nicht mehr wusste, was er in diesem Trümmerfeld voller Rauch getan hatte, er wusste seinen eigenen Namen nicht mehr... und außerdem tat ihm der Kiefer immer noch weh. "Na, Kleiner?", fragte der Arzt aufmunternd. Der Kleine biss die Zähne zusammen und starrte den Mann an. Was war denn bloß mit ihm geschehen? Und... wer waren seine Eltern? Und wo war er? Und noch wichtiger... wer war er? Der Arzt zuckte mit den Schultern. Vielleicht hatte dieser Junge gar keine Eltern. Vielleicht war er einer dieser Straßenjungen? Seine Kleidung war total zerfetzt und verschmutzt und man konnte nicht sagen, ob das vorher auch schon der Fall gewesen war. Oder er hatte seine Eltern bei diesem Unglück verloren? Doch der Mann war nun mal Arzt und dann waren schwere Schicksalsschläge nun mal gar nicht so selten. Er gab dem kleinen Jungen eine Beruhigungsspritze und vor Erschöpfung schlummerte dieser kurz darauf ein. Der Junge, der zu einigen anderen Kindern, welche auch Opfer des Unglück geworden waren, gebracht wurde hatte schöne, braune Haare und als er verschlafen aus seinen Träumen erwachte blinzelte er und sah sich aus moosgrünen Augen in dem Krankensaal um. Er war eingegipst, bandagiert und geflickt worden und rein körperlich war der Junge auf dem Weg der Besserung, doch er wusste noch immer nichts von allem, was geschehen war. Es war als hätte man ihm das Gedächtnis ausgepumpt. "Hallo, Kleiner!", flötete eine Krankenschwester und betrachtete ihn aufmerksam. "Na, wie geht's dir denn heute?" "Gu...- gut, danke...", sagte der Junge schüchtern. Sie verabreichte ihm noch einige Tabletten und brachte ihm dann Essen. Während er aß, sah er, wie Eltern kamen und gingen. Und sie nahmen ihre Kinder mit oder besuchten sie und sahen erleichtert aus. Ein Junge neben ihm erzählte, begleitet von riesigen Krokodilstränen: " Ich stand direkt vor der Bäckerei! Und dann hörte ich die Explosion und alle haben geschrien und dann ist die Decke herunter gestürzt!" Welche Bäckerei? Was für eine Explosion? Und welche Decke?, fragte sich der Junge. "Ach, hatten wir alle ein Glück!", verkündete ein Mädchen, das auch neben ihm lag. Sie war etwa vierzehn und wurde gerade von ihren Eltern besucht. Ihr Vater hatte eine Wunde am Kopf und die Mutter hatte einen Gipsarm. "Es war grässlich! Und besonders diese Straßenkinder! Die schlafen dort auf den Bänken in der U-Bahn! Ich will gar nicht wissen, was mit denen passiert ist als diese Explosion passiert ist!", erzählte sie und man sah die Schrecken der Erinnerung in ihrem Gesicht. "Wir sind auch froh, das uns nichts Schlimmes passiert ist!", sagte der Vater. "Es ist so ein Zufall, dass deine Oma nicht mit in die Stadt gefahren ist! Was wäre bloß mit ihr geschehen?" "Da war ja auch so ein Gedränge von der Arbatskaja-Haltestelle (in Moskau)!", sagte die Mutter. Und so ging das weiter, bis sich der Junge ein Bild von der ganzen Situation gemacht hatte. Er war also auf einer U-Bahnhaltestelle gewesen. Und dann war wohl eine Bombe oder etwas Anderes detoniert... Doch warum, verdammt noch mal, konnte er sich an gar nichts mehr erinnern? Es war nun sein zehnter Tag im Krankenhaus und seine Eltern waren immer noch nicht erschienen, er wurde also nicht vermisst. Seine Eltern suchten nicht nach ihm. Oder sie waren tot. Nach weiteren vier Tagen wurde er auf eine andere Station verlegt. Auch hier waren einige Kinder, die nicht vermisst wurden. Neben ihm im Bett lag ein Junge mit braunroten Haaren und grünen Augen. Er war etwas älter als er und schien sich keine Sorgen um irgendwelche Familienangehörige zu machen. "Hey, du!", rief er mit einem Grinsen. "Hallo", sagte er. "Ich bin Iwan Pawlowa. Und wie heißt du?", fragte sein Bettnachbar. Der Junge zögerte. "Ich...ich weiß es nicht!", sagte er schließlich. Iwan zog seine Stirn in Falten. "Wie kommt den das? Also ich kann mich noch an alles haargenau erinnern... sind deine Eltern noch nicht aufgetaucht?" "Ich weiß nicht, warum ich mich nicht mehr erinnern kann.", antwortet der Junge. "Ich weiß auch nicht was mit meinen Eltern ist. Sie vermissen mich anscheinend nicht. Und was ist mit deinen?" "Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben... und mein Vater wurde von der Decke erschlagen.", schloß Iwan tapfer. "Achso... Tut mir leid.", sagte der Andere und es herrschte beklemmtes Schweigen. Drei Wochen später wurden ihnen von einem Arzt mitgeteilt, dass sie nun in eine Abtei aufgenommen wurden, damit sie nicht ins Waisenhaus müssen. Es täte ihm alles sehr leid für sie und das wäre jetzt das Beste für sie. Und tatsächlich kam ein Mann mit einem schwarzen Mantel und einer komischen Brille. "Guten Morgen!", sagte er, und es klang, als würde er ihnen genau das Gegenteil wünschen. "Da ihr keinen Platz mehr in einem Waisenheim gefunden habt, werdet ihr nun in meiner Abtei leben. Dort lernen Kinder und Jugendliche die verschiedensten Sportarten." Dies sagte er so, als wären sie irgendwelche Versuchskaninchen. Irgendwie war es offensichtlich, das dieser Typ irgendetwas Verbotenes mit ihnen anstellen wollte. "Ich heiße Boris Balkov und ihr werdet mich Sir Balkov nennen." Wie auf Kommando traten nun zwei weitere Männer ein, die finster dreinblickten und genau den selben Matrix-Mantel wie Balkov anhatten. "Das Krankenhaus gibt denen ihre Kleidung zurück.", sagte einer der Männer und nickte mit dem Kopf in Richtung der Jungs. Er hatte zwei Plastiktüten in der Hand. "Hier steht kein Name drauf.", sagte der andere Mann und deutete auf die eine. "Das gehört diesem dort. Gedächtnisverlust. Und da die Eltern ihn nicht suchen, weiß niemand seinen Namen" Boris redete so, als würde er über einen Hund quatschen. Einen räudigen Köder, um genau zu sein. "Er heißt jetzt Bryan." Und Bryan wurde die Tüte zugeworfen. "Iwan Pawlowa." Iwan wurde die andere Plastiktüte zugeworfen. Bryan öffnete langsam seine Plastiktüte. Bryan..., dachte er. So hieß er jetzt also. Einfach Bryan. Bryan, und dann Punkt. Er war doch kein Tier?! Warum hatte er ihm den nicht gleich eine Nummer gegeben. Anstatt Bryan zum Beispiel 08/15? Bryan war ja auch ein 08/15-Name... In der Tüte war eine zerfetzte Jeans, ein zerrissenes Hemd und eine gefütterte Jacke. Er sah sich seine Sachen an. Es waren die Sachen eines Durchschnittsjungen. Passend zu seinem Durchschnittsnamen. Die Männer gingen nach unten, anscheinend mussten sie noch etwas erledigen. Bryan wollte seine Tüte schon in eine Ecke pfeffern, da sagte Iwan: "Hey, in deiner Tüte ist noch was drin!" "Echt?", sagte Bryan überrascht. Tatsächlich. Er fand ein kleines Bild in Passfotogröße. Auf dem Bild war ein kleines Mädchen zu sehen. Sie hatte eine Zahnlücke und seidige braune Haare. Auf der Rückseite stand etwas. Ein Name. Faith Kutznetsov. *~+Flashback fin+~* Seine Schwester. Vielleicht war sie tot. Vielleicht lebte sie. Aber eins wusste er. Er würde die Hoffnung nie aufgeben, sie zu finden. Sie, und vielleicht auch seine Familie. Er würde kämpfen. Und am Ende würde er es allen zeigen. Kai betrat eine der Jungentoiletten in der Nähe der großen Sporthalle. Er betrachtete sein Gesicht und musste nüchtern feststellen, das er einiges abbekommen hatte. Sein Kinn war blau und geschwollen und an seiner Schläfe pochte eine große Beule. Naja, dachte Kai grimmig, auf jeden Fall hab' ich's ihm zurückgezahlt... Dann fiel sein Blick auf seinen Verband am Finger. Zugegeben, es war nicht gerade klug von ihm gewesen, sich mit dem Kapselriß zu prügeln, aber er hatte sich ziemlich gut abreagieren können. Auch wenn er gerade über eine Amputation seines Fingers nachdachte. Denn der tat verdammt weh. Die Tür schwang auf und Housin Engin, ein besserwisserischer Engländer, kam herein. Er sah Kai groß an. "Was glotzt du so blöd?!", knurrte Kai schlecht gelaunt und bedachte Housin mit einem vernichtenden Blick. Scheiß Idiot! Der war einfach viel zu neugierig für die Abtei, befand Kai, als er die Tür schließlich hinter sich zuknallte. Als er das Getrampel von hunderten von Füßen hörte, bemerkte er, dass es Zeit war für den Abendappell, abschließendes Match mit dem Trainingspartner und dann ab ins Bett. Er war also der erste in der großen Trainingshalle, die meist nur für den A-Trupp bestimmt war. Der zweite der kam, war Housin, und bald darauf tröpfelten die anderen herein. Kai bemerkte zufrieden, dass Iwans Auge total verschwollen und blau war. Anna, schlechtgelaunt um sich blickend, stand neben ihm. Dann sah er Tala, der gähnte und seine Haare durchwuschelte. Leyla und ihr Ronny marschierten händchenhaltend in die Halle. Ilynea und andere folgten quasselnd, bis Boris Balkov mit einem Pfiff aus der Trillerpfeife alle ruhig stellte. "D-Trupp in Halle 5, C-Trupp in Halle 2, B-Trupp Halle 4 und A-Trupp hier in die große Halle. Hopp!", befahl er. Als die anderen Trupps in ihre Trainingshallen verschwunden waren, wollten sich die Trainingspartner zum Match bereit machen, doch sie alle bemerkten die Schwarzhaarige, die von Boris herum taxiert wurde. Komisch, die Prüfungen für den A-Trupp waren doch schon längst vorbei. "Die hier ist Nina Wnukowo. Sie ist in der ersten Prüfung knapp durchgefallen, doch in der Nachprüfung hat sie es als einzige geschafft.", sagte Boris gelangweilt. "Nina. Du wirst am Anfang mit Kai trainieren." Kai seufzte. Na super! Erst bekam er heute zweimal eine in die Fresse und dann musste er sich noch um die untalentierten Nachzügler kümmern. Immerhin sah das Mädchen gut aus und das entschädigte ihn fürs Erste. Allerdings nur fürs Erste. Hoffentlich stellte sie sich nicht so strohdumm an, wie einige andere, die neu waren. Er schielte zu Ilynea hinüber, die mit Anna trainierte. "Hi!", sagte Nina schüchtern. Mann, dieser Kai Hiwatari sah einfach Hammer aus. Allerdings war er nichts im Vergleich zu der Schnitte mit den braunen Haaren, die zwei Beystadien weiter trainierte. Er hieß Ronny Delton, oder so ähnlich. Und leider hatte er schon eine Freundin... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)