Euros von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Teil 1 Euros I. D er Wind schlug gegen das Fenster. Ein leises Seufzen ertönte, wurde jedoch gleich wieder von den gleichmäßigen Atemzügen abgelöst. Im Zimmer war es völlig dunkel. Doch wenn man sich erst an die Dunkelheit gewöhnt hatte, konnte man die Umrisse der Möbel erkennen. An der linken Zimmerseite befanden sich der Kleiderschrank, ein riesengroßer Schreibtisch und auf einem TV-rack stand ein CD-Player. Das Laternenlicht fiel von draußen ins Zimmer und spiegelte sich auf dem Computerbildschirm. Die Tür befand sich auf der rechten Seite und knapp davor stand das Bett. Er ging zu ihr hinüber. Sie lag mit dem Rücken zu ihm. Ihr Gesicht war der Wand zugewandt. Vorsichtig beugte er sich über sie, darauf bedacht, sie nicht zu wecken. Als sie erneut seufzte, hielt er inne. Sein Gesicht befand sich nun knapp über ihrem. Er konnte ihre Körperwärme fühlen, ihre Aura. Wie schön sie doch war. Obwohl ihr Gesicht im Dunkeln lag, hatte er ihr Bild noch deutlich vor Augen. Ihre smaragdgrünen Augen, ihr glattes, dunkelbraunes Haar, das sich nur im Licht von dem völligen Schwarz unterschied. Und ihr anmutiges, gewitztes Lächeln, mit das sie ihn eingefangen hatte. Er wollte, sie berühren, ihr durch die Haare fahren, ihre Wange tätscheln - doch er getraute sich nicht, aus Angst sie zu wecken. Vielmehr enttäuscht als wütend über sich selbst wandte er sich von ihr ab. Weshalb war er bloß solch ein Feigling? Tag für Tag hatte er mit so vielen Menschen Kontakt, kam er mit Tausenden in Berührung. Und bei ihr wagte er nicht einmal, eine vage Berührung. Er drehte sich wieder zu ihr. Ein Blick von ihr würde reichen. Bloß ein Blick, um zu zeigen, dass sie ihn überhaupt wahrnahm. Ein Wind fuhr draußen lautstark vorbei. Ängstlich sah er zum Fenster hinaus. Der Mond trat hinter den Wolken hervor. Er hatte wieder seine Stellung verändert. Sehnsüchtig sah er sie an. Er musste gehen, so gern er auch bleiben wollte. Er wünschte sich von ganzem Herzen, dass sie ihn eines Tages bitten würde, nicht mehr zu gehen. Eins Tages. Er ließ einen weiteren Blick über ihren ruhenden Körper gleiten, ehe er sich ein Herz fasste und sich zu ihr hinunter beugte, unaufhaltsam. Er war nur noch einen Atemzug von ihr entfernt, als sie sich auf den Bauch drehte. Nun lag sie völlig von ihm abgewandt. Gekränkt zog er sich zurück. Er sagte sich immer wieder, sie könne nichts dafür. Sie hatte aus reinem Reflex gehandelt, ohne zu wissen, dass er da gewesen war, ohne seine Anwesenheit auch nur zu spüren. Und dennoch kam er nicht umhin, sich abgewiesen zu fühlen. Das nagende Gefühl wurde immer stärker, bis es schier unerträglich war. Mit einem Aufschrei stürzte er aus dem Zimmer hinaus. II. Sie betrachtete sich im Spiegel. Ihre Haare waren fettig, unter ihren Augen befanden sich dunkle Schatten. Von der Hüfte abwärts war sie zu dick, ihre Armmuskeln waren viel zu schlaff. Schrecklich. Was sollte sie sich anziehen; es war ein relativ kühler Novembermorgen. Sie warf einen Blick auf den Wecker. Schon fünf nach sieben. In zehn Minuten musste sie los! Sie nahm einen hastigen Schluck Tee. Dann hastete sie zum CD-Player und drehte die Lautstärke des Radios hoch. Sie spielten gerade "It Must Have Been Love" von Roxette. Mist. Sie hatte den Wetterbericht verpasst. Sie warf noch einmal einen prüfenden Blick aus dem Fenster und entschied sich dann für die dunkelblaue Strechjeans, das Asia-shirt und den roten Wollpulli. "It must have been looove. But it's over now...", dröhnte es aus dem Radio. "...leave the winter on the grooound. I wake up lonely, inside of sadness...", sang sie mit. Das war eine ihrer früheren Lieblingsnummern. Als sie jünger war, hatte sie Roxette immer als Rebellin empfunden, eine Heldin für die Frauenbewegung. Klar, sie war nichts Besonderes, nur eine von vielen anderen Sängern. Das wusste sie jetzt. Aber früher hatte sie sie bewundert. Sie hatte das Lied zur selben Zeit gehört, als "Lambada" und die ersten Hits von Madonna liefen. Madonna hatten sie auf irgendeinem Video gehabt. Neun nach sieben. Nun musste sie sich wirklich beeilen. Zielsicher griff sie zu ihrem Compactpuder, das auf dem Schreibtisch lag. Egal wie eilig sie es hatte, für das musste sie einfach Zeit finden. Schließlich konnte sie mit diesen Augenringen nicht an die Öffentlichkeit treten. Schönheit ging vor Schule. Und abgesehen davon, traf sie ja vielleicht einen gutaussehenden Jungen im Bus. Den würde sie auch nicht mit einem blassen, unebenen Teint beeindrucken können. Mit einer schnellen Handbewegung schnappte sie sich den transparenten Mascara und fuhr sich mit dem Wimpernbürstchen zweimal über die Wimpern. Dann ließ sie alles stehen und liegen, raffte ihren Rucksack mit den Schulsachen und stürmte aus der Wohnung. III. Er trat aufs Gaspedal. Im Radio hatten sie soeben "It Must Have Been Love" von Roxette gespielt und nun lief "Sexbomb" von Tom Jones. Vor ihm erschien die Kreuzung. Er zog die Kuppelung zurück, um die Geschwindigkeit zu verringern. Die Person vor ihm fuhr einen rotfarbenen Opel Astra. Feines Stück. Vor den Rücksitzen, auf dem Fahrersitz lugte ein Blondkopf hervor. Vielleicht war es auch eine Brünette, das konnte er nicht so genau erkennen. Dazu spiegelte das Glas zu sehr. Er musste an die Brünette, Silvia, denken, mit der er die vorige Nacht verbracht hatte. Eine bezaubernde Person. Sie war um so vieles anders als seine kleine, graue Denise. Während er bei Denise das Gefühl hatte, dass sie sich immer mehr in ihre Arbeit verbiss und sich von ihm entfremdete, war Silvia wie eine Seelenverwandte. Sie war lebensfroh, um nicht zu sagen dynamisch, und sie wusste, was sie wollte. All die Eigenschaften, die er bei Denise vermisste. Sicherlich wusste auch Denise, was sie wollte. Doch sie wusste dies auf eine andere Art und Weise. Abgesehen davon war Silvia so unglaublich sexy. Auf einen Wink von ihr, wäre er ihr sofort zu Willen gewesen. War er auch gewesen. Sie war auf ihre Weise dominierend, doch sie verstand es auch, sich vollkommen hinzugeben, sich zu unterwerfen. Ihre Leidenschaft hatte ihn überwältigt. Er hatte sich aber auch nicht dagegen wehren wollen. Er roch noch immer ihr Parfüm. Erst früh am Morgen war er nach Hause gefahren, um einige Arbeitsunterlagen zu holen. Als er heimgekommen war, hatte Denise auf der Couch gelegen und geschlafen. Eine leere Flasche Martini war auf dem Couchtisch gestanden. Auf das Rascheln seiner Blätter hin war sie schließlich aufgewacht. Sie hatte ihn mit einem nichtssagenden Blick taxiert und hatte ihn tonlos gefragt, wo er gewesen sei. Ohne zu zögern hatte er geantwortet, er wäre im Büro gewesen, wäre dort schließlich eingeschlafen. Er hatte sich gezwungen, ihr einen Kuss auf die Stirn zu drücken, um dann wieder zu gehen. Doch niemals würde er ihren Anblick vergessen können: Wie sie in ihrem bunten Kimono auf der Couch gelegen hatte, ihre blonden Haare widerspenstig von allen Seiten abstehend. Die grellen Farben des Stoffes hatten sie blasser denn je aussehen lassen. Und ihr Blick, ihr belangloser Blick, der nie verriet, was sie gerade dachte. Ob sie es wohl wusste? Wusste sie, was für ein schlechter und oberflächlicher Mensch er war? Einer der mit einer vollbusigen Tussis aus der Bar, die er nur wenige Minuten lang kannte, ins Bett ging. Und es genoss. Er zerstreute diese Gedanken. Woher sollte sie es schon wissen? Es war unmöglich. Niemand, außer ihm und Silvia, wusste davon. IV. Der Bus fuhr in fünf Minuten, wenn nicht dann eh früher. Sie beschleunigte ihre Schritte. Bis zur nächsten Ecke brauchte sie etwa eine Minute, nein, anderthalb. Dann würde sie rennen müssen. Es würde sich schon ausgehen. Auf der anderen Straßenseite befand sich eine Bar. Sie konnte durch das riesige Fenster hinein sehen. Einige Männer starrten sie an. Verstohlen, nichtssagend. Ihr war danach, ihnen den Mittelfinger zu zeigen oder etwas ähnliches zu tun. Statt dessen ging richtete sie ihren Blick wieder nach vor auf die Straße und beschleunigte ihre Schritte. Keine Zeit, um sich mit irgendwelchen Säufern mittleren Alters zu befassen, musste den Bus erwischen. Vor ihr erschien die Hauptstraße. Sie ließ die schmale Seitengasse hinter sich. Auf der anderen Straßenseite befand sich die Bushaltestelle. Sie bog nach links ab, ging auf dem Gehsteig die Straße entlang. Lauter geschäftstüchtige Leute waren mit ihren Autos unterwegs. V. Er hupte hektisch. Verfluchte Sonntagsfahrer! Als es wieder weiterging, erkannte er seinen Irrtum. Es waren einige Volksschüler gewesen. Klein, mit übergroßen Schultaschen in grellen Farben bepackt, die beinahe ihre eigene Körpergröße einnahmen. Wie Ameisen waren sie, unermüdlich, geschäftstüchtig, zu unrecht unterschätzt. Denise und er hatten schon immer Kinder haben wollen. Aber als sie ihre Stellen angeboten bekommen hatte, hatte sie kein Interesse mehr daran gehabt. Sie hatte Angst, sie könnte ihren Arbeitsplatz verlieren, wenn sie in Karrenz ging. Immer wieder hatte sie gesagt, sie wären noch jung, sie könnten sich Zeit lassen. Zumindest bis sie sich in ihrer neuen Firma eingelebt habe. Dann könnten sie ja weiter sehen... So jung seien sie aber nicht mehr, hatte er erwidert. Und im Fall der Fälle würde er immer noch genug Geld für sie beide, pardon, sie drei verdienen. Notfalls würde er auch einen Nebenjob annehmen... Aber sie war standhaft geblieben, hatte sich nicht umstimmen lassen. VI. Sie stand vor dem Zebrastreifen. Die Autos rauschten an ihr vorbei. In einer Minute fuhr der Bus. So ein Mist! Was nun? Wieso ließen sie sie nicht vorbei, zum Kuckuck-noch-einmal? Und überhaupt, wieso konnten die Idioten von der Stadtbehörde nicht endlich eine Ampel dort hintun. Angeblich hatten sich ohnehin schon zahlreiche Leute über eine fehlende Ampel beschwert. Die nächste befand sich erst am anderen Ende der Straße. Gut, das hatten sie noch eingesehen. Daraufhin hatten sie den Zebrastreifen hingemalt. Genial. Okay, es mochte besser sein als nichts, aber es war nicht genug. Endlich blieb ein Auto stehen. Sie seufzte erleichtert. Mit einem kurzen Blick auf die restliche Straße setzte sie einen Fuß auf die Fahrspur. VI. Wo war sie heute? Die Sonne ging bereits auf, Eos ließ grüßen. Sie musste schon unterwegs sein. Er musste sich beeilen, wenn er sie noch erwischen wollte. Er sah hinunter. Diese dummen Menschen. Quälten sich mit nichtigen Dingen, tagein, tagaus. Auch sie begriff noch nicht den Sinn von Vergänglichkeit. Doch wenn er erst einmal mit ihr vereint war, würde es für die Ewigkeit sein. Sie würden in der Gegenwart leben, ohne Rücksicht darauf, ob und wie sehr sich die Umwelt samt Menschen um sie herum verändern würden. Sie hätten einander. VII. Jetzt ging es wieder ohne Verzögerung weiter. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er die ganze Zeit nur an seine Frau gedacht hatte. Nun versuchte er krampfhaft auf andere Gedanken zu kommen. Er durchdachte seine Aufträge von heute. Doch auch die erschienen ihm mit einem Mal so unwichtig. Sein Mitarbeiter und guter Freund würde in diesem Fall sagen, er mache sich zur Geisel der Frauen. Wie Recht er doch hätte! VIII. Warte einmal! Ihre Uhr ging doch um eine Minute vor. Jedenfalls hatte sie sie ihres Wissens nach noch nicht richtiggestellt. Super, das nutzte ihr derweil aber nichts. Nun stand sie mitten auf der Straße und wartete darauf, dass sie die Fahrer auf der anderen Spur vorbei ließen. Der Bus startete den Motor. IX. Plötzlich erschien jemand auf der Fahrbahn; ein Mädchen. War die... Er betätigte die Hupe, während er gleichzeitig mit dem Fuß das Bremspedal suchte. X. Er hatte sie erblickt. Sie war so schön wie eh und je, trug eine dunkelbraune Jacke. Die olivfarbenen Trägerbänder ihres Rucksacks stachen hervor. Die dunkelbraunen Haare umrahmten ihr Gesicht. Nun hatte sie ihr Gesicht ihm zugewandt. Er erschrak, als er das Entsetzten in ihrem verzerrten Gesicht sah. Es dauerte einen weiteren Augenblick, bis er sie Situation erfasst hatte. Teil 2 XI. E in Anruf. Von der Polizei. Sie solle ins SMZ kommen. Ihre Tochter sei angefahren worden. Ein Anruf, der alles verändert hatte. Selbst jetzt, nachdem sie im Taxi saß, zitterten ihre Hände wie verrückt. In dieser Verfassung hätte sie ohnehin nicht selbst fahren können. Abgesehen davon hatte sie heute morgen das Auto nach kurzer Fahrt wo stehen lassen, um nicht Gefahr zu laufen, in einen Stau zu geraten. Sie atmete tief ein und aus, immer wieder darauf hoffend, dass alles nicht wahr sei. Selbst als der Fahrer sagte, sie seien da, hoffte sie, dass es sich bei all dem um einen großen Irrtum handle. Wahrscheinlich würde sie die Treppen hinaufgehen und die Krankenzimmer aufsuchen, um dann festzustellen, dass es sich überhaupt nicht um ihre Tochter handelte. Ein anderes Mädchen war angefahren worden und sie hatten diese irrtümlicher Weise für ihre Tochter gehalten. Sie wusste, das war egoistisch, aber es musste einfach so sein! XII. Er atmete geräuschvoll aus. Wie leblos sie doch aussah. All ihre Lebensfreude schien erloschen, alles, was ihr wunderbares Wesen ausgemacht hatte. Sie hatten ihr seltsame Geräte angelegt. Ein eintöniges Piepsen erfüllte den Raum. Sooft er sie ansah, traten ihm Tränen in die Augen. Auch sie war vergänglich. Sachte streifte er mit den Lippen ihre Wange. Sie war kalt. Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn schließlich aufschrecken. XIII. Sie sah sich kurz im Raum um. Alles war in weiß gehalten; die Wände, die Bettwäsche, die Vorhänge. Es roch nach Spital. Sie mochte den Geruch nicht. Dort, in dem Bett, lag sie gebettet. Mit einem Schluchzer stürmte sie auf sie zu. Sie war es, o Gott, sie war es! Die Tränen, die sie bis jetzt unterdrückt hatte, strömten unaufhaltsam aus ihr heraus. "Marina", stieß sie heiser hervor. XIV. "Marina", wiederholte er flüsternd. XV. Frau Steinbach sah auf. Einen kurzen Moment lang hatte sie einen eisig kalten Windhauch im Nacken gespürt. Doch es war niemand im gesamten Raum. Sie fröstelte. Langsam strich sie sich mit der Hand über das tränenüberströmte Gesicht. Ihr Kopf schien vollkommen leer, sie war nicht fähig, auch nur einen Gedanken zu fassen. Zitternd fasste sie sich mit der Hand an die Stirn. Ihr Arm schien sich völlig von selbst zu bewegen, ohne die Anweisungen vom Gehirn zu befolgen. Mit einem Mal kam sie sich so unwirklich vor. Sie hatte das Gefühl, ihre Arme und Beine gehörten nicht mehr zum restlichen Körper, alles schien völlig unabhängig voneinander zu sein. XVI. Leb wohl, Liebste, vergängliches Wesen. Ein Abschiedsgruß, jedoch nicht für immer. Was bedeutet schon "für immer"? Ich bin nur ein Wind doch mit dir, stirbt auch ein Teil von mir. XVII. Aufstehen, zur Schwester gehen, den zuständigen Arzt aufsuchen. XVIII. Leb wohl. XIX. Sie wird durchkommen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)