Kreaturen der Nacht von Hoellenhund (Kurzgeschichten) ================================================================================ Der Tanz von Licht und Schatten ------------------------------- Marilyn saß auf dem Boden in einem abgedunkelten, fensterlosen Raum. Wieder zählte sie die Fliesen auf dem Boden, so viele kleine, viereckige Fliesen. Und auch die Steine an den Wänden. 1453, 1454, 1455.... Wenn sie alle Steine gezählt hatte, würde es wieder Nacht sein. Erst wenn sie alle gezählt hatte. 1456, 1457, 1458... Nur noch ein paar Steine. Nur noch ein paar... Marilyn sprang auf. Alle Fliesen und Steine waren gezählt. Sie hatte keine Uhr und da sie das Gefühl hatte, heute besonders schnell gezählt zu haben, hoffte sie inständig, die Nacht wäre schon herangebrochen. Vorsichtig drückte sie die Tür des, bis auf einen Tisch und einen Stuhl leeren, Zimmers auf und spähte in den Flur hinaus. Es war so dunkel, dass die Schwärze schon auf ihre Augen zu drücken schien. Glücklich verließ Marilyn den Raum und schloss die Tür hinter sich. Sie ging rasch den Gang entlang und auf die Haustür zu. Es war zu dunkel um etwas zu erkennen, doch sie kannte den Weg ganz genau: Sie war ihn in den letzten Wochen jede Nacht gegangen. Endlich war sie an der Haustür angelangt. Einige Sekunden nestelte sie an der Türkette herum und trat dann in die Nacht hinaus. Eine kalte Brise fuhr Marilyn durch das lange Blondhaar und ließ sie frösteln. Hätte sie doch eine Jacke mitgenommen, ihr altmodisches Kleid konnte dem Wind nicht die Stirn bieten, er schien Marilyn auszulachen und fuhr ihr neckisch unter den Rock. "Lass das!", befahl sie dem Wind sinnloser weise. Wieder zerwühlte der Wind ihr Haar, ließ dann jedoch von ihr ab, vermutlich, um den nächsten nichts ahnenden Passanten zu zermürben. Marilyn durchquerte den Vorgarten ihres Elternhauses. Schon nach kurzer Zeit des ziellosen Umherwandelns fand sie das, wonach sie suchte. Ein rothaariges Mädchen mit weißen Flügeln saß auf der Reling einer kleinen Brücke und starrte in das dunkle Wasser hinab. "Mein Engel!", rief Marilyn und rannte die letzten Meter bis zu der Gestalt auf der Brücke. Der rothaarige Engel hob den Kopf und blickte Marilyn entgegen. Schweigend - wie jeden Abend. Seine grünen Augen reflektierten das Mondlicht. Marilyn stellte sich neben den Engel und blickte zum Mond hinauf. "Ich bin kein Engel", sagte das rothaarige Mädchen. Erschrocken wandte Marilyn dem Engel den Kopf zu, denn es war das erste Mal, dass er sprach. "Was heißt das, du bist kein Engel? Du hast Schwingen, wie ein Engel", protestierte Marilyn und hielt dem Blick des Engels stand. "Das sind keine Schwingen, es sind nur Schatten", seufzte das Mädchen. Der Wind fuhr ihm durchs Haar und spielte mit seinem Umhang. "Das können keine Schatten sein. Sie sind weiß", widersprach ihm Marilyn. Der kleine Engel lachte. Sein Lachen klang frisch wie ein Frühlingshauch und zugleich wie nicht von dieser Welt. Das Engelchen stieg von der Reling, lächelte Marilyn sanft ins Gesicht und nahm ihr Handgelenk, um ihre Hand zu seinen weißen Flügeln zu führen. Marilyn fasste durch die Schwingen wie durch vom Himmel gefallene Wolken. Sie schienen greifbar, so wirklich und doch waren sie nicht mehr als eine Illusion. Langsam ließ der Engel Marilyns Hand los. "Siehst du?", wollte er wissen und starrte wieder in den schwarzen Fluss. "Dein... Dein Schatten ist gelb!", entfuhr es Marilyn. Sie konnte nicht glauben, was sie sah, ihren Augen nicht mehr trauen. Wieder lächelte der Engel: "Mein Name ist Reyes. Ich bin nicht von hier. Aber das muss dir schon aufgefallen sein." Marilyn nickte. Sie streckte die Hand aus und versuchte noch einmal Reyes' Flügel zu berühren, doch es hatte sich nichts geändert, sie waren immer noch wie aus Licht geschnitten. Reyes blinzelte: "Alles nur Schatten." Sie ließ einen weiß glühenden Ball auf ihrer Handfläche erscheinen. Er zog sich wie träges Licht durch die Luft, bis das Ende des Streifens bei ihrer anderen Hand angelangte. Dort packte sie den Lichtstrahl und warf ihn fort. Er flog träge nach oben, der schwarze makellose Himmel schien den ihn zu verschlingen und mit ihm zu verschmelzen. Dann war nichts mehr von dem Lichtstrahl zu sehen. "Was hat das zu bedeuten?", fragte Marilyn den Engel, der eigentlich keiner war. "Ich lese in deinen Augen, dass du bereit bist, Neues zu sehen. Du bist nicht versteift nur das zu glauben, was du belegen kannst. Diese Gabe haben nicht viele von den Menschen in dieser Welt. Ich möchte dir meine Welt zeigen", antwortete Reyes mit leiser Stimme. "Wieso?" Wieder fuhr der Wind Marilyn unter den Rock. "In meiner Welt ist das Licht Schatten und der Schatten ist Licht. Doch der Schatten in meiner Welt ist viel mehr als das Licht in dieser hier. Schatten kann man formen, man kann mit ihm spielen. Er hat ein Eigenleben, so wie der Wind", lächelte Reyes. Marilyn glaube zu spüren, wie sich ein Windhauch um Reyes' ausgestreckten Arm schlang. "Wie der Wind...", flüsterte sie und beobachtete das rothaarige Mädchen weiter. "Ich weiß von deinem Leid, Marilyn. In meiner Welt wirst du jeden Tag das Haus verlassen können. Meine Sonne scheint schwarz. Deine Sonnenallergie wird keine Bedeutung mehr haben." Wieder schien Reyes für Marilyn ein Engel zu sein. Nie wieder eingesperrt sein - nie wieder Steine zählen. So viele Steine... Nie wieder. Marilyn strahlte. Es war seit Jahren das erste Lächeln auf ihrem Gesicht - und es fühlte sich gut an, besser als der Ausdruck der Einsamkeit, besser als die Tränen. Besser als alles, was Marilyn kannte. "Wir müssen jetzt gehen. Bei Tag bin ich in dieser Welt beinahe Blind", erklärte Reyes und nahm Marilyn bei der Hand. "Frag mich mal!" Marilyn lachte. Sie lachte aus ganzem Herzen und so lange, dass ihr die Tränen über die Wangen flossen. Aus Licht gemeißelte Schatten schlangen sich um ihre und Reyes Beine und trugen sie gen Himmel. Immer höher wurden sie getragen und als sie nun von einem Loch im Sternenzelt verschlungen wurden, lachte Marilyn immer noch. Die Sonne erschien am Horizont und flutete den Himmel mit orangem Licht. Von Marilyn und Reyes war nichts mehr zu sehen, sie waren genauso verschwunden wie der Schatten, den Reyes zuvor gen Himmel gesandt hatte. Die einzige Erinnerung an diesen Tag war Marilyns Lachen, das gefangen im Wind um die Häuser zog und die Menschheit sanft erwachen ließ. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)