Broken Life von Gayagrod (Ginger Snaps) ================================================================================ Kapitel 2: Erkenntnis --------------------- ~Brigitte~ "Brigitte?" Das Wort schien von weit weg zu kommen. "Brigitte!" Jemand schüttelte sie leicht an der Schulter. "Jetzt wach doch endlich auf!" Seine Stimme schien wie durch einen dichten Nebel zu ihr vorzudringen. Sam wollte sie aus dem süßen Schlaf des Vergessens reißen, doch ihr ganzes Denken wehrte sich dagegen, in die Realität, welche nur aus Schmerz, Trauer und Leid bestand, zurückzukehren. Schließlich gewann der letzte Rest Vernunft, der darauf bestand, nicht in einen Zustand des Erstarrens zu versinken, die Oberhand und Brigitte öffnete langsam die Augen. Das Licht, obwohl nicht allzu hell, schmerzte in ihren Augen, genauso wie der Rest ihres Kopfes schmerzte. Unter stechenden Schmerzen drehte sie den Kopf leicht nach rechts, dorthin, wo sie Sam vermutete. Er hockte neben ihrem Bett, anscheinend war sie eingeschlafen und er hatte sie auf das Bett gehoben. Sam sah sie besorgt an. Er hatte sich das Blut notdürfig von seinem Gesicht und Hals abgewaschen, aber seine Kleidung war steif von getrocknetem Blut. An seinem Hals war deutlich eine lange, schmale Narbe zu sehen. "Brigitte", sagte Sam, er krächzte nicht mehr und seine Stimme klang wieder so, wie sie sie in Erinnerung hatte. "Na endlich, ich dachte schon, du würdest überhaupt nicht mehr aufwachen." Er lächelte nicht, versuchte es noch nicht einmal. Es hätte nichts geändert, den Schmerz nicht im geringsten gemildert, und sie beide wussten das. Sie versuchte, etwas zu sagen, irgend etwas, aber ihr Mund war so trocken, dass sie kaum sprechen konnte, weshalb sie nur mühsam "Wa...Wasser" herausbrachte und es dabei bewenden lies. Sam aber hatte sie verstanden und verschwand im Badezimmer. Sie hörte, wie er den Wasserhahn aufdrehte und das leise Rauschen des fließenden Wassers, dann kehrte Sam mit einem Becher voll Wasser zurück. Er hielt ihr den Becher an ihre aufgesprungenen Lippen, so dass sie trinken konnte. "Ich wollte nicht extra nach oben laufen, also hab ich einfach einen Zahnputzbecher genommen, ich hoffe es stört dich nicht", sagte er vorsichtig. Brigitte dachte an das Chaos, das oben wie unten im Haus herrschte, seit Ginger - nein, seit der Lykantroph die Wohnung demoliert hatte. Sie wollte sich ihre Schwester nicht als dieses Ding vorstellen, sie musste überhaupt damit aufhören, ständig an Ginger zu denken. Ihre Gedanken würden sie nicht wieder lebendig machen, nichts würde sie wieder ins Leben zurückbringen, sie musste sich mit dem Gedanken abfinden, dass Ginger tot war. Tot. Für immer und ewig. Das Wasser trank sie in kleinen Schlücken auf, als sie fertig war stellte Sam den Becher weg und half ihr, sich aufzusetzen. Sie blickte langsam durch das Zimmer, dass sie bis vor einigen Stunden noch gemeinsam mit Ginger geteilt hatte und ihr Blick blieb an dem Leichnam ihrer Schwester hängen. Sam hatte den leblosen Körper mit einem Bettlaken bedeckt, so dass Brigitte nur die Umrisse darunter ausmachen konnte. Das Laken war an mehreren Stellen blutbefleckt und auch die Blutpfütze auf dem Boden war noch zu sehen. Sam war ihrem Blick gefolgt. "Wie geht's dir?", fragte er und klang dabei unsicher. Sie sah ihn an. Diesmal versagte ihr ihre Stimme nicht den Dienst. "Scheiße", sagte sie ernst. Sam lachte nicht, worüber sie froh war. Dann fuhr sie mit rauer Stimme fort: "Meine Schwester ist tot, das Haus ist demoliert und im Gartenhaus liegt eine Leiche, von der meine Mutter übrigens auch noch weiß." Sie holte tief Luft und seufzte. "Ach ja, außerdem bin ich ein Werwolf. Und du lebst, verdammt noch mal!" Sie sah ihn an, als sei sie aus irgend einem Grund sauer auf ihn und erwarte eine Erklärung. "Hey!" Sam hob abwehrend die Hände. "Schau mich nicht so an... ich kann doch auch nichts dafür!" Brigitte schaute weg und murmelte ein "'tschuldige". "Schon gut. Wenigstens kannst du wieder ironisch sein." "Was gar nicht meine Absicht war." Bei sich dachte sie: Es ist mir einfach herausgerutscht. Verdammt!! Ginger ist tot - tot, verdammt noch mal! - und du machst einen auf ironisch und keifst Sam an, weil er überlebt hat. Freu dich gefälligst darüber - immerhin hat er versucht, dir und Ginger zu helfen und du dachtest schon, er wäre dabei draufgegangen. Sie ärgerte sich über sich selbst. Dann wandte sie sich wieder Sam zu und musterte ihn. "Sam? Wie hast du überlebt? Sie hat dir deinen Hals... doch regelrecht... durchgebissen?" Sie streckte zögernd die Hand aus und fuhr leicht über die neue, helle Narbe, die an seinem Hals verlief. "Ich weiß nicht genau." Sam sah sie nachdenklich an. "Ich denke, sie hat mich bei ihrem ersten Angriff mit dem Lykantrophen-Virus infiziert... und dieser hat sich wohl schneller, als sie gedacht hat, in meinem Körper ausgebreitet, weshalb meine Wunden schon wieder zu heilen begannen, als sie mir dann... den Rest geben wollte." "Mmh." Brigitte dachte kurz darüber nach und sagte dann: "Scheint die einzige halbwegs logische Erklärung dafür zu sein." "Ist jedenfalls meine Theorie... vielleicht steckt auch mehr dahinter, aber ich habe keine Ahnung, was das dann sein sollte." Er zuckte mit den Schultern. "Ist mir aber auch egal, im Moment zählt für mich nur, dass ich das alles überhaupt irgendwie überlebt habe. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass ich jetzt auch... ein Lykantroph bin", stellte er nüchtern fest. Brigitte nickte nur und hing ihren Gedanken nach. Jetzt waren sie also beide so wie sie, sie durch ihr Blut und er durch ihren Biss. Aber wenigstens war so keiner von ihnen alleine... "Brigitte?" Sam holte sie aus ihren Gedanken zurück. "Was ist?" "Nun ja, wir haben noch einiges zu erledigen bis...", er zog scharf die Luft ein, "...bis wir Bailey Downs verlassen können." Natürlich. Sie hatte es gewusst. Sie hatte schon die ganze Zeit geahnt, dass alles, was jetzt folgte, sie irgendwann aus ihrer Heimatstadt fortführen würde. Auch ihre Mutter hatte dies vorgehabt, die Stadt mit ihr und Ginger zu verlassen und woanders ein neues Leben anzufangen. Aber nun, mit einem Haus voller zerstörter Gegenstände und Möbel und zerkratzten und blutverschmierten Fußböden sowie zwei Leichen war ihr altes Leben nicht mehr zu retten, weil es zu viele Fragen aufwerfen würde und die Antworten, die sie geben konnte, würde ihr niemand abnehmen - selbst wenn sie nur die Wahrheit erzählte. Störte es sie, dass sie ihr altes Leben so verlor? Nein, eigentlich nicht. Sie hatte fast ihr ganzes bisheriges Leben gehasst, die Schule, die anderen Menschen, eigentlich alles. Nur Ginger nicht. Ginger und ihre gemeinsamen Aktivitäten, solche wie das Schulprojekt, welches sie kurzerhand zu ihrem eigenen "Sterbe- und Selbstmordprojekt" umfunktioniert hatten, waren ihr einziger Lichtblick in den Grautönen des Alltags gewesen. Dabei war Ginger selbst nicht unbedingt unbeliebt gewesen. Bei den Jungs war sie auf Grund ihres Äußeren bis zu einem gewissen Grade beliebt und die meisten gleichaltrigen Mädchen ließen sie mehr oder weniger in Frieden. Für Brigitte blieb nur der Rest übrig, der Spott und die Ablehnung der anderen... Aber Ginger hatte sie des Öfteren vor den Attacken der anderen bewahrt und sie hatte auch Brigittes Verachtung allen Normalos und Sexobjekten der Schule und ihren normalen, tristen Leben gegenüber geteilt. Zwischen den beiden Schwestern hatte ungefähr ein Jahr Altersunterschied bestanden, Ginger war die Ältere gewesen, aber sie hätten genauso gut Zwillinge sein können, so gut hatten sie die Gedanken und Gefühle der jeweils anderen verstanden. Der einzige Mensch, der ihr nicht von vornherein mit Abneigung begegnet war, war Sam gewesen. Mit seiner Hilfe hatte sie versucht, Ginger zu helfen, obwohl diese am Schluss gar nicht mehr geheilt werden wollte. Brigitte hatte Sam sogar angelogen, hatte ihm gesagt, sie - und nicht Ginger - sei gebissen worden, damit er ihr bei ihrem Vorhaben half, aber er war schließlich von selbst darauf gekommen, dass Ginger und nicht sie mit dem Lykantrophen-Virus infiziert worden war. Und Sam hatte ihr weiterhin geholfen, hatte ihr beigestanden. Er hatte trotz ihrer Notlüge weiter mit ihr gemeinsam versucht, ein Heilmittel für Ginger zu finden, was ihnen dann auch gelungen war. Der Preis für seine Hilfe wäre fast sein Leben gewesen... Aber das alles lag hinter ihr - hinter ihnen. Wenn sie Bailey Downs erst einmal verlassen hätten, würde für sie ein neues Leben beginnen. Auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie dieses Leben aussehen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)