Antons Reisen von Yeo ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 1 -------------------- Kapitel 1 Das feuchte Wetter drückt Anton auf die Blase, weshalb er schon seit geraumer Zeit auf der Suche nach einer Herrentoilette ist. Vielleicht wäre es das Beste heimlich an den nächsten Baum zu urinieren - der Natur das zurückgeben, wofür sie selbst verantwortlich ist, wofür sie die Verdauungsorgane im Menschen angebracht hat. Doch Anton sieht das ganz anders. Seine ausgewogene, auf soziale Etikette fixierte, Erziehung untersagt es ihm strikt, seinen Mittelstrahl auf etwas anderes zu richten, als ein Pozellanbecken. Ein paar Meter weiter ist eine Tankstelle - die hat er auf der Herfahrt mit dem Bus gesichtet. Theoretisch gesehen, wäre es das einfachste für Anton, dorthin zu gehen, um sich zu erleichtern, da allseits bekannt ist, dass derartige Einrichtungen stets Toiletten beherbergen, doch er kann doch unmöglich an einen derartigen Ort sein Geschäft erledigen. Schon bei dem bloßen Gedanken an die typische Tankstellentoilette mit ihrem charakteristischen Geruch nach Kotze, Pisse und dem Schweiß fetter Fernfahrer, die sowieso die dubiosesten Tätigkeiten in ihren Fahrpausen nachgehen, droht die halbe Portion Gartensalat und das Diäteis vom Mittagessen, die sich mittlerweile mit dem Fencheltee, den er vor einer halben Stunde in einem Café nahe dem städtischen Museum zu sich genommen hatte, vermischt haben, wieder hochzukommen. Warum bin ich Vollidiot nicht gleich im Museum austreten gegangen, als ich noch die Gelegenheit hatte. Im Café schien es auch sehr hygienisch gewesen zu sein... , denkt Anton beim Verlassen des Parkgeländes. Die Straße, die es nun zu überqueren gilt, ist insgesamt vierspurig, doch auf der gegenüberliegenden Seite ist hinter der vorderen Häuserreihe eine Bibliothek zu erkennen, die schleunigst aufgesucht werden muss. Gesundheitsbewusst wie der junge Mann ist, schaut er vorm Betreten der Fahrbahn, ob er auch nicht Gefahr läuft die annahenden Verkehrsteilnehmer zu stören. Links kommt nichts, rechts kommt nichts - von rechts kann eigentlich auch gar nichts kommen, doch er geht lieber noch mal auf Nummer sicher. Zeit für Anton loszulaufen. In seinem Kopf spukt nur noch der Satz "hoffentlich schaff' ich's noch". Die ersten beiden Spuren sind überquert. Die letzten beiden hingegen werden rege befahren. Eine wahre Flut von Kraftfahrzeugen, die keine Lücken lässt, durch die sich Anton rasch hindurchschlängeln könnte. Von weitem sieht er, dass nach dem nächsten Motorradfahrer erst mal eine ganze Weile nichts kommt. Die perfekte Gelegenheit also. Anton hält kurz inne, lässt das vorerst letzte Fahrzeug passieren und spurtet los. Der Schnellste ist er auf gar keinen Fall, was daran liegt, dass es so gut wie nie Sport treibt, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Dieses Defizit konnte er bisher allerdings immer mit seiner ausgewogenen Ernährung ausgleichen. Ein riesiger Haufen Metallschrott kommt vom Himmel geflogen und erschlägt Anton. Er ist sofort tot. Kapitel 2: Kapitel 2 -------------------- Kapitel 2 Im Jenseits erfährt Anton, dass es sich bei dem Metallschrott um die verlorengegangene Ladung eines Transportflugzeuges handelte, welches zufälligerweise zur falschen Zeit am falschen Ort seinen Weg mit dem des jungen Mannes kreuzte. Das Leben nach dem Tod hatte sich Anton jedenfalls immer anders vorgestellt. Bei der Betrachtung der frei durch den weiten Raum gleitenden Farbschwaden muss er sich prompt an die Lehre über die spektrale Zerteilung des Lichts aus dem Astronomieunterricht erinnern und die Physikkenntnisse, die er sich in all den langen Jahren als Schüler aneignen konnte, widerlegen die auftretenden Formen der Landschaft, die sich vor ihm aufbauen. Am Himmel scheint sich ein weißes Meer zu erstrecken, in dem schwimmende Inseln ihre Bahnen ziehen, die blumenbewachsene Berge beherbergen, deren unendliche Gipfel von purpurnen Wolkenschlangen umkreist werden. Unter den Füßen breitet sich eine kristallene Ebene aus, durch die sich die hypnotisierenden Spiele sich scheinbar ständig vermehrender, farbenfroher Irrlichter, die keine feste Form aufweisen können und scheinbar zu dem werden, was man sich wünscht zu sehen, beobachten lassen. "Das geht doch gar nicht! Das ergibt vorne und hinten keinen Sinn", schlussfolgert Anton besserwisserisch in Gegenwart eines in einer hellen Aura schimmernden Bewohners der fremdartigen Welt, der sich von der anmaßenden Haltung seines Gegenübers jedoch nicht irritieren lässt und ihn den weiteren Weg führt. Obwohl Anton sich nicht erklären kann, warum, folgt er seinem Vordermann bedingungslos durch die rätselhaften Täler und Wälder, die eigentlich nicht mal wirklich als solche identifiziert werden können, doch der frisch Verstorbene hält es für das Einfachste sich etwas Bekanntes bei der Betrachtung der bizarren Umgebung vorzustellen, um seinen Glauben an die rationale Entschlüsselung von Naturphänomenen nicht völlig zu verlieren. Jedes Mal, wenn Anton die scheinbar fliegende, ihn geleitende Kreatur vor ihm etwas fragt, erhält entweder gar keine Antwort oder das Wesen reagiert mit einem extrem grellen Ton, der von dem jungen Mann als Zeichen des genervt seins angesehen wird. Ab der Hälfte des zurückzulegenden Weges fragt er sich immer häufiger mit welcher Wellenlänge die mysteriöse Gestalt vor ihm wohl kommuniziert, wenn sie ihren markerschütternden Ruf von sich gibt. "Wahrscheinlich ist das wie bei den Walen oder den Fledermäusen", denkt er sich. "Die benutzen doch auch so eine Art Ultraschall, um sich miteinander zu verständigen. Das ist ja barbarisch!" Das vornewegschwebende Geschöpf dreht sich plötzlich um und sendet Anton einen erbosten, beleidigten Blick zu. Zum ersten Mal fällt dem vom Schrotthaufen getroffenen auf, dass sein Führer überhaupt so eine Art Gesicht besitzt, wenn es auch mit dem eines Menschen nicht wirklich vergleichbar ist. Augen und Mund sind jedenfalls vorhanden, eingebettet in eine dunkle, bedrohliche, sich stimmungsabhängig verformende Masse, die zu Beginn der Wanderschaft durchs Nirvana, wie Anton die fremde Welt mittlerweile nannte, noch hell und sanft erschien, da sie damals noch durch die helle Aura erleuchtet wurde, die mit jedem zurückgelegten Meter abzunehmen scheint. Auch das Umfeld der beiden hat schon lange nicht mehr den einladenden, verspielten "Froher-Märchenwald-Charakter", den man vorher in jedem kleinen Detail dieser Welt entdecken konnte. Vielmehr kann man mittlerweile von einer erschreckend realistischen Landschaft sprechen, die maßgeblich durch verfaulte, tote Bäume mit weitverzweigten Ästen, die sich mit den Nachbarsbäumen verknoten, gekennzeichnet ist. Auch die glänzenden Regenbogenfarben mussten einem tristen Gemisch aus Erdfarben und den dunklen Tönen der dicken Wolkendecke über den Köpfen der beiden Wanderer weichen. Anton wundert sich, dass er diese Veränderungen erst jetzt bemerkt. Wahrscheinlich liegt der Grund darin, dass er so lange damit beschäftigt war über seine Wale und die Fledermäuse nachzudenken. Das anführende Wesen eilt immer schneller voran bis es schließlich auf einer kleinen Anhöhe stoppt. Anton, der sein Tempo anpassen musste, ist über sich selbst erstaunt, da er trotz seines hastigen Voranschreitens kein bisschen erschöpft ist. "Liegt wohl daran, dass ich tot bin", sagt er leise vor sich hin. Als auch er die Anhöhe erreicht und von ihr aus hinab ins nächste Tal schaut, muss er sich doch stark wundern - eine prunkvolle Villa mit Pool, chic verziert mit Marmortieren und ein bezaubernder Blick auf einen kleinen, von Palmen umzäunten See, in dem ein Altar angebracht wurde, auf welchem wiederum schon von Weitem ein adrett gekleideter Herr zu erkennen ist. Kapitel 3: Kapitel 3 -------------------- Kapitel 3 Anton wird der Zugang zum Altar im See gewährt. Er geht über einen schmalen Steg auf den Herrn im Anzug zu, welcher, eine Tüte Fischfutter in der Hand haltend, eine kleine Gruppe Koi-Karpfen herbeizulocken versucht. Die Süßwassertiere lassen sich jedoch träge in den schwachen Wellen treiben, ohne auch nur das geringste Interesse zu heucheln. Der Herr gibt seinen Versuch Kontakt mit der Fauna des stehenden Gewässers aufzunehmen auf und schluchzt die Worte: "Das liegt nur daran, dass wir hier immer nur die bereits verstorbenen Tiere halten können..." Den feinen Zwirn betrachtend, aus dem der beige Anzug des fremden Mannes besteht, beginnt Anton sich ein wenig zu schämen. Zwar ist sein Körper nach dem tragischen Unfall wieder hergestellt worden, seine Kleidung jedoch blieb in ihrem zerrissenen, blutverschmierten Zustand. Trotzdem sucht der Tote den Dialog mit seinem Gegenüber. "Sie sind wohl auch einer, der nach dem Tod hier gelandet ist?", eröffnet Anton das Gespräch. Der Gastgeber wirft seinem, im Gegensatz zu ihm unscheinbaren, Gast einen freundlichen Blick zu und begegnet ihm mit den Worten: "Falls du mich für einen Menschen hältst, liegst du vollkommen falsch." "Aber was sind Sie denn dann? Doch nicht etwa... Entschuldigen Sie die freche Frage, aber sind Sie vielleicht Gott? Oder sogar der Leibhaftige?", stottert Anton mit zitternden Händen. "Such dir was aus. Ich verwalte das hier alles. Zu mir kommen die Toten der irdischen Welt." "Und was passiert jetzt? Ich muss doch nicht etwa hierbleiben?" "Warum? Ist es dir nicht angenehm genug?" "Doch, es ist schön. Ich dachte nur...", sagt Anton, während er etwas ganz anderes denkt. "Das Jenseits ist dir also zu bizarr? Du könntest nicht in einer Welt leben, in der es keine Regeln gibt?" "Wie bitte? Aber das meine ich doch gar nicht..." Anton verliert die Ruhe. Was der Herr im Anzug sagte, war genau das, woran er eben dachte. "Wir unterscheiden hier nicht zwischen Reden und Denken. Hier bleibt nichts geheim, mein Freund. Wenn dir die Regellosigkeit nicht zusagt, musst du mir nur sagen, was du jetzt willst. Aber komm mir jetzt nicht mit >mach mich wieder lebendig<, solchen Scheiß lass' ich nicht gelten." Während Anton erschreckt ist über die vulgäre Ausdrucksweise, die ihm entgegengebracht wird, versucht er eine gut Alternative für den Aufenthalt im "Nirvana" zu finden. "Und ich kann mir jetzt irgendwas ausdenken? Was für Optionen stehen mir denn überhaupt zur Verfügung?" "Hmm... Sehr beliebt ist es als Geist auf der irdischen Welt herumzuspuken. Nur bedenkt vorher niemand, wie langweilig es sein kann alles sehen, aber nicht machen zu können. Es besteht auch die Möglichkeit sich hier irgendwo heimisch zu machen. Du musst wissen, dass das Jenseits keine festgelegte Größe hat. Hier hat bisher jeder sein Fleckchen gefunden. Dann gibt es noch das Programm mit der Seelenreinigung. Das halte ich für das Sinnvollste. Weniger Papierkram für mich." "Was ist das?" "Da wird die Energieansammlung, die allgemein als ,Seele' bekannt ist, in den großen kosmischen Äther eingebunden, was für einen kurzen Augenblick den ultimativen Moment des maximalen Glücksgefühls zur Folge hat. Danach ist allerdings für alle Ewigkeit jegliche Existenz dieser Lebensform ausgelöscht." "Das ist nichts für mich. Ich bin zu Höherem bestimmt. Ich kann noch nicht aufhören, bevor ich alles geschafft habe, was ich mir vorgenommen habe. Im Sommer beginnt mein Jurastudium." "Um ganz ehrlich zu sein, ist diese Einstellung der Grund, warum ich dich persönlich zu mir eingeladen habe. Du musst wissen, dass ich mich nur sehr selten zu diesem Schritt entscheiden kann. Du nennst es vielleicht ,Ehrgeiz', aber ich wage es zu behaupten, dass du ein überhebliches Arschloch bist." "Dürfen Sie denn überhaupt so mit mir sprechen? Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich ihre Haltung mir gegenüber für inakzeptabel halte. Sagt man sich nicht immer, dass ,der Herr des Himmels', oder wie auch immer, ein sehr freundlicher Mann wäre." "Mein Freund. Wir im Jenseits geben den Spinnern auf der Erde nicht die Vorlagen für ihre Märchengeschichten über das Leben nach dem Tod. Und wenn du es genau wissen willst, ich darf hier tun und lassen, was ich will", unterrichtet der feine Herr den eingeschüchterten Anton. Plötzlich verändert sich die ganze Welt um die beiden, dem Disput verfallenen, Gesprächspartner in eine infernalische Schreckensvision, der die schlimmsten Antons nicht im geringsten nahekommen könnten. Riesige, schwarze Dornen ragen aus dem Boden, vom donnernden Himmel hagelt es ein Gemisch aus organischem Abfall und brennenden Felsbrocken, Blut spritzt durch die schwefelhaltige Luft, Todesschreie zerfetzen Antons Trommelfell, während verfaulte Leichenhände den jungen Mann mit einem festen Griff packen, um ihn unter die Erde zu ziehen. Die Stimme des Mannes im Anzug ertönt in einem derart lauten Ton, dass man glaubt, sie wäre allgegenwärtig. Boshaft schreit sie Anton hinterher: "Ich kann hier wirklich alles machen!" Wo einst die Koi-Karpfen waren, schwimmen nun nur noch Fischgräten. Kapitel 4: Kapitel 4 -------------------- Kapitel 4 Reißende und bohrende Schmerzen quälen Anton am ganzen blutigen Leib, als er nach einem scheinbar langen Schlaf wieder zu sich kommt. Um ihn herum ist es stockfinster. Das Atmen fällt ihm schwer und seine brennenden Wunden lassen ihn keinen klaren Gedanken fassen. Plötzlich schnellt der junge Mann aus seiner Liegeposition in die Höhe, um sich zu übergeben. Seine Hand, die er sich direkt vor die Augen hält, nachdem er sich mit ihr die Kotze vom Mundwinkel gewischt hat, kann er gerade noch erkennen, was aber nicht heißt, dass er sie auch erkennen will. Er bemerkt, dass er Blut und wahrscheinlich auch einen Teil seiner Lunge gespien haben muss. In seinem schwächelnden Zustand, der eine nahende Ohnmacht vermuten lässt, sinkt er zu Boden - direkt in das Erbrochene. Eine Ewigkeit bleibt der Schwerverletzte auf dem kalten Steinboden liegen. Erst das Geräusch rasselnder Ketten ruft ihn wieder in den Wachzustand, den er nur sehr schwer halten kann. Durch seine blinzelnden Augen sieht er im Dunkeln eine kräftige, große Gestalt, die durch Kerzenlicht schwach beleuchtet wird. Jetzt erkennt er es genauer: Es handelt sich wahrscheinlich um eine Art Gefängniswärter, was die Kleidung der klobigen Kreatur vermuten lässt. In ihrer linken Hand hält sie eine leuchtende Laterne, in der rechten einen Schlüsselbund, den er bei einer Fußfessel, die an Anton angelegt wurde, einsetzt. Der Gefangene hatte den massiven Eisenring bisher noch nicht einmal bemerkt. Er will zwar fragen, wieso er festgehalten wurde, kann aber beim besten Willen nicht die Kraft sammeln, um auch nur ein paar wenige Worte zu sprechen. Der ebenfalls schweigsame Wärter packt den jungen Mann unter seinen muskulösen Arm und trägt ihn aus der finsteren Zelle in eine durch fluoreszierende Pilze erleuchtete Grotte, die wiederum zahlreiche weitere Gefängnisgänge aufweist - jeder Gang zweigt sich in weitere Gänge auf, die allesamt unendlich viele Zugänge zu weiteren Zellen besitzen aus denen die klagenden Schreie gefolterter Insassen zu hören sind. Die gequälten Stimmen vermischen sich zu einem unerträglichen Chorgesang der dem Tode Geweihten, was Antons Bewusstsein allmählich wieder in Gang bringt. Ihm wird klar, dass er als einer von ihnen enden könnte. Der Wärter öffnet eine schwere eiserne Tür und wirft Anton in den somit zugänglich gemachten Raum, bevor er sich samt seinem klirrenden Schlüsselbund und der nur noch schwach leuchtenden Laterne wieder auf den Rückweg begibt. Der Gefangene befindet sich nun in einem Gerichtssaal, was schnell deutlich wird, wenn man sich in der großen Halle umsieht. Anton besuchte schon die ein oder andere Gerichtsverhandlung, als er noch unter den Lebenden weihte, was dazu führt, dass er sofort erkennt, welche der anwesenden, dunklen Gestalten Richter, Schöffen und Publikum sind. "Sie werden der mutmaßlichen Respektlosigkeit gegenüber dem >Verwalter< angeklagt. Begeben Sie sich zügig auf ihren Platz. Der Prozess beginnt nun.", eröffnet der, in eine graue Robe gehüllte, Richter, der statt eines menschlichen Gesichtes nur einen verfaulten Hautlappen, aus dem ein starrendes Auge hervorragt, besitzt, die Verhandlung. "Es war ni...", versucht der angeklagte sich zu rechtfertigen - vergeblich. Eine weitere bizarre Figur, der Anwalt der anklagenden Partei, die einen überflüssigen, verkümmerten, seitlich aus dem Hals wachsenden Arm aufweist, unterbricht den jungen Mann mit hektischen, Angst erregenden Handbewegungen und lauter Stimme. "Einspruch! Sie müssen ihn zerschneiden Euer Ehren! Seine Gedärme mit glühenden, rostigen Speeren aus seinem zerfetzten Leib drehen und ihn gerade noch so sehr bei Bewusstsein halten, dass er spürt, wie Ihr seine Augäpfel in sein Gehirn drückt und ihm den herausgewundenen Darmausgang in seinen Mund schiebt, damit er letztendlich an seiner eigenen Scheiße erstickt!" Der Richter spricht sich etwa zwei Sekunden mit seinen Schöffen ab, dreht sich wieder dem Publikum zu und sagt: "Einspruch stattgegeben. Strafe durchführen! Der Prozess ist beendet." Er schlägt einmal hart mit seinem Hammer auf das Pult, wendet sich ab und verlässt den Gerichtssaal. "Aber... Aber so funktioniert das nicht. Was ist mit meiner Aussage? Was ist mit Berufung?", stottert der Verurteilte mit zitternder Stimme und Tränen in den Augen. Plötzlich tritt der Richter wieder ein, schaut den verstörten Jungen mit seinem triefenden Auge bedrohlich an und fasst sich mit seiner verstümmelten Hand an seine von Beulen übersäte Stirn. Er macht eine ruckartige Bewegung und zieht sich die verfaulte Haut vom Kopf. So wird das wahre Gesicht des Vertreters der Judikative des Jenseits enthüllt: Es handelt sich um den "Verwalter". "Sie?", fährt Anton fast schon erleichtert, aber dennoch verwirrt auf. "Na, überrascht? Ich wollte dir einen kleinen Streich spielen, weil du bei unserem ersten Gespräch so frech warst. Ich hoffe, du hast dich wenigstens ein bisschen erschreckt", begegnet der Mann in der Robe, dem nun doch noch Begnadigten. "Um ehrlich zu sein, habe ich mich wirklich ein bisschen erschreckt." Kapitel 5: Kapitel 5 -------------------- Kapitel 5 Der Mann im Anzug hat den eingeschüchterten Anton mittlerweile aus dem Gerichtssaal auf eine direkt darüber gelegene, saftig grüne, von bunten Blumenfamilien durchzogene Wiese geführt, welche das absolute Kontrastprogramm zu den vorher erlebten Höllenqualen bildete. Schmetterlinge tanzten um die beiden Männer, als wollten sie sie in ihrer dufteten Welt begrüßen und sie selbst zum Tanz animieren. Anton jedoch schlägt nach den lästigen Insekten aus und zeigt siegesbewusst seine blutverschmierten Zähne, nachdem es ihm gelingt eines von ihnen zu zermalmen. Der Mann im Anzug setzt seinen bemitleidendsten Gesichtsausdruck auf und schluchzt: "Ich hatte gehofft, dir klarmachen zu können, dass du das Leben etwas zu schätzen lernst. Aber bei dir ist wahrscheinlich jeder Zug schon abgefahren. Am besten wäre es gewesen dich wirklich zu zerteilen und die Sache mit dem Darmausgang durchzuziehen." "Warum sollte ich das Leben schätzen, wenn ich doch tot bin? Ich hab doch gar keine sinnvolle Rolle mehr in der großen Geschichte." "Du scheinst davon auszugehen, du hast es bereits geschafft. Da liegst du aber vollkommen falsch, mein Freund. Du hast gerade mal die erste Etappe geschafft." "Wie?" "Es gibt einen Grund, warum ich dich zu mir bestellt habe. Ich glaube, dass habe ich dir bereits gesagt. Deine Geschichte ist noch nicht vorbei." "Sie reden wohl schon wieder von diesem Seelenreinugungs-Programm? Ich möchte Sie ja nicht wieder beleidigen, aber das ist vielleicht doch nichts für mich." "Ich wusste schon, dass dich keine, der von mir angebotenen Optionen ansprechen würde und es mag schon stimmen, dass du zu Höherem bestimmt bist, was auch immer das heißen mag, aber deine anmaßende Haltung mir zu sagen, dass du dich selbst besser einstufst, als du bist, hat meinen Geschmack leider nicht getroffen. Und etwas Besonderes bist du auf keinen Fall, mein Freund. Du bekommst von mir nur einen Bonus, weil du zu Lebzeiten so eine lächerliche Gestalt warst und dein Ableben selbst mich zum Schmunzeln gebracht hat." "Hey! Es ist nicht lustig, wenn jemand stirbt." "Tut mir furchtbar leid, dass ich deine Gefühle verletzt habe, aber dein Tod war definitiv komisch. Ich hab die ungeschnittene Fassung auf DVD." "Hier gibt es DVD?" "Komm jetzt mit. Ich zeig dir jetzt, was ich von dir verlange." Anton folgt dem Mann im Anzug bis ans Ende der Wiese, das durch einen tiefen Abgrund gekennzeichnet ist. Am Fuße der Schlucht baut sich eine Großstadt auf, die einen durch und durch irdischen Charakter aufweist und Anton erneut zum Staunen bringt. "Geh hinunter in die Stadt - spring ruhig, du wirst dich nicht verletzen - und töte 100 Menschen!", fordert der Mann im Anzug. "Ich versteh nicht..." "Jetzt lass mich nicht warten. Meine Zeit ist wertvoll." "Haben sie mich gerade aufgefordert 100 Menschen zu töten?" "Ich spreche sehr deutlich. Du hast jedes Wort genau verstanden. Das weiß ich genau. Jetzt geh schon!" "Ich will Ihnen ja nicht widersprechen, aber ich kann doch nicht 100 Menschen töten. Ich meine, das sind wahrscheinlich sowieso nur Illusionen, aber das darf man doch nicht. Sie wollen mich wohl testen? Da hab ich wohl bestanden, oder? Sie wollten sicher nur wissen, ob ich mich moralisch richtig entscheide?" "Mach's dir nicht zu einfach. Töte jetzt sofort 100 Menschen!" "Aber..." "Wenn es eh nur Illusionen sind, kannst du sie doch genauso wie die Schmetterlinge zerquetschen." "Aber..." "Keine Angst, sie können sich nicht wehren. Erwürge sie ruhig, oder such dir am besten eine Waffe." "Aber..." "Das wolltest du doch zu Lebzeiten immer - Leute, die du nicht magst einfach umbringen. Die dummen Gesetze und die Moral haben deinen Insinkt unterdrückt, aber jetzt kannst du dich mal so richtig ausleben. Tust du es nicht, überlege ich mir noch mal diese Sache mit dem Zerstückeln und dem umgeleiteten Darmausgang. Haben wir uns jetzt verstanden?", schließt der adrette Herr das Gespräch ab und schubst Anton in die Tiefe. Kapitel 6: Kapitel 6 -------------------- Kapitel 6 Der Mann im Anzug hatte Recht - Anton hat sich bei dem eigentlich höchst gefährlichen, ja sogar definitiv tödlichen, Sturz nicht den geringsten Kratzer zugezogen. Nur der Schreck sitzt ihm noch in den Knochen. Als er einen Blick zurück wirft, Richtung Schlucht, ist da nur noch Stadt, nicht auch nur der kleinste Abhang. Aber der junge Mann ist solche optischen Tricks mittlerweile gewohnt, weshalb er sich auch nicht erst damit beschäftigt, zu versuchen, dieses Phänomen zu deuten. Anton ist klar, dass er nicht wirklich 100 Menschen töten kann - seien es Illusionen oder nicht. Doch ein Ausweg fällt ihm auch nicht ein, schließlich gibt es keine Möglichkeit dem Mann im Anzug zu entkommen. Während Anton bestürzt und innerlich zerrüttet durch die belebten Einkaufspassagen der erdachten Großstadt mit all ihren unechten, aber dennoch äußerst echt wirkenden Bewohnern wandelt, versucht er sich einen Reim darauf zu machen, was der Zweck seiner Aufgabe ist und wie sie richtig zu interpretieren wäre. Es kann doch nicht sein, dass er wirklich jemanden umbringen soll... Oder doch? Aber worin läge dann der Sinn? Könnte es sein, dass es so etwas wie Respekt vor dem Leben hier im Jenseits gar nicht gibt? Das würde zumindest erklären, warum sich der Mann im Anzug über die Art von Antons Tod so amüsiert hat. Trotzdem... Alles hier scheint so echt, dass man kaum noch zwischen Illusion und dem realen Leben der irdischen Welt unterscheiden kann. Da kommt Anton der Gedanke, ob es sich nicht doch eine "echte" Stadt handeln könnte. Aber das würde ja heißen, er wäre wieder lebendig. Ein Test soll die Frage klären. Der junge Mann beschließt etwas zu tun, was normalerweise für großes Aufsehen, wenn nicht sogar für eine Anzeige sorgen würde. Er nimmt sich eine leere Wasserflasche aus einem Mülleimer, dessen Weg er kreuzt, und zerschlägt sie an einer Litfaßsäule, um anschließend mit einer der Glasscherben im Vorbeilaufen ein gutes Dutzend am Straßenrand geparkte Autos zu zerkratzen - und das unter der Aufsicht einer Strafzettel verteilenden Politesse. Keine Reaktion. "Das kann nicht real sein", denkt sich Anton und läuft weiter. An einer Ampel wartend wird er plötzlich unsanft angerempelt. Sachte über die Schulter den Rabauke betrachtend, erblickt er ein bekanntes Gesicht - es handelt sich um einen alten Schulkameraden, der ihn direkt in die Augen starrt, auf ihn herabschaut. Diese verachtende Haltung ihm gegenüber kennt Anton noch von früher. Der Junge direkt hinter dem Verstorbenen war einer von den taffen Typen, die bei allen beliebt waren, aber eigentlich zu den größten Schwachköpfen überhaupt gehörten - zumindest aus Antons Sicht gesehen. Wenn er es sich so überlegt, gab es wirklich Momente, in denen er sich gewünscht hätte einem dieser Wichtigtuer wäre irgendwann einmal etwas schlimmes passiert. Ein kleiner Unfall schadet ja niemanden. Beziehungsweise doch, doch Unfälle führen durchaus zu Schaden. Verkehrt sind sie aber nicht. Nichtsdestotrotz beschließt Anton die Sache wie so viele Male vorher auf sich beruhen zu lassen, obwohl er am liebsten endlich seine Meinung äußern würde. Bei einer eingebildeten Kreatur bringt es eh nichts, was zu sagen, denkt er sich. "Du elender Schlappschwanz! Wehr dich endlich!", schreit ihn der ehemalige Mitschüler an, während er ihn erneut anrempelt. "Wehr dich!" "Bist du verrückt? Ich will keinen Ärger. Und außerdem hab ich dir nie etwas getan." "Aber ich hab dir etwas getan, du beschissener Freak! Willst du das so einfach über dich ergehen lassen, Pussy?" Anton wendet sich ab mit den leisen Worten: "So was Vulgäres!" "Wie war das? Hältst dich wohl für was Besseres, du beschissener Streber? Abgefucktes Würstchen!" "Sag nicht immer >beschissen<, sonst kackst du dir womöglich wirklich noch ein." "Wow! Ein absolut cooler Spruch!", begegnet der ehemalige Schulkamerad dem plötzlichen Anfall von Mut, bevor er den zitternden Anton in den Magen schlägt, woraufhin dieser benommen zu Boden sinkt. Wow! Wie real. Doch da erkennt Anton, dass er immer noch die Glasscherbe in seiner Hand hält. Warum eigentlich nicht? Er hätte es verdient, denkt er sich. Der Schikanierte bäumt sich auf, wirft seinem Gegenüber einen letzten, boshaft grinsenden Blick zu und zerfetzt seine Kehle. Der Schulkamerad kippt um und eine Blutlache breitet sich auf dem Bürgersteig aus. Die Passanten scheint die soeben beendete Auseinandersetzung der zwei jungen Männer überhaupt nicht zu interessieren, was Anton das Gefühl verleiht, zumindest nicht das Falsche getan zu haben. "Eigentlich war das mal eine willkommene Abwechslung. Der Arsch war selber schuld!", rechtfertigt sich der frische Mörder einer Jenseits-Illusion mit zwei Tragetaschen voller Gemüse und Milchprodukte. Mit einem psychopathischen Lächeln stürzt Anton los, obwohl die Ampel immer noch auf Rot steht. Dabei hält er die Glasscherbe so fest, dass er sich selbst tief in die Hand schneidet. Schmerz spürt er jedoch nicht - nur die Lust auf Vergeltung. Adrenalin durchfährt ihn wie ein Auto einen langen Tunnel. Da erkennt er auch schon viele Gesichter der Vergangenheit, die ihm allesamt nicht besonders positiv in Erinnerung geblieben sind. Da ist zum Beispiel der große, dicke Schläger, der ihm damals im Ferienlager einen toten Frosch unter die Decke gelegt hat. Anton beschließt ihm mit einem Backstein der Kopf einzutrümmern. Unter der Laterne steht die freche Göre aus seiner alten Klasse, die sich immer über seine Art, sich zu kleiden und seine unförmige Lesebrille lustig gemacht hat. Die Strafe für sie lautet: vor ein fahrendes Auto geworfen werden. "Einspruch abgelehnt, dumme Schnalle!" Auch der Kapitän der Schwimmermannschaft taucht in einem Café auf. Er hatte Anton zwar nie direkt etwas angetan, doch seine Art passte dem Nachwuchs-Amokläufer nicht, der sich denkt, dass es nur gerecht wäre den Athleten in einem Springbrunnen zu ertränken. "Was denn? Was denn? Ich denke, du bist so ein guter Schwimmer?", lautet Antons Nachruf. "Komm schon, Tucke! Schwimm!" Das Töten setzt sich fort bis schließlich das hundertste Opfer zu verbuchen ist. Anton, voller Blut seiner "Feinde", steht lachend vor einem Schaufenster eines Süßwarengeschäfts, als er vom Mann im Anzug abgeholt wird. "Gut gemacht! Aufgabe bestanden, mein Freund!" Kapitel 7: Kapitel 7 -------------------- Kapitel 7 Noch immer ist Anton wie in Trance; sein Blutdurst scheint noch nicht gestillt, was komisch ist, wenn man bedenkt, wie zurückhaltend der junge Verstorbene vor dem soeben angerichteten Blutbad war. "Ich hoffe, du konntest durch dein direktes Handeln deine Hemmungen gegenüber denen, die du nicht verstehst, wenigstens zu großen Teilen beseitigen, denn genau das war meine Intention, als ich mir dieses Programm für dich ausgedacht habe", eröffnet der Mann im Anzug das Gespräch, nachdem er Anton wieder zurück auf die höhergelegene Wiese gebracht hat. "Ich glaub's nicht. Das war ganz leicht. So wie Butter aufs Brot schmieren..." "Wie Butter...? Sag, mein Freund, wie fühlst du dich?" "Wie ich mich fühle? Ich habe gerade 100 Menschen getötet. Eigentlich kann ich so was doch gar nicht. Das passt alles nicht zu mir." "Gib's zu! Du fühlst dich befreit." "Kommt darauf an, wie Sie das meinen. 100 Menschen, brutal ermordet..." "Vergiss die Leichen! Darum geht's doch gar nicht! Das Programm sollte dir dabei helfen, dein Selbstbewusstsein zu stärken, was ja auch gelungen ist. Früher hättest du jeglichen Disput, jede Form der Auseinandersetzung mit deinen Mitmenschen gemieden, wenn du dabei irgendwelche Nachteile für dich von vornherein gesehen hättest. Aber vorhin warst du befreit von deinen Ängsten und bist nicht nur auf die verschiedenen Personen zugegangen, du hast sie sogar auf gemeinste Art zerstückelt. Glaub mir, das ist ein ganz großer Schritt nach vorn." "Was? Aber verstehen Sie denn nicht? Für mich ist es immer das schlimmste aller Verbrechen gewesen, jemanden zu ermorden. Deshalb hab ich's ja auch nie getan. Das muss am Jenseits liegen, dass ich meine ethischen Grundsätze auf eine derart absurde Art verraten habe. Ich hab mich hinreißen lassen von all der Gesetzlosigkeit." "Das ist nur natürlich. Menschen sind trotz all ihrer Intelligenz, ihrer hochmodernen Heimkinoanlagen, ihrer Steuererklärungen und ihrer Kaffeefahrten in die Steyermark immer noch Tiere und Tiere töten aus Instinkt. Unterdrückt man seinen Instinkt geht man zugrunde. Wie ein Löwe, der kein Fleisch mehr essen darf." "Aber kein Löwe beißt 100 andere Löwen tot, nur weil er mal ein Problem mit ihnen hatte. Ein Löwe nimmt auch keinen Backstein und..." "Wenn der Löwe wirklich richtige Probleme mit den anderen Löwen hätte und er von all dem Papierkram, der tagtäglich zu erledigen ist, dem harten Schulalltag und existenzialistischen Pubertätsproblemen so gestresst wäre, dass er sich am liebsten mit einer Halbautomatischen auf den höchsten Kirchturm stellen würde, würde er sicherlich auch andere Löwen tot beißen." "Was denken Sie denn, wie die Menschen drauf sind? Wir wollen doch keine anderen Menschen töten. Zumindest wollen das fast alle nicht." "Aber überleg' doch mal, wie oft du schon mal jemandem dem Tod gewünscht hast. Im Laufe eines Lebens kommen da bestimmt 100 verschiedene Personen zusammen und der bloße Gedanke zählt. Deshalb hast du vorhin auch nur die getötet, die du dir schon einmal tot gewünscht hast. Es war ganz allein deine Entscheidung, wer dir auf den Straßen begegnen sollte. Und der Streit an der Ampel war auch unterbewusst von dir so gewollt." "Was?" "Jetzt tu nicht so! Du wolltest es doch auch! Du hast dir gedacht, dass man dir etwas schuldet, weil du ja tot bist. Ich habe deinen ersten Gedanken nur in die Tat umgesetzt. Du brauchst mir nicht zu danken." "Das wäre mir nie in den Sinn gekommen." Anton denkt noch mal zurück an die Zeit, als er im Jenseits ankam. Es stimmt, er fasste damals wirklich ähnliche Gedanken und als ihn der Mann im Anzug auf dem Gelände seiner Villa damals fragte, was er nun am liebsten tun würde, dachte er wirklich daran als Racheengel seinen ehemaligen Widersacher den Garaus zu machen; auf derbste Art zermalmen wollte er sie sogar. Dann noch die übernatürlichen Mächte ausnutzen, um Mädchen beim Duschen zu beobachten... Warum er sich ausgerechnet das mit dem Töten wünschte, weiß er nicht mehr; das mit dem Spannen kann er jedoch voll nachvollziehen. Über seinen eigenen Gedanken so schockiert, stellte sich Anton anschließend vor, dass er zu Lebzeiten für diese Art des Mordes wahrscheinlich in den tiefsten und dunkelsten Kerker geworfen worden wäre, bevor man ihn auf eine mindestens genauso grausame Weise hingerichtet hätte, wie er es getan hätte. Das Seltsame ist, dass alles so eingetroffen ist, wie er es sich vorstellte. Nur die Reihenfolge stimmte nicht. Erst der Gefängnisaufenthalt mit anschließendem Prozess und dann erst das Massaker. Komisch. Fehlt nur noch die Hinrichtung, würde Anton fast denken, wenn er nicht genau wüsste, dass der adrette Mann ihm gegenüber scheinbar all seine Gedanken gegen ihn zu verwenden vermag. Das Dumme ist nur, dass der bloße Gedanke daran, einen derartigen Gedanken zu fassen, schon der eigentliche Gedanke ist, was den Anzugträger wiederum zum Schmunzeln anregt. Er weiß es! "Bestehst du etwa auf deine eigene Hinrichtung, mein Freund?" "Nein! Bitte! Ich musste nur fast daran denken! Nehmen Sie bitte nicht alles so ernst, was ich denke!", stottert der erschreckte Anton aufgeregt zusammen. "Keine Angst! Dazu hätte ich sowieso keine gute Gelegenheit mehr. Ich habe beschlossen, mich wieder von dir zu verabschieden." "Wird das wieder weh tun?" "In gewisser Weise schon. Ich habe beschlossen dich wieder zurück in die irdische Welt zu schicken." Kapitel 8: Kapitel 8 -------------------- Kapitel 8 Über die saftige, grüne Wiese tanzen Schmetterlinge, grelle Sonnenstrahlen dringen hier und da durch die flockige Wolkendecke, der honigsüße Duft der buntesten Blumen liegt in der Luft, zwitschernde Vögel becircen mit einem ganz besonders schönem Kanon. Irgendwo da steht der blutverschmierte Anton - seine Kleider sind zerrissen und tragen den Geruch seiner Kotze und dem verwesenden Leichengestank seiner Opfer. In seinem blassen Gesicht zeichnet sich eine durch den Mann im Anzug hervorgerufene Verwirrung ab, da dieser dem kürzlich Verstorbenen durch seine Worte, er wolle ihn zurück ins Reich der Lebenden schicken, regelrecht paralysiert hat. "Wie meinen Sie das? Soll ich als Geist herumspuken?" "Nein. Ich meine das so, wie du es dir erträumst." "Das heißt, Sie wollen mich tatsächlich zurückschicken? Etwa weil ich den Test bestanden habe?" "Der Test war mein persönliches Geschenk an dich, um dir ein menschenwürdigeres zweites Leben zu gewährleisten." "Zweites Leben? Heißt das, ich muss noch mal von vorn anfangen? Ich weiß nicht, ob ich das wirklich will." "Nein, das würde zu lange dauern. Du fängst dort an, wo du aufgehört hast. Das heißt, etwas früher, sonst würde es ja wenig Sinn ergeben. Der Unterschied ist nur, dass du dieses Mal anders an deinen Alltag rangehen wirst, was wiederum auf die Erfüllung der von mir gestellten Aufgabe zurückzuführen ist." "Warum sind Sie so gütig zu mir? Ich dachte immer, Sie hassen mich." "Aber mein Freund. Das hat doch nichts damit zu tun. Natürlich hasse ich dich. Du dachtest doch wohl nicht etwa, ich würde dir diesen zweiten Versuch einfach so schenken? Es wird eine Gegenleistung von deiner Seite geben." "Ein Pakt? Aber was könnte ich Ihnen denn nützen?" "Wenn du wiederkommst, übernimmst du meinen Posten. Das ist alles, was ich will." "Ist das Ihr Ernst? Ich glaube nicht, dass das Ihr Ernst ist." "Oh doch, das ist es. Keine Angst, du wirst wissen, was zu tun ist, wenn es so weit ist. Der Posten des Verwalters ist eine wechselnde Stellung. Der neue Verwalter bekommt vom letzten immer einen Wunsch erfüllt. Das ist der Pakt. Ganz einfach." "War das bei Ihnen etwa auch so?" "Das ist immer so! Ich hatte im 19. Jahrhundert eine Textilfabrik, nachdem ich zurückkam. Reichtum, Macht und Weiber - das war meine Welt." "Wie sind Sie gestorben?" "Auch wenn das eine sehr unhöfliche Frage ist, ich habe mich vor einen Zug geworfen." "Warum denn das?" "Na, warum wirft man sich denn vor einen Zug, du Vollidiot? Weil das Leben scheiße war!" "Ach so." "Bist du nun bereit? Ich will nicht noch länger warten." "Warten Sie kurz! Warum wollen Sie plötzlich Ihren Posten aufgeben? Schließlich sind Sie doch so etwas wie Gott." "Frag nicht dauernd Sachen, die du irgendwann sowieso erfährst!" "Entschuldigen Sie. Aber wie wird das sein, wenn ich zurück bin? Wie soll ich mit dem Gedanken leben 100 Menschen getötet zu haben. Wird mich das nicht zerfressen?" "Lass dich überraschen!" "Ich schätze, dieses Risiko werde ich wohl eingehen müssen. Ich bin schon ganz schön aufgeregt. Wir beide sind wie Faust und Mephistopheles." "Wie wer?" "Wie Faust und Mephistopheles. Kennen Sie nicht den Faust von Goethe?" "Verpiss' dich endlich, du kleiner Klugscheißer! Wir werden uns wohl nie wieder sehen", schließt der adrette Mann das Gespräch ab, bevor ein donnernder Dimensionsstrudel die schöne Wiese krümmt und zerreißt. Im Inneren des Strudels ist die Stadt zu sehen, in der Anton seine letzten Schritte machte. Der junge Mann starrt starr in das Tor zwischen den Welten, ohne die geringste Reaktion zu zeigen. Nur die heftigen Stürme schütteln ihn hin und her, so dass der Mann im Anzug selbst Hand anlegen muss, als Anton auf seine Aufforderung den Strudel zu betreten nicht reagiert. Er packt den jungen Mann mit festen Griff und wirft ihn beherzt in die Krümmung von Zeit und Raum. Mit sofortiger Wirkung schließt sich das Tor wieder und der Verwalter tritt seinen langen Heimweg an, den er zwar mittels seiner enormen Kräfte innerhalb eines winzigen Augenblicks problemlos überbrücken könnte, doch danach war ihm nicht der Sinn. Kapitel 9: Kapitel 9 -------------------- Kapitel 9 Es ist einer der letzten Apriltage. Das Wetter ist ungemütlich, aber der April macht schließlich, was er will, wie man so schön sagt. Im städtischen Museum gab es heute eine große Premiere. Zum ersten Mal wurde die Ausstellung zum Thema "Werkzeuge des Mittelalters" der Öffentlichkeit präsentiert. Gegen 17 Uhr schließt auch Anton, ein junger Mann, der extra wegen diesem Ereignis mit dem Bus angereist ist, seine kulturelle Weiterbildung ab. Er befindet sich in seinen vorgezogenen Sommerferien, im Juni will er sein Jurastudium antreten. Eigentlich könnte er diese Zeit nutzen, um sich endlich einmal auszuruhen, doch das liegt ihm nicht, weshalb er auch jeden Tag fleißig die Aufzeichnungen auswendig lernt, die einst sein Vater bei dessen Studium gemacht hat. Direkt um die Ecke befindet sich ein Café, das glücklicherweise auch Fencheltee führt - Antons Lieblingsgetränk. Zwar schmeckt ihm der Tee nicht, doch er weiß genau, dass es kaum etwas gesünderes gibt. Auf der Speisekarte sieht der junge Mann, was noch so angeboten wird - lauter ungesunde, kalorienreiche Sachen, von denen er eigentlich gar nichts hält. Doch irgendwie bekommt er plötzlich Lust auf ein Stück Kuchen - und das, obwohl er zum Mittag erst ein Diäteis und Gartensalat hatte, den er zwar nicht aufgegessen hat, was aber nicht schlimm war, da er sich bereits gesättigt fühlte und wenn man satt ist, soll man sich nicht sinnlos weiterhin vollstopfen. Doch bevor er sich versieht, sitzt er da mit einem Cappuccino und einem leckeren Bienenstich. "Was mach ich denn hier?", fragt sich Anton, während er genüsslich seine Leckereien verschlingt. Unnötig übersättigt, aber irgendwie glücklich, begibt sich Anton auf den Weg zur Bushaltestelle, wo gegen 18 Uhr die Rückfahrt anzutreten ist. Auf halben Weg spürt er einen kräftigen Druck auf seiner Blase, was wahrscheinlich auf den Cappuccino und das feuchte Wetter zurückzuführen ist. Er muss ganz dringend aufs Klo - doch nirgendwo scheint es eine öffentliche Toilette zu geben, die seinen hohen hygienischen Ansprüchen gerecht wird. Um ihn herum sind zahlreiche Parkbäume, die sicher nur dazu angepflanzt wurde, um von jemanden bepisst zu werden, aber das ist nicht Antons Stil. Vorn an der Straße befindet sich eine Tankstelle, in der es garantiert Toiletten gibt, was aber Antons Ekel anregt, da er schon bei dem bloßen Gedanken an den widerlichen Gestank, dem er dort ausgesetzt sein würde, dem Übergeben nahe ist. "Da piss' ich doch lieber an den Baum", denkt sich Anton und uriniert unter den anklagenden Augen zweier Rentnerinnen, die sich ein paar Meter weiter vom Enten füttern entspannen wollten, direkt in die Natur. Für Anton eine ganz neue Erfahrung. Um zur Bushaltestelle zu gelangen, muss die vierspurige Straße überquert werden. Zum Glück hat sich der erleichterte Anton gemerkt, wo die Bibliothek war - so wusste er auch in etwa, wo er hin musste, wenn er seinen Bus noch rechtzeitig erwischen wollte. Ohne großartig den Verkehr zu beachten, spurtet Anton einfach hastig über die erste Hälfte der Straße. Auf dem Mittelstreifen angekommen, sieht er, dass nur noch einer dieser lästigen Motorradfahrer seiner endgültigen Überquerung im Weg ist. Ohne überhaupt erst daran zu denken, den unbekannten Verkehrsteilnehmer vorbeizulassen, rennt Anton los und schneidet dem Heranfahrenden den Weg ab. Dieser wird zur Vollbremsung gezwungen, so dass er plötzlich quer auf der Straße steht. Ein Haufen Metallschrott kommt vom Himmel geflogen und erschlägt den Motorradfahrer. Er ist sofort tot. Anton erschrickt bei dem lauten Knall hinter seinem Rücken, dreht sich um und mustert spartanisch die Situation. "Was für eine peinlich Art abzukratzen", denkt er sich mit einem verschmitzten Lächeln, bevor er sich wieder abwendet und mit Spurtschritt die Bushaltestelle anvisiert. Kapitel 10: Kapitel 10 ---------------------- Kapitel 10 Eine hübsche Wohngegend am Stadtrand, vom letzten Sonnenlicht in ein orangefarbenes Licht gehüllt. Eingebettet in ein Ensemble aus altmodischen, aber schicken Familienhäusern und prächtigen Bäumen, die noch nass vom eben verebbten Regenschauer sind, befindet sich das Anwesen der Familie Antons, welches durch seinen modernen Charme die Nachbarschaft in den Schatten zu stellen scheint. Im Erdgeschoss brennt Licht. Abendessen. Es sind anwesend: Anton, sein Vater und seine Mutter - die komplette Familie. Die Drei sitzen an einem Tisch aus feinstem Holz, den man sicher in keinem großen skandinavischen Möbelhaus finden würde und der eigentlich groß genug für ein gutes Dutzend Leute wäre. Man hält gekonnt die räumliche Distanz untereinander aufrecht, als wäre man bei einem Geschäftsessen mit seinem unvertrauten Chef. Antons Vater, ein Professor für Mathematik, Physik und Geologie, eröffnet das Gespräch: "Schatz, würdest du mir bitte die Sauciere reichen?" "Ja." Anton sitzt mit gesenktem Haupt über seinem Teller. In Gedanken versunken, macht er keine allzu gute Figur beim Insichreinschaufeln des zarten Filetfleisches. "Anton! Benimm dich doch!", äußert sich seine Mutter mit leicht strengem, aber dennoch harmlosen Blick. "Du bist wohl noch bei der Ausstellung, mein Sohn? Schon faszinierend, was man damals im Mittelalter als Werkzeug benutzte, nicht wahr?", bemerkt der Vater mit nüchterner Stimme, die Anton das Gefühl gibt, dass sein alter Herr nicht nachfragt, weil es ihn interessiert, sondern, weil er es als Vater für seine Aufgabe hält wenigstens Interesse zu heucheln. "Nein, Vater. Die Ausstellung war der derbste Scheißdreck, den ich mir je rein gezwungen habe. Ich meine, wen interessiert's, mit welchen Zangen die damals Pferde beschlagen haben." Anton findet, dass seine Antwort eben recht auflockernd war und erhofft sich nun ein Brechen des Eises am Esstisch, um so die Option zu schaffen ein richtiges Gespräch führen zu können, das richtige Familien halten würden. Doch sein Vater sieht ihn nur streng an und fragt: "Mein Gott. Wo hast du denn diese lächerliche Gossensprache aufgeschnappt? Ich verbitte mir diese vulgäre Ausdrucksweise in meinem Haus. Wir sind keine Barbaren. Und übrigens bedaure ich sehr, dass du den Wert der Ausstellung nicht zu schätzen weißt. Mir persönlich hat sie damals sehr viele aufregende Informationen geboten, als ich sie zum ersten Mal besuchen durfte. Aber wahrscheinlich bist du für so etwas noch nicht reif genug, mein Sohn." "Ja, Vater." Eisiges Schweigen. Antons Gabel berührt seinen Teller und löst einen grellen Ton aus, der so lange anhält, bis Anton den Teller leicht mit dem linken Zeigefinger antippt. Das Geräusch lies die beiden Eltern für einen kurzen Augenblick aufblicken, um die Lage zu überblicken - eins der Highlights des heutigen Abendessens. Der Herr des Hauses hat soeben sein Besteck beiseite gelegt, er wischt sich den Mund mit einer geschmackvoll verzierten Serviette ab und richtet sein Haupt auf seinen noch kauenden Sohn. "Ich habe heute an der Uni mit einem deiner künftigen Professoren gesprochen. Er schien sehr gespannt auf dich gewesen zu sein - besonders, als ich ihm von deinen hervorragenden Noten bei den Abschlussprüfungen erzählt habe. Du hast wirklich Glück gehabt, denn einen besseren Juraprofessor findet man nirgendwo, mein Sohn. Übrigens habe ich ihn für nächsten Sonntag zum Essen eingeladen, damit ihr beide euch schon mal kennenlernen könnt. Schließlich werdet ihr bald länger miteinander zu tun haben." "Nimm's mir nicht allzu übel, Paps, aber ich lass' die ganze Geschichte mit dem Studieren sausen. Vorhin hab ich im Internet etwas über lukrative Berufsaussichten für Begabte gelesen, die kein Studium voraussetzen. So könnte ich gleich mit dem Geld verdienen anfangen, ohne vorher noch mal den ganzen Mist mit der Schule durchziehen zu müssen." "Über so etwas macht man keine Witze, Anton." Der Blick des Vaters wendet sich langsam wieder ab. Ein angestrengter Blick ruft tiefe Falten auf der Stirn hervor. "Du denkst wohl, ich hätte so was nicht drauf?" "Mach dich doch nicht lächerlich. Du musst studieren, damit aus dir was vernünftiges wird!" "Der Zug ist abgefahren. Ich bin ein Freak, Paps." "Was soll denn das schon wieder? Am besten, du gehst erst einmal auf dein Zimmer und wir reden später weiter, wenn du wieder einen kühlen Kopf gefasst hast. Möchte bloß wissen, wie du so plötzlich auf diesen Unsinn kommst." "Tu nicht immer so, als wär ich der letzte Vollidiot! Ich krieg das schon allein hin. Lad du ruhig deinen geliebten Jurafritzen ein und spiel mit ihm 'ne Runde Karten, oder was. Ich mach den Scheiß hier nicht mehr mit. Es muss ja nicht sein, dass ich auch so'n langweiliger Spießer werde wie du!" Mit entsetztem Blick starrt der Vater in die klaren, selbstbewussten Augen seines sonst so ruhigen Sohnes. Überrascht von dessen Ausbruch bringt er nur zaghaft einen Satz über die kalten Lippen: "Junge. Nimmst du etwa irgendwelche Drogen?" "Ja, Papi. Alle!" Anton lässt alles stehn und liegen und spurtet geradewegs in sein Zimmer, ohne sich selbst bewusst zu sein, was er gerade gesagt und getan hatte. Die Fesseln wurden gesprengt. "Kann ich denn schon abräumen, Schatz?", fragt die Mutter mit leiser Stimme. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)