Und wieder ein Tag von abgemeldet (Fortsetzung zu "And you... I wish I didn't feel for you anymore...") ================================================================================ Kapitel 5: Der Zeiger läuft und kommt nie an -------------------------------------------- Kapitel 5 Der Zeiger läuft und kommt nie an Als die ersten warmen Sonnenstrahlen auf sein Gesicht fielen und sein Bewußtsein aus den Tiefen des Schlafes an die Oberfläche kitzeln wollten, zog Severus unwillig die Stirn kraus und zog seine Decke über seine Schultern bis über sein Gesicht und drehte sich auf die Seite, um den Sonnenstrahlen zu entkommen. Gleich würden sie wieder aus dem Kerker verschwunden sein. Es war jeden Tag so. Nur für wenige Minuten drangen sie in seinen Frieden, in seine Dunkelheit ein, um ihn daran zu erinnern, daß alles wieder von vorne los ging, daß wieder ein neuer Tag begonnen hatte, aber man konnte sie auch austricksen. Man konnte sie einfach ignorieren, die Decke über das Gesicht ziehen, sie aussperren. Und wenig später waren sie verschwunden und man mußte sich nur wieder fallen lassen, dem Schlaf ergeben, dann war der neue Tag vertrieben und er mußte nicht aufstehen und sich der Sinnlosigkeit seines Daseins... Zur Hölle! Für ihn würde das nie funktionieren! Mal wieder unheimlich schlecht gelaunt, schlug der Lehrer für Zaubertränke die Decke zurück und richtete sich in seinem Bett auf. Müde fuhr er sich durch die Haare, bevor er stutzte. Er war noch vollständig angezogen? "Guten Morgen." Langsam, als glaubte er, aus diesem Traum zu erwachen, wenn er sich zu hastig bewegte, drehte Severus seinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Doch er hatte es sich nicht nur eingebildet, hatte nicht nur geträumt. Harry war wirklich hier bei ihm. "Guten Morgen", antwortete er ein wenig zögernd, sorgsam darauf bedacht, jegliche Emotion aus seiner Stimme zu verbannen. "Was tust du da?" Mit einer bestimmten Geste schlug er die Decke ganz zurück und schwang seine Beine über die Kante des Bettes. Er fühlte sich noch immer so müde und erschlagen, als hätte er in den vergangenen Stunden nicht geschlafen wie ein Toter. "Ich wollte Sie nicht stören", antwortete Harry mit einem leichten Lächeln und zog die schwere, dunkelgrüne Tagesdecke von Severus' Bett ein wenig fester um seine Schultern. Severus warf dem Jungen, der sich vor dem heruntergebrannten Feuer im Kamin unter dem schweren Überwurf zusammen gekauert hatte, einen skeptischen Blick zu. Doch Harry erwiderte diesen Blick ohne Schwierigkeiten, das Lächeln noch immer auf seinem bleichen Gesicht, das noch immer ein wenig grau wirkte. "Komm schon, der Boden ist zu kalt. Leg dich wieder hin", sagte Severus schließlich fast schon sanft und machte einen Schritt auf Harry zu, der seine Aufmerksamkeit wieder der Glut im Kamin zuwandte, den Kopf auf seinen angezogenen Knien abgelegt. "Es wird mich nicht umbringen, eine Weile hier zu sitzen." Severus hielt in seiner Bewegung inne und blickte Harry noch einen Moment lang unschlüssig an, bevor er schließlich seinen Zauberstab zog. Mit einer raschen Bewegung des Stabes loderte das Feuer im Kamin wieder hell auf und sofort schlug Severus die Wärme der leuchtenden Flammen entgegen. "Ich... ich hab mir ein Stück Pergament und eine Feder von Ihrem Schreibtisch genommen. Ich hoffe, das geht in Ordnung." "Es ist ja nicht das erste Mal." Obwohl Severus' Stimme wie immer beherrscht und emotionsfrei war, biß Harry sich bei diesen Worten auf die Lippen und schloß für einen Moment die Augen. Ja, nicht das erste Mal... "Ich hatte nicht vor zu verschwinden, Professor", beantwortete er den unausgesprochenen, aber doch irgendwie präsenten Vorwurf. Er fühlte den kalten Blick des Mannes in seinem Rücken und nicht zum ersten Mal, seit er ihm wieder begegnet war, fragte er sich, ob er dem Mann wirklich so viel bedeutete oder ob Severus das alles doch nur für ihn tat, weil er noch immer in der Schuld seines Vaters stand. "Du hättest dieses Mal nicht verschwinden können", entgegnete Severus gefühlloser und kälter als er eigentlich vorgehabt hatte, aber noch immer konnte er sich nicht helfen, sobald man ihn an diesen Moment vor vier Jahren erinnerte, zog sich sein Herz unangenehm zusammen und sofort war die Angst da, daß es noch einmal passieren würde, wenn er nicht besser auf den Jungen aufpaßte. "Der Zettel liegt auf dem Tisch", murmelte Harry kaum hörbar. Er hatte das Gefühl, daß die plötzliche Spannung im Raum ihn im nächsten Moment erdrücken würde, ohne daß er auch nur das geringste tun konnte, um sie zu lockern. Langsam ging Severus zu seinem Schreibtisch hinüber, der viel kleiner und aufgeräumter war, als der Schreibtisch in seinem Büro. Der beschriebene Bogen Pergament lag mitten auf dem Tisch, die Schrift, obwohl ein wenig verzittert und hastiger als vier Jahre zuvor, war eindeutig Harrys. Severus hätte sie noch nach viel längerer Zeit unter tausenden wiedererkannt. "Es ist die Adresse meiner Wohnung in London." Severus wandte sich zu Harry um und blickte zum ersten Mal seit Jahren wieder in die klaren, grünen Augen, die er immer mit Harry in Verbindung gebracht hatte, als er noch Schüler in Hogwarts gewesen war. Ungetrübt, kein Schleier über ihnen. Wie hatte er sie vermißt. Und dabei hatte er bis zu jener Nacht vor vier Jahren noch nicht einmal gewußt, daß er sie überhaupt bemerkt hatte. Es war so verrückt und gleichzeitig doch so gar nicht überraschend, wenn man darüber nachdachte. "Meine Sachen sind alle dort. Auch mein Zauberstab." Severus nickte, faltete den Bogen Pergament zusammen und steckte ihn in die Tasche seines Umhanges, der über dem Schreibtischstuhl hing. "Danke, Harry. Ich werde deine Sachen nachher herholen." Harry nickte, wandte seinen Blick aber nicht von Severus ab, wie dieser erwartet hatte. Eine ganze Weile blickte sein ehemaliger Schüler ihn nachdenklich an, bevor er schließlich tief Luft holte und die Augen schloß. "Ich muß Ihnen danken, Professor." Severus war froh, daß Harry den überraschten Ausdruck auf seinem Gesicht nicht sehen konnte und beeilte sich, seine eisige Maske so schnell wie möglich wieder darüber zu stülpen. "Wofür Harry?" fragte er fast schon mühsam zurück. Sein Mund war mit einem Mal furchtbar trocken und er hatte das Gefühl, daß seine Stimme ihm den Dienst versagen wollte. Harry hob leicht die Schultern und fixierte seinen Blick auf den dicken Teppich, auf dem er saß. Fast schon gedankenverloren zupfte er an den dunkelgrünen Fäden des zweifellos sündhaft teuren Stücks. "Mein Leben, schätze ich. Vielleicht auch nur dafür, daß Sie mein Vertrauen nicht enttäuscht haben. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich dankbar bin." Der Kloß in Severus' Hals wurde immer größer und er wußte nicht, wie er ihn herunterschlucken sollte. Harrys Worte berührten ihn schon wieder auf diese merkwürdige, warme Weise. Sie kitzelten etwas in ihm hervor, das schon so lange verschüttet war, daß es Severus selbst so absolut fremd vorkam. Wie lange war es schon her? - Warum fragte er sich das eigentlich? Er wußte es noch ziemlich genau. Für Lucius hatte er das letzte Mal das Bedürfnis empfunden, seine weiche Seite zu zeigen, zärtlich zu sein. Aber Lucius hatte es ja vorgezogen, seine Verwundbarkeit mit einem Dolch zu belohnen und die Klinge bei jeder sich bietenden Gelegenheit noch einmal umzudrehen. Fast unmerklich schüttelte Severus den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben. Es machte keinen Sinn, nach all den Jahren immer noch darüber zu brüten. Und Harry war nicht Lucius, auch wenn er ähnliche Gefühle hervorrief, er würde nicht genauso handeln wie der blonde Slytherin. Harry vertraute ihm. Das hatte Lucius nie getan. "Du scheinst langsam zu begreifen, wie viel du wert bist, Harry", entgegnete Severus sanft und setzte sich neben den schmächtigen Jungen auf den großen, grünen Teppich. "Zumindest daß ich anderen etwas wert bin. Ich bin mir da bei mir selbst noch nicht so sicher." Severus nickte und streckte dabei seine Beine auf dem Teppich aus. Harry suchte im Gesicht des Zaubertrankmeisters nach einem Zeichen, daß er den Mann wieder wütend gemacht hatte, aber das blasse Gesicht des Älteren wirkte fast schon ausdruckslos und leer. Mit einem beinahe abwesenden Blick starrte er in die hellen Flammen, die auf seinem Gesicht warme, goldgelbe Lichtspiele tanzen ließen. Ein winziges Lächeln zuckte über Harrys Lippen, bevor er sich bewußt wurde, daß er Severus anstarrte und dieser es nicht zu bemerken schien - oder es ihn nicht störte. Mit leicht geröteten Wangen wandte er den Blick wieder von dem anderen Mann ab und starrte auf seine Hände, die in seinem Schoß lagen und die Zipfel der Tagesdecke festhielten, damit sie nicht von seinen Schultern rutschen konnte. "Es ist ein Anfang, immerhin." Überrascht blickte Harry auf und erschrak, als er das winzige, kaum erkennbare Lächeln auf dem Gesicht des Älteren sah. Konnte es wirklich sein? War Severus zum ersten Mal seit Tagen wirklich mit etwas zufrieden, was er getan oder gesagt hatte? Harry fühlte, wie sich augenblicklich ein sehr warmes Gefühl in seinem Inneren ausbreitete und sein Herz ein wenig schneller schlug, aber keinesfalls auf eine unangenehme Art und Weise. Ein Lächeln erhellte sein ausgemergeltes Gesicht. "Denkst du, daß ich dich für ein paar Stunden allein lassen kann, Harry?" fragte Severus, obwohl er wußte, daß er damit vermutlich diesen unvergleichlichen Moment zerstören würde. - Doch er hoffte, daß es nicht das letzte Mal gewesen sein würde, daß er dieses Lächeln sehen durfte. Fast so wie früher, wenn man sich das Gesicht des Jungen wieder ein wenig voller und gesünder vorstellte. Genau so hatte er seine Freunde angelächelt, wenn sie wieder irgendeine Dummheit ausgeheckt hatten oder Ronald Weasley seinem besten Freund von seiner Familie erzählte. Genau so hatte Harry in seinen Erinnerungen immer gelächelt, wenn er nachts aufgewacht war, weil er mal wieder von dem Jungen mit den grünen Augen geträumt hatte - meistens davon, wie er gegen das Unmögliche kämpfte und es irgendwie schaffte, dabei auch noch zu siegen. Es schien beinahe irreal, daß dieses Lächeln nun wirklich wieder da war und diesmal an ihn gerichtet war - oder daß er es wegen einer Belanglosigkeit einfach so fortschob. Denn als die Züge des Jungen augenblicklich wieder ernster wurden, wußte er, daß er genau das getan hatte. "Ich werde mir schon nichts antun. Sie werden schon dafür gesorgt haben, daß das nicht möglich ist", antwortete Harry schließlich nach einer kleinen Weile des Schweigens und zog die Tagesdecke noch ein wenig enger um seine Schultern. Eine abwehrende Geste, die ihn vor etwas beschützen sollte. Aber vor was? Seinem Mißtrauen? Severus seufzte lautlos, umfaßte Harrys Kinn mit seinen schmalen Fingern und drehte das Gesicht des Jungen seinem zu, damit er ihm in die Augen sehen konnte. "Nein, das habe ich nicht, Harry. Ich weiß, daß du dir nichts antun wirst, aber ich weiß nicht, wie gut oder schlecht es dir wirklich geht. Wenn du also glaubst, daß du meine Hilfe noch brauchst, dann sag es mir. Die ignoranten Gören können auch noch einen weiteren Tag von einem anderen Lehrer unterrichtet werden." Wieder glitt ein Lächeln über Harrys Züge, doch diesmal war es freudlos, beinahe kalt. "Und woher wollen Sie das wissen? Warum sollte ich plötzlich meine Meinung geändert haben? Nur weil ich glaube, langsam zu verstehen, daß es Menschen gibt, die mich mögen? Das ist ein bißchen wenig oder nicht? Ich habe in den letzten Jahren nicht gerade bewiesen, daß mir die Meinung anderer viel bedeutet. Ich war egoistisch und das weiß ich auch, Severus. Also sag mir, wie kommst du auf den Gedanken, daß das alles jetzt nicht mehr so ist?" Severus unterdrückte das Grinsen, das sich den Weg auf sein Gesicht bahnen wollte. Harry gab noch immer so viel von sich durch winzige Zeichen preis. Der Junge, den er so lange vermißt hatte, war noch immer da und manchmal, so wie jetzt, brach er hervor und kam noch einmal für einen kurzen Moment an die Oberfläche. - Immer dann wenn die Fassung des Jungen bröckelte, aber noch nicht wirklich zusammenbrach. Immer dann, wenn er von einem Moment zum anderen "Severus" war und nicht länger "Professor Snape". Was hätte er nur dafür gegeben, wenn er immer Severus bleiben konnte, doch das mußte Harry entscheiden. "Weil ich daran glaube, daß du stärker bist als dieser Egoismus. Weil ich weiß, daß Harry Potter kein Egoist ist, sondern ein junger Mann, der geliebt werden will. Egoisten werden nicht geliebt, Harry." Harry schloß für einen Moment die Augen und schluckte mühsam, als Severus diese Worte sprach. Wie schaffte er es nur immer wieder, daß diese verdammte Stimme innerhalb von Sekunden so warm und süß sein konnte, während sie einem im nächsten Moment das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte? "Glaubst du, ich kann dich für ein paar Stunden hier alleine lassen?" wiederholte Severus seine Frage noch einmal. Harry öffnete langsam wieder die Augen und nickte schließlich, fast wie hypnotisiert. "Gut. Du kannst mich jederzeit rufen. Auf dem Kamin steht etwas Flohpulver. Wenn du es benutzt, wirst du direkt mit dem Kamin in meinem Arbeitszimmer verbunden." Harry nickte wieder nur. "Die Hauselfen werden dir alles bringen, was du brauchst. Du weißt ja sicher noch, wie man sie ruft. - Deine Sachen werde ich heute noch abholen." Mit diesen Worten stand Severus auf und ging zu einem massiven Kleiderschrank am anderen Ende des Raumes. Einen Moment lang hatte Harry den Impuls gespürt, die Hand des Zaubertranklehrers festzuhalten, als er sein Kinn schließlich losgelassen hatte. Doch er hatte dem Drang widerstanden und nun war auch dieses Erlebnis nichts weiter als ein vergangener Moment. Er folgte dem älteren Zauberer mit seinem Blick und beobachtete, wie Severus eine seiner schmucklosen, schwarzen Roben aus dem ebenfalls fast schwarzen Schrank zog. Und als er sie über seine Schultern warf, die Arme durch die Ärmel gleiten ließ und schließlich die Schnalle an seiner Brust zuschnappen ließ, war Severus hinter der ehrfurchteinflößenden Aura von Professor Snape verschwunden, gerade so, als wäre eine Tür verschlossen worden, hinter der sich der andere Mann für den Rest des Tages vor der Welt verbarg. Eine beeindruckende Verwandlung. "Du kannst dir gerne ein paar meiner Bücher nehmen, wenn dir langweilig ist." Harry nickte und wandte den Blick von Severus ab. "Ich bin bald wieder da." "Keine Tabus, Professor? Das klingt aber so gar nicht nach Ihnen." Ein leichtes Lächeln umspielte Severus Lippen, als er sich kurz vor der Tür noch einmal umdrehte und einen letzten Blick auf das Häufchen Elend auf dem Teppich vor seinem Kamin warf, das so langsam aber sicher sein Elend besiegte. "Keine Tabus, Harry." ~*~ "Guten Morgen, Severus." "Professor Dumbledore", grüßte Severus den Direktor mit einem knappen Nicken, ohne ihm jedoch in die himmelblauen Augen zu blicken, die sich in diesem Moment ein wenig verengten. Professor Dumbledore also? Das war sogar für Severus relativ kühl ihm gegenüber. Sofort gingen bei ihm einige Alarmglocken los. "Gibt es etwas, was ich vielleicht wissen sollte, Severus?" fragte Dumbledore, die Sorge in seiner Stimme nur allzu offensichtlich. "Inwiefern?" Dumbledore preßte kurz, aber heftig Unter- und Oberkiefer aufeinander und schloß für einen winzigen Moment die Augen. Nicht zum ersten Mal hätte er so einiges darum gegeben, wenn dieser undurchdringliche Mann ein nicht ganz so hervorragender Okklumentiker gewesen wäre. Aber die Gedanken des jüngeren Zauberers waren selbst für Dumbledore genauso undurchdringlich wie seine eisige Miene und die stur nach vorne gerichteten, schwarzen Augen. "Du wirkst irgendwie besorgt und ich dachte, es hätte vielleicht etwas mit deinem Gast zu tun." Severus hielt abrupt inne und wandte Dumbledore zum ersten Mal für diesen Morgen sein Gesicht zu. "Ich dachte, daß wir bereits gestern geklärt hätten, daß Mister Potter keinerlei Einmischung von irgend jemanden in diesem Schloß wünscht", zischte Severus gepreßt und blickte sich unauffällig um, ob auch niemand mitbekommen hatte wie er diesen Namen genannt hatte. "Verzeih einem alten Mann, Severus. Ich hatte gehofft, daß du mir trotzdem die Güte erweisen würdest, mich über seine Fort- oder gegebenenfalls auch Rückschritte auf dem Laufenden zu halten!" gab Dumbledore in einem sehr ähnlichen Tonfall zurück. Überrascht hob Severus die rechte Augenbraue. Anscheinend hatte er es geschafft, daß Dumbledore seine widerliche Ruhe zumindest für einen kurzen Moment verlor. Er wußte schon gar nicht mehr, wie lange er eigentlich schon genau das zu erreichen versuchte. Mußte also erst Harry Potter daher kommen, um das Unmögliche möglich zu machen. Nun ja, das war ja nichts Neues mehr, wenn man näher darüber nachdachte. Das Blitzen in Dumbledores Augen hatte etwas angriffslustiges angenommen. "Es geht ihm gut", lenkte Severus darum für seine Verhältnisse ungewöhnlich versöhnlich ein. Er hatte seinen Moment gehabt und es war vielleicht nicht die beste Taktik, Dumbledore zu reizen. Wer wußte, auf was man sich dann noch gefaßt machen mußte? "Ich werde heute nach dem Unterricht einen kurzen Ausflug nach London machen, um seine Habseligkeiten einzusammeln. Es wird nicht lange dauern." Tatsächlich schien Dumbledore seine Ruhe sofort wieder zu finden und sie setzten ihren Weg zur Großen Halle fort. "Und wer ist so lange bei ihm?" Severus unterdrückte den Impuls, schon wieder stehen zu bleiben. Dumbledores Fragen, so harmlos sie schienen, hatten einen Unterton, der ihm irgendwie zuflüsterte, daß der alte Zauberer seine Position in dieser Sache noch immer nicht erkannt hatte, ihn aushorchte und - und das war wohl das schlimmste überhaupt - ihm offensichtlich nicht zutraute, Harry zu betreuen. Sicher, auch Severus wußte, daß er nicht gerade in dem Ruf stand, ein bevorzugter Ansprechpartner der Schüler zu sein, wenn sie Probleme hatten, aber hieß das, daß er nicht fähig war, eine solche Aufgabe zu erfüllen? Für Dumbledore wohl schon. "Er hat alles, was er braucht und wenn ihm doch etwas fehlt, wird er eine der Hauselfen rufen, Albus." Dumbledore nickte, doch ein kurzer Blick auf sein Gesicht genügte, um Severus zu sagen, daß er nicht zufrieden mit dem war, was er erfahren hatte. Er würde sich den Tag, an dem Dumbledore sich einmal nicht einmischte, rot im Kalender anstreichen und jedes Jahr wie einen Feiertag begehen, so viel stand fest. Die Stimme in seinem Inneren, die für Dumbledore Partei ergriff und ihm zuflüsterte, daß er sich doch nur einmischte, weil er sich Sorgen machte und auch ein schlechtes Gewissen hatte, wischte er fort. "Denkst du, daß es gut ist, ihn so lange allein zu lassen?" Darauf hatte Severus gewartet. "Ja, ich denke, daß es gut ist, ihm zu zeigen, daß man ihm vertraut, nachdem er schon bemerkenswerte Fortschritte gemacht hat", knurrte Severus ein wenig unwirsch zurück. "Ich werde seinen Wunsch respektieren und ihm keinen anderen Aufpasser zur Seite stellen, so lange er nicht möchte, daß jemand erfährt, daß er hier ist." "Ich halte es nun einmal für riskant, Severus", versuchte Dumbledore es noch einmal, erreichte aber nicht viel mehr, als Severus noch ein wenig sturer zu stimmen. "Und ich halte die Diskussion für beendet, Direktor." Dumbledore preßte die Lippen zusammen, zeigte sonst aber keine weiteren Zeichen dafür, daß Severus ihm ganz offensichtlich auf den Schlips getreten war. Doch Severus wußte, daß er es getan hatte und das Gefühl, das sich nun in ihm breit machte, fühlte sich irgendwie grandios an. Warm und stark. Sicher, es war kein großartiger Sieg, den er da gerade errungen hatte, aber je öfter er in diesen Tagen Dumbledore gegenüber auf seiner Position bestand und nicht davon abrückte, was der alte Mann auch vorbrachte, um so stärker wurde das Gefühl und es machte ihn stolz. Was er all die Jahre schon immer gewollt hatte - endlich nicht mehr immer zu tun, was Dumbledore sagte oder auch nicht sagte, aber offensichtlich wollte - hatte Harry nun endlich für ihn möglich gemacht. Zum ersten Mal sah Severus in dem zerbrechlichen Schüler mehr als nur eine Flamme, an der er sich verbrennen würde. Früher oder später würde er sich zweifellos verbrennen, aber er würde auch etwas mitnehmen, was nur Harry ihm geben konnte. Etwas was er schon vor sehr langer Zeit irgendwann einmal verloren haben mußte. "Du mußt ihm begreiflich machen, daß er sich nicht ewig verstecken kann." Severus schloß für einige Sekunden die Augen, damit Dumbledore nicht sah, wie er sie genervt verdrehte. "Ich weiß. Aber es führt sicher nicht zum gewünschten Erfolg, wenn wir ihn jetzt erbarmungslos zu etwas drängen, was er nicht will. Das bewirkt im Endeffekt nur, daß er wieder wegläuft, sobald sich ihm die Gelegenheit bietet. Ich möchte ihm nur Zeit geben, Albus." Dumbledore lächelte und legte Severus die Hand auf die Schulter, als sie den Lehrereingang zur Großen Halle erreichten. Hier liefen keine Schüler herum und es gab für Severus keinen Grund, die Geste des Direktors abzuwehren - hoffte Dumbledore zumindest. "Ich bin sehr froh, daß der Junge sich entschlossen hat, bei dir zu bleiben, Severus." Severus verbiß sich den Kommentar, daß er Harry wohl kaum eine Wahl gelassen hatte und nickte nur knapp, die Augen ausweichend auf den Boden gerichtet. "Und ich weiß, daß er bei dir gut aufgehoben ist. Ich kann nur nicht so einfach aus meiner Haut, es juckt mich in den Fingern, wenn es um Harry geht. Ich habe immer gedacht, daß dieser Junge meinen Schutz braucht, ich glaube immer noch daran. Es ist ein - merkwürdiges Gefühl, jetzt zu bemerken, daß er nicht meinen, sondern deinen Schutz sucht." Severus schluckte und hoffte, daß Dumbledore diese Geste der Beklemmung, die er bei diesen Worten empfand, nicht bemerkte. Eine vollkommen törichte Hoffnung, aber manche Sachen konnte man sich sein ganzes Leben nicht abgewöhnen. Ständig darauf zu hoffen, daß Dumbledore etwas nicht mitbekam, gehörte dazu. "Ich könnte deine Hilfe bei einer Sache gebrauchen, Albus." Dumbledores Augen leuchteten auf und Severus fragte sich, was nun wieder über ihn gekommen war, daß er sich jetzt auch noch Gedanken um die Gefühlswelt dieses Zauberers machte, der das ja nun so gar nicht nötig hatte. Er war wirklich kurz davor, weich zu werden. Er konnte nur hoffen, daß irgendeine böse Kraft in ihm ihn davor bewahrte. Er lächelte ein knappes, freudloses Lächeln bei dem Gedanken. "Worum geht es?" fragte Dumbledore und aus seiner Stimme konnte man deutlich heraushören, wie begeistert er war, gebraucht zu werden. "Meine Räume müssen an meinen Dauergast angepaßt werden. Würdest du dich darum kümmern?" Das Lächeln auf Dumbledores Gesicht wurde noch ein wenig breiter. "Natürlich. Wenn du heute abend aus London zurück kommst, ist das neue Zimmer fertig." Severus zwang sich zu einem Lächeln und beglückwünschte sich zu dieser guten Tat und der damit verbundenen grenzenlosen Dummheit. Nur der Himmel wußte, was ihn an diesem Abend erwarten würde, wenn Dumbledore sich an seinen Quartieren ausgelebt hatte. - So harmlos die Bitte nach einem zusätzlichen Zimmer auch war, wenn man Dumbledore darauf ansetzte, konnte es für gewisse Zaubertrankmeister in einer Katastrophe enden. ~*~ Severus stieß einen merkwürdig heißer krächzend klingenden Ton aus und streckte den rechten Arm in die Höhe, auf dem wenige Augenblicke später eine große Schneeule landete und ihn mit ihren großen Augen neugierig anblinzelte. Severus lächelte und streichelte dem Tier mit der linken Hand über das seidige Gefieder. "Ich habe einen Auftrag für dich, Hedwig", sagte er in einem Ton, von dem er wußte, daß er Steine zum Schmelzen bringen konnte. Doch die Eule schaute ihn an, daß man den Eindruck bekommen konnte, sie wolle ihm einen Vorwurf wegen dieser Worte machen. Und Severus wußte nur zu gut, was sie mit ihrem beinahe schon entnervt wirkenden Blick sagen wollte. Ich fliege nicht, egal wohin du mich schickst. Hedwig hatte seit vier Jahren keinen Brief mehr ausgeliefert, die Eulerei nur verlassen, um auf die Jagd zu gehen und gegen Morgengrauen zurück zu kehren. Anders als Harry war sie Hogwarts all die Jahre treu geblieben. Hogwarts und Harry, da war Severus sich inzwischen sicher. Eulen, die ihren Herren verloren, der vielleicht sogar ihre einzige Bezugsperson war, das hatte es in Zeiten des Krieges vermehrt gegeben und sehr häufig zeigten diese Tiere für lange Zeit deutliche Zeichen von Trauer. Hedwig jedoch hatte sie alle noch übertroffen. Keines dieser Tiere weigerte sich so beharrlich, auch weiterhin seiner Bestimmung nachzugehen, wie die schneeweiße Eule. Severus war sich absolut sicher, daß sie es tat, weil das der letzte Befehl Harrys gewesen war, den er an sie gerichtet hatte. "Guck mich nicht so an, du sturer Vogel, und hör dir alles an, was ich dir zu sagen habe." Wieder blinzelte Hedwig und diesmal lag ein beleidigter Ausdruck in den Augen des Tieres. "Diesen Brief hier solltest du in meine Räume bringen. Ich weiß, daß du dir jetzt denkst, daß ich mit meinem Brief verschwinden soll, aber diesmal solltest du es tun." Er streichelte ihr erneut über die samtigen Federn. "Harry wartet dort auf dich. Dieser Brief ist für ihn." Bei diesen Worten spreizte Hedwig die Flügel, vollführte einige kurze Schläge und krächzte aufgebracht. Severus lächelte. "Wenn du mir nicht glaubst, dann überzeuge dich selbst davon." Und damit band er Hedwig den kleinen Brief an das Bein, das sie ihm nun endlich entgegen streckte. Kaum war der Brief sicher befestigt, schlug Hedwig kräftig mit den Flügeln und hob ab. Severus sah ihr nach, das Lächeln noch immer auf seinen Lippen. Zu gerne wäre er dabei gewesen, wenn Harry und seine sture Eule sich wiedersahen. Vermutlich wußte der Junge noch nicht einmal, ob das Tier noch am Leben war und er hatte es im Gefühl, daß Hedwig ein Teil seiner Vergangenheit war, den er nicht mit solch großer Verachtung von sich schieben würde wie alles andere. Aber er wollte den beiden einen Moment allein zusammen geben - ganz davon abgesehen, daß er jetzt wohl oder übel auch wieder seinen Schülern gegenüber treten mußte. Severus konnte sich nicht helfen, er beschäftigte sich wesentlich lieber mit einem hochgradig depressiven und mental labilen Harry. Mit einem Seufzen verließ er die Eulerei. ~*~ Harry saß noch immer auf dem Boden vor dem Kamin, in dem das Feuer nun hell und warm brannte. Die Wärme erreichte ihn noch immer nicht wirklich und auch die dicke Tagesdecke bot keine Hilfe gegen die Kälte, die sich so fest in seine Knochen gesetzt hatte, aber dennoch fühlte Harry sich in diesem Moment fast gar nicht mehr verloren. Und das, obwohl eigentlich gar nichts gut war. Ihm war noch immer so übel, daß er sich fragte, ob Severus ihm wieder etwas verabreicht hatte, denn er war sich sicher, daß er eigentlich über die Kloschüssel gehört hätte mit diesem Gefühl im Bauch. Und das verdammte Zittern hatte auch noch immer nicht aufgehört. Daß es sich so gar nicht von ihm kontrollieren ließ, ging ihm gewaltig auf seine zum Zerreißen gespannten Nerven. Nicht zum ersten Mal dachte er daran, wie einfach es jetzt doch alles gewesen wäre, wenn er einfach zur Tür hinaus hätte gehen können, um nach London zurück zu kehren. Alles war so einfach in diesem Leben gewesen, auch wenn es nur aus Schwierigkeiten bestanden hatte. Dieser Widerspruch war gleichzeitig unglaublich und absolut logisch. Das eigene Leben wegzuwerfen, sich um nichts mehr zu sorgen, alles einfach laufen zu lassen. Es gab nichts, was einfacher war und nichts, was im selben Atemzug mehr unüberwindliche Probleme schuf. Er vermißte dieses Leben, obwohl es erst wenige Tage hinter ihm lag. Dennoch konnte er auch nicht abstreiten, daß er froh war, daß das nun alles vorbei war. So geschockt er anfangs auch gewesen war, inzwischen war er froh, daß Severus ihn gefunden hatte und nun zwang, sich aus all dem Dreck, unter dem er sich begraben hatte, wieder hervor zu arbeiten. Ein lautes Flügelschlagen riß Harry aus seinen Gedanken und er stieß einen heiseren Schrei aus, als im nächsten Moment ein großer, weiß gefiederter Vogel neben ihm auf dem Teppich landete. Eule und Zauberer blickten sich einen Moment vollkommen fassungslos an, bevor Harry schließlich zaghaft eine Hand nach Hedwig ausstreckte und sie vorsichtig berührte. "Hed... Hedwig?" murmelte er. Die Eule legte den Kopf ein wenig schief und ließ ihn keinen Moment aus den Augen. Er hätte schwören können, daß sie ihn mißtrauisch beäugte. Kaum hatten seine Finger ihre Feder berührt, zog er sie erschrocken zurück, als hätte er sich an ihr verbrannt, nur um die Hand sofort wieder auszustrecken, den Kontakt erneut herzustellen. Hedwig gab ein leises, gequält klingendes Geräusch von sich und blickte Harry lange in die weit aufgerissenen, grünen Augen. Nach einer Zeit, die Harry vorkam wie eine halbe Ewigkeit, kam wieder Bewegung in Hedwig und sie hackte mit ihrem kräftigen Schnabel in Harrys Hand. "Au!" schrie er erschrocken auf und zog die Hand zurück, die natürlich sofort zu bluten begonnen hatte. Einen Moment betrachtete Harry die Wunde nachdenklich, bevor sich ein Lächeln auf seine blassen Lippen legte. "Das hab ich wohl verdient, was?" fragte er seine Eule und streckte die blutende Hand wieder nach ihr aus. Diesmal schien sie versöhnlicher und stieg auf den angebotenen Arm. Erst da bemerkte Harry den Brief an ihrem Bein und runzelte verwirrt die Stirn. "Zeig mal her, Hedwig", forderte er sie auf und sofort streckte sie ihm das Bein entgegen. Ein wenig ungeschickt fummelte er mit seiner zitternden linken Hand an dem Band herum, mit dem der Brief an Hedwigs Bein festgebunden war, während die Eule von Sekunde zu Sekunde immer heftiger durchgeschüttelt wurde, da sein rechter Arm unter ihrem Gewicht immer kraftloser wurde. Harry schnaubte verächtlich. Zu schwach eine Eule zu halten, so weit war es jetzt schon. Endlich löste sich die Schleife um den Brief und Harry nahm ihn Hedwig ab. Sofort kletterte Hedwig auf seine Schulter und knabberte zärtlich an seinem Ohr, bevor sie sich enger an seinen Kopf kuschelte und ein wenig aufplusterte. Harry lächelte. Er hatte das vermißt. Mehr als ihm die ganze Zeit bewußt gewesen war. Obwohl er eigentlich schon ahnte, von wem der Brief war - die Möglichkeiten waren in diesem Fall zweifellos immens eingeschränkt - spürte Harry doch eine gewisse Aufregung im Bauch. Das war eine Aufmerksamkeit, die er trotz allem nicht von Severus erwartet hatte. Er mußte sich erst noch daran gewöhnen, daß er das alles vor so vielen Jahren nicht nur geträumt hatte, daß Severus wirklich die weiche Seite hatte, die er in ihm zu sehen geglaubt hatte. Er atmete tief durch und versuchte erneut, seinen Händen seinen Willen aufzuzwingen, damit er wenigstens die lächerliche Aufgabe, einen Brief zu öffnen, mit ihnen bestehen könnte. Die Schleife, die um den Brief gebunden worden war, fiel achtlos zu Boden. Harry schloß noch einmal kurz die Augen, bevor er schließlich den Brief entrollte. Es war doch albern, so aufgeregt wegen einem Brief von Severus zu sein! Wie ich sehe, hat dieses verdammte Federvieh sich dieses eine Mal nicht geweigert, seiner Bestimmung nachzugehen. Was auch immer Du ihr gesagt hast, bevor Du sie hier zurück gelassen hast, besonders nützlich war Deine Hedwig in den letzten Jahren nicht. Ich dachte mir, daß Du sie trotzdem gerne wiedersehen würdest. Immerhin hat dieser Vogel Dir eine lange Zeit eine zweifelhafte Treue gehalten. Ob sie Dir damit auch einen Dienst erwiesen hat, sei einmal dahin gestellt. Ich wollte Dich nur noch einmal daran erinnern, daß Du nicht vergessen sollst, etwas zu essen. Die Hauselfen würden es mir verraten, Harry, also versuch erst gar nicht, mir etwas vorzumachen. Sie werden mit niemandem darüber sprechen, wer in meinen Räumen ist, dafür habe ich gesorgt. Diese unsägliche Nervensäge Dobby kann es sicher kaum erwarten, Dich wieder bedienen zu dürfen. S.S. Harry lächelte und rollte den Brief sorgfältig wieder zusammen. "Weißt du, Hedwig, er tut immer so furchtbar eisig, aber ich kann aus seinem harten Ton heraus lesen, daß er sich eigentlich nur Sorgen macht." Hedwig gab ein leises, gurrendes Geräusch von sich und schloß genüßlich die Augen. ~*~ Es dämmerte bereits, als Severus ganz in der Nähe der Adresse apparierte, die Harry ihm aufgeschrieben hatte. Die Gegend war ähnlich trostlos und versifft wie das Viertel, in dem er Harry vor ein paar Tagen aufgegriffen hatte, wenn auch hier nicht an jeder Straßenecke junge und weniger junge Menschen ihre Körper zum Verkauf anboten. Scheinbar war dies hier eines der Viertel, die man zwar sehr billig, aber nicht lukrativ nennen konnte. Zu weit weg vom Zentrum der Stadt, das war es wohl. Nachdem er sich mit einem kurzen Blick in alle Richtungen abgesichert hatte, daß ihn niemand beobachtet hatte, straffte Severus seine Haltung ein wenig, ließ die Hände in die tiefen Taschen seines Mantels gleiten und verließ die düstere Seitengasse, um nach der richtigen Hausnummer zu suchen. Der trostlose Eindruck des Viertels verstärkte sich noch einmal um ein Vielfaches, sobald man es durch das Licht der schmutzigen Straßenlaternen beleuchtet sah. Die alten, baufälligen Häuser sahen aus, als hätten sie schon seit Jahren niemanden mehr gesehen, der sich ein Bild von ihrem Zustand machte und etwas gegen ihren Verfall tat. Sofern sie gestrichen worden waren, blätterte die Farbe in großen Fetzen ab. Die Häuser, die aus den für England typischen, roten Backsteinen gemauert worden waren, waren als bevorzugte Leinwand zweifelhafter Graffitikünstler erwählt worden - zweifellos, weil hier die gerade erst mühevoll entstandene Kunst nicht mit dem Anstrich wieder abblättern konnte. Die Mülleimer vor den Häusern liefen über und die Geräusche aus den großen Haufen aus blauen und schwarzen Plastikmüllbeuteln ließ auf eine nicht gerade geringe Rattenpopulation schließen. Auch der Rest der Straßen wurde - wenn überhaupt - nicht gerade häufig von Dreck und Unrat befreit. Severus schnaubte leicht angewidert und schlug den Kragen seines Mantels hoch, um noch ein wenig mehr von seiner Haut mit Stoff zu bedecken. Normalerweise litt er nicht an dieser Art von Verfolgungswahn, aber in diesem Loch war ihm doch ein wenig mulmig zumute. Wer wußte schon, was man sich hier alles einfangen konnte. Aus den meisten Häusern, an denen er vorbei ging, konnte er verschiedene Geräusche hören, die auf Bewohner und Leben schließen ließen. Zum Beispiel diese nervigen, plärrenden Apparate, die sie Fernseher nannten, und deren Nützlichkeit Severus schon immer als eher zweifelhaft eingestuft hatte. In anderen Wohnungen wiederum wurde lautstark diskutiert, manchmal auch einfach nur gestritten. Alles in allem erschien ihm dieses Viertel als eine unglückliche Gegend voller unglücklicher Menschen, denn nichts was er hörte oder sah vermittelte einen positiven Eindruck, selbst wenn er sich Mühe gegeben hätte, etwas in der Art darin zu sehen. Vor dem Haus mit der Nummer fünfzehn blieb Severus stehen und zog den Zettel aus der Tasche, den Harry ihm geschrieben hatte. Das war das Haus. Er ging die schmutzigen Stufen zur Eingangstür hinauf und warf einen Blick auf die übereinander angeordneten Klingelknöpfe. Einige von ihnen waren beschriftet, die meisten jedoch nicht. Großartig. "Kann ich Ihnen helfen?" Erschrocken fuhr Severus herum und starrte geradewegs in ein paar der blausten Augen, die er jemals gesehen hatte. Langsam richtete er sich auf und ließ dabei seinen Blick über den jungen Mann gleiten, dem die Augen gehörten. Nicht besonders groß, blond, etwa in Harrys Alter, zweifellos kein häßlicher Junge. Er war viel zu dünn, aber er machte nicht den Eindruck, auf irgendwelchen Drogen zu sein. Seine Kleidung hingegen ließ eigentlich keinen Zweifel daran, daß er es hier mit einem Strichjungen zu tun hatte. "Gefällt dir, was du siehst?" fragte dieser jetzt mit einem unverschämten Grinsen und fuhr sich mit der rechten Hand durch das strubbelige, blonde Haar. Kürzer als Harrys, aber nicht weniger unordentlich, auch wenn Severus glaubte, daß es bei diesem Jungen so gewollt war. "Ganz sicher nicht", entgegnete Severus frostig und warf dem Jungen einen Blick zu, der jeden seiner Schüler in Hogwarts vor Angst sofort hätte erstarren lassen. Auf diesen Junge hier schien er jedoch keine wirkliche Wirkung zu haben. "Schade, du verpaßt echt was", antwortete der Junge schulterzuckend und stieg nun ebenfalls die Stufen hinauf. "Also, zu wem wollen Sie? Sie sehen irgendwie verloren aus", begann er erneut, während er seinen Schlüssel aus der Hosentasche zog und die Tür öffnete - nicht ohne ein wenig mit dem Schloß tricksen zu müssen, wie Severus feststellte. Aber warum sollte auch ausgerechnet das Schloß eine Ausnahme sein, wenn der Rest des Hauses eine hoffnungslose Bruchbude war? "Ich suche die Wohnung von Harry Potter", entschied Severus sich schließlich, die Frage des Jungen zu beantworten. Er hatte den Namen Potter auf keinem der Klingelschildchen gefunden, er mußte so oder so fragen. Warum also nicht diesen Bengel? Er war schließlich in etwa in Harrys Alter, das steigerte doch die Wahrscheinlichkeit, daß er Harry kannte, noch einmal. Kaum hatte er Harrys Namen ausgesprochen, hielt der blonde Junge wie erstarrt in seiner Bewegung inne. Der Schlüssel, den er gerade aus dem Schloß gezogen hatte, fiel klirrend zu Boden. Langsam drehte der Junge sich zu Severus um. "Sie wissen, wo Jamie ist?" fragte er mit weit aufgerissenen, blauen Augen und starrte Severus ein wenig ungläubig an. Severus ließ die Erleichterung und entsetzte Überraschung, die er in diesem Moment verspürte schnell hinter seiner eisigen Maske verschwinden und nickte statt dessen knapp. "Sie wissen offensichtlich, wen ich meine", bemerkte er kühl und versuchte, das stechende Gefühl zu unterdrücken, daß er dabei empfunden hatte, als der Junge Harry ,Jamie' genannt hatte. Das war zu viel von James für seinen Geschmack. Viel zu viel. "Natürlich. Kommen Sie rein", forderte der Junge Severus auf, bevor er sich bückte und den Schlüssel aufhob. Severus folgte ihm in den düsteren Hauseingang und wartete, bis der Junge den Lichtschalter an der Wand ertastet hatte. Mehr als ein Dämmerlicht gab die schmutzige Funzel an der Decke des Hausflures zwar nicht her, aber es reichte immerhin, um unbeschadet die marode Treppe hinauf zu kommen. Severus fragte sich, wie Harry es geschafft hatte, diese Treppe zu erklimmen, ohne sich zu verletzten, wenn er vollkommen high nach Hause gekommen war. Keine der Muggelbehörden konnte hier in den letzten zehn Jahren einen Fuß hinein gesetzt haben, sonst wäre dem Vermieter längst verboten worden, seine Wohnungen irgendeinem Menschen für Geld zur Verfügung zu stellen. Das Haus war schlicht lebensgefährlich. Severus folgte dem Jungen bis hinauf in das zweite Stockwerk. Die Wohnung, die er schließlich betrat, stand in einem derben Kontrast zum Rest des Hauses. Wie auch immer er es gemacht hatte, dieser Junge hatte es geschafft, sie trotz aller Widrigkeiten wohnlich zu machen und ihr den Anschein zu geben, daß man sich hier zu Hause fühlen konnte, sobald man den Rest der Welt drum herum vergaß. "Setzen Sie sich. Möchten Sie einen Kaffee?" fragte der blonde Junge, während er seine Jacke abstreifte und sie an der Garderobe aufhängte. "Nein danke", entgegnete Severus nicht weniger frostig als zuvor am Hauseingang. "Ich bin nicht zum Kaffeetrinken hier. Ich möchte, daß Sie mir Harrys Wohnung zeigen." Gerade so, als hätte er ihn gar nicht gehört, verschwand der blonde Junge in der kleinen Küche, die direkt an das Wohnzimmer angrenzte. Severus hörte das Rauschen des Wasserhahns und das metallische Klirren eines Wasserkessels, der auf eine Kochplatte gesetzt wurde, bevor der Junge endlich antwortete. "Sie sitzen mitten drin. Jamie war mein Mitbewohner. Er ist vor einigen Tagen spurlos verschwunden. Wissen Sie, wo er ist?" Severus mußte zugeben, daß ihn die Tatsache, in Harrys Wohnung einen Mitbewohner vorzufinden, doch sehr überraschte. Noch dazu einen, der sich offensichtlich Sorgen um Harry machte und es trotzdem zugelassen hatte, daß Harry sich mit Gift vollpumpte, während er selber scheinbar nicht zu diesen Dummköpfen gehörte. "Mein Name ist Adrian", bemerkte der Junge wie nebenbei, als er aus der Küche zurückkam und sich Severus gegenüber in einen Sessel fallen ließ. Seine Stimme klang beiläufig, sein ganzes Auftreten wirkte fast schon krankhaft gelassen, in seinen Augen konnte Severus jedoch sehen, daß er nervös auf die Beantwortung seiner letzten Frage wartete. "Ja, ich weiß wo Harry ist - Adrian. Ich habe ihn vor einigen Tagen von der Straße aufgelesen, vollgepumpt mit Drogen und halb tot geprügelt." Adrian biß sich bei den Worten auf die Lippen und ließ den Kopf sinken. Seine Augen fixierten sich auf seine Hände, die sich ineinander verkrallt hatten. "Geht es... geht es Jamie gut?" Severus lehnte sich ein wenig zurück und schlug die Beine übereinander. "Natürlich geht es ihm nicht gut, aber ich sorge schon dafür, daß sich das ändern wird", entgegnete er grimmig. "Sie sind Severus, nicht wahr?" Severus' Augen verengten sich zu Schlitzen und sein ganzer Körper versteifte sich augenblicklich, spannte sich an, um jederzeit für die Flucht bereit zu sein. "Ja, jetzt wo ich Sie mir genauer angucke. Sie sind Severus. Jamie hat nicht oft von seiner Vergangenheit geredet, aber wenn er es getan hat, dann hat er meistens über Severus geredet. Ich hab vieles nicht verstanden, er hat immer nur mit dem Reden angefangen, wenn er total breit war, aber Sie sehen so aus, wie der Mann, den er als Severus beschrieben hat." Ein trauriges Lächeln legte sich auf die Lippen des Jungen, als er Severus mit seinen großen, blauen Augen ansah. ~*~ "Ich hatte schon gehofft, ich wäre dich los geworden." "So schnell? Ich bitte dich." "Und was wirfst du mir diesmal wieder an den Kopf? Noch irgendeine kleine Gemeinheit oder eine Lebensweisheit von unschätzbarem Wert?" "Zynismus macht einsam." "Oh ja, das war jetzt sehr erleuchtend." "Ich bin hier, um dir etwas zu zeigen." "Nichts was du mir zeigen könntest, gehört zu den Dingen, die ich sehen will." "Das spielt absolut keine Rolle." ~*~ Der Wind heulte durch die großen Bäume, die ihn umgaben wie ein undurchdringlicher Wall und ihn in absolute Dunkelheit hüllten. Eigentlich hätte ihm diese Atmosphäre wohl bedrohlich oder unheimlich vorkommen sollen, doch es gab nichts mehr, was ihm noch wirklich Angst einjagen konnte. Seine Angst war gestorben, durch seine eigene Hand, auch wenn er im Moment noch nicht einmal mehr sagen konnte, wie es geschehen war. Ein helles Licht, fast wie ein Blitz, gefolgt von einer halben Ewigkeit von blendendem Weiß, daran konnte er sich noch erinnern und danach war alles schwarz gewesen, bis vor wenigen Tagen. Sie hatten ihm gesagt, daß er einen Monat lang geschlafen hatte und er glaube es ihnen unbesehen, obwohl er sich noch immer müde und schwer fühlte, wie ein Stein, den man ins Wasser geworfen hatte und der seinem Schicksal, auf den Grund des Sees zu sinken, nun nicht mehr entkommen konnte. Im Morgengrauen war er davon geschlichen. Er hatte ein Versprechen zu erfüllen, Rumliegen konnte er danach ja auch noch. Doch jetzt, wo so langsam die Kälte durch jede Ritze seiner viel zu dünnen Kleidung gekrochen war und er sich nicht mehr ganz so sicher war, daß er noch jeden Teil seines Körpers fühlen konnte, kam ihm die Idee langsam dumm vor. Die ganze Sache war doch viel zu irreal gewesen und er machte sich gerade mehr als lächerlich. Was würde schon passieren, wenn er zurück kehrte? Ein Haufen Leute würde einen riesigen Wirbel um ihn machen, Fragen ohne Ende stellen, von denen er nicht eine beantworten wollte, geschweige denn im Moment überhaupt konnte. Keiner würde ihn in Ruhe lassen, alle würden in ihm wieder nur den Star sehen. Und ER... ja, er würde ihn wieder nur dafür verachten. Es konnte doch gar nicht anders sein. So war es immer gewesen. Ein kurzer Moment, der alles in einem anderen Licht gezeigt hatte, das löschte noch lange keine jahrelangen Erfahrungen und Eindrücke aus oder? Es war doch eigentlich vollkommen idiotisch von ihm, wirklich zu glauben, daß dieser kurze Moment mehr wert war als die Jahre davor, daß er mehr Wahrheit zeigte... oder gar die Zukunft war. Und trotzdem war er hier. Mit jedem Schritt kam er näher an sein Ziel, näher an den letzten Schritt, der das alles auslösen würde. Wenn ihn nicht vorher die Kälte aufhielt. Zitternd schlang er seine Arme und seinen Oberkörper, doch er hielt nicht an, sondern setzte einen Fuß vor den anderen, ging immer weiter. Gleich würde die Dunkelheit ein wenig nachlassen, wenn er den dichten Wald verließ und das Mondlicht und die Sterne ihn wieder erreichten. Zumindest hoffte er, daß sie da waren. Es war so verdammt kalt, es konnte doch eigentlich nur eine klare Nacht sein. Ein lautes Kreischen ließ ihn erschrocken zusammen fahren und die Hände schützend über seinen Kopf legen. Er wußte auch nicht, wie es zu dieser Reaktion kam, vermutlich war es nur ein Reflex, seinen ohnehin schon stark beschädigten Kopf vor weiteren Angriffen schützen zu wollen. Der Schrei einer Eule, das war es gewesen, ganz eindeutig. Das Kreischen ertönte erneut und im nächsten Moment sah er die großen weißen Schwingen des Vogels, der auf ihn zukam. Langsam nahm er die Hände runter und blickte den Vogel unverwandt an. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen und er streckte den Arm aus. Der Vogel landete, sanft und vorsichtig, ein über die Jahre oft durchgeführtes Ritual. "Hallo, meine Hübsche", murmelte er und kraulte der Schneeule zärtlich das Gefieder. "Tut mir leid, daß ich so lange weg war." Die Eule legte den Kopf ein wenig schief und gab einen leisen, gurrenden Laut von sich. Mit einem weiteren Lächeln für die Eule setzte er seinen Weg fort. Schritt für Schritt. Nach einer Zeit, die ihm noch einmal wie eine kleine Ewigkeit vorgekommen war, brach der dichte Wald schließlich auf und er betrat eine Lichtung, die vom erhofften Mondlicht ein wenig erleuchtet wurde. Gerade genug, um angenehm sehen zu können, was um ihn herum war oder auch nicht war. Zum Beispiel war hier nicht wie erwartet Hagrids Hütte zu sehen oder der Weg zum Schloß. Er zog leicht die Stirn kraus und blickte sich verwirrt um. Er war an einem vollkommen anderen Ende aus dem Wald herausgekommen, aber wo? Das Schloß lag direkt vor ihm, doch er kannte den Teil der Fassade, den er nun sehen konnte, nicht. Es mußte die Rückseite des Schlosses sein, denn das war wohl der einzige Teil, den er noch nie von außen gesehen hatte. Immer noch leicht verwirrt blickte er sich um und suchte nach einem Weg, das Schloß zu umrunden und so an den Vordereingang zu gelangen. Doch so wie er das in dem silbernen Mondlicht erkennen konnte, war der einzige Weg, zurück in den Wald zu gehen. Eine dichte Hecke war zwischen Waldrand und Schloßmauer gesetzt worden und bereits so hoch gewachsen, daß sie nicht nur den Weg versperrte, sondern es auch vollkommen unmöglich machte, über sie hinweg zu sehen oder gar zu klettern. Er fluchte leise und wandte sich zur anderen Seite, doch hier bot sich ein ganz ähnliches Bild. Eine dichte Hecke, die diesmal allerdings nicht an der Schloßmauer endete, sondern wie eine Umrahmung um sie herum lief. Wieder zog er die Stirn kraus, überlegte einen Moment lang angestrengt und beschloß dann, diesem Weg zu folgen, auch wenn er nicht wußte, wo er hinführte. Der Direktor von Hogwarts selbst hatte ihm einmal gesagt, daß Hogwarts unendlich viele Überraschungen bot. So viele, daß es selbst ihn, der schon viele Jahre hier verbracht hatte, immer wieder überraschen konnte. Der Weg, den die Hecke hier von der Außenwelt abgrenzte, zog sich scheinbar tatsächlich um die gesamte Rückseite des Schlosses, bis sie schließlich an einer Tür endete, die in das Innere von Hogwarts führte. Er rüttelte am Türgriff, doch sie war verschlossen. Gerade als er nach seinem Zauberstab greifen wollte, schlug die Eule auf seiner Schulter aufgeregt mit den Flügeln und erwischte ihn dabei etwas unsanft im Gesicht. Verwirrt blickte er ihr nach, als sie von seiner Schulter abhob und in Richtung Wald zurück flog. Erst da bemerkte er, daß von der Tür ein weiterer durch Hecken markierter Weg zurück in den Wald führte und die Neugier packte ihn. Warum, konnte er nicht sagen, vor allem, weil er sich noch bis vor wenigen Sekunden nach nichts weiter gesehnt hatte, als nach einem Bett und vielleicht einem kleinen, fast schon unscheinbaren Lächeln, das er aber wohl nie wieder zu sehen bekommen würde. - Doch die Neugier war schon immer ein entscheidender Teil seines Wesens gewesen, also stellte er sie nicht Frage, sondern folgte ihr. Immer tiefer führte der Weg zurück in den Wald hinein, die bedrohliche Dunkelheit war fast noch bedrohlicher und noch dunkler und nicht gerade plötzlich überkam ihn ein mulmiges Gefühl und eine Vorahnung. Vielleicht war das ja doch keine gute Idee gewesen. Er hatte das Gefühl, daß sich durch das, was er am Ende des Weges finden würde, plötzlich alles noch einmal ändern würde. Mit einer wegwerfenden Bewegung setzte er seinen Weg aber schließlich fort. Dunkle Vorahnungen, mulmige Gefühle. Das war wohl eher etwas für seine verrückte Lehrerin für Wahrsagen, aber doch nicht für ihn. Einen Schritt vor den anderen setzend, verlor er jedes Zeitgefühl und wußte längst schon nicht mehr, wie weit oder lange er schon gegangen war, als der Wald vor ihm schließlich wieder aufbrach und eine große Lichtung freigab, die vom sanften Mondlicht erhellt wurde und unnatürlich bläulich schimmerte. Große Steintafeln ragten aus dem Boden hervor und er schluckte, bevor er sich schließlich wagte, einen Fuß auf die Lichtung zu setzen. Seine Augen glitten über die erste der Tafeln, an der er vorbei kam und wieder mußte er schlucken. Grabsteine. Gedenkstätten. Orte, an denen die Leute begraben waren, die scheinbar einen großen Teil ihres Lebens für Hogwarts und seine Schüler aufgewandt hatten. Einen Namen nach dem anderen las er auf den marmornen Steinen und nicht gerade wenige davon kamen ihm bekannt vor. Ehemalige Direktoren und Lehrer, von denen er schon einmal gehört hatte. Leute, die in den Erzählungen der Lehrer und Schüler weiter lebten und noch immer nicht vergessen waren, egal wie lange sie schon fort waren. Sie alle waren alt. Keine der Grabstätten war innerhalb der letzten Jahre angelegt worden. Nicht nur die Daten auf den Steinen, auch die Verwilderung sprach Bände. Langsam ging er weiter und das mulmige Gefühl in ihm wuchs. Etwas war hier nicht richtig. Und dann wußte er, was nicht stimmte. Ein Grabstein war neu. So neu, daß er noch blütenweiß war und im bläulich silbernen Licht des Mondes beinahe strahlte. So neu, daß die Erde, die vor ihm aufgeschüttet worden war, an der Oberfläche nur leicht angetrocknet, vom Gras und Moos der Lichtung, das alle anderen Grabstätten mit der Zeit wieder überwuchert hatte, aber noch vollkommen unberührt war. Und er konnte nicht älter sein. - Es war sein eigener. Mit heftig schlagendem Herzen streckte er die Hand danach aus, zog sie zurück, streckte sie wieder aus, bis sie endlich den kalten, weißen Marmor berührte. Er hatte erwartet, daß ihn ein stechendes Gefühl durchzucken würde oder daß sich ihm die Haare im Nacken aufstellen würden, aber nichts dergleichen geschah. Nichts weiter, als daß er einen eiskalten, weißen Marmorstein berührte. Vorsichtig glitten seine Finger über die Kanten auf die glatt polierte Vorderseite des Steins. Jeden einzelnen Buchstaben zeichnete er zaghaft nach, während die Worte laut, beinahe schreiend in seinem Kopf widerhallten. >> In Gedenken an einen großartigen Freund und einen stillen Helden. Wir werden nie vergessen, was der Frieden, den er gebracht hat, uns alle gekostet hat. << Er fühlte, wie ihm die Luft im Hals stecken zu bleiben drohte, weil dieser sich so eng zusammen zog, daß er wirklich glaubte, nie wieder atmen zu können. Was es sie alle gekostet hatte? Sie alle? Was hatte es sie schon gekostet? Was? Nichts! Rein gar nichts hatte es sie gekostet, verglichen mit dem Preis, den er zahlte, schon seit er fünfzehn Monate alt war. Einen Helden hatte es aus ihm gemacht. Ihm einen weißen Grabstein eingebracht, der in der Mitte eines Friedhofes voller ehrenhafter Persönlichkeiten lag. Wenn das nicht großartig war! Was wollte man schon mehr erreichen? Was waren schon eine Familie, ein bißchen Glück, Frieden für ihn im Vergleich zu dieser großartigen Ehre. Der Zorn war es schließlich der den Knoten in seinem Hals löste und ihn wieder atmen ließ. Seine Gedanken überschlugen sich, rasten in seinem Kopf herum, als würden sie um die Wette laufen, doch zu einer Lösung, einem Sieger, kamen sie einfach nicht. Man hatte ihn aufgegeben. Einfach so. Hatten sie denn wirklich nach ihm gesucht? Es war ja nicht so, daß er sich versteckt hatte. Er stockte. Hatte ER ihn etwa auch schon aufgegeben? Hatte er die einfache Lösung gewählt, um die Verantwortung seiner Tat von damals so einfach wie möglich abzustreifen? Dieser Gedanke allein schaffte es, ihm heiße Tränen in die Augen zu treiben, doch er kämpfte dagegen an. Vielleicht war es nicht das schlechteste. Vielleicht war es sogar gut, daß es so gekommen war. Sie hatten ihren Helden und er hatte zum ersten Mal die Chance auf das, was er sich wünschte. Oder zumindest auf einen großen Teil davon. Aber man konnte schließlich nie alles haben. Wie in Trance sackte er neben dem Grabstein auf die kalte, gefrorene Erde. Man hatte ihn aufgegeben, für tot erklärt. Damit hatte er eine Chance erhalten und seine Versprechen, die er gegeben hatte - das eine Versprechen - es mußte nun nicht mehr gehalten werden. Tote kehrten nicht zurück. Sicherlich wurde er auch schon lange nicht mehr erwartet. Er lächelte. Wenn er Glück hatte, wurde immerhin noch manchmal an ihn gedacht, das war schon mehr als nichts. Und damit reifte der Entschluß in ihm, dieses Leben hinter sich zu lassen. Es mußte ein Wink des Schicksals gewesen sein, daß er diesen Grabstein gefunden hatte, gar kein Zweifel. Ein Wink, daß er nicht länger in der Vergangenheit verharren sollte, die ihm so viel Schmerz bereitet hatte, und nach vorne blicken sollte. In ein Leben, das nichts von alledem mehr enthielt, einen eigenen Charakter entwickeln konnte, eigene positive und negative Seiten hatte. Ein Leben, das zum ersten Mal sein eigenes war. Und er würde es meistern. Er würde alles berücksichtigen, was ER ihm gesagt hatte, alles befolgen, was ER ihm geraten hatte. Wenn er schon nicht bei ihm sein konnte, dann wollte er doch das wenigstens erreichen. Wieder streckte er die Hand nach der schneeweißen Eule aus, die nicht weit von ihm auf einem niedrigen Ast saß und ihn aufmerksam beobachtete. Als sie seinen ausgestreckten Arm sah, spreizte sie augenblicklich die Flügel und flatterte los, um Augenblicke später sanft auf seinem Arm zu landen. "Hör gut zu, meine Schöne. Ich werde weggehen." Die Eule legte den Kopf schief und er hätte schwören können, in ihren Augen einen Tadel zu erkennen. "Glaub mir, das ist die richtige Entscheidung. - Aber ich kann dich nicht mitnehmen, hörst du? Du mußt hierbleiben. Diese Welt ist die, in die du gehörst. Auch wenn es nicht meine Welt ist. Ich verspreche dir, ich werde immer an dich denken, auch wenn du nicht bei mir sein kannst. - Wer weiß, eines Tages kreuzen sich unsere Wege vielleicht noch einmal." Das Lächeln auf seinen Lippen wurde wacklig, als er fast schon fahrig über das seidige Gefieder des Vogels strich, der mit jedem Wort, daß er sprach, immer unruhiger wurde. Wenn sie eine Stimme gehabt hätte, hätte sie ihm auf das heftigste widersprochen, das konnte er ihr nur allzu deutlich ansehen. "Es wird mir gut gehen, keine Sorge", versuchte er, das aufgebrachte Tier zu beruhigen. "Und auch dir wird es nirgendwo so gut gehen, wie hier. Und jetzt flieg zum Schloß zurück." Einen langen Augenblick lang zögerte die Eule noch, bevor sie diesen letzten Befehl ihres Herren akzeptierte und davon flog, um zum Schloß zurück zu kehren. Er sah ihr nach und als sie immer kleiner wurde und er sie schließlich nicht mehr länger gegen die Dunkelheit der Nacht ausmachen konnte, konnte auch er die Tränen nicht länger zurück halten. Es war eine gute, aber auch eine große Entscheidung gewesen, die er jetzt so scheinbar überstürzt getroffen hatte. Dennoch, sie war mit Sicherheit richtig. Das war es doch genau, was er schaffen mußte. Auf eigenen Füßen stehen, mit seinem Leben klarkommen und sich dabei nicht ständig auf die anderen verlassen, die ihn schon rechtzeitig auffangen würden. Er preßte die Lippen zusammen und wandte den Blick vom nachtschwarzen Horizont ab. Ein letztes Mal strich er über die glatte, eiskalte Oberfläche des Grabsteins - seines Grabsteins, bevor er sich wild entschlossen auch von ihm abwandte und einen Weg einschlug, der ihn in entgegen gesetzter Richtung von Hogwarts wieder tiefer in den Wald führte. Noch immer flossen die Tränen wie kleine Kristalle über seine Wangen, aber so war es doch immer, wenn man sich von einem alten Leben verabschiedete und einen neuen Abschnitt begann. Er hörte nicht die Schritte, die aus der Richtung des Schlosses auf die Lichtung zuhielten und er sah nicht die dunkle Gestalt, die erst vor dem neuen, schneeweißen Grabstein halt machte, die Kapuze seines Umhanges abstreifte und stumm, aber mit Augen voller Trauer eine ganze Weile vor dem Stein stehen blieb und ihn einfach nur betrachtete. ~*~ "Was hat Harry Ihnen von mir erzählt?" Severus fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, daß Harry so viel von ihm gesprochen hatte, daß dieser Junge ihn nach wenigen Minuten schon erkannte. Und noch weniger gefiel ihm, daß er offensichtlich immer dann ins Reden gekommen war, wenn die Drogen seinen Geist vernebelt und seine Zunge gelockert hatten. Er konnte seinem Mitbewohner alles mögliche erzählt haben! "Er hat vor allem sehr wirres Zeug erzählt, auf daß ich mir nicht immer einen Reim machen konnte, aber hin und wieder hat er mir Fragen beantwortet. Daher weiß ich auch, daß sie seiner Beschreibung zumindest vom Aussehen und Art her entsprechen. - Wenn Sie mir diese Einschätzung so schnell erlauben", er lächelte und Severus konnte sich vorstellen, daß dieses Lächeln das pure Kapital werden konnte, wenn es sein mußte. "Ich weiß aber auch, daß weder Sie noch Jamie - normal sind." Wieder verengten sich Severus' Augen ein wenig mehr und er fühlte, wie er noch ein wenig nervöser wurde. "Was meinen Sie mit normal, Adrian?" fragte er nach und sein Ton klang schon allein wie eine Drohung an den Jungen, bloß nichts Falsches zu sagen. Doch Adrian zuckte nur unbekümmert die Schultern, die unglaublich blauen Augen noch immer frei von jeder Art von Angst. Warum auch immer, er mußte sich ziemlich sicher sein, daß ihm von Severus keine Gefahr drohte. "Er hat Geschichten erzählt, die ich anfangs für Märchen hielt. Aber so nach und nach haben sie Sinn gemacht. Alles Wirre, alles Fantastische konnte er mir immer irgendwie beweisen. - Ich weiß, daß Jamie ein Zauberer ist und ich weiß, daß Sie einer sind." Adrian lachte und fuhr sich noch einmal durch die Haare. Severus war bereits aufgefallen, daß er das recht oft tat und er nahm an, daß der Junge versuchte, seine Nervosität zu verbergen oder seinen Händen eine Beschäftigung zu geben. "Das ist etwas, was Harry hätte für sich behalten müssen." Adrian nickte und seine Schultern sackten ein wenig zusammen. "Ich dachte mir schon, daß es so eine Regel bei Ihnen wohl geben würde. - Er hat wirklich nur erzählt, wenn er nicht klar war, das müssen Sie mir glauben." "Keine Sorge, Adrian. Harry wird nichts geschehen, so lange Sie dieses Geheimnis für sich behalten. Es gibt keine Bestrafung dafür, nur weil er einem Muggel erzählt hat, was er wirklich ist. Wir verraten uns nur nicht selbst, um uns selbst zu schützen. Im Endeffekt aber entscheidet jeder für sich selbst." Eine Weile schwiegen die beiden sich an, jeder von ihnen unentschlossen, wie sie jetzt weiter vorgehen sollten. Schließlich war Adrian der erste, der sich räusperte und vom Sessel aufstand. "Dann sollten wir vielleicht tun, wozu Sie hergekommen sind. Sie wollen doch sicher hier, um Jamies Sachen zu holen, stimmt's?" ~*~ Wie Severus erwartet hatte, waren Harrys Besitztümer überschaubar. Zu den wenigen Sachen, die er als Schüler besessen hatte, war in den letzten Jahren nicht viel hinzu gekommen, wenn man einmal von einer erstaunlich ausgeprägten Sammlung von Muggelmusik absah, die von den Muggeln auf kleine, silberne Scheiben gebannt worden war und in einer entsprechenden Maschine jederzeit abgespielt werden konnte. Severus war nun wirklich nicht dumm, wenn es um Muggelgegenstände ging und er wußte durchaus, was CDs oder ein CD-Spieler waren, aber um bei der Wahrheit zu bleiben, wirklich gesehen hatte er beides noch nicht und er wunderte sich, daß es für Harry neben den Drogen offensichtlich zur einzigen Leidenschaft geworden war. Während sie gemeinsam durch jedes Zimmer der Wohnung gingen und die Sachen aussortierten, die Harry gehörten und die Severus mit nach Hogwarts nehmen sollte, erfuhr er von Adrian endlich einige der Dinge, die Harry bisher nicht bereit gewesen war, ihm zu erzählen. Es gab noch immer Lücken, denn Adrians Geschichte begann erst im Herbst nach Harrys Verschwinden, aber als es schließlich so weit war, den jungen Muggel wieder zu verlassen, wußte Severus, daß Harry durchaus versucht hatte, um sein Leben zu kämpfen und nicht - wie er bisher vermutet hatte - mit voller Absicht in seine momentane Misere hineingerutscht war. "Adrian..." Severus war sich nicht sicher, ob er diese letzte Frage, die ihm auf der Seele brannte, stellen konnte. "Hm?" gab der blonde Junge leise zurück, als er eine letzte CD aus dem Regal zog, sie zu den anderen legte, die Harry gehörten und sich schließlich wieder aufrichtete. Mit dem Ärmel seines Pullovers wischte er sich den Schweiß von der Stirn und blickte Severus erwartungsvoll an. "Es gibt da etwas, was ich gerne noch wissen möchte und ich hoffe, daß Sie es mir vielleicht sagen können", wieder hielt er einen Moment inne, doch der Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen änderte sich nicht, wurde nicht irgendwie abweisend oder unwillig. "Der Mann, der Harry vor einigen Tagen auf der Straße angegriffen und zusammengeschlagen hat, nannte Harry einen "kleinen Stricher". Stimmt das, Adrian?" Einen langen Augenblick lang herrschte eisiges Schweigen und Severus erkannte nur zu deutlich all die Zeichen, die er bereits erwartet hatte, bevor er seine Frage stellte. Adrians Blick wurde kalt, seine Schultern strafften sich und um seinen Mund lag plötzlich ein sehr harter Zug. "Und was wenn?" gab er in einem Ton zurück, dessen Frostigkeit schon fast mit dem Severus' hätte mithalten können. Dieser hob leicht die Schultern. "Ich weiß nicht. Nichts schätze ich. Es wäre eine weitere Zeile in Harrys Vergangenheit, die ich nicht verstehen könnte, aber ich schätze, das wäre auch schon alles." Adrian nickte, doch der Ausdruck auf seinem Gesicht änderte sich nicht. "Hören Sie, Severus. Ich habe Ihnen gerne davon erzählt, wie ich Jamie gefunden und aufgenommen habe, wie wir versucht haben, ihn auf die eigenen Füße zu kriegen und wie Jamie leider gescheitert ist, weil ich scheinbar nicht der richtige war, ihm zu helfen. Ich erzähle Ihnen auch gerne, wie ich dazu gekommen bin, mich jeden Tag auf die Straße zu stellen und mich für ein paar widerliche, alte Säcke zu erniedrigen. Und von mir aus auch, wie ich es schaffe, mit diesem Leben trotz allem klarzukommen. Aber ob und warum Jamie gewisse Entscheidungen in den letzten Jahren getroffen hat, kann und will ich Ihnen nicht erzählen. Das müssen Sie Jamie fragen und wenn er es Ihnen nicht erzählen will, dann müssen Sie das akzeptieren." Severus wußte, daß Adrian nichts weiter wollte, als seine Freund zu schützen, und doch machte es ihn wütend. Er wußte ja nicht einmal selbst, warum er es unbedingt wissen wollte, aber diese Frage brannte nun einmal in ihm wie ein alles verschlingendes Feuer. Er mußte einfach wissen, ob es so war und er mußte wissen, warum Harry es getan hatte, wenn es so war, statt zu ihm zu kommen und ihn um Hilfe zu bitten. Doch das konnten sie offensichtlich alle nicht verstehen. Weder Harry noch Adrian wollten scheinbar sehen, daß er nicht fragte, um verurteilen zu können. "Das war alles. Kein wirkliches Vermögen", bemerkte Adrian bekümmert, als er auf den kleinen Haufen blickte, der Harrys gesamten Besitz darstellte. "Würden Sie vielleicht noch ein wenig warten, bevor Sie gehen? Ich möchte gerne noch schnell einen Brief an Jamie schreiben." Obwohl er noch immer wütend war und dem Jungen eigentlich nur ungern einen Gefallen tun wollte, nickte Severus ganz automatisch und nahm wieder auf der Couch Platz, während Adrian lächelnd in seinem Schlafzimmer verschwand. Mit einem Schwenker seines Zauberstabs schrumpften Harrys Sachen auf eine handliche Größe zusammen und verschwanden in einer der großen Manteltaschen des Zaubertrankmeisters, der nun brütend vor sich hinstarrte. ~*~ Harry erwachte von einem lauten Geräusch, das ihm so vorkam, als wären innerhalb des Schlosses einige massive Wände verschoben worden. Verschlafen richtete er sich auf und stellte fest, daß er noch immer auf dem dicken, grünen Teppich vor dem Kamin lag, in dem das Feuer noch immer warm und hell brannte, obwohl inzwischen schon viele Stunden vergangen sein mußten. Nicht weit von ihm entfernt saß Hedwig auf der Rückenlehne eines Sessels und beobachtete ihn aufmerksam. Harry lächelte. Also war nicht alles ein Traum gewesen. Hedwig war wirklich da und es war wirklich Severus gewesen, der sie geschickt hatte. Suchend blickte er sich in dem großen Raum um, doch offensichtlich war der Zaubertrankmeister noch nicht zurück gekehrt. Ein Blick auf die Uhr über dem Kamin verriet ihm, daß der Nachmittagsunterricht gerade zu Ende gegangen sein mußte, aber Severus hatte ja gesagt, daß er seine Sachen noch heute aus London holen wollte. Sicher hatte er sich gleich auf den Weg gemacht. Ein wenig mühsam rappelte Harry sich mit der schweren Decke um die Schultern auf und schwankte hinüber zum Bett, das ein angenehmer Kontrast zum harten Boden war. Selbst der Teppich hatte Härte und Kälte nicht ganz überspielen können. "Hast du Hunger, Hedwig? Wir sollten Dobby bitten, uns etwas zu Essen zu holen, sonst schimpft der böse Zaubertrankprofessor mit uns, wenn er zurück kommt." Hedwig gurrte verschlafen, schien den Vorschlag aber nicht übel zu finden, denn im nächsten Moment kam sie zu ihm geflogen. "Dann wollen wir doch mal sehen, was der gute Dobby uns zu bieten hat." ~*~ Eine knappe halbe Stunde war vergangen, als Adrian schließlich mit einem Umschlag in der Hand ins Wohnzimmer zurück kehrte, wo Severus noch immer mit verschränkten Armen auf der Couch saß und wartete. Er blickte den blonden Jungen auffordernd an, doch Adrian schien seinen Blick nicht zu bemerken. Er war zu sehr damit beschäftigt, den Brief in seiner Hand anzustarren, als könne er sich nicht wirklich dazu durchringen, ihn Severus zu geben. Severus zog die Augenbrauen zusammen. "Ich muß los", sagte er leise. Adrian nickte knapp und riß seinen Blick endlich von dem blütenweißen Umschlag los. Mit einem leisen Seufzen und einem erneuten, diesmal kaum sichtbaren Nicken streckte er Severus schließlich den Brief entgegen. Severus griff nach dem Umschlag und berührte dabei die Hand des Blonden, doch statt den Kontakt sofort wieder zu brechen und den Brief ebenfalls in seiner Manteltasche verschwinden zu lassen, verharrte Severus in diese Position, bis Adrian schließlich erstaunt aufblickte. Es überraschte Severus nicht, mühsam zurückgehaltene Tränen in den blauen Augen des jungen Mannes zu sehen. "Ich bin mir sicher, Harry hat Sie nicht vergessen, Adrian." Woher der Drang kam, den jungen Mann trösten zu wollen, konnte Severus sich nicht wirklich erklären. Aber er war da und vielleicht - nein sogar wahrscheinlich, hing es damit zusammen, daß er in den blauen Augen Dinge erkennen konnte, die er selbst tief in seinem Inneren ebenfalls spürte. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was nun in Adrian vorging, wie leer es sich fühlte. Wie hoffnungslos und voller Angst, Harry vielleicht verloren zu haben. "Es wäre besser, wenn er es tun würde", brachte der Blonde mühsam hervor und wandte den Blick wieder von Severus ab, um ihn nicht sehen zu lassen, wie unstet sein Blick war, wie sehr die Emotionen in ihm wüteten. "Nein, das glaube ich nicht. Man sollte nie eine helfende Hand vergessen. Und Harry ist kein Mensch, der so etwas tun würde." Adrian lächelte schwach und seine freie Hand, die auf Severus ungewöhnlich klein und filigran für einen Mann wirkte, ballte sich an seiner Seite zur Faust. "Mag sein, aber für mich wäre es einfacher, wenn ich mir sagen könnte, daß er mich haßt, mich vergessen will, weil ich ihn an etwas erinnere, das ihm nie hätte passieren sollen. Es wäre einfacher als mit der Gewißheit zu leben, daß er vielleicht eines Tages zurück kehrt. Ich weiß nicht, ob ich damit klar käme." Obwohl diese Worte im ersten Moment keinen wirklichen Sinn zu ergeben schienen, verstand Severus fast sofort, was der junge Mann damit sagen wollte. Für einen Moment fühlte er ein heißes, flammendes Gefühl in sich aufsteigen, doch er kämpfte es sofort wieder nieder. Es war ja nicht so, als hätte er das nicht vom ersten Moment an geahnt. "Es tut anfangs weh, Adrian, aber diese Gefühle vergehen und irgendwann werden Sie wieder mit Harry zusammen sein können, ohne zu glauben, etwas Wichtiges versagt zu bekommen. - Und wer weiß, vielleicht kehrt er eines Tages zu Ihnen zurück, weil er ihre Gefühle erwidert." Adrian blickte überrascht auf, maßloses Erstaunen stand in seinen Augen geschrieben. Er schluckte heftig, schaffte es aber nicht, seinen Blick wieder von dem finsteren Mann abzuwenden, der scheinbar so viel mehr von Gefühlen verstand, als er erahnen ließ. "Nein, das ist unmöglich. Nicht ich bin es, den er liebt. Auch wenn ich es mir Jahre lang gewünscht habe, ich habe in diesem Spiel noch nie eine wirkliche Chance auf den Sieg gehabt. Aber so ist das eben. Ich weiß es. Das ist etwas, was man sehr schnell begreift, sobald man die Erfahrung gemacht hat, daß Liebe sehr wohl käuflich ist. Er hat eine bessere Wahl getroffen, da bin ich sicher." Er löste seine Hand von Severus' Hand und dem Brief. Nur einen kurzen Blick warf er noch darauf, dann kehrte seine Aufmerksamkeit erneut zu Severus zurück. "Aber vielleicht hab ich eines Tages die Gelegenheit, ihm alles zu sagen, was ich nicht in diesen Brief schreiben konnte. - Passen Sie bitte gut auf ihn auf, Severus. Er vertraut Ihnen." Severus schluckte die Überraschung herunter, die diese Worte in ihm auslösten. Er wußte, daß Harry ihm vertraute, schließlich tat der unvernünftige Bengel inzwischen schon fast alles, was er ihm sagte - nun ja, zumindest früher oder später. Aber woher wußte Adrian das? "Das werde ich, Adrian. Sie werden sicher noch von mir hören." Adrian lächelte ein zitterndes Lächeln, nickte und wandte sich dann von Severus ab. Mit einem letzten Blick auf den junge Mann, der ganz offensichtlich mehr als nur verliebt in Harry war, apparierte Severus zurück an die äußeren Grenzen des Schulgeländes. Tränen liefen über Adrians Gesicht, kaum daß er sich von Severus abgewandt hatte. Und als er das leise ploppende Geräusch hörte, das ihm sagte, daß der ältere Zauberer fort war, sank er auf den Boden nieder und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Für Harry war es gut, es hätte gar nicht besser sein können. Aber ihm brach es das Herz. ~*~ Ein kalter Wind wehte über die Ländereien von Hogwarts, als Severus am äußersten Rand des Schutzwalles apparierte. Es war spät geworden, viel später als er geplant hatte, das konnte er an den wenigen Lichtern erkennen, die im Schloß noch brannten. Die Schüler waren längst in ihren Betten. - Nun ja, zumindest die meisten. Mit einem mürrischen Brummen zog Severus seinen Zauberstab aus der Manteltasche hervor und murmelte etwas. Augenblicklich verwandelte sich der elegante, schwarze Wintermantel in seine wallende, schwarze Lehrerrobe zurück. Muggel mochten vielleicht denken, daß solche Roben albern und antiquiert waren, aber sie waren zweifellos wärmer und brauchbarer bei Kälte als diese Mäntel, die viel zu wenig Stoff boten, um sich richtig zu schützen. Auf dem Weg zum Schloß hinauf, kehrten seine Gedanken ständig zu Adrian zurück, obwohl das kleine, nagende Gefühl ihn ihm sagte, er solle den blonden Schönling besser so schnell wie möglich wieder vergessen. Aber wie konnte er? Der Junge hatte ihm so viel erzählt und gleichzeitig noch so viel von dem verschwiegen, was Severus unbedingt wissen mußte. Adrian wußte alles über die Jahre, die man ihm selbst mit Harry gestohlen hatte, denn er war ein Teil davon gewesen. Und wer wußte schon, ob Harry ihn selbst eines Tages darüber aufklären würde, was in diesen vier Jahren alles passiert war. Harry war nicht mehr wie früher und er würde es auch nie wieder werden. Es war gut möglich, daß er sich und seine Erinnerungen vor den anderen verschloß, auch oder vielleicht sogar gerade vor ihm. Ein kaltes Lächeln legte sich auf die Lippen des Zaubertranklehrers. Adrian würde nichts erzählen, was über die Dinge hinaus ging, die er heute erfahren hatte. Er würde schon selbst aus Harry herausbekommen müssen, ob es wirklich wahr war. Harry ein Stricher, ein junger Mann, der so tief gesunken war, seinen Körper an Fremde zu verkaufen. Der Gedanke erschreckte Severus immer noch, obwohl er jetzt schon mehrere Tage Zeit gehabt hatte, sich daran zu gewöhnen, daß es vielleicht wahr war. Und genau genommen war die Tatsache an sich nichts, was ihn wirklich aus der Bahn werfen konnte. Schocken ja, aber mehr auch nicht. Was ihm wirklich Angst machte, war die Tatsache, daß auch das für Harry nicht ohne Folgen geblieben sein konnte. Vielleicht noch schlimmere Folgen, als er schon durch seine Drogensucht und sein autoaggressives Verhalten davon getragen hatte. Immer wieder stellte Severus sich die Frage, wie viel eine Seele verkraften konnte und ab wann sie einfach aufgab. Wie weit Harrys Seele noch von diesem Punkt entfernt war. Konnte man diese Schäden wieder gut machen? Mit klammen Fingern stieß Severus das große Eichenportal des Schlosses auf und schlüpfte in die Totenstille eines riesigen Gebäudes voller schlafender Menschen. Der Bienenschlag war für diesen Tag zur Ruhe gekommen. So leise wie möglich ließ er die schwere Tür zurück ins Schloß gleiten und wandte sich in Richtung Kerker, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung an einer der Fensternischen ausmachte. "Guten Abend, Albus", begrüßte er den Direktor leise, der sich aus dem Schutz der Nische herausgelöst hatte und nun auf ihn zukam. Wie immer lächelte er und im schwachen Licht des Mondes, das durch die Fenster in die Eingangshalle fiel, konnte Severus sogar dieses infernalische Funkeln in den Augen des Älteren ausmachen, das nahezu immer da zu sein schien. "Severus, du hast lange gebraucht." "Ich habe unvorhergesehene Entdeckungen gemacht, die es wert waren, meinen Aufenthalt in London ein wenig zu verlängern", erwiderte Severus emotionslos, aber deutlich weniger abweisend als noch am Morgen. "Erzählst du mir davon?" Severus hob eine Augenbraue an und schaffte es nur mühsam, seine Überraschung zu unterdrücken. Keine Aufforderung? Eine Frage? Dieser Tag barg eine Überraschung nach der anderen und man konnte nicht behaupten, daß sie unangenehm waren. Zumindest nicht vollkommen. "Wenn es nicht hier sein muß", entgegnete Severus und setzte sich in Bewegung Richtung Kerker. "Wir können gerne in mein Büro gehen", schlug Dumbledore vor. "Ich würde mein Wohnzimmer vorziehen, wenn es dir nichts ausmacht. Weniger Süßigkeiten, die du mir anbieten kannst und näher bei Mister Potter." Dumbledore verkniff sich jeden Kommentar, den er dazu eventuell auf den Lippen gehabt haben konnte und beeilte sich, hinter Severus her zu laufen, der die Treppen zum Kerker bereits erreicht hatte und nicht den Eindruck machte, auch nur einen Moment länger auf ihn warten zu wollen. Severus' Räume waren ungewöhnlich warm, das fiel Dumbledore gleich als erstes auf, nachdem der Zaubertranklehrer ihn hereingebeten hatte. Das Feuer im großen Kamin des Wohnzimmer glomm nur noch still vor sich hin, schien aber den ganzen Tag über gebrannt zu haben, wenn er die Menge der Asche richtig deutete. Severus blickte sich suchend um, die Stirn leicht in Falten gelegt. Dumbledore beobachtete, wie er im Nebenzimmer verschwand und rang mit sich, ob er Severus folgen sollte. Man konnte ihm zwar so manches Mal nicht wirklich nachsagen, daß er sehr viel Taktgefühl besaß, aber unaufgefordert das Schlafzimmer einer seiner Lehrer zu betreten, selbst wenn er in die Räume eingeladen worden war, gehörte eigentlich nicht zu seinem Standardrepertoire. Ein leises Plop riß ihn aus seinen Gedanken und ihm nächsten Augenblick stand einer der Hauselfen vor ihm und blickte ihn mit seinen großen Augen an. Es war dieser Dobby, die Hauselfe, die Harry vor vielen Jahren aus Lucius Malfoys Diensten befreit hatte. "Guten Abend, Direktor Dumbledore, Sir", begrüßte ihn die Elfe mit einer linkischen Verbeugung. Dumbledore lächelte und imitierte die Bewegung. "Guten Abend, Dobby." Ganz anders als die anderen Elfen im Schloß, geriet Dobby schon längst nicht mehr vollkommen aus dem Häuschen, wenn einer der Zauberer sich seines Namens erinnerte. Der kleine Kerl war sich inzwischen seiner besonderen Stellung im Schloß und einigen damit verbunden Besonderheiten bewußt, wie es aussah. "Dobby", begrüßte Severus den Elfen ebenfalls, allerdings mehr kühl als amüsiert, als er aus dem Schlafzimmer zurück ins Wohnzimmer kam. "Professor Snape, Sir, Dobby ist hier, wie Sie gewünscht haben, Sir." Severus nickte und Dobby begann mit seinem Bericht über den vergangenen Tag, was er Harry zu essen gebracht hatte und daß er, wie Severus es gewünscht hatte, dem Essen einige Tränke beigemischt hatte, damit Harry in dieser Nacht durchschlafen konnte. Dumbledore lauschte dem detaillierten Bericht der Elfe für einige Minuten, bevor er schließlich doch seine inneren Hemmungen überwand und das Schlafzimmer des Zaubertrankmeisters betrat. Harry lag unter einer schweren Tagesdecke auf dem großen Bett, das in der Ecke des Raumes stand. Seine zierliche Gestalt wirkte darin fast schon verloren, doch der entspannte Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Mannes wischte alle Zweifel daran, daß es ihm im Moment wohl nicht so schlecht ging, schnell fort. Vorsichtig, um den Schlaf seines ehemaligen Schützlings nicht zu stören, setzte er sich auf die Kante des Bettes und betrachtete Harry eingehend. Es war das erste Mal seit fast vier Jahren, daß er es tat - oder vielleicht sogar schon viel länger. Denn Dumbledore konnte nicht mit ruhigem Gewissen von sich sagen, daß er in der Zeit vor Harrys Verschwinden immer seine volle Aufmerksamkeit auf ihn gelegt hatte. Nicht in dem Maße, wie es nötig gewesen wäre, sonst wäre ihm sicher etwas an dem Jungen aufgefallen. Das Kind, das Dumbledore an den Krieg und die Welt da draußen verloren hatte, war jetzt wo Harry schlief noch zu erkennen, doch man sah auch, daß dieses Kind von vielen Dingen zurückgedrängt und fast aus Harry vertrieben worden war. Ihn umgab nicht mehr die selbe Aura der kindlichen Unschuld, die sich trotz der Tatsache, daß er schon mit elf Jahren kein wirkliches Kind mehr gewesen war, hartnäckig um ihn gehalten hatte. Ein verbitterter Zug um Mund und Augen - dem des Zaubertrankmeisters fast schon ähnlich - war auch in diesem friedlichen Moment zu erkennen und würde wahrscheinlich nur noch deutlicher sein, wenn Harry wach war. Dumbledore seufzte. Man mußte Opfer bringen, wenn man einen Krieg gewinnen wollte, aber wann war die Grenze erreicht und das Opfer zu groß? Das war eine Frage, die er sich schon oft gestellt hatte, und die ihn auch jetzt wieder quälte. Er schüttelte den Kopf. Es war zu spät für Harry. Er hatte alles bereits durchlebt, alles hinter sich. Für ihn war nichts mehr von dem zu retten, was vergangen war. Er mußte - so abgedroschen das auch klang - wieder lernen, nach vorne zu sehen. Und das konnte er nur, wenn die Leute um ihn herum das ebenfalls taten und sich nicht mit der Vergangenheit aufhielten, weil einige Fragen unbeantwortet geblieben waren und wahrscheinlich auch für immer bleiben würden. "Wenn er schläft, könnte man fast meinen, es ginge ihm wieder gut." Die leise Stimme des Zaubertrankmeisters ließ Dumbledore aufschrecken. Doch er konnte im Gesicht des jüngeren Mannes keine Anzeichen dafür erkennen, daß dieser verärgert darüber war, daß er ohne Erlaubnis zu Harry gegangen war.. "Wie schlimm ist es wirklich?" fragte Dumbledore und wandte seinen Blick wieder auf den schlafenden Harry. "Sehr schlimm. Ich verabreiche ihm Tränke, die verhindern, daß er sich ständig erbricht und die Schmerzen zu stark werden. Außerdem habe ich Dobby angewiesen, ihm heute eine Dosis traumlosen Schlaf in das Essen zu mischen. Er schläft zwar auch ein wenig ohne Hilfsmittel, aber meist nicht sehr ruhig. Ich tippe auf Alpträume. Die schlimmste Phase sollte aber bald hinter uns liegen und dann wird es ihm körperlich von Tag zu Tag besser gehen. Wie es in seiner Psyche aussieht, kann ich jetzt noch nicht sagen." Dumbledore nickte. "Aber du hast schon eine recht klare Vorstellung." "Möglich." Vorsichtig schlug Severus die Tagesdecke zurück und schob seine Arme unter Harrys viel zu dünnen Körper. Mit beängstigender Leichtigkeit hob er den jungen Mann von seinem Bett auf. "Wärst du so freundlich, mir die neu hinzugekommenen Räumlichkeiten zu zeigen, damit Mister Potter und ich heute nacht beide den Luxus genießen können, in unseren eigenen Betten zu schlafen?" Dumbledore schmunzelte und erhob sich von der Bettkante, um Severus in das neue Schlafzimmer zu führen, das sich direkt im Anschluß an Severus' befand. Zielstrebig steuerte der Zaubertranklehrer mit seiner Last auf das Bett zu, das ebenfalls in der Ecke des Raumes stand, allerdings ein wenig kleiner war als sein eigenes. Dumbledore beeilte sich, die Decken zurück zu schlagen. Vorsichtig legte Severus den schlafenden Harry in sein neues Bett und betrachtete ihn einen Moment nachdenklich, bevor er ihn schließlich zudeckte. Auf Dumbledore wirkte diese kurze Szene unglaublich vorsichtig und liebevoll. Severus ging auf eine Art mit seinem Schützling um, wie er sie bisher bei diesem Mann höchstens dann gesehen hatte, wenn er einen besonders komplizierten Trank zubereitete. Bei einem Zaubertrank hätte ihn diese Entdeckung nicht überrascht, im Bezug auf Harry allerdings war es etwas, was er genauso wenig begreifen konnte, wie die Tatsache, daß Harry sich ausgerechnet bei Severus Hilfe gesucht hatte. War es möglich, daß das doch nicht so ungewöhnlich war, wie er erst gedacht hatte? Hatte er sich nicht seit dem Tag an dem Harry verschwunden war gefragt, was mit Severus los war, da dieser sich so sehr verändert hatte? Vielleicht lag seine Antwort darauf gerade in diesem Moment vor ihm. Dumbledore lächelte. Er konnte praktisch hören, wie James Potter und seine Freunde ihm unisono vorwarfen, daß er ein törichter alter Mann war, wenn er diese Möglichkeit wirklich in Betracht zog. Und dennoch tat er es. Er glaube in diesem Moment felsenfest daran, daß er gerade den wahren Grund für Severus' mysteriöse Wandlung gefunden hatte. Der verbitterte, angeblich so gefühlskalte Zaubertrankmeister hegte Gefühle für Harry, die weit über die üblichen Schutzbedürfnisse eines Schülers gegenüber hinaus gingen. Es würde sicher noch interessant werden, die Umstände dieser Wandlung aus Severus heraus zu locken, aber nicht heute. Heute war kein guter Tag zum Reden, entschied er in diesem Moment. "Weißt du was, Severus? Es ist spät, wir verschieben unser Gespräch auf ein andermal. Ein alter Mann wie ich, sollte längst in seinem Bett liegen. Man wird schließlich auch nicht jünger." Severus blickte den Direktor skeptisch an. Dumbledore schaffte es, ihn in die Ecke zu treiben und ließ ihn dann freiwillig aus der Falle entkommen? Und noch dazu schob er sein Alter vor? Da war doch etwas faul. Oh ja, er konnte es riechen. Etwas war gewaltig faul und wenn es nur dieser wissende Ausdruck auf dem Gesicht des Direktors war. "Wie du wünschst, Albus", war jedoch alles, was er dazu sagte. Wer war er schon, diese Möglichkeit einfach verstreichen zu lassen. An der Tür drehte Dumbledore sich noch einmal um. "Du hattest recht, Severus. Du bist genau der richtige, um Harry zu helfen. Es tut mir leid, daß ich daran gezweifelt habe." Wieder schoß eine schwarze Auge gen Haaransatz und verweilte dort, bis wenige Augenblicke später die Tür seiner Privaträume hinter Dumbledore ins Schloß fiel. Das beruhigte ihn ganz und gar nicht, selbst wenn der alte Mann das hatte erreichen wollen. Ein leises Geräusch lenkte seine Aufmerksamkeit wieder zurück auf Harry, der sich im Bett auf die Seite gedreht hatte. Seine fast schon zotteligen Haare waren über seine Augen gefallen und versperrten die Sicht auf der obere Hälfte seines Gesichts. Einen langen Moment betrachtete Severus den schlafenden Jungen, der eigentlich schon lange kein Junge mehr war. Wie lange würde es wohl noch dauern, bis Harry auch ohne Hilfsmittel so friedlich schlafen konnte? Würde das jemals eintreten oder würde seine Vergangenheit das für immer verhindern? Düstere Gedanken, die er eigentlich nicht hatte denken wollen - nicht heute - die aber gnadenlos auf ihn einstürmten. Aber so war das eben mit den Gedanken. Sie fragten nie, ob sie willkommen waren. Sachte strich er Harry das Haar aus der Stirn zurück. Sie fühlte sich nicht mehr heiß und fiebrig an und auch der Schweißfilm auf Harrys Haut war schon auf ein Minimum zurück gegangen. Das Schlimmste lag nun wirklich bald hinter ihnen. Und dann? Ja, was war dann? Severus stellte überrascht fest, daß der Gedanken an die Zeit, in der Harry seinen körperlichen Entzug hinter sich gebracht hatte und langsam damit beginnen mußte, alles Erlebte auf- und zu verarbeiten, ihn schmerzte. Weil das Ergebnis so gar nicht absehbar war. Weil er alles verlieren oder alles gewinnen konnte. Und weil er so egoistisch war, in diesem Moment an sich statt an Harry zu denken. Dummes kleines Gefühl, das nicht schweigen, sondern lieber zu einem großen Gefühl werden wollte, bis es schließlich in einer großen Katastrophe enden würde. Mit einem resignierten Kopfschütteln griff Severus in die Innentasche seines Umhanges, in der sich nun Harrys geschrumpfte Sachen befanden. Die Hauselfen hatten die wenigen Sachen, die noch aus Harrys Schulzeit in Hogwarts zurück geblieben waren, bereits in die Schränke und Regale des neuen Zimmers eingeräumt. Es wirkte trotzdem noch immer unbewohnt und leer. Doch auch diese zusätzlichen Sachen würde den Platz nicht wirklich füllen. Vielleicht würde Harry es ja schaffen, diesem Raum ein wenig Leben und Wärme zu geben. - Wenn er denn lange genug blieb. Severus legte die Sachen in einer Ecke des Raumes ab und mit einem Wink seines Zauberstabs gelangte der Haufen zu seiner Originalgröße zurück. Harry würde die Sachen morgen selbst durchgehen und einräumen können. So war er wenigstens beschäftigt, so lange er hier allein war und Severus brauchte sich keine Sorgen zu machen, daß die Langeweile ihn auf dumme Gedanken brachte. Als letztes zog er noch Adrians Brief aus der Tasche und betrachtete ihn einen Moment eindringlich. Er wußte, er würde den jungen Mann wiedersehen. Er mußte einfach, denn auch wenn dieser behauptete, daß es besser für Harry wäre, ihn zu vergessen, befürchtete Severus doch, daß es sich früher oder später nicht vermeiden ließ, die beiden wieder aufeinander treffen zu lassen. Er legte den Brief auf den kleinen Nachttisch neben dem Bett, wo Harry ihn gleich finden würde, wenn er aufwachte und wandte sich zum Gehen. An der Tür drehte er sich noch einmal um und betrachtete ein letztes Mal Harrys schlafendes Gesicht. "Nox", murmelte er schließlich und die Lichter in dem Raum verloschen bis auf ein Minimum fahlen Mondlichts, das durch ein rundes Fenster knapp unterhalb der Decke in den Raum drang. Es war ein langer Tag gewesen und war besser, wenn er ihn jetzt endlich beendete und ins Bett ging. ---------------------------- So, das war es also, das 5. Kapitel. Das hat mich ein paar Monate gekostet, hatte sogar eine richtig schöne Schreibblockade mitten drin. Inzwischen läuft es wieder etwas flüssiger, aber wie gesagt, die Updates kommen langsam. Dafür poste ich aber selten Kapitel, die weniger als 5000 Worte haben, ich hoffe, das ist wenigstens ein kleiner Trost. Über Kommis freue ich mich immer, egal ob sie Lob oder Kritik enthalten, also sagt ruhig, wenn ihr was auf dem Herzen habt ^___~ Bis zum 6. Kapitel CrimsonFlow (alias SilentRose) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)