Liber Studiorum von abgemeldet ('Ein Pirat würde sicher ein gutes Modell hergeben', denkt sich der junge Künstler Will Turner..) ================================================================================ Kapitel 4: Liber Studiorum - Kapitel 4 von 6 -------------------------------------------- Titel: Liber Studiorum Kapitel 3/6 _~_~_~Kapitel 4~_~_~_ Jack hätte diese Nacht vielleicht fliehen können. Vielleicht hätte er es geschafft, die großen Fenster zu öffnen, oder vielleicht auch eines auf der Ostseite oder ein anderes, vielleicht hätte er so während eines Wachwechsels aus dem Haus schleichen können, um sich bis an das Ende der Insel durchzukämpfen, dort eine Bucht zu finden und auf ein Schiff oder seine Mannschaft zu warten. Doch er tat es nicht. 'Es ist fast Vollmond', sagte er sich, 'Und so wird man mich sehen.' Aber es war nicht der Mond, nicht die Angst, gefasst und bestraft zu werden oder irgend etwas anderes, das ihn davon abhielt, einen Fluchtversuch zu wagen. Tief in seinem Herzen spürte er das - es war etwas anderes, etwas, das nur zwei Zimmer weiter auf Seidenkissen gebettet lag und leise im Mondschein schlief. Etwas, das ihm schmerzende Stiche durch das Herz jagte, schlimmer noch als die Pein, die ihm die Schusswunden an seinem Körper bereitet hatten, wenn er nur daran dachte, dieses Etwas einmal durch seinen eigenen Tod oder seine Flucht verlieren zu müssen. Und etwas, das ihm durch seine eigenen Gedanken keine Ruhe ließ, die ganze verbliebene Nacht lang nicht. Hatte er sich etwa.. verliebt? Nein, das konnte nicht sein, die intime Gesellschaft von Männern war ihm immer nur auf Seereisen angenehm gewesen. Doch was war es dann? Wodurch entstand dann diese Sehnsucht nach einer Berührung, nach einem einzigen, sanften oder gar liebevollen Blick? Jack mochte diese Gedanken nicht. Er versuchte, sie zu verdrängen, und bis zum Morgen gelang ihm das auch, wenn auch nur ein wenig. Er musste nun wirklich an seine Flucht denken. Er war noch sehr müde, als er früh am Morgen aufwachte, denn er hatte nur sehr kurz geschlafen. Er stand von dem Sofa auf und machte sich an die Arbeit. Er erkundete jeden einzelnen Winkel des Hauses und suchte nach Dingen, die ihm bei der Flucht nutzen konnten - ein Umhang, um sich zu tarnen oder einen Dolch , um sich zu verteidigen. Dabei warf er immer wieder einen Blick in das Schlafzimmer, um sich zu vergewissern, dass Will noch schlief. Die Fenster konnte man nicht öffnen, nach einigem Herumprobieren war er sich auch dessen sicher. Jedoch gab es in dem Zimmer hinter der Tür, die nach draußen führte, und auf der Ostseite des Hauses, besonders neben dem Atelier noch einige kleinere Fenster, die meist offen standen und für eine Durchlüftung des Hauses sorgten. Diese waren jedoch nicht für eine eventuelle Flucht geeignet. Sie waren zu klein, und die Wachen hatten diese Stellen der Hauswand genau im Blickfeld. Dennoch hatte ihm seine morgendliche Suche etwas eingebracht: Ein großes, schwarzes Tuch, und eine Art dünnes Seil, mit dem er es zubinden konnte. Es war kein Umhang, aber groß genug, um seinen Körper zu verhüllen. Einen Dolch fand er nicht, dafür aber ein langes Messer, mit dem er sich jedoch nur im absoluten Notfall geringfügig verteidigen konnte. Immerhin, für eine Ablenkung konnte es sorgen. Aus Achtung vor Will ließ er die vielen kleinen Kostbarkeiten, darunter ein Schmuckkästchen und ein goldener Kompass, den er vermutlich von seinem Vater geerbt hatte, unberührt, auch wenn das seine Piratenseele ein klein wenig schmerzte. Als Will aufwachte, saß Jack wieder im Atelier und tat so, als ob ihn ebenfalls gerade erst der Schlaf verlassen hatte. In Wirklichkeit hatte er sich die Lage des Hauses genauestens eingeprägt, und die Stadt von hier oben betrachtet, um einen sicheren Fluchtweg hinunter zum Hafen zu finden oder eine Bucht oder einen Wald, in dem er sich verstecken konnte, bis seine Mannschaft ihm ein Zeichen gab. Will arbeitete den ganzen Tag lang und den folgenden, und eines der Bilder zerstörte er dieses Mal sogar nicht und stellte es zu den anderen im Atelier, aber wirklich zufrieden sah er auch bei diesem nicht aus. An diesem Abend ging er sehr spät zu Bett. Am nächsten Morgen war Will sichtlich müde. Er begann ein Bild, hörte jedoch schon nach wenigen Minuten wieder auf und sagte Jack dann, dass er heute nicht mehr arbeiten und lieber ruhen wollte, auch wenn die Zeit für ihn, ein Bild des Piraten fertig zu stellen, langsam knapp wurde. Er setzte sich zu ihm und sie redeten eine Weile. Dann zeigte er Jack, wo er sich eine Mahlzeit zubereiten konnte, wenn er Hunger haben sollte, und ging dann bereits am frühen Nachmittag wieder zu Bett. Das war Jacks Gelegenheit. Er wartete, bis es dunkel war, und der Mond seinen höchsten Punkt am Himmel erreicht hatte, holte sich dann den Umhang aus der Truhe, in der er ihn gefunden hatte, legte ihn an, und holte das Messer aus der Küche, und schlich dann leise zur Tür. Das Wetter war an diesem Tag perfekt für eine Flucht. Der Mond war zwar noch hell und voll, doch dunkle Wolken verdeckten ihn, und mit einem Lächeln vernahm Jack ein Donnergrollen in der Ferne. Strömender Karibikregen würde ihm bei der Flucht sehr nützlich sein. In den letzten Tagen hatte er die Wachen genau beobachtet. Er wusste jetzt, wann ein Wachwechsel stattfand, und zu welcher Zeit die Wachen unaufmerksam wurden. Seltsamerweise erwarteten sie eine Flucht am frühen Abend, doch bereits nach Mitternacht begannen sie, sich untereinander zu unterhalten, oder ,sich zu setzen und gar kurzzeitig zu ruhen. Und wenn der Regen, der sich nun durch winzige Tropfen an den Fensterscheiben ankündigte, tatsächlich so stark werden würde, wie Jack es sich erhoffte, so könnte die Flucht durchaus gelingen. Jack sah noch einmal aus dem Fenster des Ateliers. Die Wachen bereiteten sich zu dieser Zeit gerade auf den Wachwechsel vor, der gleich stattfinden würde. Jack hatte in den letzten Tagen herausgefunden, dass einer der Soldaten der Person, die ihn ersetzen würde, immer ein Stück entgegenlief. Günstigerweise war dieser an der Tür des Hauses postiert. Jack wartete, bis der strömende Regen die Stadt in einen grauen Schleier hüllte, und verließ dann das Atelier. Auf dem Weg zur Tür warf er noch einen Blick in Wills Schlafzimmer. Der Künstler schlief ruhig. Er ging zur Tür. Doch nach wenigen Sekunden stand er im Schlafzimmer vor Wills Bett und sah auf die tief schlafende Gestalt herab. Er lag dort, verhüllt in die Kissen und Decken, mit nur leicht geöffnetem Mund und das Gesicht zu Jack gerichtet. 'Er sieht süß aus' , dachte Jack, und merkte kaum, wie seine eigene Hand sich langsam dem Gesicht des Künstlers näherte und vorsichtig dessen zarte Wange berührte. Will rührte sich nicht. Jack entschied, ein wenig mehr zu wagen, und lehnte sich zu ihm hinunter. Seine Lippen berührten sanft Wills Stirn. Was tat er da eigentlich? Er wich erschrocken zurück und hoffte, dass der Künstler nicht aufwachen würde. Er schlief jedoch weiter, und nach wenigen Sekunden kehrte Jack, fassungslos über sich selbst, der Tür des Schlafzimmers den Rücken zu. Wie konnte er nur so unvorsichtig sein? Wenn der Künstler aufgewacht wäre, wäre Jacks ganzes Vorhaben zunichte gewesen, und er hätte vermutlich keine Gelegenheit mehr gehabt, dem Tode am Galgen zu entkommen. Der prasselnde Regen unterdrückte jedes andere Geräusch im und außerhalb des Hauses. Jack spähte durch das breite Schlüsselloch der Haustür und atmete erleichtert auf. Der Soldat, der in der Nacht direkt vor dem Haus aufgestellt war, unterhielt sich angeregt mit dem, der während der restlichen Nacht hier stehen sollte. Jedoch nicht vor dem Haus, sondern noch weit genug entfernt davon, sodass Jack die beiden im Regen nur an dem Schein ihrer Laternen erkennen konnte. Nachdem er noch einmal nachgesehen hatte, wo sich die anderen beiden Wachen, die ihn hier theoretisch hätten sehen können, befanden, öffnete er mit äußerster Vorsicht die Tür, schlüpfte hinaus und schloss sie wieder leise. Dann lief er in geduckter Haltung zu den Sträuchern am Wegrand hinüber und versteckte sich dort. Geschafft. Hier war er vor den Soldaten erst einmal sicher. Er hatte, so schien es ihm, unendlich viel Zeit, bevor der Künstler aufwachen und Alarm schlagen würde (außer, er war von seiner unvorsichtigen Aktion vorhin nicht schon aufgewacht), und Jack konnte die nächsten Schritte mit Ruhe angehen. Er schlich hinter den Sträuchern ein Stück weiter nach unten und wartete dann, bis der Wachwechsel vorüber war. Dann lief er zu einem der Häuser am Stadtrand hinüber, versteckte sich dort, hielt nach Wachen Ausschau, lief zum nächsten, wiederholte die Prozedur einige Male und arbeitete sich so langsam zum Hafen vor. Er ging sehr vorsichtig vor. Ihm durfte kein Fehler unterlaufen. Er würde es nur schaffen, wenn er bis zum Morgen entweder ein Schiff gefunden hatte, auf dem er (,) egal (,) wohin fliehen konnte, oder wenn er aus der Stadt entkommen und sich auf der Insel verstecken konnte. Letztere Möglichkeit würde sehr schwer zu realisieren sein, vor allem, da er dann abwarten müsste, bis der Gouverneur der Stadt die Jagd nach ihm aufgegeben hatte, weshalb er zunächst die erste versuchte. Er hatte sich zwar für den Fall, dass der Plan, sich auf der Insel zu verstecken angewendet werden musste, etwas Proviant mitgenommen, aber der würde auch nicht lange reichen. Er kam dem Hafen nun langsam näher. Von Wills Haus aus konnte er das Hafengelände nicht gut sehen, deshalb bestand noch eine geringe Chance, dass sein eigenes Schiff, getarnt als europäischer Händler dort vor Anker lag. Noch einige Häuser weiter, und Jack hielt inne. Die Schiffe lagen vor ihm. Er sah sie aus der dunklen Gasse, in der er sich gerade befand. Seines war jedoch nicht unter ihnen. Bevor er das Hafengelände betrat, hockte er sich an die unmittelbar daran angrenzende Hauswand, nahm das mitgenommene Messer und begann so leise wie möglich in die Holzfläche, die scheinbar die Straßenfläche von dem Stein trennte, zu schneiden. Nur, falls etwas schiefgehen würde. Ein Spatz und ein 'S', das darum geschwungen war, und eine verschlüsselte Beschreibung des Standortes von dem Haus des Künstlers. Dem Haus von Will. Jack schloss die Augen und hielt die Tränen zurück. Was hatte er nur? Warum bereitete es ihm solche Schmerzen, wenn er an einen Mann dachte, den er beinahe als guten Freund geschätzt hatte, aber nun verlassen musste? In seinem Leben hatte er bereits viele gute Freunde verlassen müssen.. Warum verursachte gerade dieser Künstler, der ihn eigentlich nur als Modell, als Objekt ansah, einen solchen Schmerz in seiner Brust? Jack verdrängte diese Gedanken. Er musste überlegen, wie er weiter vorgehen würde. Er legte sich auf den regennassen Boden und spähte vorsichtig um die Ecke der Häuser rechts und links von ihm. Niemand war dort zu sehen. Er wartete noch einen Moment und lief dann zu einigen am Hafen abgestellten Kisten hinüber, versteckte sich dort, und untersuchte die anliegenden Schiffe genau. Ein größerer Schoner lag dort an, ein Händler vermutlich, und ein großes, protziges Schlachtschiff, bei dessen Betrachtung Jack vermutete, dass es den ganzen Tag nur im Hafenwasser schwamm, dem einzigen Zweck dienend, die Stärke der Flotte des Gouverneurs zu präsentieren. Jack trat ein Stück aus der Ansammlung der Kisten heraus, um die restlichen Schiffe in dem Regen besser sehen zu können. Eine Fregatte war dort noch, es war ein wunderbares Schiff, das Jack gern besessen hätte, wäre er auf seinem Schiff und nicht auf einer Flucht. Und ein weiteres Schiff war dort. Es war recht klein, sah jedoch sehr wendig und schnell aus. Jack betrachtete das Schiff genauer. Die Flagge am Mast sah mühselig dort festgebunden aus, als ob man sehr schnell eine andere dort hätte anbringen müssen. Auf dem Deck befanden sich keine Kisten, für ein Handelsschiff sehr unüblich. Jack sah noch einmal genauer hin, schlug dann aber seine Hand an die Stirn und lachte leise auf. Es war sein Schiff! Seine Mannschaft hatte es so gut getarnt, dass sogar der Kapitän es kaum erkennen konnte, und dieser überlegte sich, ihnen bei der nächsten Gelegenheit dafür ein paar Fässer Rum zu spendieren. Er blickte auf dem Hafengelände einmal rund um, konnte jedoch durch den Regenschleier, der alles verhüllte, nicht viel erkennen. Er vergewisserte sich aber, nirgendwo auch nur den leichten Schimmer einer Laterne zu sehen. Dann wagte er es, aus den Kisten herauszutreten, und lief davon aus mit Vorsicht zu seinem Schiff hin. Er hatte es fasst erreicht, als er einen Degen direkt vor seinem Gesicht aufblitzen sah. "Wohin des Weges?", fragte einer der Soldaten, die ihn unbemerkt umzingelt hatten. Kalvin Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)