Gedenke des Todes, Drachenritter von abgemeldet (Memento Mori - 3. Platz im Herbst-/Winterwettbewerb 2004) ================================================================================ 2. Teil ------- Kommentare, Kritik könnt ihr an: lea@leana.de schicken. Viel Spaß beim lesen! Eure Lea Kim Gedenke des Todes, Drachenritter 2. Teil Memento Mori Sie beobachtete ihn, den Menschen, der lebte, der auf die Suche gegangen war, um sie zu finden, der seine Familie und sein Land im Stich ließ, um sie wieder zu sehen, als wäre sie die Lösung, als wäre sie der Ausweg, die Hoffnung auf Ruhe. Oh ja, sie brachte Ruhe, aber es war die endgültige. Dieser Mensch war verrückt, er suchte etwas, das er niemals finden würde, nicht bei ihr. Seine Reise war sinnlos und er war zu blind, als dass er es erkannte. Sie konnte ihm kein Mitleid entgegenbringen, er hatte sich sein Schicksal selbst ausgesucht, also sollte er auch die Krankheiten der Welt am eigenen Leib spüren. Er hatte es verdient, er war so dumm, ein Musterbeispiel eines Menschen. Sie wurde nicht schlau aus ihm. Er wusste doch, wer sie war. Warum suchte er sie? Die Menschen fürchteten sich vor ihr. Warum er nicht? Warum kam er freiwillig? Dieser Mensch war anders, obwohl er so stur war, so hartnäckig und so rücksichtslos. Er war auf der Suche nach ihr, hatte das etwas zu bedeuten? In all den Jahren, den Jahrhunderten, in denen sie ihrer Pflicht nachkam, war ihr noch nie ein Mensch wie er begegnet. Sollte es etwas bedeuten? Sie konnte es sich nicht vorstellen, wollte es nicht. Die Menschen änderten sich nicht, sie blieben, wie sie waren, skrupellos, arrogant und blind. Und dieses eine Exemplar würde ihre Meinung auch nicht ändern. Seine Suche war vergebens, es würde interessant werden, sein Scheitern zu beobachten. Der Winter hatte begonnen, lautlos und schleichend legte er sich auf die Menschen, seine eisige Hand bedeckte das immer kahler werdende Land. Morgens bedeckte Raureif Wälder und Wiesen, und vereinzelnd fielen schon glitzernde Schneeflocken auf die Erde. Seit Wochen war er nun unterwegs und war erschrocken über den Zustand des Landes. Wo er auch hinkam, überall herrschte Hunger und Armut. Er hatte die ausgemergelten Gesichter gesehen, die nach der schlechten Ernte dieses Jahres kaum Essen zum Überwintern hatten. Verdreckte Kinder, deren Kleider aus weniger als einfachem Leinen bestand und gegen den schneidend kalten Wind keinen Schutz boten. Die einigermaßen betuchten Bauern horteten ihre Vorräte für sich selbst. Es war schon schwer genug so durch den Winter zu kommen, da brauchte man von seinen wenigen Habseligkeiten nichts an Ärmere abzugeben, die wahrscheinlich eh nur zu faul waren richtig zu arbeiten. Fremde wurden erst gar nicht geduldet, sondern gleich fortgeprügelt. Die Leute hatten Angst, Angst vor der Zukunft, Razu sah es in ihren Augen. Und diese Angst war der größte Schrecken, den er auf seiner bisherigen Reise gesehen hatte. Zum ersten Mal war ihm bewusst geworden, wie sehr die Menschen unter dem Krieg litten. Es war, als läge ein Schleier über der Welt, der jegliches Leben zu ersticken drohte. Auch er spürte den Hunger, der knurrend in seinem Magen rumorte. Seine Vorräte waren vor ein paar Tagen zur Neige gegangen. Seine Versuche sie aufzufüllen, waren bei dieser Jahreszeit nicht gerade von Erfolg gekrönt. Und in einem Dorf nach einer Mahlzeit zu fragen, kam nicht in Betracht. Er meidete Menschen, sie lenkten ihn ab. Er war nicht nur einfach gegangen, er hatte sich auch von seinem bisherigen Leben, das ihm doch nie ganz allein gehört hatte, abgewandt. Er brauchte eine Auszeit, Abstand von allem und allen, so schwer es auch in der ersten Zeit sein mochte. Er hatte oft an Shee denken müssen, seine kleine Shee. Warum wirkte sie nur so erwachsen, wenn sie doch noch so klein war? Er fühlte sich ihr gegenüber schuldig, obwohl sie ihm doch verziehen hatte. Und Geo, sein bester Freund, er war mit ihm schon durch dick und dünn gegangen. Es war einsam ohne ihn an seiner Seite. Er hatte erst jetzt gemerkt, wie sehr er alle liebte, wie viel sie ihm bedeuteten, jetzt, wo er allein war. Über vieles war er sich in den letzten drei Wochen klar geworden, vor allem über sich selbst, aber trotz allem trieben ihn die Fragen in seinem Kopf weiter, sein Weg war noch nicht zu Ende. Seinem Ziel noch immer hinterher jagend hatte er noch viele Rätsel zu entschlüsseln, und irgendwie war er zuversichtlich, dass er es schaffen würde. Schon lange hatte er sich nicht mehr so gefühlt, frei von allen Zwängen, unabhängig und hoffnungsvoll, obwohl die Trauer über seinen Abschied immer noch täglich an seine innere Tür klopfte. Die Last wurde leichter, je weiter er ging. Er blickte hoch in die Sonne und musste blinzeln. Es war ein guter Tag. Selten war dies der Fall. Viel zu oft bedeckten graue Wolken den Himmel und versperrten der Sonne den Blick, als wollten sie die Welt im Dunkeln einsperren. Und viel zu früh verschwand das Sonnenlicht hinter dem fernen Horizont, so dass er nur wenige Stunden am Tag wandern konnte. Nachts suchte er sich meistens eine geschützte Stelle abseits vom Weg, klaubte etwas Reisig zusammen und baute sich damit ein provisorisches Lager. Sein einziger Schutz gegen die Kälte war ein warmer Umhang. Der auch sein einziger Luxus auf dieser Reise war. Schon einige Wegelagerer, die ihm aufgelauert hatten, hatte er vertreiben müssen. Seine Bewaffnung bestand zwar nur aus einem einfachem Dolch, aber seine Ausbildung hatte er bei Meistern ihres Faches absolviert. Gegen Straßenräuber und Gesetzeslose konnte er sich auch so zur Wehr setzen. Wie schnell solche Schurken doch rennen konnten, beeindruckte ihn immer noch. Er wusste nicht, wohin dieser Weg, den er ging, ihn führen würde, geschweige denn, ob es der richtige war. Nur sein Ziel hatte er immer vor Augen. Sie, diese dunkle Gestalt mit den flammendroten Haaren und dem durchdringenden Blick, der ihm in einem Wimpernschlag jedwedes Geheimnis verraten hatte, und doch seine wahre Natur, die hinter diesen Augen existierte, verdeckt und verschwiegen, vor ihm verbarg. Eine Gabelung ließ ihn in seinen Schritten inne halten. Rechts führte der Weg weiter, auf dem er gerade stand, breit und einladend. Links stieß ein schmaler, kaum ausgetretener Pfad auf den Weg. Er wunderte sich, dass er ihn überhaupt bemerkt hatte und nicht einfach den weiteren Verlauf des Weges zu seiner Rechten gefolgt war. Lange musste er überlegen und ihm fiel auf, dass sich der Weg zum ersten Mal auf seiner Reise verzweigte, ihm eine Entscheidung abrang, die er weder treffen konnte, noch wollte. Welche Richtung war die Richtige? Gab es ein Richtig überhaupt? Welcher Pfad führte ihn zu seinem Ziel? Welcher zu ihr? Kein Schild am Wegesrand wollte ihm einen Hinweis geben, keine schicksalhafte Fügung wollte ihm helfen, oder doch? Als er nochmals nach links schaute, sah er direkt in die dunklen Augen eines beachtlichen Raben, der auf einem herabhängenden Ast hockte und ihn unentwegt anschaute. Der Rabe flog auf, als er sich ihm zu wandte, segelte über ihn hinweg, drehte im nächsten Augenblick und flog in die Richtung, die der Weg einschlug. Es war ein herrliches Gefühl den Raben bei seinem Flug zu beobachten. Still stand Razu da und starrte dem nachtschwarzen Vogel hinterher. Er hatte Zeit, auch diese Last hatte er abgegeben. Zeit war etwas Kostbares und Zeit für sich zu haben ein Reichtum, den er sich selbst nie erlaubt hatte. Nun konnte er es. Razu wählte den schmalen Pfad zu seiner Linken. Seine Füße waren schon längst wieder auf Wanderschaft, während er selber in Gedanken noch an der Weggabelung stand und den wunderschönen Vogel betrachtete. Das Feuer knisterte und knackte. Funken sprangen tanzend in den Himmel, flogen hoch zu den Sternen, um sich im Dunkel zu verlieren. Der Duft von gebratenem Fleisch, der sich ihm verführerisch in die Nase kräuselte, gesellte sich dazu und stieg hinauf in die Nacht. Erwartungsvoll drehte er den Stock, auf dem das von Fell befreite Kaninchen gespießt war, über die prasselnden Flammen. Er hatte Glück gehabt, es zu fangen. Er schmeckte schon das saftige, warme Fleisch auf seiner Zunge, den herben Geschmack des wilden Tieres, spürte seinen Bauch zufrieden rumoren, als ein Knacken dicht hinter seinem Rücken ihn aufhorchen ließ. Eilends zückte er seinen Dolch mit der Linken, griff mit der Rechten hinter sich, wobei er leider das Kaninchen ins Feuer fallen lassen musste, konnte gerade noch ein Handgelenk fassen und erklärte drohend: "Lass deine Waffe fallen, wenn dir dein Leben lieb ist!" Ein unterdrücktes Keuchen begleitete das Herabfallen eines harten Gegenstandes und dessen dumpfen Aufprall auf den Waldboden. "Jetzt verschwinde und versuch keine Tricks", befahl er barsch. Er lockerte seinen Griff und, als er sicher war, dass der Wegelagerer nicht nach seiner Waffe greifen würde, ließ er das Handgelenk ganz los. Nun bedauerte er es, dass er so nah am Weg lagerte. Wegen diesem Strauchdieb verkohlte gerade sein Abendessen, dabei hatte der Tag so schön enden können. Um nicht völlig mit leerem Magen schlafen zu müssen, fischte er den Stock schnell aus dem Feuer und begann das Fleisch von Asche und Holzstücken zu befreien. Zwischendurch ergriff er die Waffe, ein grobes Messer, hinter ihm und verwahrte es sicher unter seinem Umhang. "Woher wusstest du, dass ich da war?", fragte die Gestalt. Die Stimme war hoch, zu jung für einen Erwachsenen, fast mädchenhaft. Und auch das Handgelenk war schlank genug einem Jüngling zu gehören. Razu schätzte ihn auf dreizehn, vierzehn, höchstens fünfzehn. "Setz dich da hin", seufzte er und zeigte auf die Stelle ihm gegenüber. Der Junge trat hinter ihm hervor ins flackernde Licht und setzte sich auf die ihm zugewiesene Stelle. Sein kurz geschnittenes Haar hing ihm fransig ins magere Gesicht und seine Klamotten, die um seinen schmächtigen Körper schlabberten, zerschliessen und mit zahlreichen Löchern überseht, zu kalt für die Jahreszeit, verrieten Razu die Verzweiflung, die den Jungen getrieben hatte, ihn zu überfallen. Flehend starrten die Augen des Jungen auf das Kaninchen. "Was macht so ein junger Bursche wie du alleine in dieser Gegend? Vor allem, da sich kaum Reisende hierher verirren", fragte Razu. Doch der Junge antwortete nicht, kauerte sich viel mehr näher ans Feuer, das Fleisch nicht aus den Augen lassend, und hielt seine zartgliedrigen Hände an die wärmenden Flammen. "Wie hast du mich bemerkt?", wollte er wissen. "Du warst zu laut." Razu zuckte mit den Schultern, als wäre dies offensichtlich gewesen. Er konnte den Blick des Jungen nicht deuten, als dieser seine Antwort hörte. War er nun überrascht oder hatte er es geahnt? Razu wurde neugierig. Kein normaler Mensch wanderte durch eine solch verlassene Region, wenn er keinen vernünftigen - oder auch unvernünftigen - Grund dazu hatte. Schon seit einigen Tagen hatte er keine einzige Menschenseele mehr getroffen. Warum nun diesen Burschen? Er begann vorsichtig, das Fleisch abzuknabbern. Es war etwas zäh und angebrannt, aber noch zu genießen. "Wie heißt du?", fragte er zwischen zwei Bissen. Der Junge blieb stumm, starrte weiter auf Razu, wie er Stückchen für Stückchen das Kaninchen vertilgte, in einer Gemächlichkeit und Genauigkeit, die ansonsten nur alte Menschen an den Tag legten. "Wie du heißt, will ich wissen", wiederholte Razu seine Frage, diesmal bestimmter, nachdrücklicher. "Ko." "Einfach nur Ko?" Der Junge nickte, wenn auch zögernd. Razu glaubte ihm nicht, beließ es aber dabei. Wenn er ihm nicht seinen richtigen Namen verraten wollte, dann hatte er auch einen Anlass dafür. Razu wollte den Kleinen nicht verschrecken, indem er die Wahrheit gewaltsam aus ihm herauspresste. "Nun Ko, was verschlägt dich hier in diese Gegend? Und warum versuchst du wehrlose Wanderer auszurauben?", wollte Razu wissen. "Wehrlos?", schnaubte Ko. "Wer ist hier wohl der Wehrlose?" Razu musste grinsen. Die Wut des Kleinen amüsierte ihn, da sie doch unbegründet war, ja eigentlich bei ihm, Ko, selbst liegen müsste. Doch dieser hatte sich gerade vom Täter zum Opfer ernannt. "Du bist nicht gerade in der Lage, Fragen zu stellen, mein Kleiner", meinte Razu, noch immer schmunzelnd. "Und jetzt sag mir endlich, was du hier treibst." "Ich bin von zu Hause weggelaufen", brummte Ko verdrießlich. "Weggelaufen? Da hast du dir aber eine schlechte Jahreszeit ausgesucht", bemerkte Razu und nagte weiter an dem schon halb verzehrten Kaninchen. "Ich hab's nicht mehr ausgehalten", erklärte Ko knapp. Noch immer blickte er ihn nicht direkt an, sondern das Fleisch in seinen Händen "Wie viele Tage bist du schon unterwegs?" "Zehn." "Und vor wie vielen Tagen hast du das letzte Mal etwas gegessen?", fragte Razu. Ihm war der hungrige Blick Kos nicht entgangen. "Vier." "Dann musst du Hunger haben." "Was soll die ganze Fragerei?" Ko sah auf, ihm geradewegs in die Augen. Unnachgiebig war sein Blick, unbeirrt und willensstark, die Augen eines Raubtieres. "Hast du nun Hunger oder nicht?" Ko gab keine Antwort, aber er brauchte es auch nicht. Razu reichte dem Jungen den Rest von seinem kargen Mahl. Dieser beeilte sich, das Fleisch an sich zu reißen und zu verschlingen. Er musste wahnsinnigen Hunger gehabt haben. Das Feuer brannte allmählich herunter, nur die Glut spendete noch ein wenig Helligkeit, und die war so schwach, dass sie die Welt ins Gegenteil umkehrte. Nachdem Ko auch den letzten klitzekleinen Rest des Kaninchen verspeist hatte, es waren wirklich nur noch Knochen übrig, soweit Razu es beurteilen konnte, legte er sich so dicht, wie er es wagte, an die Feuerstelle, bettete seinen Kopf in eine Mulde, die er mit seinen Armen formte, und begann einzuschlafen. Razu war darüber so perplex, dass er zuerst kein Wort des Widerspruchs fand und dann lächelnd seinen Umhang als Decke über ihn breitete. Den Kleinen hatte ein schlimmeres Schicksal heimgesucht. Weggelaufen von zu Hause, weil er es nicht mehr ausgehalten hatte. War das nicht auch Razu? War er nicht auch vor seinen Pflichten geflüchtet? Vor seinem Schicksal als Prinz und zukünftigem König? Hatte er einfach nur Angst und war deshalb auf dieser Reise? Auf dieser Suche, die von allen nur blind belächelt wurde? Er hatte sich vorgestellt, dass er Antworten finden würde, wie die Rätsel in seinem Leben gelöst werden und er endlich zufrieden sein konnte. Er hatte nie darüber nachgedacht, welche Rätsel und welche Fragen beantwortet werden sollten. Oder hatte er auch das nur vorgeschoben? Ihm war wirr im Kopf. Zum ersten Mal auf seiner Reise verlor er den Weg aus den Augen, er verschwamm, verzweigte sich, endete. Aber er durfte nicht enden, der Weg war wichtig, er führte ihn doch ans Ziel. Er wusste, wohin er wollte. Es war der einzig klare Gedanke in seinem Kopf, nur warum er dorthin wollte, hatte er vergessen. Er hatte es tatsächlich vergessen, er wusste es einfach nicht mehr, es war weg. Er blickte hoch zu den Sternen, doch sie leuchteten nicht, waren matt und glanzlos, stierten auf ihn herab, höhnisch und boshaft. Sie griffen nach ihm, zehrten an seinen Armen, seinen Beinen, seinen Haaren. Grabschten nach seinen Worten, seinen Bildern, seinen Sinnen. Er konnte nicht von ihnen lassen, suhlte sich in ihrem treulosen Schein, ihrer niederträchtigen Heiligkeit, dem falschen Glück, das sie versprachen. Dort oben würde er die Wahrheit erfahren, riefen sie, die reine, die ehrliche, die gemeine. Sie war verlockend, diese Wahrheit der Sterne, so einleuchtend und so einfach. Er wollte sie, mehr als alles andere, er wollte die Wahrheit, die reine, die gemeine. Er wollte sie, doch er bekam sie nicht. Er flehte, bettelte, drohte. Nichts, die Sterne schwiegen, verloschen in ihrem falschen Glanz, erloschen, einer nach dem anderen. Sie ließen ihn allein zurück, gepeinigt und ausgezehrt. Leere füllte seinen Verstand. Er fühlte sich ausgenutzt und weggeworfen. Nichts war geblieben, nur das Bild einer Frau mit flammendroten Haaren. Die Nacht war kalt, er schlief keine einzige Sekunde. Ko hatte sich ihm angeschlossen, einfach so. Ohne einen Grund zu nennen, war er ihm am nächsten Morgen gefolgt, immer zwei Schritte hinter ihm, bis Razu schließlich stehen blieb, so dass Ko zu ihm aufschließen konnte. Seitdem waren sie zu zweit unterwegs. Die Reise war trotz der unerwarteten Gesellschaft nicht angenehmer geworden, eher mühsamer, zeitraubender. Das Essen war knapp, sie fanden noch nicht mal genug für eine Person und mussten die kümmerliche Nahrung, die sie noch fanden, unter sich aufteilen. Die Nächte waren eiskalt, die Tage wurden immer kälter. Längst reichte der eine Umhang von Razu nicht mehr aus, sie beide irgendwie warm zu halten. Nun trug ihn Ko, Razu hatte ihn ihm überlassen. Er konnte es nicht mit ansehen, wie der Kleine fror. Razu hatte gezwungenermaßen die Verantwortung für Ko übernommen. Er war noch zu keiner Entscheidung gekommen, ob dies nun gut war oder schlecht. Razu hatte frei sein wollen, unabhängig von allen. Er war seiner Pflicht, seiner Verantwortung gegenüber seiner Krone brüchig geworden, mit vollem Bewusstsein, und jetzt musste er sich um das Wohl dieses jungen Ausreißers kümmern. Aber dies waren nicht die schlimmsten Veränderungen, die aufgetreten waren. Er konnte nicht mehr schlafen. Nachts wälzte er sich unruhig hin und her, versuchte sich in eine bequemere Lage zu bringen, in der er Ruhe fand, doch der Schlaf kam nicht, sowenig wie Erholung. Dann gab es Stunden, in denen er zwar einschlief, doch bei jedem noch so leisen Geräusch erschrocken hochfuhr oder schweißgebadet, von Alpträumen geplagt, aufwachte, nicht wissend, ob er noch träumte oder diesen abscheulichen Nachtmähren entflohen war. Dann sah er hinüber zu Ko, der friedlich schlief, und die Gewissheit, dass alles nur ein schlechter Traum gewesen war, schlich in ihm auf, begleitet von einem nagenden Gefühl, endlich aufzuwachen. Morgens fühlte er sich matt und entkräftet, kaum dazu in der Lage aufzustehen, doch irgendwie schaffte er es jedes Mal seinen müden Körper empor zu heben und seine Reise fortzusetzen. Manchmal wusste er danach nicht mehr, weshalb er auf Wanderschaft war. Er war zu zerschlagen, als dass er sich wundern, noch darüber nachdenken konnte, weswegen er nachts keinen Schlaf mehr fand und tagsüber wie ein Geist durch die Gegend wankte. Zugleich war er froh, dass Ko nicht nach seinem Zustand fragte, obwohl dieser während ihrer gemeinsamen Zeit immer redseliger geworden war und immer fröhlicher. Er erzählte von seiner kleinen Schwester, mit der er winters immer Schlittschuh gelaufen war, seiner lieben, aber kranken Mutter, seinen Raufereien mit seinem größeren Bruder in der Kinderzeit. Nur seinen Vater ließ er in seinen Erzählungen aus, und auch die näheren Umstände, die ihn zum Ausreißen veranlasst hatten, sprach er mit keinem Wort an, nicht mal, als Razu ihn direkt danach fragte. Zeitweise vertiefte sich Ko jedoch in seine eigenen Gedanken, beobachtete dabei mit einem träumerischen Ausdruck auf dem Gesicht die sich kaum verändernde Umgebung, und war nicht mehr ansprechbar. In diesen Momenten, in denen Razu sich seltsam fern von Ko und der restlichen Welt fühlte, dachte er wiederholt daran, nach Hause zurückzukehren, doch konnte er es nicht. Das Gefühl in ihm drängte ihn weiter, die rätselhafte Düsternis lockte ihn. Er musste sie einfach noch einmal sehen, nur ein einziges Mal. Ko war während Razus Grübeleien ein paar Schritte vorausgeeilt, winkte ihn nun heftig gestikulierend heran und stürmte, als er sicher war, dass er Razus Aufmerksamkeit hatte, voran. Er verschwand für kurze Zeit hinter dem Hügel, dem der Pfand gerade hinauf und hinunter folgte. Der Umhang flatterte dabei wild um seinen schmächtigen Körper. Razu beeilte sich, hinter ihm herzukommen. Der Pfad, der in der letzten Zeit immer stetig angestiegen war, endete hinter dem Buckel abrupt vor einer gigantischen Schlucht. Der Anblick hinunter war atemberaubend. Vor ihm erstreckte sich ein weites Tal, dessen Enden er kaum erkennen konnte. Ein Fluss, der aus dem Norden heran floss, schlängelte sich durch die bebauten Ackerflächen, jetzt brach liegend, und den einzelnen kleinen Wäldern. Im Süden erahnte Razu eine kleine Ansammlung von Hütten und Häusern, die, dicht am Wasser gebaut, das erste Anzeichen von Menschen seit Tagen waren und somit Wärme und Nahrung versprachen. Längst hatte er seinen Vorsatz, Dörfer zu meiden, über Bord geworfen. Sie beide brauchten dringend Essen, ansonsten konnte er für nichts garantieren. "Wir müssen einen Weg hinunter finden", sagte Ko aufgeregt. "Nicht mehr heute." "Aber dahinten ist ein Dorf, vielleicht kriegen wir da was zu essen", begehrte Ko auf, als er Razus entschlossenes Gesicht sah. "Es ist zu gefährlich, außerdem dunkelt es schon. Wir versuchen, morgen nach unten zu kommen." Ko wollte ihm widersprechen, entschied sich jedoch dagegen. Sie richteten ihr Lager nicht weit entfernt der Schlucht in einer Senke ein, entzündeten ein kleines, prasselndes Feuer und setzten sich schweigend gegenüber. An diesem Tag hatten sie kein Glück gehabt, kein noch so mageres Kaninchen war ihnen über den Weg gelaufen, noch hatten sie etwas essbares im Wald gefunden. Sie hungerten beide. Wenn die Menschen in diesem Dorf sie nun verjagten, wie Razu es in anderen Dörfern erlebt hatte? Es war eine Vorstellung, die ihm mehr als missfiel. Sie mussten dort einfach Hilfe finden. Es war eine dämliche Idee von ihm gewesen, mitten im Winter auf Wanderschaft zu gehen, die blödsinnigste, die er je gehabt hatte. Seine Vorbereitungen waren nur mäßig gewesen, seine Vorräte zu knapp kalkuliert und zu schnell verbraucht, von der kalten Jahreszeit hatte er sich überraschen lassen und zu Guter letzt war er nun auch noch für einen fünfzehnjährigen Jungen verantwortlich. Er hatte so ziemlich alles falsch gemacht. Aber er hatte auch nicht erwartet, dass seine Reise so lange andauern würde. Seit wie vielen Tagen und Wochen war er nun schon unterwegs? Er hatte sie nicht gezählt, war davon ausgegangen, dass er noch vor Winteranbruch zurückkommen würde. Jetzt saß er hier, die Knie angewinkelt und fest umschlungen, hypnotisierend ins Feuer starrend, in einem Landstrich, den er vorher nie bereist hatte, noch nicht mal geahnt hatte, dass er existierte, und, um ehrlich zu sein, niemals drüber nachgedacht hatte. Wann würde seine Suche endlich enden? Er schaute hinüber zu Ko, der sich schweigsam in dem großen Umhang vergrub. Ein Schauer rieselte seinen Rücken hinunter. Die Flammen tanzten auf Kos Gesicht, vertieften die Kanten und Furchen des Hungers, verschärften die Schatten, die über den lauernden Augen lagen, verwandelte sein Angesicht in das Bild eines kahlen Schädels, aus dem zwei unergründliche Höhlen ihn direkt anschauten, durchschauten. Razu grauste es. Schnell wandte er sich von diesem Bild ab, riss sich los von diesem unbegreiflichen Abgrund. Er spürte, wie er zu zittern anfing. Was war das gewesen? Selbst ihre Augen, ihre Blicke hatten ihn nicht solcherart erschaudern lassen, nicht eine solche Kälte ihn ihm wecken können. Wie hätte Ko...? Er war doch nur ein kleiner Junge. Was passierte mit ihm? Wurde er langsam verrückt? Es musste seine Erschöpfung sein. Seit Tagen hatte er nicht mehr richtig geschlafen, keine Erholung mehr finden können. Kein Wunder, dass er langsam Halluzinationen hatte und an Sinnestäuschungen litt. Er vergewisserte sich, dass Ko sich nicht in einen Totenkopf verwandelt hatte, atmete einmal tief durch, um sich zu beruhigen, und bereitete sich auf eine weitere durchwachte und eisige Nacht vor. In schwarz war sie gehüllt, in Dunkelheit und Düsternis, einzig ihr Haar leuchtete blutrot. Ihr Gesicht von ihm abgewandt, ihr Blick in die Ferne gerichtet, schien sie erstarrt zu sein, einer lautlosen Melodie lauschend. Sie war so fern von ihm, so unerreichbar weit weg, verloren dieser Welt und fremd dem Leben. An welchem Ort weilte sie in diesem Moment? Welche Gedanken rauschten durch diesen stolzerhobenen Kopf? Er hätte es gerne gewusst, er hätte gerne alles von ihr gewusst. Er wollte sie erkunden, erforschen, sie entdecken und ergründen. Er wollte sie umarmen und nie wieder loslassen müssen. Er rief nach ihr, stumm und wortlos, denn die Worte hatten ihn verlassen, verspotteten ihn aus ihren Verstecken heraus, lachten höhnisch. Sie hörte ihn nicht, regte sich nicht, wartete und lauschte weiter. Er lief zu ihr und stürzte, rappelte sich auf und lief weiter. Ein zweites Mal versuchte er sie zu erreichen, doch auch diesmal gelang es ihm nicht, scheiterte an seinen Bemühungen, scheiterte an seiner Müdigkeit. Sie blieb ihm fern, verharrte weiter in ihrer Bewegung, die von ihm fort führte. Seine Sehnsucht zu ihr übermannte ihn, umgab ihn wie einen frostigen Hauch, durchflutete ihn auf unerträglichste Weise und verursachte zugleich einen heißen Schauer in seinem Inneren. Ständig darauf bedacht, nicht an Stärke zu verlieren, sondern ihn leidend leben zu lassen, hatte seine Sehnsucht ihn zu einem Leben verurteilt, das ihn zu Untreue und Verrat, zu Täuschung und Blendung getrieben hatte. Er war seiner Familie, seiner Krone und seiner Pflicht abtrünnig geworden, allein um ihretwillen. Er war schuldig geworden wegen ihr, aber er lud die Schuld gerne auf sich, begrüßte sie mit offenen Armen, schloss sie in sich ein und warf den Schlüssel weg. Wenn dies der Preis für seine Sehnsucht sein sollte, so zahlte er ihn mit Freuden. Nun sah er seinen schwarzen Engel, den er kaum zu finden gehofft hatte, vor sich stehen, so nah, dass er sie hätte berühren können, und doch so fern, dass er sie nicht erreichen konnte. Hatte er sie verloren? War alles vergebens gewesen? War seine Reise zuende? War alles zuende? Sollte dies das Ende sein? Er betete, flehte sie an zu antworten, oder ihn einfach nur wahrzunehmen. Doch was würde er sehen, wenn sie ihn anschaute? Erkennen? Bitterkeit? Freude? Enttäuschung? Beinahe hatte er Angst davor. Er hatte nie vergessen, wer sie war oder welche Pflicht sie trug. Das Leben war ein Traum, aber sie war Wirklichkeit, sie war wirklich. Sie musste es sein. Warum redete sie nicht mit ihm? Sie hatte es doch schon einmal getan, hatte schon einmal das Wort an ihn gerichtet, hatte ihn persönlich aufgesucht. Musste er erst wieder sterben, um mit ihr sprechen zu können? War dies das eigentliche Ziel seiner Reise? Der Tod selbst? Das Ende von allem? Wer den Tod sucht, der wird den Tod finden. Schmerz wie brennend heißer Regen prasselte auf ihn herab, zerfraß seine Haut und krallte sich mit dornengespickten Klauen an ihm fest. Seine Seele brannte, sein Körper zersprang. Flammen leckten an ihm hoch, umschlossen ihn, hielten ihn gefangen in einem Gefängnis aus Pein und Elend. Er fiel auf die Knie und keuchte Blut. Widerhaken zogen an ihm, zerrissen das übrig gebliebene Fleisch in Fetzen, zerrten ihn auf die Beine zurück. Er schrie. Kos Kopf, der über ihn gebeugt war, nahm er als erstes wahr, jedoch nur schwach und undeutlich. Das Feuer war erloschen, nicht einmal die Kohlen glühten noch. "Du hast im Schlaf geschrieen", sagte Ko. War das wieder einer dieser Alpträume gewesen? Oder Wirklichkeit? Hatte sie ihn verlassen? Warum hatte sie ihn verlassen? Razu setzte sich auf. Benommen schüttelte er den Kopf und die Bilder verflogen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, was ihn so erschreckt hatte. Es war weg, nur ein dumpfes Gefühl der Schwebe blieb, das die vergangenen Schatten in seinem Inneren ersetzte, Frieden vorgaukelte und Chaos barg. Er kramte in seinem Gedächtnis, doch er fand nichts. Nichts war ihm geblieben, nicht mal ihr Gesicht. Er wandte sich zu Ko, der neben ihm kniete, mit verschlossener und ernster Miene. So hatte ihn Razu nur bei ihrem bizarren Kennenlernen erlebt. Es jagte ihm einen Schauer über den Rücken. "Es ... ist nichts", wehrte Razu ab. "Mach dir keine Sorgen." "Das tu ich aber." Razu blickte ihn an, überrascht und gleichzeitig traurig. "Nein, tu das nicht", sagte er schroff. Es klang härter als er gewollt hatte. Er drehte sich von Ko weg, damit er ihm nicht in die Augen schauen musste, und starrte in die mondbeschienene Dunkelheit hinein. Irgendwo dort war sie. "Und warum nicht?", fragte Ko herausfordernd. "Es haben schon genug Menschen wegen mir gelitten. Ich habe keine Lust noch einem Schmerzen zuzufügen", antwortete Razu. Es stimmte, er mochte Ko und er wollte ihm nicht wehtun, nicht, wenn er es vermeiden konnte. Was Ko brauchte, war eine Heimat, einen Ort, an den er nach Hause kommen konnte, keinen törichten Flüchtling, der Wahnvorstellungen bekam. "Wir werden uns morgen trennen", entschied Razu. "Du gehst zum Dorf und bittest um Unterkunft für den Winter. Ich werde in die entgegengesetzte Richtung weitergehen. So ist es am besten." "Ach, und der feine Herr bestimmt das einfach so, ja?", schnaubte Ko zornig. "Hat wohl die Weißheit mit Löffeln gefressen, was?" Natürlich war Ko aufgebracht, aber... Natürlich? So natürlich war es doch gar nicht. Sie waren erst seit ein paar Tagen, zwei Wochen höchstens, zusammen unterwegs. Warum wurde Ko dann so wütend über seine Entscheidung? Razu wandte sich wieder zu seinem kleinen Schützling, der vor unterdrücktem Groll sachte bebte. Aus ihm würde einmal ein starker Mann, wenn nicht ein mächtiger Krieger werden, irgendwann. Razu kannte sich damit aus, er hatte diese Phase auch durchlebt. Er konnte sich an einen Vorfall aus seiner Jugend erinnern. Damals hatte er sich geweigert, gegen den Rat seiner Lehrmeister, von seinen Kämpfen mit Monstern und Dämonen abzulassen. Er hatte sich in seinem jugendlichen Heißsporn stark und unerschütterlich gefühlt, hatte sich nicht beeindrucken lassen wollen von ihrem furchtmachendem Geschwätz. Er war siegreich gewesen, und mit jedem getötetem Monster stieg seine Arroganz. Er war unbezwingbar, unbesiegbar, bis ein Dämon ihn beinahe getötet hatte. Die Wunde war nur langsam geheilt und hatte ihm Zeit gelassen, über seine unbedachten Taten nachzudenken. Seine Lehrmeister hatten Recht gehabt. Hätte er auf sie gehört, wäre es nicht so weit gekommen. Ko musste doch einsehen, dass er es nur gut mit ihm meinte. "Du musst verstehen-" "Ich verstehe sehr gut. Du kannst es kaum erwarten, mich loszuwerden!" "Das stimmt nicht", begehrte Razu auf. "Wenn ich das vorgehabt hätte, hätte ich dich schon vor Tagen weggeschickt. Ohne ein Dorf in der Nähe, zu dem du gehen könntest. Sei nicht dumm!" Sei nicht dumm, dass hatten ihm seine Lehrmeister auch gesagt. Nun stand er auf ihrer Seite und schimpfte Ko, der sich doch nur Sorgen um ihn gemacht hatte. "Was soll ich in diesem blöden Dorf?", schnaufte Ko ärgerlich. "Ich bin ausgerissen, weil es mir leid war. Ich wollte Abenteuer erleben, die Welt erkunden und ein großer Krieger werden. Nicht auf einem heruntergekommenem Hof vergammeln." Und Razu war ein Krieger und erlebte Abenteuer, wenn auch keine märchenhaften. Wie sollte er ihm den Wunsch, mit ihm zu gehen, abschlagen, wo er doch genau wusste, wie sich Ko fühlte? Aber er hatte selber lernen müssen, dass Erwachsene manchmal auch Recht hatten und ihnen Folge zu leisten war, selbst wenn es auf dem ersten Blick ungerecht erscheinen mochte. Er hatte es gelernt, zwar auf die härtere Tour, doch hatte er es gelernt. Ko musste doch auch begreifen, dass er ihn nicht strafen, sondern schützen wollte. "Es ist zu deinem Besten, Ko." "Woher willst du wissen, was für mich das Beste ist?" Razu zuckte mit den Schultern. Erst nach einer längeren Pause, in der er sich seine Worte für Ko genau überlegte, antwortete er. "Meine Suche ist nicht ungefährlich. Ich möchte dich dieser Gefahr einfach nicht aussetzen." "Wonach suchst du eigentlich?" Razu wurde von dem plötzlichen Themawechsel überrumpelt, begann zu stammeln. "Ich ... nun, ich." Er brach ab, wusste nicht, was er sagen sollte. "Du hast mir nie erzählt, warum du durch die Gegend reist." Das hatte er tatsächlich nicht. Immer war Ko es gewesen, der geredet hatte. Razu hatte ihm nur zugehört. "Ich suche jemanden." "Und wen?" Er konnte Ko schlecht die Wahrheit sagen, wollte es auch gar nicht. Das ging ihn nichts an. Das war allein seine eigene Angelegenheit. "Eine ... Frau." "Liebst du sie?" Sie würden das Dorf noch heute Abend erreichen. Razu war erleichtert darüber, zumal die Sonne schon sehr tief über dem Horizont hing. Es hatte einige Zeit gedauert, um den Weg nach unten zu finden, und die Strecke bis zum Dorf war doch länger, als er angenommen hatte. Der Pfad war nie gerade, wand sich zwischen Wiesen und Äckern, Bäumen und Sträuchern hin und her, machte dort einen Knick, hier eine Schleife, als wolle er die Reisenden nicht zu ihrem Ziel führen. Seltsame Menschen mussten hier leben, die einen solch planlosen Weg benutzten. Ko erzählte gerade wieder von seiner kleinen Schwester, die, noch fünf Jahre alt gewesen, einmal ihrem Hahn alle Schwanzfedern ausgerissen hatte, weil sie sie so schön gefunden hat. Razu hörte nur halbherzig zu. Seit ihrem Aufbruch im frühen Morgengrauen hatte Ko mit keinem Wort ihr nächtliches Gespräch erwähnt, meidete das Thema mit sturer Ignoranz, und pfiff fröhlich und ausgelassen, wenn er von seinen Geschichten pausierte, als könne er damit die hartnäckigen Geister der vergangenen Nacht vertreiben. Es gelang ihm nicht. Razu musste immer wieder an Kos letzte Frage denken, er hatte ihm noch keine Antwort gegeben. Er wusste selbst nicht, wie sie aussah. Nachdem er das Gespräch für beendet erklärt hatte, hatte keiner von ihnen mehr geredet. Razu hatte nicht mehr einzuschlafen versucht, stattdessen hatte er Wache gehalten. Er hatte Angst davor, dass der Alptraum sich fortsetzen würde, Angst, dass er in diesen Flammen vergehen könnte. Die Nacht war ihm immer eine treue Begleiterin gewesen, die ihm Schutz spendete, nun war sie der Feind, vor dem er sich in Acht nehmen, den er fürchten musste. Würde sich jetzt alles gute, beruhigende, aus seinem bisherigen Leben in etwas dunkles, erschreckendes verwandeln? Er erzitterte vor diesem Gedanken. Das Dorf kam in Reichweite, man konnte schon einzelne Häuser voneinander unterscheiden. Razu schritt weiter aus, beachtete den verdutzten Ko nicht, der mitten in der Melodie aufhörte zu pfeifen. Er wollte nur seinen unheilvollen Gedanken entfliehen. Ko schloss wieder zu ihm auf und schwieg. Die Stille zwischen ihnen war erdrückend. Mit jedem Schritt kamen sie ihrem sicheren Zufluchtsort näher, doch Razu war, als ob ihr Ziel sich immer weiter von ihnen entfernte. Sobald sie jedoch das Dorf endlich betraten, die Sonne verschwand gerade hinter dem Horizont, verwandelte sich die scheinbare Sicherheit in eine bedrohliche Falle. Das Dorf war menschenleer. Es war grausig, denn es gab keine Anzeichen für einen Kampf oder einen Überfall. Die Häuser waren alt, jedoch noch sehr gut erhalten. Sie alle zeigten keine Spuren einer gewaltsamen Zerstörung. Es war, als ob die Einwohner einfach ihr Dorf verlassen hätten. Razu und Ko wanderten die kurze Straße hinunter bis zum Ende des Dorfes. Auch dort fanden sie keinen Hinweis auf das, was hier geschehen war. Sie waren ratlos. "Was machen wir jetzt?", fragte Ko nach einer Weile. Razu zuckte mit den Schultern, er wusste es nicht. Da erschall eine raue Stimme hinter ihnen. "Was wollt ihr hier, Fremde?" Sie war nicht freundlich gesinnt. Razu drehte sich zu der Person um. Es war ein älterer Mann, noch kein Greis, der energisch auf sie zu schritt. Sein Gesicht war angespannt und seine Hände leicht zu Fäusten geballt. Razu ahnte nichts Gutes. "Wie sind zwei Wanderer, die seit Tagen nichts mehr richtiges gegessen haben. Wir bitten um Unterkunft und eine kleine Mahlzeit", antwortete Razu. Der Mann baute sich vor ihnen auf, die Arme vor der Brust verschränkt, und blickte auf sie hinab. Er war gut einen Kopf größer als Razu. "Wir dulden keine Schmarotzer", sagte er grimmig. "Verschwindet von hier!" Aus den Augenwinkeln sah Razu, wie sich Ko anspannte. Beruhigend legte er eine Hand auf die Schulter des Kleinen. "Wir gehen." Mit einem Nicken wandte Razu sich von dem Riesen ab und ging davon, Ko zerrte er dabei hinter sich her. Außer Hörweite riss sich dieser von ihm los und begann lauthals Razu anzuschnauzen. "Was sollte das? Du hättest den Typen doch locker fertig machen können. Warum fliehst du wie ein feiges Huhn? Ich denk, du bist ein Krieger und kein Schwächling." Seine Augen funkelten zornig. "Vielleicht, vielleicht hätte ich ihn überwältigen können", gab Razu zu. "Aber hast du auch die Meute hinter ihm gesehen, die sich dem Dorf genähert hat?" Ko schüttelte den Kopf. "Obendrein wäre es nicht richtig gewesen." Ko wollte etwas erwidern, beließ es dann aber dabei. "Lass uns einen Schlafplatz suchen, ich bin müde", meinte Razu und marschierte weiter, Ko folgte ihm. Abermals wunderte sich Razu, weshalb Ko sein Verhalten so sehr missbilligte. Es wäre töricht gewesen, sich gegen den Mann zu stellen und einen Kampf zu provozieren. Nicht nur angesichts des ungleichen Kräfteverhältnisses. Er hätte ihn besiegen können, schließlich war der Mann nur ein einfacher Bauer gewesen und kein ausgebildeter Kämpfer wie er selber, aber darauf kam es nicht an. Nur Narren prügelten sich der Prügelei wegen und er war kein Narr. Der Kampf war eine Notwendigkeit, kein Vergnügen. Ko musste das lernen, er hatte es auch lernen müssen. Außerdem herrschte Krieg, selbst hier in dieser entlegenen Gegend spürte man dessen Wirkung. Ein Hauch, schmierig und klebrig verdunkelte die Welt, beschattete das Leben, legte sich auf die Herzen der Menschen und ließ sie erfrieren. Er hatte geglaubt, dem Krieg entfliehen zu können, doch er musste einsehen, dass dessen gierige Klauen wieder nach ihm schnappten, nach ihm zu packen versuchten. Seine Vergangenheit, seine Pflicht hatte ihn wieder eingeholt. Und wie kam Ko auf den Gedanken, dass Razu ein Krieger war? Er hatte es ihm nie erzählt, selbst seinen richtigen Namen hatte er ihm verschwiegen. Er bemerkte einen schwachen Lichtschein auf dem Rücken von Ko, der verdrossen ein paar Schritte vor ihm ging. Jemand folgte ihnen, so leise, dass er keine Schritte gehört hatte. Aber anscheinend wollte die Person beachtet werden, also war es kein aufgebrachter Dorfbewohner, der sie nachträglich zum Teufel prügeln wollte. Er drehte sich um und achtete nicht weiter auf Ko. Eine Frau, soweit er die Umrisse richtig deutete, schritt auf sie zu. Sie hielt eine kleine Öllampe in der Hand, deren Schein gerade mal ausreichte, den Weg vor ihren Füßen im Halbdunkel zu belassen. Sie war schon sehr dicht herangekommen. "Wartet", rief sie und winkte. Nun registrierte auch Ko, dass sie nicht allein waren, und kehrte um, stellte sich mürrisch abwartend neben Razu. "Entschuldigt Nikolaus bitte, er ... nun, ihr könnt bei mir übernachten. Hier draußen erfriert ihr ja", sagte sie lächelnd als sie vor ihnen stoppte. Sie hielt ihre kleine Lampe etwas höher, so dass der Schein auf ihrer beiden Gesichter fiel. Verwunderung lag in ihren Augen, als sie das Licht wieder herunternahm, dann lächelte sie abermals. "Du bist es wirklich", sagte sie, mit einem heimeligen Schauer in der Stimme. "Ich habe lange auf dich gewartet." Wohlig warm war es in Meriyas Stube, warm und behaglich. Er hatte schon fast vergessen, wie sich Wärme anfühlte. Die Kälte hatte sich während seiner Reise in seine Knochen gefressen, sich in seine Gedanken gestohlen und seine Sinne betäubt. Wochenlang hatte sein Körper dieser falschen Göttlichkeit gehuldigt, und nun ließ sie sich nur schwer vertreiben. Aber er spürte, wie die lang entbehrte Wärme wieder in seine Glieder zurückkehrte, kribbelnd und prickelnd. Diese Hütte war eine Wohltat und Meriya eine Heilige. Mit halb geschlossenen Lidern betrachtete er eingehend die knappe doch gemütliche Einrichtung. Es war nicht viel, ein abgetrennter Schlafraum, der von einem angegrauten Vorhang verdeckt wurde - einstmals musste er vor Farben gesprüht haben - , eine Feuerstelle, in der gerade ein halb erloschenes Feuer glomm, und der Tisch, auf dem die Reste ihres Mahles standen. An den Balken hingen überall Kräuterbündel und neben dem Herd waren auf einem Regal sorgsam alle Küchenutensilien aufgereiht. Gleich angrenzend an die Schlafstelle war eine Tür, die, wie Meriya gesagt hatte, zu ihrer kleinen Rumpelkammer führte. Anscheinend brauchte ein Mensch nicht mehr zum leben. Razu hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, wie die einfachen Leute hausten. Er hatte auch nie eine Gelegenheit gehabt dazu. Zeit seines Lebens hatte er ihm Schloss von Meta=llicarna gelebt, umgeben von Bediensteten, weichen Betten, großen Sälen und prunkvollem Schnickschnack. Hatte reichverzierte Gewänder getragen, jedenfalls zu den Feierlichkeiten, edle Rösser geritten und den Helden gespielt. Und er hatte geglaubt, dass dies der Alltag war, das Normale, das Gewöhnliche. Seine Reise hatte ihn etwas anderes gelehrt. Er hatte das Gefühl, sich schuldig fühlen zu müssen, doch er tat es nicht. Zu schläfrig war er, zu nebelig seine Gedanken, als dass sie ihn noch hätten malträtieren können. Ein leises Weinen erklang hinter dem Vorhang. Meriya stand von ihrem Schemel auf, ging zu ihrer Schlafstätte, schob den Vorhang zur Seite und beugte sich zu ihrem Bett herunter. Ein kleines Bündel auf dem Arm wiegend schritt sie zurück zum Tisch und setzte sich neben Ko, der, mit dem Kopf in eine Armbeuge eingebettet auf der Tischplatte eingeschlafen war. Der Umhang war dabei halb heruntergerutscht. "Das ist Rusie, mein Sohn", sagte Meriya. Razu konnte das stolze Glühen in ihren Augen sehen. "Wo ist sein Vater?" "Renren? Er ist gestorben ... im Krieg." Für einen kurzen Augenblick lag Verbitterung in ihrem Blick, dann glätteten sich ihre Züge wieder. "Aber der Krieg wird bald vorbei sein", sagte sie mit Zuversicht und blickte dabei zu Razu. "Bald." "Wie seid ihr euch da so sicher?" "Ich weiß", antwortete sie. "Ich weiß." Diese Nacht schlief Razu ohne Unterbrechung, als würde ein Schutz auf der Hütte liegen. Dämmerlicht durchwebte den Raum, hier und da zuckten Lichter, blinkten und blinzelten. Ein sachter Luftzug strich durch die Stille, pulsierte und atmete. Was er fühlte, war Leben, was er spürte, Lebendigkeit. Dieser Ort lebte. Ein Hauch der Ruhe, die er ersehnte, lag hier verborgen, versteckt vor der Menschheit, unschuldig und rein. Es war angsteinflößend. Die Ahnung von etwas so Unbeflecktem weckte in ihm den Drang zu fliehen. Es war ihm verboten hier zu sein, ihm und allen Menschen. Er hatte gesündigt, als er die Höhle, die hierher führte, betreten hatte. Er war vor den Göttern schuldig geworden, weil er es gewagt hatte, diese heilige Luft in sich einzusaugen. Er war verdammt, weil er existierte. Die schwere Last der Menschensünde lag auf seinen Schultern und er drohte unter ihr zusammenzubrechen. Die Menschen waren so skrupellos, so unbeugsam, so selbstverliebt. Sie hatten gekämpft, geraubt und getötet, sich verraten, belogen und geschändet. Und er war einer von ihnen, hatte selbst gekämpft, selbst getötet, war Richter und Henker gewesen. Mit welchem Recht? Welches Recht stand auf der Seite der Menschen? Wie hatte es nur so weit kommen können? Weshalb dieser Krieg? Was war die Ursache? Was war die Ursache von allem? Er wusste, dass ihm die Antwort darauf nicht gefallen würde, denn sie würde auch ihn richten und verurteilen, schuldig sprechen an der Welt. Aber er hatte doch immer nur das Gute gewollt. Er war doch nicht das Böse, er war es doch nicht. Sollten all seine Taten hinfällig gewesen sein und nur sein Menschsein eine Bedeutung haben? Ja, es herrschte Krieg, aber er hatte ihn doch nicht verursacht, und auch nicht die Menschen, denen er begegnet war. Wie konnten sie schuldig daran sein? Wie konnte er schuldig daran sein? Wie konnte ein Kind wie der kleine Rusie schuldig am Unglück der Welt sein? Wie nur? Es war nicht gerecht, dabei hatte er immer an Gerechtigkeit geglaubt. Er hatte nie daran gezweifelt, dass das Gute die Welt retten würde, und dass die Menschen irgendwann erlöst würden, anscheinend hatte er sich geirrt. Die Menschheit war verloren. Mag sein, doch du bist es auch. Und was würde es auch ändern? Er hatte seine Suche nicht beenden können, er würde wieder nach Hause gehen und seiner elenden Pflicht nachkommen, kämpfen und irgendwann sterben. Vielleicht sah er sie dann noch einmal wieder, aber das wagte er kaum zu hoffen. Er hatte versagt, abermals. Er wäre gefallen, in diesen unergründlichen Abgrund, diese düstere Finsternis, wenn nicht plötzlich eine Hand ihn gehalten hätte. "Ich glaube an dich." Es war Meriyas Stimme, weich und warm, ein schimmernder Regenbogen nach einem wütendem Gewitter. Sie glaubte an ihn. Würde das ausreichen, damit er die Last und die Sünden tragen konnte? Der Glaube einer Frau? Wenn sie es doch nur wäre, die an ihn glaubte. Andere Stimmen mischten sich ein, widersprachen und protestierten. Er konnte sie nicht verstehen, sie waren zu laut, zu fern, und zu viele, bis eine aus der Menge hervortrat und mit deutlicher und weithallender Stimme sprach: "Es ist euch verboten, zu helfen, Wächterin." "Es ist mir nicht verboten, zu sprechen", erwiderte Meriya. Wieder stieg das Gemurmel der Stimmen ins Unverständliche, und wieder sprach die eine Stimme: "Wir dulden keine weitere Einmischung." Dann war es still und er war wieder allein mit seinen Gedanken. Seine Gedanken, sie hatten ihn sein Leben lang begleitet und stellten sich jetzt als der wahre Feind heraus. Sie waren gefährlich, weil sie die Wahrheit erzählten. Und wer wollte schon gerne die Wahrheit hören, wenn es die Wahrheit des Versagens war? Er wollte sie verbannen, wegsperren und vergessen. Wie leicht wäre es, alles zu vergessen, jeden Gedanken zu verdrängen und sich keine Sorgen mehr machen zu müssen. War es das, was er sich wünschte? Aber es wäre Flucht gewesen, ein weiteres Scheitern auf seinem Weg. Dies war ein Kampf, ein Krieg gegen sich selbst, den er bestreiten musste, er durfte nicht wegrennen. Er musste sich selbst besiegen, damit er gewann. Alles andere wäre Selbstbetrug. Er füllte seinen Kopf mit Leere, verscheuchte das Unheil, wurde zu dem, wozu er geboren war, wurde zu einem Krieger. Gedanken zählten nicht mehr, wer zuviel nachdachte, starb. Und er konnte jetzt noch nicht sterben, seine Reise war noch nicht zuende, er hatte sie noch nicht gefunden. Er spürte, wie diese abscheuliche Lebendigkeit verflog und die Schuld kleiner und kleiner ward, bis er sie schließlich mit einer Handbewegung von sich wischen konnte. Er hatte die Prüfung überstanden, doch es blieb ein bitterer Nachgeschmack. Seine Suche hatte ihm böse mitgespielt. Es war nicht sein Ziel gewesen, ein Krieger zu werden, seiner Pflicht treu ergeben und loyal. Sein Ziel war nicht der Kampf, sein Ziel war sie. Doch sie schien unerreichbar. Seine Suche hatte ihn hereingelegt. Er sah sich um. Hinter ihm standen Meriya, die ihren kleinen Sohn auf den Armen trug, und Ko, der, halb in den Schatten verborgen, keine Regung zeigte, als Razu wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte. Es war Razu, als wäre ihm sein Schützling in den letzten Stunden immer weiter entglitten, als würde ein Abgrund sie voneinander trennen. Er war traurig darüber. Am Morgen waren sie zu dieser Höhle aufgebrochen, nachdem sie etwas gefrühstückt und von Meriya warme Kleidung bekommen hatten. Meriya war es auch gewesen, die sie hierher geführt hatte, ohne ihnen jedoch einen Grund zu nennen. Razu hatte sich schon gefragt, ob sie sie wieder aus dem Tal schicken würde, auf dem gleichen Weg, den sie am gestrigen Tag gekommen waren, aber kurz vor der schroffen Felswand, die das Tal an der Ostseite begrenzte, hatte Meriya eine andere Richtung eingeschlagen und war dem Lauf eines schmalen Seitenpfades gefolgt. Der wiederum hatte hinter einem großen Felsvorsprung vor einer mannshohen Höhlenöffnung geendet. Der Gang dahinter hatte sie hierhin geführt, zu diesem alten Ort, der seit Jahrzehnten keinen Menschen mehr gesehen hatte. Meriya hatte ihm gesagt, dass seine Reise nun zu Ende wäre und dass nun endlich wieder Frieden herrschen würde. Aber er hatte nicht verstanden, sie nicht, und nicht das Leuchten in ihren Augen. Wie sollte es Frieden geben, wenn dieser andauernde Krieg nie endete? Er würde ihn beenden, hatte sie geantwortet und gelächelt. Razu hatte ihr nicht glauben können. Nun stand sie vor ihm. Stolz war sie, und glücklich. Er wünschte, er könnte es verstehen. Die eine Stimme sprach wieder, erschrocken fuhr Razu herum und blickte in das übergroße Gesicht eines alten bärtigen Mannes. "Prinz Razu Ur Meta=llicarna, Ihr seid für würdig befunden worden. Wir, die Zehn Weisen Europas, geben Euch die Macht, den Magier Dark Schneider zu besiegen. So ist es gesagt, so wird es sein!" Dann verschwand der Kopf wieder. Die Erscheinung war so plötzlich gekommen, dass Razu beinahe glaubte, eine Halluzination gesehen zu haben, aber die Stimme war zu deutlich gewesen, zu eindringlich. Jedes einzelne Wort hatte sich in seinen Körper hineingeätzt, ihn gebrandmarkt und gezeichnet. Als ihm bewusst wurde, dass das Gesicht nicht wieder erscheinen würde, wandte er sich zu den anderen und sah gerade noch, wie Ko Meriya die Kehle aufschlitzte. Mit einem irren Grinsen im Gesicht leckte Ko sich genüsslich über die Lippen, während der leblose Körper Meriyas zu Boden fiel und das wimmernde Kind unter sich begrub. Ko lachte, kalt und verächtlich, das blutige Messer in den Händen haltend. "Du wirst meinen Meister nicht besiegen", sagte er. Und seine Worte brannten wie Eis. Es war still. Er begann die Stille zu hassen. Das Kind in seinen Armen schlief friedlich, als wäre seine Mutter nicht gerade ermordet worden. Aber woher sollte der Kleine es auch wissen? Wie sollte er begreifen, welches Unrecht ihm widerfahren war? Er war unschuldig, nur die äußeren Umstände hatten ihn zum Opfer deklariert. Der kleine Rusie hatte keinen Fehler gemacht. Im Gegensatz zu Razu. Er war schuld, schuld am Tode Meriyas. Er hätte Ko nicht vertrauen dürfen, hätte Misstrauen hegen sollen, als er an diesem vergangenem Abend von dem Jungen überfallen worden war und der sich ihm am nächsten Morgen einfach angeschlossen hatte. Wieso war er nicht vorsichtig gewesen? Die Alpträume hätten eine Warnung für ihn sein müssen, vielleicht war sogar Ko für sie verantwortlich. Nächtelang war er wach gewesen, geschüttelt von Hunger und den Schrecken, die im Schlaf auf ihn gelauert hatten. Er wäre beinahe dem Wahnsinn verfallen, hätten sie dieses Dorf nicht erreicht. Warum hatte er Ko nicht als Verräter erkannt? Weil er es nicht wollte, und nicht konnte. Seine verdammte Suche war ihm wichtiger gewesen, sie war ihm wichtiger gewesen, und Ko nur ein kleiner Bengel, der von Zuhause ausgerissen war. Kein normaler Mensch hätte Verdacht geschöpft. Er hatte sich täuschen und betrügen lassen, er war ein Narr gewesen, deshalb war er schuld. Meriya könnte jetzt noch leben und Rusie hätte noch seine Mutter, wäre er nicht so egoistisch gewesen. Wenigstens war sie glücklich gestorben. Es war die einzig tröstende Tatsache. Meriya hatte geglaubt, dass er den Krieg beenden könnte, bis zu ihrem Ende hatte sie nicht daran gezweifelt. Es war ihm unbegreiflich, woher sie die Zuversicht genommen hatte. Hatte es etwas damit zu tun, dass er diesen Ort bezwungen, diese Prüfung bestanden hatte? Die Stimme hatte sie ,Wächterin' genannt. Er fragte sich, wovon. Die Zeit rauschte dahin, sie war nicht mehr wichtig, nichts war mehr wichtig. Selbst der Krieg hatte seine Bedeutung für ihn verloren. Er konnte nicht mehr nach Hause zurück, in seine Heimat, dort, wo er seine Kindheit verbracht hatte. Er hatte einmal zu oft versagt, einmal zu oft verloren, zu oft den großen Helden gespielt, der er nicht war. Die Müdigkeit kehrte wieder und schlich sich in seine Seele hinein. Er wollte schlafen und alles vergessen, er war so müde. Noch eben hatte er gekämpft, doch jetzt schien sein Wille gebrochen. Nur Scherben waren übriggeblieben, deren scharfe Kanten ihm bei jeder Bewegung, jedem Atemzug bittere Schmerzen bereiteten. Seine Suche war vergebens gewesen, er war gescheitert. Du hast bekommen, was du gesucht hast, der Tod liegt vor dir. Wollte ihn die Stimme schon wieder narren? Er hatte nicht gewollt, dass jemand starb. Das war nicht das Ziel gewesen. Er hatte sie gesucht. "Aber ich bin der Tod." Er schaute auf. Umhüllt von ihrem dunklen Umhang stand sie vor ihm. Die Kapuze hatte sie abgenommen, so dass er ihr Gesicht erkennen konnte, dessen Bild ihm entschwunden war. Nun hatte er es wieder. Ihr Anblick schmerzte ihn, seltsamerweise. "Ich hab dich gesucht", sagte er. "Ich weiß." "Warum zeigst du dich erst jetzt?" Sie antwortete nicht, dabei wollte er Antworten haben, Antworten auf seine Fragen, Antworten auf seine Rätsel. Wieso sagte sie nichts? Weshalb blieb sie stumm? Er stand auf. Hätten seine Hände das kleine Wesen in seinen Armen nicht gehalten, hätte er sie zu Fäusten geballt. So konnte er sie nur zornig anfunkeln. "Warum sagst du nichts? Ich habe eine Antwort verdient", schnaubte er aufgebracht. "Ich bin durch das halbe Land gereist, um dich zu finden. Habe gehungert und gefroren. Habe den Wahnsinn überlebt, diese dämliche Prüfung bestanden. Und jetzt bleibst du einfach stumm? Das ist nicht gerecht!" "Warum hast du mich gesucht?" Warum er sie gesucht hatte? War das wichtig? Er hatte sie wiedersehen wollen, deshalb. War das nicht genug? Reichte das nicht oder gab es noch einen anderen Grund? Kos Frage, die er unbeantwortet gelassen hatte, kam ihm wieder in den Sinn. War es Liebe? "Ich wollte dich sehen", sagte er. "Ich will ..." Er verstummte. "Was willst du?" Er wollte sie, sie allein. "Komm mit mir." "Ich kann nicht." "Du meinst, du willst nicht." "Ich kann nicht." Was sollte das bedeuten? Sie war real, sie war wirklich. Warum konnte sie nicht mit ihm gehen? Oder log sie ihn an und wollte doch nicht. "Ich habe eine Pflicht zu erfüllen", sagte sie. "Dann schmeiß sie hin, deine verdammte Pflicht, vergiss sie." Er hatte es doch auch getan. "Komm mit, ich bitte dich." "Ich kann nicht." Sie schaute ihn an, undurchdringbar war ihr Blick, stark und stolz. Er hatte sich nach ihr gesehnt, nach diesem Augenblick in dem er sie wiedersah, aber nun lief alles verkehrt. So hatte er es sich nicht vorgestellt. Es sollte anders sein, nicht so, nicht so. "Warum?", fragte er. "Du weißt es." Er wusste es? Wenn er es wusste, warum fragte er dann? Wollte sie ihn hinters Licht führen? Ihn zum Narren halten? Woher sollte er es wissen? Weil du das gleiche Schicksal teilst. Das gleiche Schicksal? Welches Schicksal? Es gab kein Schicksal, nur Siegen oder Verlieren. Es war so unwirklich. Er hatte das Leben aufgegeben und der Tod wollte ihn nicht. Was sollte er machen? Was war seine Aufgabe? Er hatte eine Aufgabe gehabt, vor langer Zeit. Er hatte eine Verantwortung getragen, der er Treue geschworen hatte, aber er hatte seinen Eid gebrochen. Er konnte nicht mehr zurück und an dem Punkt weitermachen, an dem er aufgehört hatte. Er senkte den Kopf und sein Blick fiel auf etwas goldenes an seiner rechten Hand. Es war der Ring, den ihm Geo gegeben hatte. Geo hatte immer zu ihm gehalten, seit sie sich kannten. Er würde ihn nie verurteilen, davon war Razu überzeugt. Ihre Freundschaft ging zu tief, war zu fest, als dass irgendetwas sie zerbrechen konnte. Auf ihn konnte er zählen, so wie auch Geo immer auf ihn zählen konnte. Wie mochte es ihm in der Zwischenzeit ergangen sein? Fühlte er sich auch so einsam, oder war es sogar schlimmer, da er auch seine Frau verloren hatte und nicht nur seinen besten Freund? "Ich bin hier, um dich an deine Pflicht zu erinnern", sagte sie und riss ihn aus seinen Erinnerungen. Seine Pflicht? Seine Pflicht hatte er abgegeben, er diente ihr nicht mehr. "Sie ist nicht wichtig", erwiderte er, "nicht mehr." "Sie sollte es aber sein", erklärte sie. "Dein Leben gehört nicht dir allein." Dabei zeigte sie auf das Bündel, das noch immer in seinen Armen lag. "Du trägst Verantwortung." Der kleine Rusie schlief so ruhig, als könnte ihn nichts auf der Welt stören. Er kümmerte sich nicht um den Krieg, nicht um Schuld oder Unschuld, Leben oder Tod. Razus Probleme waren dem Kleinen egal, doch Razu durften die seinen nicht egal sein. Er musste sich um Rusie kümmern, schließlich war seine Mutter tot. Der Kleine brauchte ihn, er hatte doch sonst niemanden. Razu war verantwortlich für ihn. Und er begriff, als er das kleine Kind betrachtete, dass er auch für die Menschen in seinem Land und darüber hinaus verantwortlich war. Er war als Prinz geboren, als Prinz erzogen worden. Alle hatten von ihm erwartet, dass er eines Tages die Krone und die Regierung übernehmen würde. Keiner hatte ihn jemals gefragt, ob er das überhaupt wollte, keiner hatte ihn nach seinen eigenen Wünschen gefragt. Immer hatte er gehorchen und funktionieren müssen. Dabei hatte ihn die Last des Ideals, das von ihm erwartet wurde und dem er Zeit seines Lebens nachgeeifert hatte, Jahr für Jahr nieder gedrückt, hatte ihn erdrückt. Seine eigene Person hatte ihm die Luft zum Atmen genommen. Im Spiegel war er sich fremd geworden. Nun aber konnte er alles aus einer anderen Perspektive sehen. Er war als Prinz geboren, und damit trug er seit seiner Geburt die Verantwortung für sein Volk. Es war nicht gerecht, aber das spielte keine Rolle. Gerechtigkeit war ein Prinzip der Menschen, also mussten sie auch dafür sorgen, dass es eingehalten wurde. Nicht seiner Krone, sondern den Menschen in seinem Land war er verpflichtet. Er verstand, endlich verstand er. Er hatte es fast vergessen. Er sah auf. "Werde ich dich wiedersehen?" "Vielleicht." "Und was passiert jetzt?" "Das hängt ganz allein von dir ab." Er glaubte zu wissen, dass er sie nicht wiedersehen würde, und war traurig darüber. Aber diesmal würde er sich nicht vor seiner Verantwortung drücken. Er würde den Krieg beenden und den Schrecken ein Ende setzen. Der Krieg hatte schon viel zu lange gewütet, die Menschen hatten Frieden verdient. Es war seine Pflicht. Und seine eigene Entscheidung. Sie war der Tod. Sie war das Ende. Die Menschen fürchteten sie, versuchten sie zu überlisten und betrogen die Welt um das ewige Leben. Aber die Ewigkeit gab es für sie nicht. Die Menschen starben. Dies war ihre Pflicht. Einst war auch sie ein Mensch gewesen, aber diese Zeit lag schon lange zurück. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Sie hatte vergessen, Mensch zu sein. Dafür hatte sie gelernt, Menschen zu verabscheuen. Sie hatte nur die schlechten Seiten an ihnen gesehen, immer nur deren Arroganz und Blindheit. Sie hatte das Wissen um deren Grund zum Leben verloren. Doch nun hatte sie einen Menschen getroffen, den sie nicht verachten konnte. Er war nichts besonderes, er war genauso arrogant und blind wie die anderen, aber er hatte sie gesucht und gefunden. Und er hatte verstanden. Vielleicht würde sie nun die Menschen verstehen. Ende. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)