1267 von rokugatsu-go ================================================================================ Prolog: Eine schwere Last ------------------------- „... und dann waren wir in einem Land, in dem es nur Seifenblasen gab.“ „Seifenblasen?“ Fye lachte, als er Sakuras große, verblüffte Augen sah. „Ja. Sie schwebten überall in den verschiedensten Farben und Größen herum. Das war ein wirklich schöner Anblick. Wir fanden die Quelle, aus der sie emporstiegen, aber ansonsten gab es in dieser Welt absolut nichts.“ Sakura hatte Fyes Erzählungen gebannt gelauscht und dennoch entging ihr – genau wie den anderen dreien in ihrer Runde – nicht, wie Shaolan bei Erwähnung der Seifenblasen merklich zusammengezuckt war. „Ist alles in Ordnung, Shaolan-kun?“, fragte die Prinzessin besorgt und der Junge winkte etwas übereifrig ab. „Es ist nichts. Bitte mach dir keine Sorgen.“ Er lächelte und spürte den durchbohrenden Blick Kuroganes auf sich. „Shaolan?“ Mokona, die auf der Tischplatte (zwischen dem dort servierten Essen) herumhopste, richtete mit hängenden Öhrchen ihren besorgten Blick auf ihren brünetten Gefährten, dem diese Reaktion sichtlich unangenehm war. „Stimmt etwas ni-“, begann Sakura, wurde aber hastig und heiter von Fye unterbrochen. „Oje, oje! Ich ahne, wo das Problem liegt. Ich plappere und plappere und der arme Shaolan fällt vor Müdigkeit fast ins Essen!“ Die strahlend blauen Augen des Magiers trafen auf die verdatterte Miene des Jungen, der daraufhin langsam nickte. „Du bist müde?“, hakte das Mädchen behutsam nach. „Warum hast du das denn nicht längst gesagt?“ „Vermutlich wollte Shaolan nicht unhöflich sein“, antwortete Fye an seiner Stelle. „Wo wir doch endlich noch einmal im Land Clow sind.“ „Aber das ist noch nicht unhöflich!“, entgegnete Sakura. „Bitte sag mir immer, was mit dir ist, ja, Shaolan-kun?“ Der Angesprochene machte eine erhebliche Pause. „J-ja.“ Kurogane stöhnte an dieser Stelle. „Geh schlafen. Du kannst morgen mit der Prinzessin reden.“ „Okay.“ Zögerlich stand Shaolan auf und verbeugte sich vor Sakura. „Entschuldigung.“ Energisch schüttelte das Mädchen den Kopf. „Du musst dich nicht entschuldigen. Ruh dich gut aus, ja?“ Er nickte erneut und setzte sich mit unsicheren Schritten in Bewegung. „Ich bring ihn besser ins Bett.“ Fye stand ebenso auf und ignorierte dabei, dass Kuroganes Blick mittlerweile auf ihm gelandet war. „Sonst schläft er unterwegs noch ein.“ Er holte Shaolan rasch ein, hakte sich bei ihm unter und verließ mit ihm den großen Balkon, auf dem in dieser lauen Nacht im Schloss das Essen für die Reisenden aufgetischt worden war. Sakura hatte dies vorgeschlagen, weil sie diesen Platz für gemütlicher und familiärer als den Speisesaal hielt. Schweigend begleitete der Magier Shaolan bis in das Zimmer, das jedes Mal für den Jungen im Schloss hergerichtet wurde. Es war ihr zweiter Besuch in Clow, seit sie damals von hier aufgebrochen waren. Bei ihrem jetzigen Besuch hatte Fye belustigt festgestellt, dass er und Kurogane keine getrennten Zimmer mehr zugeteilt bekommen hatten. „Außer ihr wollt doch zwei Zimmer haben ...“, hatte Sakura überfordert eingeworfen, nachdem sie Kuroganes verlegenes (und hochrotes) Gesicht gesehen hatte. Fye hatte daraufhin lachend abgewunken. Dass sie die Zimmer im Vorfeld so verteilt hatte, hatte nun sowieso sämtlichen Schlossbewohnern ziemlich deutlich gesagt, was Sache war. Warum sollte man dann einen Rückzieher machen? Das Land, in dem Sakura war, war für die stetig Umherreisenden das Nächste, was man ein Zuhause nennen konnte. Fye war ein wenig von sich selbst überrascht, dass er (ausgerechnet er) dies dachte, aber: Hier konnten sie alle sie selbst sein. Hier musste niemand etwas verstecken, sich verstellen oder gar lügen. Eigentlich. Der Magier setzte Shaolan auf seinem Bett ab und atmete hörbar aus. Kurogane würde wahrscheinlich wieder davon anfangen, dass er auf den Jungen abfärbte. Pah! Der feine Herr Ninja war es doch, der seine Zähne nie auseinanderbekam. … Vielleicht taugten sie beide nicht allzu viel als Vorbilder. „Danke, dass du der Prinzessin nicht erzählt hast, was in der Welt mit den Seifenblasen vorgefallen ist“, sagte Shaolan von sich aus und sah dabei zu ihm hoch. „Ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht.“ „Oh Shaolan-kun.“ Fye seufzte von neuem und fuhr mit einer Hand sanft durch die Haare des Jüngeren. „Das tut sie doch längst. Ich wollte dir nur die Möglichkeit geben, dich erst einmal zu sammeln, bevor du mit ihr redest. Sakura-chan anzulügen ist keine Option. Außerdem weißt du selbst, mit wem wir sie gerade allein gelassen haben ...“ „Denkst du, Kurogane-san wird es ihr erzählen?“ Angesichts der aufsteigenden Panik in der Stimme des Jungen schüttelte Fye den Kopf, bevor er sich zu dem auf der Bettkante sitzenden Shaolan herunterkniete und ihm direkt in die Augen sah. „Er weiß, dass es besser ist, wenn du mit ihr redest. Und das wirst du doch auch tun, nicht wahr, Shaolan-kun?“ „Ja. Natürlich.“ „Sehr gut!“ Fye lächelte ihn so überschwänglich an, dass Shaolan das Lächeln tatsächlich ein wenig erwiderte. „Dann ruh dich jetzt aus. Es war zum Glück ja nicht ganz gelogen, dass du erschöpft bist. Sonst dürfte ich mir von Kuro-pon wieder etwas anhören ...“ Er gab Shaolan einen kurzen Kuss auf die Stirn und strich noch einmal über sein Haar, ehe er sich aufmachte, das Zimmer zu verlassen. „Fye-san?“ „Ja?“ „Danke.“ „Nichts zu danken. Wirklich nicht.“ Der Blondschopf schloss die Tür hinter sich und verweilte noch einen langen Moment in dem stillen und einsamen Flur. Sein Lächeln war einer sehr nachdenklichen Miene gewichen.   „Kurogane-san?“ Der Angesprochene schreckte zusammen, als die Prinzessin so betrübt klingend das Wort an ihn richtete. Er schaute zu ihr und schluckte. Sie blickte genauso drein, wie sie klang. „Geht es … geht es Shaolan gut?“ Kurogane gab ein Brummen von sich. „Gut ist wahrscheinlich das falsche Wort. Aber es geht ihm auch nicht schlecht. Du solltest das mit ihm selbst besprechen.“ „Ja ...“ Der Ninja stöhnte unzufrieden. Was ließ der Spinner ihn mit der Prinzessin alleine?? Was sollte er ihr denn sagen? Beunruhigen wollte er sie ganz sicher nicht, aber er würde den Teufel tun und vortäuschen, dass alles in Ordnung war! Er würde ihr nicht erzählen, was in dem Land mit den verdammten Seifenblasen vorgefallen war. Er würde ganz bestimmt kein Wort darüber verlieren, wie der Bengel einen Nervenzusammenbruch gehabt hatte, nachdem einige der Seifenblasen bei Berührung mit ihnen zerplatzt waren. Er hatte Angst gehabt, dass sie eventuell Lebensformen waren und ihr Ankommen in dieser Welt sie getötet hätte. Der Klops und der Magier hatten eine halbe Ewigkeit auf Shaolan einreden müssen, bis sie ihn vom Gegenteil überzeugt hatten und er sich hatte beruhigen können. Selbst harmlose Welten hinterließen nun schon Narben. Es wurde einfach langsam zu viel für einen Jungen, der schon so viel hatte ertragen müssen. Kurogane spürte ein schwaches, plüschiges Klopfen auf seiner rechten Hand. Er senkte seine Augen hinab und erblickte Mokona, wie sie ihm in einer Geste der Aufmunterung mit einer Pfote auf die Hand klopfte. „Hey, stell die Lauscher auf. Was soll der mitleidige Blick? Du bist damit bei der falschen Adresse gelandet.“ Mokona schüttelte ihr Köpfchen. „Ich bin genau richtig.“ „Wie geht es dir, Kurogane-san?“ Überrascht schaute der Schwarzhaarige wieder zu Sakura, die sichtlich sorgenvoll auf seine Antwort wartete. Ein für seine Verhältnisse sanftes Lächeln formte sich auf seinen Lippen. „Gut wäre vielleicht das falsche Wort. Aber mir geht es definitiv nicht schlecht. Definitiv nicht.“ Sakuras große, grüne Augen füllten sich trotz ihres spürbaren Kummers mit Freude. „Das ist schön zu hören.“ „Ja. Das ist es.“   Fye eiste sich von seinem Platz vor Shaolans Tür los und machte sich gemächlich auf den Rückweg. Er war dankbar, dass sie in Clow gelandet waren. Shaolan war sich dies vielleicht selbst nicht bewusst, aber er brauchte eine Pause und zwar dringend. Der Magier war froh, wenn sie nun wenigstens für ein paar Tage aufatmen konnten. Kurogane beschwerte sich ja praktisch nie, doch auch er hatte erkennbar erleichtert gewirkt, als sie realisiert hatten, in welchem Land sie waren. Nachdem Sakura allen freudig um den Hals gefallen war, hatte sie sofort wissen wollen, was sie in der Zwischenzeit erlebt hatten. Sakura hatte ebenso schnell festgestellt, dass Fye wieder viel gesünder aussähe als damals bei ihrer Begegnung in dem Traum in Matrisis und er hatte das zum Anlass genommen, die Gesprächshoheit an sich zu reißen. Die Prinzessin sollte nicht wissen, dass er in den zwei Wochen, die sie in dem Land verbracht hatten, noch ganze zweimal das Prozedere über sich hatte ergehen lassen müssen, die natürliche Magie entzogen zu bekommen. Er war selbst erschüttert darüber, wie schwer es ihm fiel, seine negativen Gedanken und Gefühle in den Griff zu bekommen. Er hatte ursprünglich sogar versucht, seine sich wieder verschlechternde Gesundheit vor Kurogane, Shaolan und Mokona zu verheimlichen – was eine wirklich blöde Idee gewesen war. Nach allem, was bis dahin vorgefallen war, konnte er allerdings auch verstehen, dass es für sie so ausgesehen haben musste, als würde er weiterhin schlichtweg nicht ehrlich zu ihnen sein wollen. Während Shaolan in Matrisis versucht hatte, die Aufzeichnungen der Urahninnen der magischen Wächterinnen zu entschlüsseln und Kurogane zügig einen Job als Lastenesel („DAS IST NICHT DIE OFFIZIELLE BEZEICHNUNG!!“) gefunden hatte, hatte Fye sich schwer damit getan, sich nützlich zu machen. Da die Heilerin Monique Bedenken geäußert hatte, dass er sich nach seinem Beinahe-Tod besser nicht sofort in die Arbeit stürzen sollte („Ich kann dich auch nicht ständig wieder zusammenflicken, Goldlöckchen.“), hatte Fye versucht, Shaolan zu helfen, aber … uh, Fremdsprachen waren nicht sein Ding. Er konnte es selbst kaum fassen, doch der reine Gedanke daran, nutzlos zu sein, hatte schon wieder zu Schwindelanfällen geführt. Seine beiläufige Bemerkung, draußen alleine etwas spazieren gehen zu wollen (wenn er in Wahrheit die magischen Wächterinnen hatte aufsuchen wollen), hatte gereicht, um Kuroganes Argwohn zu wecken. Als es zum insgesamt dritten Mal passierte, hatte er ihnen daher direkt Bescheid gesagt – und es umgehend bereut. Denn daraufhin hatte Shaolan beschlossen, in die nächste Welt zu reisen. Obwohl er mit den Aufzeichnungen noch nicht fertig gewesen war. Fye würde niemals das erschütterte Gesicht des Jungen vergessen, nachdem eine Erkenntnis über ihn gekommen war. „Wolltest du uns nichts davon sagen, dass es dir schlechter geht, damit ich die Aufzeichnungen zu Ende lesen kann? Bitte, sag die Wahrheit, Fye-san.“ Er hatte ihn nicht anlügen können. Und er hatte ihm nicht die Wahrheit sagen wollen. „Shaolan-kun ...“ Das hatte dem Jungen als Antwort gereicht. Nein, bevor ihm tatsächlich etwas zustoßen würde, müssten sie weiter. Shaolan hatte nicht einmal mehr Kurogane um seine Meinung dazu gefragt. Seitdem waren sie bereits wieder in unzähligen Welten gewesen, doch keine davon hatte ihnen weitergeholfen. Alles, was sie hatten, war ein Abschnitt aus den Schriften in Matrisis, in dem von einer Legende die Rede war, laut der es irgendwo Magier gab, die derart mächtig waren, dass sie selbst Tote wiedererwecken könnten. Das war Humbug. Das wusste keiner besser als sie. Aber - jede Legende besaß einen wahren Kern. Vielleicht gab es in der Tat irgendwo noch viel mächtigere Zauberer. Die Magierinnen aus Matrisis hatten ja schon beeindruckende Kräfte besessen; es war demnach nicht völlig ausgeschlossen, dass es irgendwo jemanden gab, der ihnen helfen konnte, die Kinder zurückzubringen. Schritte ließen Fye, der beim Gehen die Augen gedankenverloren gen Boden gerichtet hatte, aufhorchen und aufblicken. Oje. Da hatte jemand keine gute Laune. „Wie geht es ihm?“ Kurogane blieb mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihm stehen. „Ich hoffe, er kann etwas schlafen.“ „Wäre wünschenswert. In jeder neuen Welt rennt er sofort los, um etwas über Legenden und so'n Zeug zu erfahren. Er ist schrecklich rastlos geworden.“ Fye seufzte achselzuckend. „Ich weiß.“ „Wir müssen das in den Griff kriegen. Sonst verausgabt er sich irgendwann komplett.“ Der Magier legte den Kopf leicht schief. „Auch das weiß ich. Ich bin nicht ganz dumm, Kuro-tan.“ „Dann lass mich nicht mit der Prinzessin alleine, wenn sie so traurig guckt. Ich habe eben Blut und Wasser geschwitzt.“ „He he“, gluckste Fye. „Der große böse Ninja hat Angst vor Gefühlen?“ „NEIN! NATÜRLICH NICHT!“, schnaubte dieser. „Ich lüge nur Leuten nicht eiskalt ins Gesicht.“ „Autsch.“ Der Blondschopf zog eine beleidigte Schnute. Er unterdrückte den Drang zu argumentieren, dass das Auslassen gewisser Gegebenheiten in Erzählungen doch nicht das Gleiche wie lügen wäre. Die Diskussion hatten sie bereits mehrmals geführt und Fye wartete noch auf seinen ersten Sieg. Daher zog er einen Themenwechsel vor. „Wo steckt Mokona?“ „Ist mit der Prinzessin schlafen gegangen.“ „Ich könnte auch etwas Schlaf vertragen. Was ist mit dir, Kuro-Schäfchen?“ „WER IST HIER EIN SCHAF?!“ Fye grinste und machte wieder kehrt, um zu ihrem Zimmer zu gehen, doch zwei starke Arme, die sich von hinten um ihn schlangen, ließen ihn erstaunt innehalten. „Auch wenn du es eben nur für den Kleinen getan hast“, raunte Kurogane ihm ins Ohr, „du lügst nach wie vor so leichtfertig, dass es beängstigend ist.“ Mit betroffener Miene legte der Magier eine Hand auf eine der Größeren, die ihn hielten. „Tut mir leid.“ Er lachte schwermütig. „Es passiert einfach.“ „Das darf es nicht.“ Fye fürchtete bereits, den Anderen verstimmt zu haben, als dieser ihn losließ und an ihm vorbeischritt. Doch Kurogane drehte sich noch einmal zu ihm um – und stöhnte. „Willst du hier Wurzeln schlagen? Es ist spät, ich bin müde und selbst wenn wir nicht in Welten sind, die dich allein durch dein Gedankenkarussell umbringen können, gefällt es mir nicht, wenn du so ein Gesicht machst.“ Er hielt ihm eine Hand hin und Fye musste lächeln. „Du bist und bleibst ein Romantiker, Kuro-min.“   Kurogane wachte auf, bevor die Tür zu ihrem Zimmer sich öffnete. Es war nicht mehr so ganz früh am Morgen; das konnte er am Lichteinfall ins Zimmer feststellen. Fye lag neben ihm auf der Seite und schlummerte friedlich und sabbernd, die langen Haare wunderbar zerzaust. Zum Schlafen zog er stets den Haargummi aus, mit dem er seine Mähne tagsüber zu einem Pferdeschwanz band. Kurogane hätte nichts dagegen gehabt, diesen Anblick noch etwas in Ruhe zu genießen, doch jemand konnte trotz ihrer geringen Größe Türen öffnen. Wohl eine ihrer 108 Fähigkeiten. „Huiiii, Papa ist wach!“ Mokona hüpfte auf das Bett und wurde von dem Dunkelhaarigen mit einer Hand gefangen, während er ihr mit dem Zeigefinger seiner anderen Hand anzeigte, leise zu sein. „Warum springst du hier rum und bist nicht bei der Prinzessin?“, fragte er im Flüsterton. „Weil Sakura sich gerade mit Shaolan trifft. Und da wollte ich nicht stören.“ „Und stattdessen störst du uns??“ Das Wollknäuel grinste und nickte enthusiastisch. „Ich will noch ein bisschen mit Mama und Papa kuscheln.“ „Ma- ich meine, der Magier schläft noch, also weck ihn nicht!“ Bei seinem gigantischen Lapsus beschleunigte sich Kuroganes Puls mit einem Mal um ein Vielfaches. Verdammt, schlief sein Hirn noch oder wurde es langsam aber sicher von dem Klops übernommen? Zum Glück hatte der Magier nichts mitbeko- oh nein. Kurogane warf aus dem Augenwinkel einen Blick auf seinen Partner – seinen mit geschlossenen Augen spitzbübisch grinsenden Partner. Fye öffnete die Augen und drehte sich dem Ninja zu. „Wir haben ihn bald so weit, Mokona.“ Die kleine Kreatur freute sich unverschämt unverhohlen darüber. „Mokona ist Mokona, Papa ist Papa und Mama ist Mama.“ „Ihr seid alle bescheuert. Das ist das einzige, was ihr seid.“ Unbeeindruckt von seinem Gemecker hüpfte Mokona aus Kuroganes Griff und kuschelte sich an Fyes Brustkorb. „Aber nicht auf mich sabbern, Mama!“ „Huh?“ Verdattert wischte der Blonde sich die Spucke mit dem Handrücken aus dem Gesicht. „Oh, das wird ja immer besser. Mach ich das schon lange?“ Er sah peinlich berührt zu dem anderen Mann, der nun derjenige war, der grinste. „Willst du das wirklich wissen?“ Fye zog eine unzufriedene Miene. „Nein.“ Dann blickte er Kurogane überrascht an, als dieser sich wieder zu ihm drehte und einen Arm um ihn (und somit auch um) Mokona legte. „Ha, ich hatte jetzt damit gerechnet, du würdest aufstehen.“ „Der Bengel redet doch gerade mit der Prinzessin. Da will ich ganz sicher nicht stören. Ich bin nur froh, dass er das tut. Es besteht also noch Hoffnung für ihn.“ „Ja. … Moment, soll das heißen, für ihn besteht im Gegensatz zu jemand anderem Hoffnung??“ „Psst. Das Wollknäuel ist eingeschlafen.“   Sakura löste ihren Blick von der Stadt, auf die sie von dem großen Balkon aus hinunterschauen konnte und ließ ihn über den Jungen wandern, der neben ihr stand und sichtlich mit sich haderte. Shaolan war heute Morgen zu ihr gekommen, um mit ihr zu reden und dies freute und beruhigte sie im gleichen Maße, wie es sie beunruhigte. „Shaolan-kun“, begann sie nach einer Weile, in der er nichts gesagt hatte, „es tut mir leid.“ „Was?“ Erschrocken wirbelte sein Blick zu ihr herum. „Warum … wofür entschuldigst du dich?“ „Weil ich nichts tun kann, um euch zu helfen. Ich wünschte, ich könnte euch viel mehr unterstützen. So wie … wie 'Sakura' es getan hat.“ Shaolan schüttelte hastig den Kopf. „Du hilfst uns doch! Sehr sogar! Von den Dingen abgesehen, die du in Niraikanai oder Matrisis für uns getan hast, bist du doch auch … du bist meine Heimat.“ Es erschütterte ihn tief, dass Sakura glaubte, sie wäre ihnen nicht hilfreich. Nun schüttelte die Prinzessin ihren Kopf. „Du trägst die Hauptlast, Shaolan-kun. Und … und mir fällt einfach kein Weg ein, wie ich dir etwas davon abnehmen könnte. Ich glaube, Fye-san und Kurogane-san und Moko-chan geht es da genauso. Aber sie können dich wenigstens begleiten.“ Bei ihren Worten senkte Shaolan seinen Blick und ließ sie damit aufmerken. Der Junge atmete einmal tief ein und wieder aus. „Ich bin froh, dass sie an meiner Seite sind, sehr sogar“, sagte er schließlich. „Aber es dauert alles schon so lange. Ich habe zunehmend das Gefühl, dass ich ihren eigenen Leben im Weg stehe. Wenn wir es nicht schaffen … wenn wir keine Lösung finden, dann haben sie ihre Lebenszeit für mich aufgeopfert. Das will ich einfach nicht.“ Shaolan kämpfte spürbar damit, die Tränen in seinen Augen zurückzuhalten. Resolut nahm Sakura eine seiner Hände in ihre. „Ich weiß ganz bestimmt, dass die drei das anders sehen. Und du weißt, dass sie an deiner Seite sein wollen, nicht wahr?“ Er wischte sich mit seiner freien Hand die fallenden Tränen aus seinem Gesicht. „Ich will niemandem mehr wehtun und habe Angst, es doch zu tun.“ Für einen kurzen, doch intensiven Moment sah die Prinzessin ihn aufgewühlt an. Dann umarmte sie den überrumpelten Jungen. „Ich habe letzte Nacht geträumt“, erzählte sie zu seiner wachsenden Verwunderung, „und in diesem Traum ist eine Feder auf einen Berg gefallen und plötzlich wurde es Nacht. Es wurde schrecklich düster und bitterkalt. Alles Leben auf dem Berg ging in der nicht enden wollenden Nacht ein. Dann begann die Feder den Berg nach und nach zu zerdrücken, bis von ihm nichts mehr übrig war. Ich glaube, ich verstehe jetzt, was dieser Traum bedeutet. Die Last, die du trägst, Shaolan-kun, wird schwerer und schwerer je größer deine Hoffnungslosigkeit wird.“ Sakura löste sich von ihm und wandte sich der Sonne zu. „Wenn du zulässt, dass die Nacht den Tag verdrängt und keine Sonne mehr am Himmel aufgeht, dann wird dir vielleicht wirklich etwas Schlimmes zustoßen. Es war schön, wie du mich eben deine Heimat genannt hast, aber lass mich bitte noch mehr für dich sein! Bitte lass mich und Fye-san und Kurogane-san und Moko-chan deine Sonne sein! Bitte vergiss nie, dass nicht du allein die Last trägst, dass nicht du allein deine Eltern wiederbringen möchtest. Es ist kein Opfer, wenn alle dasselbe Ziel verfolgen!“ Shaolans Tränen fielen nun ungehindert. So lange schon hatte er das Gefühl gehabt, auf der Stelle zu treten, er konnte nicht einmal einen Hinweis finden, sodass er in der Tat zunehmend frustrierter und hoffnungsloser geworden war. Er hatte die Veranlagung, sich in Dinge hineinzusteigern, was zum einen gut und zum anderen katastrophal war. Die Sehnsucht nach seinen Eltern hatte ihn nur noch dieses Problem sehen lassen; er hatte sich selbst zu einem Getriebenen gemacht, der nicht mehr das große Ganze erkennen konnte. Es war erschreckend. Es war erschreckend, wie schnell man Fehler wiederholen konnte. Sein Wunsch hatte begonnen, übermächtig zu werden; die Kontrolle über ihn zu übernehmen. Wünsche waren nicht per se gut oder schlecht. Es waren die Taten, die man zu deren Erfüllung beging, die gut oder schlecht waren. Sakuras Worte waren eine noch gerade rechtzeitige Mahnung. Bevor er sich seiner Verzweiflung ganz hingegeben hätte und vielleicht sogar seine eigene Familie von sich gestoßen hätte. Er hatte den dreien mit Sicherheit in letzter Zeit viel Kummer bereitet. Shaolan atmete durch. Aufgeben kam nicht in Frage. Und es half niemandem, wenn er wie ein Besessener nach einer Antwort suchte. „Wie ich bereits sagte: Du tust so viel für uns. Ich danke dir.“ Durch ihr Lächeln allein fühlte er sich mit einem Mal etwas leichter. Kapitel 1: Ein Wort des Dankes ------------------------------ Nachdem sie aus Clow weitergereist waren, war die Gruppe wie gewohnt durch eine Vielzahl neuer und alter Welten gekommen. Einige waren unbewohnt gewesen, andere hatten eine rein tierische Bevölkerung gehabt (Fye lachte noch Dimensionen später über den Anblick von Kurogane in einer wild schnatternden Pinguin-Kolonie), wieder andere verfügten über Städte oder Ortschaften, in denen sie wenigstens für eine befristete Zeit bleiben und arbeiten konnten. Den Aspekt des Geldverdienens durften sie nie außer Acht lassen. In fast allen von Menschen bevölkerten Welten gab es immer eine Art von Zahlungsmittel und wenn sie nicht genug davon hatten, standen sie mitunter ziemlich dumm da. Man durfte Kurogane nicht an die Welt erinnern, die praktisch über und über mit Gold gepflastert gewesen war. In diesem Land hatten sie sich nicht einmal eine Scheibe Brot (Blattgoldbrot – das musste man sich einmal vorstellen!) leisten können und der Ninja war alles andere als begeistert gewesen, als jemand ihnen Fye hatte abkaufen wollen. Sein Tobsuchtsanfall war sogar noch schlimmer gewesen als der damals in Matrisis, als einige der magischen Wächterinnen, die fasziniert davon waren, dass ein Mann Zauberkräfte besaß, ihnen gebrauchte Kleidung vorbeigebracht hatten und Fye in ein Kleid hatten stecken wollen. „Er sieht bestimmt super hübsch darin aus!“ „NEIN!“ „Dann will ich ihn mal in diesem Pullover sehen. Der sieht bestimmt super hübsch an ihm au-“ „ER IST DOCH KEINE ANZIEHPUPPE!!“ (Fye hatte sich im Übrigen schlussendlich für den Pullover entschieden. Und anhand Kuroganes errötender Reaktion hatte man ablesen können, dass er wahrhaftig super hübsch darin ausgesehen hatte.) Kurzum: Das Geld war oft knapp und die Arbeitssuche meistens schwierig. Daher nahmen die Reisenden auch Jobs an, die sie mit den Zähnen knirschen ließen. In der vorigen Welt war ein Dorf von einer Fledermausplage heimgesucht worden – doch Fledermäuse galten dort als heilig und niemand, der mit ihnen in Berührung kam, durfte ins Dorf zurückkehren. Obendrauf hieß es dann noch, dass die Fledermäuse (sollte man sie verärgern) einen in einen Vampir verwandeln konnten. Fye hatte an dieser Stelle eine gequälte Miene gezogen und „Nein, danke“ gesagt. Allerdings hatte Shaolan nach einer gezielten Recherche herausgefunden, dass die Vampirgeschichte nur ein Aberglaube war und ihr mittlerweile chronisch gewordener Geldmangel hatte sie die Aufgabe, die Fledermäuse umzusiedeln, annehmen lassen (ein gewisser Blondschopf war – verständlicherweise – alles andere als begeistert darüber gewesen. Man konnte doch nie mit Sicherheit sagen, ob nicht doch etwas an der Vampirsache dran war). Mit Biegen und Brechen und einer deutlichen Schnappatmung seitens Fye hatten sie die Arbeit erledigt und die Bezahlung aus der Entfernung zugeworfen bekommen. Sie waren vollkommen erledigt gewesen und hatten dennoch nicht ins Dorf zurückkehren dürfen. Es war ihnen nur die Weiterreise in die nächste Dimension geblieben. Jedoch - War dies nach dieser Welt vielleicht nicht die beste Entscheidung gewesen. Das jedenfalls dämmerte jedem Einzelnen von ihnen, als sie sich nach ihrer Ankunft umblickten und einer nach dem anderen mit Entsetzen feststellte, wo sie gelandet waren. Die Ruinen der ehemaligen Wolkenkratzer waren noch deutlich weiter in sich zusammengefallen, als sie es in Erinnerung hatten. Der Asphalt war kaum noch vorhanden und ein karger, wüstenähnlicher Sandboden breitete sich mehr und mehr aus. Es hätte den einsetzenden, die Haut verbrennenden Regen gar nicht gebraucht, um ihnen Gewissheit zu geben. „Wir sind in ...“, begann Shaolan stimmlos. „... Tokyo“, schloss Fye für ihn gleichermaßen schockiert. „Was machen wir?“, fragte Kurogane pragmatisch, während er Mokona musterte. Das magische Wesen hockte ziemlich schlapp aussehend auf Shaolans Schulter. Der Junge deckte sie mit der Mütze, die er trug ab und nahm sie in seine Arme. „Mokona ist müde“, fiepste sie bekümmert. „Dann los. Dahinten ist diese Stadtverwaltung oder wie das heißt.“ Kurogane gab sowohl Shaolan als auch Fye einen kleinen Schubs, damit sie sich in Bewegung setzten. Erst kurz vor dem Eingang zur Stadtverwaltung setzte er sich an die Spitze der Gruppe und signalisierte ihnen, hinter ihm zu bleiben. Mit Bedacht machte er einen weiteren Schritt in das Gebäude. Der Anblick war dem von damals nicht unähnlich. Die Leichen, die sie seinerzeit dort liegen gesehen hatten, waren mittlerweile nur noch Skelette – und trotzdem noch an Ort und Stelle. Es war dem Ninja bereits bei ihrem ersten Erscheinen in dieser düsteren Welt klar gewesen: Die erschossenen Leichname lagen dort zur Abschreckung. Anhand ihres Verwesungsgrades konnte er erkennen, dass nur wenige neue Opfer hinzugekommen waren. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Kuroganes wachsame, rote Augen schnellten zu dem Geräusch, das nur er wahrgenommen hatte. Seine fahrige Bewegung hatte allerdings auch die drei anderen aufgeschreckt. Unverzüglich schob sich Fye vor Shaolan und schirmte ihn ab. Die Reisenden trauten sich kaum zu atmen, während sie in die Stille horchten. Nur wenige Sekunden vergingen, ehe aus dem Schatten rechts und links von ihnen je zwei in Umhänge verhüllte Personen traten, die ihre gespannten Armbrüste auf sie gerichtet hatten. Die Zeit war ein weiteres Problem, dem sie auf ihrer Reise immer und immer wieder begegneten. Genauer gesagt: Die Unterschiede im Fluss der Zeit. Vor ein paar Welten (Kurogane konnte sich ehrlich nicht mehr daran erinnern, wie viele Welten es her war), waren sie in ein Dorf gelangt, das ihnen sofort bekannt vorgekommen war. Doch die Bewohner hatten sie nicht erkannt und waren bereits argwöhnisch geworden, bis eine Frau herbeigelaufen gekommen war und nach einer kurzen Musterung ihrer Personen Shaolan um den Hals gefallen war. Erst als die Frau danach gefragt hatte, wo sie Gottes geliebte Tochter gelassen hätten, war bei ihnen der Groschen gefallen. Die Frau war Chunyan gewesen. Es war also durchaus möglich, dass in Tokyo vielleicht niemand mehr übrig war, der sie erkannte – was ein Problem wäre. Als wäre nicht alles sowieso schon kompliziert und verrückt genug. Kurogane stöhnte innerlich, ohne dies nach außen hin zu zeigen. Er musste ruhig bleiben, durfte nicht zu früh nach seinem Schwert greifen, denn wann immer es ging, wollte er Kämpfe vermeiden, um die drei anderen nicht in Gefahr zu bringen. „Ist das wirklich möglich? Können sie das wirklich sein?“, sagte eine der verhüllten Gestalten und Shaolan spitzte die Ohren. Zusammen mit Mokona, die seine Mütze aus ihrem Gesicht geschoben hatte, lugte er vorsichtig hinter Fye hervor. „Ahhhh~!“ Ein entzücktes Quietschen entfuhr der Gestalt neben der, die zuerst das Wort ergriffen hatte. Sie senkte ihre Armbrust ab und warf die Kapuze von ihrem Kopf, sodass das Gesicht eines jungen Mannes mit rötlichen Haaren zum Vorschein kam. „Sie sind es! Sie sind es!“ Er bekam sich fast nicht mehr ein und hopste jubilierend auf die Gruppe zu. Da auch die anderen in der Zwischenzeit ihre Waffen abgesenkt hatten, fiel ein Teil der Anspannung von Kurogane und Fye ab und sie ließen ihn näherkommen. Anscheinend erkannte man sie – oder zumindest Mokona, denn der junge Mann quietschte erneut, als er sie in ihre Bäckchen kniff. „Ka-kazuki??“ Shaolan starrte entgeistert zu ihm hin. Der kleine Junge von einst war inzwischen größer als er. „Ihr seid es also in der Tat.“ Derjenige, der neben Kazuki gestanden hatte, zog ebenso seine Kapuze von seinem Kopf. Es war Nataku. „Wo ist das Mädchen? Und warum seid ihr in der ganzen Zeit nicht gealtert?“ Man konnte ihm nicht übelnehmen, dass er misstrauisch klang. „Das liegt an den unterschiedlichen Flüssen der Zeit“, antwortete eine der Personen, die auf der anderen Seite standen. Ihre Stimme allein verriet, dass es Arashi war. Sie und Sorata zogen gleichermaßen ihre Kapuzen von ihren Köpfen. „Bei uns sind fast fünfzehn Jahre vergangen, doch bei ihnen könnte ihre Abreise genauso gut erst zwei Monate her sein.“ „Ein bisschen länger ist es schon her“, warf Fye lächelnd ein. „Aber keine fünfzehn Jahre, so viel ist sicher.“ „Wir sollten Meldung machen, dass keine Gefahr vorliegt“, schlug Sorata vor und machte sich gleich mit Arashi auf den Weg ins Innere des Gebäudes. Kurogane blickte ihnen skeptisch hinterher. „Ihr habt euch also mit den Leuten aus dem Tower arrangiert?“ „Ja, wir verstehen uns gut. Es ist viel besser als früher“, erwiderte Kazuki, der mittlerweile Mokona freudestrahlend in den Armen hielt (und Mokona die Aufmerksamkeit sichtlich genoss). „Das ist schön zu hören“, entgegnete Shaolan und schreckte zusammen, als er Natakus strengen Blick auf sich spürte. „Ihr habt meine Frage nicht beantwortet. Was ist mit dem Mädchen, das bei euch war? Wo ist Sakura?“ „Sie ...“ Shaolan stockte. Das Mädchen, das damals in Tokyo gewesen war, war 'Sakura', seine Mutter, gewesen. Seine Mutter war praktisch nirgends. Es gab keinen Weg, das jemandem zu erklären. „Das ist eine wirklich lange Geschichte“, kam Fye ihm zu Hilfe. „Aber Sakura-chan geht es gut. Sie reist nur nicht mehr mit uns.“ Natakus Blick bohrte sich geradezu in Fye, was dem Blondschopf das Lächeln gefrieren ließ. Kurogane wollte bereits dazwischengehen, als sie mehrere Leute hastig heraneilten hörten. „Das ist unglaublich! Sie sind es!“ Kusanagi war der Erste, der bei ihnen ankam. „Oh Mann, Satsuki, das musst du dir ansehen!“ Entgeistert blieb die besagte Frau vor ihnen stehen und starrte unverhohlen auf Fye. „Wie-wie kann das denn sein?!“ Ah~, dämmerte es den Reisenden. Deswegen kassierte der Magier so ungläubige Blicke. „Ist-ist dein Auge nachgewachsen??“ Satsuki schüttelte ihre Fassungslosigkeit ab, marschierte schnurstracks auf Fye zu und machte erst wenige Zentimeter vor seinem Gesicht halt. Das war ein bisschen nah. Ein bisschen zu nah. Fye machte einen verlegenen Schritt zurück. „Nein, es ist nicht nachgewachsen. Das ist mein Auge. Es … wurde mir zurückgegeben.“ „Zurückgegeben?“ Satsukis Kinnlade klappte nach unten. „So etwas ist möglich?“ Greifbarer Schwermut legte sich auf Fyes Gesicht. „Ja. Leider, könnte man sa-“ „Okay, das reicht“, warf Kurogane missmutig ein. „Es hat jetzt jeder gesehen, dass der Spinner zwei Augen hat und alle können damit aufhören, ihn anzustarren. So viel gibt es da eh nicht zu sehen.“ „Autsch, Kuro-rin! Das hättest du auch anders ausdrücken können!“ Der Magier klang wieder heiterer. „Wir müssen euch leider sagen, dass wir euch die Feder noch nicht zurückgeben können.“ Yuto trat aus der eingetroffenen Gruppe hervor. „Seit kurzem macht der Regen immer mal wieder längere Pausen, aber noch brauchen wir den Schutz der Feder.“ „Die Feder?“ Shaolan war bei seinen Worten ganz blass geworden. „Moment, was soll der Scheiß? Wieso ist hier immer noch eine Feder?“ Kurogane war sicht- und hörbar sauer. „Mokona spürt nichts. … Aber da war ja auch so ein Ding von Fuma um Sakuras Feder, also kann Mokona sie gar nicht spüren.“ „Hm.“ Fye legte nachdenklich eine Hand an sein Kinn. „Es macht Sinn, dass die Feder jetzt noch hier ist.“ „SINN?!“ Kurogane war außer sich. „Die verdammten Dinger müssten doch alle weg sein-“ „Mit-den-ken, Kuro-Hirni.“ „Fye-san hat Recht.“ Bei Shaolans bedrückt klingendem Einwand fragte der Ninja sich, ob alle den Verstand verloren hätten. „Wir werden erst in der Zukunft die letzte Feder aus den Ruinen holen. Und gerade sind wir … in der Vergangenheit dieser Zukunft.“ „Häh?“ Dem Dunkelhaarigen schwirrte merklich der Kopf. Hatte er nicht eben noch gedacht, dass eh schon alles kompliziert und verrückt war? Jetzt sollte es noch komplizierter und verrückter werden? „Um euch alle zu beruhigen“, Fye legte eine Hand auf eine Schulter Shaolans, „ich halte es für ausgeschlossen, dass die Feder noch irgendetwas anrichten kann, außer dieses Gebäude zu beschützen. Der ursprüngliche Grund, warum die Federn verteilt wurden, existiert nicht mehr. Zu keiner Zeit. Es ist praktisch nur der Geist einer Feder, wenn man es so will.“ Shaolan atmete aus. „Entschuldige, das hätte mir eigentlich auch klar sein müssen.“ „Shaolan wird immer so traurig, wenn jemand 'Feder' sagt“, stellte Mokona besorgt fest. „Darum sollten wir lieber von etwas Schönerem reden!“ „Oh, ich hätte eine Frage“, meldete sich Yuzuriha aus dem Hintergrund zu Wort. „Was meintest du mit Ruinen und der Vergangenheit der Zukunft?“ Der arme Junge wurde noch blasser. Wie sollten sie das denn erklären?? „Uhm“, warf Fye abermals ein, „wäre es möglich, dass wir uns wenigstens kurz hier ausruhen könnten? Wir sind wirklich sehr erschöpft.“ „Ihr gebt uns sehr wenige Antworten und wollt nun auch noch dem Gespräch ausweichen“, entgegnete Kakyou mitleidslos. „Das ist ziemlich unhöflich von euch. Aber ich will darüber hinwegsehen. Was wichtiger ist: Der Grund eurer Reise hat sich also geändert?“ „Ja“, antwortete Shaolan. „Die Feder kann hier bleiben?“ Er nickte. „Das ist alles, was wir wissen müssen und sollten. Seid unsere Gäste. Allerdings ist die Stadtverwaltung ziemlich voll. Wir können euch nur ein Zimmer anbieten.“   Kakyou hätte genauso gut das Zimmer sagen können, ächzte Kurogane innerlich, als er den Weg wiedererkannte, den sie entlang geführt wurden. „Vielleicht kommt es euch wie ein dummer Aberglaube vor“, erklärte Nataku kurz vor dem Ziel und die Gedanken der Besucher erratend. „Aber wenn an einem Ort sehr schlimme Dinge geschehen sind, meiden wir diesen Ort lieber. Wir benutzen ihn nur gelegentlich, falls wir einen Raum für Quarantänen oder Ähnliches benötigen.“ „Ja ja, schon gut“, brummte Kurogane. Das Konzept gab es so ähnlich in Nihon und er respektierte es, aber er hielt es für schwachsinnig. Schlimme Dinge passierten halt. Deswegen musste man nichts absperren oder mit Unmengen Salz überschütten. Sie brauchten einen Platz zum Ausruhen und wenn dieses verfluchte Zimmer, das ihn manchmal in seinen Albträumen heimsuchte, der einzige Platz war, dann war es eben so. Er musste nur dafür Sorge tragen, den bedrückten Bengel, den bleich gewordenen Magier und das bibbernde, die Ohren hängen lassende Wollknäuel die nächsten Stunden heil überstehen zu lassen. „Sagt Bescheid, wenn ihr etwas braucht.“ Kazuki übergab Mokona wieder in Shaolans Arme und er und Nataku verabschiedeten sich. Wie bestellt und nicht abgeholt standen sie nun in demselben Zimmer, das ihnen damals gegeben worden war. Fye ließ seine Augen durch den Raum wandern und sein Blick blieb an ein paar Blutflecken auf dem Boden kleben, die allem Anschein nach sämtlichen Entfernungsversuchen hartnäckig standgehalten hatten. Es konnte seines sein, es konnte Shaolans sein, es konnte Kuroganes sein. Immerhin gehörte es nicht zu Sakura oder Mokona und das war das einzig Positive, was er daran finden konnte. Er hob seine Augen wieder und spürte, wie sein Magen sich zusammenzog, als er das Loch wiedererkannte, das Kurogane in die Wand geschlagen hatte. Hier war nichts, woran er erinnert werden wollte. 'Fump!' Fye schreckte aus seinen grausamen Erinnerungen, als Kurogane die Decke, die sie ihnen mitgegeben hatten, auf das Bett fallen ließ. Ihre Blicke trafen sich nur für einen flüchtigen Moment, bevor der Schwarzhaarige wortlos die Decke auf dem Laken ausbreitete. Fye spürte die Tränen, die sich in seinen Augen formten, während er den Anderen anstarrte. „Fye ...“, jaulte Mokona leise und holte damit auch Shaolan aus seiner Schockstarre. Bis eben hatte er Mokonas Rücken angestarrt und keinen Mucks machen wollen. Die Atmosphäre war so angespannt, dass er Angst hatte, etwas zu sagen. Durch Mokonas jammervollen Laut schnellte sein Blick alarmiert zu dem Magier, der sich mit einem Ärmel die Tränen wegwischte. Sie trugen ihm nichts nach. Das hatten sie beide bereits mehrmals gesagt. Und Shaolan glaubte ihnen das auch. Sie kümmerten sich so liebevoll um ihn, um ihn, der ihnen so viel Leid verursacht hatte. In Tokyo hatten sie sich zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden und damals hatte es ihn gewundert, wie die Sache für ihn ausgegangen war. Es war doch seine Schuld gewesen, durch die Fye beinahe sein Leben und Kurogane beinahe jemanden, den er liebte, verloren hätte. Sie beide und Mokona hatten an jenem Tag den Jungen verloren, der ihnen so ans Herz gewachsen war. Shaolan biss sich – ohne es selbst zu merken – mit voller Wucht auf die Unterlippe und erschrak von neuem, als er Kuroganes Blick nun auf sich spürte. Der Ninja legte den Kopf in den Nacken und seufzte lautstark. „Versucht, euch auszuruhen. Sobald der Klops sich fit genug fühlt, hauen wir aus dieser Welt ab.“ „Kuro-sama“, Fye gab den Kampf gegen seine Tränen auf und atmete durch. „Du stehst zwar oft auf dem Schlauch -“ „Häh?!“ „- und du bist nur ein drittklassiger Schwertkämpfer-“ „HÄH?!“ „- aber ...“ Der Magier ging auf ihn zu und legte seine Arme um ihn. Zu Shaolans Überraschung erwiderte Kurogane sogar die Umarmung. Normalerweise ließ er, wenn er dabei war, nicht so viel Nähe zu. „Aber ohne dich hätten wir es nie so weit geschafft. Du hast unsere auseinanderfallende Gruppe zusammengehalten, obwohl du selbst so gelitten hast. Obwohl wir dich mit deinem Schmerz ganz alleine gelassen haben. Ich habe dir nie ausreichend dafür gedankt. Bitte verzeih.“ Fyes Stimme bebte und war mit jedem seiner Worte brüchiger geworden. Letztendlich vergrub er sein tränennasses Gesicht in der Schulter des größeren Mannes. Kurogane strich ihm sanft über den Rücken, sprach aber gleichzeitig herzlich unsanft: „Hey, interessiert mich der Schnee von gestern? Nein. Das solltest du eigentlich wissen. Ich weiß es zu schätzen, aber hör auf zu heulen.“ Er spürte ein schwaches Nicken gegen seine durchnässte Schulter. „Fye-san hat Recht. Ohne dich wäre damals bereits hier alles zu Ende gewesen. Und du hast nicht nur alles ertragen, Kurogane-san, du warst auch für uns alle da.“ „Fang du nicht auch noch a-“ Kurogane stöhnte. Dem Bengel kullerten schon dicke Tränen die Wangen hinab. „Du … du sollst wissen“, Shaolan entwich gegen seinen Willen ein Schluchzen, „du sollst wissen, wie viel es mir bedeutet, dass du für mich da bist, Kurogane-san.“ „Hört auf, alle beide … alle drei!“ Er funkelte kopfschüttelnd Mokona an, der Sturzbäche aus den Augen liefen. „Shaolan und Fye haben Recht! Mokona weiß noch ganz genau, wie traurig und verzweifelt Kurogane damals war und dass er das ganz lange war!“ „KLAPPE JETZT!“ Mokona sprang aus Shaolans Armen auf die andere Schulter des Ninjas und drückte sich gegen die Seite seines Gesichts. Natürlich hatte er sich Sorgen gemacht, dass die Erinnerungen an Tokyo die drei anderen überwältigen könnten – aber er hatte nicht damit gerechnet, dass das passieren würde. Gegen so eine Übermacht an Sentimentalität kam er nicht an. Nachdem der Klops ihnen viel zu viel seiner Gefühlswelt offenbart hatte, krallten sich die Finger des blonden Trottels in seinen Rücken. Es war nicht ihre Schuld. Wenn sie die Kinder längst zurückgebracht hätten, wären sie nicht noch einmal hier gelandet und würden nicht von den Geschehnissen heimgesucht. Es ließ sich nur schwer mit der Vergangenheit abschließen, wenn man von ihr verfolgt wurde. Er selbst war gut darin, nach vorne zu blicken, doch der Idiot und der Bengel waren anders als er. Das war meistens gut und in manchen, seltenen Fällen wie diesem hier überaus schlecht. „Schluss jetzt mit der Gefühlsduselei. Ich habe getan, was getan werden musste und das war alles. Ich bin jetzt nicht traurig und was anderes interessiert mich nicht. Verstehen wir uns da?“ „Entschuldige“, sagte Shaolan kleinlaut und schniefte, „das muss dir furchtbar unangenehm sein.“ „Gibt Schlimmeres.“ Er streckte eine Hand aus und wuschelte dem Jungen durch die Haare. Die andere legte er auf Fyes Kopf ab und wuschelte dort deutlich grober, sodass dieser empört von ihm abließ. „Auauau, Kuro-sama, womit habe ich das denn verdient?“ „Das fragst du noch?“ Kuroganes Grinsen hatte etwas erstaunlich Mildes an sich. Seine Hand fuhr von Fyes Kopf seine langen Haare hinab und zur Überraschung des Magiers verweilte eine Strähne recht lange in der großen Hand. Das machte Kurogane in letzter Zeit immer öfter. Nun sogar schon vor Shaolan. Es war eine merkwürdig liebevolle Geste von ihm. „Aw~“, machte die kleine Kreatur auf seiner Schulter entzückt. „Papa hat Mama sehr lieb.“ „Ich werd dich gleich gernhaben!!“ Der Dunkelhaarige schnappte nach Mokona, die gekonnt entkam und ihm bei ihrer Flucht sogar noch einen Schmatzer auf die Wange geben konnte. „Ha ha!“ Das Wollknäuel hüpfte zurück zu Shaolan und hielt dort verwundert inne. „Bedrückt dich noch etwas?“ Shaolan hatte gerade einmal Gelegenheit verdattert zu blinzeln, ehe Kurogane erneut ächzte. „Sofort raus damit, sonst kommen wir heute nie mehr zur Ruhe.“ „Ähm“, er zuckte zusammen, „ich dachte nur daran, na ja … dass die Leute in Tokyo nicht wissen, was irgendwann aus ihrem Land werden wird und ...“ „Und was?“, unterbrach Kurogane ihn. „Das Volk im Land Clow ist doch glücklich, oder?“ „Ja, schon ...“ „Wo ist dann das Problem?“ „Ähm ...“ „Richtig, es gibt keins.“ Fye lachte plötzlich. „Jetzt bist du aber richtig in Fahrt, Kuro-rin. Ich wette, du würdest jedes Problem, das man dir nennt, im Handumdrehen lösen.“ „Übung macht den Meister“, gab er zurück, stutzte kurz und schubste daraufhin den blonden Mann auf das Bett. „Im Stehen schläft es sich schlecht“, war alles, was er dazu sagte, bevor er Shaolan andeutete, sich ebenso hinzulegen. So löste er das Problem, wie er die anderen endlich dazu bringen konnte, sich auszuruhen statt in unschönen Erinnerungen zu versinken. „Bitte, nimm du das Bett. Ich kann auf dem Boden-“ Shaolan brach ab, als Kuroganes zorniger Blick auf ihm landete. Ruckzuck kletterte der Junge gehorsam mit Mokona auf das Bett. „Papa greift heute aber hart durch“, gluckste Fye und hob eine Hand in Richtung des Ninjas. „Wenn wir zusammenrücken, ist genug Platz für alle.“ „Oh ja!“, freute sich Mokona und zappelte in Shaolans Armen, um ihm zu signalisieren, an Fye heranzurücken. Noch auf dem Bett kniend, ließ er das Wesen los, damit es zu dem Blonden hopsen konnte, doch Mokona machte deutlich, was sie wollte. Mit ihrer winzigen Pfote zog sie an ihm. „Ich …“ Shaolans Teint wurde leicht rosé. „Nicht, Mokona.“ „Aber das würde Shaolan doch glücklich machen.“ Ertappt zuckte er zusammen und starrte mit hochrotem Kopf die Bettdecke an. „Ach, so ist das ...“, machte Fye, die Situation endlich verstehend. Er lachte. „Na dann!“ Der Magier öffnete seine Arme und blickte erwartungsvoll zu dem zaudernden Jüngeren. „Ist das … wirklich in Ordnung?“, fragte Shaolan verlegen und zögerlich den Kopf hebend. „Mehr als in Ordnung.“ Shaolan schaute zu Kurogane, als würde er auch dessen Einverständnis einholen wollen. „Mach.“ Zaghaft nickte der Brünette daraufhin und kroch mit knallrotem Kopf und mit Mokona zusammen in Fyes Arme. „Awww~“, quietschte das Wollknäuel zufrieden, „das ist schön! Fehlt nur noch Papa!“ Über Shaolans Kopf hinweg sah Fye zu Kurogane und erhaschte einen seltenen Anblick: Der sonst so grummelige Ninja lächelte selig – für einen flüchtigen Moment zumindest, denn er bemerkte Fyes Blick auf sich und stellte das Lächeln umgehend ein. Es war schon irgendwie süß, wie er seine so offensichtlich vorhandene, weiche Seite nie nach außen scheinen lassen wollte. Kurogane räusperte sich und legte sich wortlos zu ihnen, einen Arm bis zum Magier hin ausstreckend. „Jetzt ist Ruhe“, brummte er lediglich und warf dem daraufhin kichernden Blonden einen bösen Blick zu. Doch das Lächeln, das er in diesem Gesicht erblickte, war kein schelmisches. Fye wirkte ganz und gar gelöst und zufrieden. „Ich bin nun wirklich kein Experte für familiäre Beziehungen“, flüsterte der blonde Mann leise, „aber du bist wahrhaftig ein Vater.“ Kapitel 2: Die heiße Welt ------------------------- „Puuuh, ist das heiß hier.“ Shaolan schaute verwundert zu Fye, der sich mit einer Hand Luft zufächerte und mit der anderen an seinem Oberteil nestelte. In der Welt, in der sie vor wenigen Minuten gelandet waren, war es warm, ja, aber eher wie an einem sonnigen Frühlingstag, nicht wie an einem brütend heißen Hochsommertag. Er blickte aus dem Augenwinkel zu Kurogane, dem die Temperaturen ebenso nichts auszumachen schienen. Vielleicht lag es an den Unterschieden in den Welten, in denen sie aufgewachsen waren. Das hatten sie schon öfter gehabt. Fye mochte keine Hitze, während Kurogane über jede kältere Welt meckerte. Sie waren mitten auf einer Straße voller Marktstände gelandet, als Mokona sie hergebracht hatte. Die Leute hatten vor Schreck geschrien und die Reisenden daher schnell zugesehen, dass sie erst einmal in einer Seitenstraße verschwanden. Die Häuser und die Straßen erinnerten ein wenig an Clow, nur dass kein Sand herumwirbelte und die Häuser eckige Formen hatten. Auch die Vegetation, auf die Shaolan einen kurzen Blick erhaschen konnte, bevor sie hatten türmen müssen, sah nicht nach einer typischen Wüstenwelt aus. Er hatte große, stämmige Bäume mit einem dichten, dunkelgrünen Blattwerk gesehen. Vorsichtig lugte er um die Ecke auf die Hauptstraße zurück. Die Kleidung der Menschen bestand aus langen, wallenden Gewändern, die den Körper vollständig bedeckten, so wie es in einem Wüstenstaat üblich war, um sich vor der Sonne zu schützen. Das war ein wenig merkwürdig. Eventuell wurde es hier noch wärmer oder weiter außerhalb der Stadt gab es eine Wüste. Shaolan drehte sich wieder zu seinen Gefährten um. Immerhin passten seine und Fyes Kleidung recht gut in diese Welt. Aus der vorigen Dimension (einer Welt, die Nihon ähnlich war, doch in der die hiesigen Ninja auch über Zauberkräfte verfügten, was Kurogane aus irgendeinem Grund nicht gefiel) trug Fye eine lange, weite, weiße Hose mit etwas darüber, das wie eine kurze Haori-Jacke aussah. Beides war mit blauen Streifen abgesetzt. Shaolan selbst trug ein weites, grasgrünes Hemd mit einem breitem Kragen und einer langen, dunkelblauen Hose darunter. Lediglich Kurogane fiel hier ein bisschen aus dem Rahmen, denn sein ärmelloses, schwarzes Shirt mit rotem Saum und der nur dreiviertellangen, schwarzen Hose fügten sich nicht so leicht in das Stadtbild der neuen Welt ein. Und noch etwas anderes würde sich nur schwer einfügen. „Ich spüre keine Magie. Du, Shaolan-kun?“ „Nein, ich auch nicht.“ „Dann wird es vielleicht ein wenig schwierig werden, der örtlichen Bevölkerung zu erklären, wo wir so plötzlich hergekommen sind“, gab Fye zu denken und wandte sich Mokona zu, die auf Kuroganes Kopf saß. „Und wo keine Magie, da auch keine magischen Wesen.“ „Was soll ich sein?“ Die Kreatur hüpfte energisch auf. „Baby oder Stofftier? Die Schauspielkunst gehört zu Mokonas 108 geheimen Fähigkeiten!“ „Ersteres will ich überhört haben“, grummelte Kurogane, griff mit einer Hand nach ihr und öffnete mit der anderen eine Tasche, die um seine Hüfte hing. „Kannst du fürs Erste da drin bleiben, bis wir mehr über dieses Land wissen?“ „Aye, Aye!“ Noch im Griff des dunkelhaarigen Mannes salutierte Mokona, bevor sie in die Tasche gestopft wurde. Die drei Männer nickten sich zu und wagten sich vorsichtig auf die Hauptstraße zurück. Das geschäftige Treiben dort war von ihrer plötzlichen Ankunft offenbar nicht weiter gestört worden. Die Händler verkauften eifrig Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände, während die Passanten neugierig die Stände inspizierten und fleißig einkauften. Möglicherweise hatten nicht allzu viele Menschen ihr Erscheinen bemerkt? „Entschuldigung, seid ihr Dimensionsreisende?“ Die aus dem Nichts gekommene Frage ließ die drei zusammenschrecken. Sie drehten sich zu dem Fragesteller um. Es war Toya – oder vielmehr natürlich jemand, der die gleiche Seele wie Sakuras Bruder hatte. Und wie immer stand eine Version von Yukito neben ihm. Eine dunkelhaarige Version von Yukito. Das war neu. Dieser lächelte sanft, während Toya motzig die Arme verschränkte. „Frag sie doch bitte etwas höflicher“, ermahnte Yukito ihn liebevoll. „Ich habe 'Entschuldigung' gesagt, oder etwa nicht?“ „Wie kommst du überhaupt darauf?“, entgegnete Kurogane harsch und mit einer Aura, die jedem deutlich machen sollte, dass man sich ihm nicht zum Feind machen sollte. „Weil ihr mitten auf der Straße erschienen seid“, gab Toya patzig zurück. „Das ist hier in Helios schon einmal zuvor vorgekommen, soweit wir wissen.“ „Es ist schon einmal vorgekommen?“, warf Shaolan schlagartig atemlos und blass ein. Es war nicht schwer zu erraten, welche Angst ihn so jäh heimsuchte. „Kam es dabei zu Zwischenfällen? Wurde etwas geraubt? Wurde jemand verletzt?“ Toya und Yukito blinzelten ihn verwundert an. „Was stimmt denn mit dem nicht?“, sagte Toya schließlich. „Geht es ihm gut? Er sieht aus, als würde er gleich aus den Latschen kippen.“ „Shaolan-kun“, der Junge spürte Fyes Hände auf seinen Schultern, „ganz ruhig. Hol tief Luft.“ „Was war denn nun?“, hakte Kurogane ungeduldig nach und kassierte dafür einen kritischen Blick von Toya. „Eigentlich sind wir hier die Aufseher und stellen die Fragen.“ „Aufseher, huh?“, konterte der Ninja unbeeindruckt. „Dann solltet ihr doch sehen, dass es wichtig für den Bengel ist, dass ihr ihm seine Fragen beantwortet, oder etwa nicht?“ Yukito ging dazwischen und schüttelte sacht den Kopf. „Es ist damals nichts weiter geschehen. Die beiden jungen Herren sind bei ihrer Ankunft durch eine Markise gekracht, aber es wurde niemand verletzt. Sie haben den Schaden sogar bezahlt.“ „Die beiden …?“, wiederholte Shaolan ungläubig. Das hieß … es war nicht 'Shaolan' gewesen? „Oh!“, dämmerte es Fye. „Hatten die zwei besagten Herren dunkle Haare und waren ganz in Schwarz gekleidet?“ „Ihr kennt sie? Die Zwillinge?“ Toya klang überrascht. „Da es in der Tat so ist, dass wir auch durch verschiedene Dimensionen reisen, haben wir bereits ihre Bekanntschaft gemacht“, antwortete der Magier. „Sie sind aber nicht mehr hier, oder?“, warf Kurogane übellaunig ein und wirkte erst wieder entspannter, als Yukito von neuem den Kopf schüttelte. Gut, nicht noch mehr Erinnerungen an Tokyo. „Was verschlägt euch denn hierher?“, fragte Toya und holte einen Notizblock samt Stift hervor. „Normalerweise kommen Reisende durch das Haupttor und registrieren sich dort.“ „Ha ha, Verzeihung, dafür fehlt uns die Zielgenauigkeit.“ Fye lachte entschuldigend. „Also, man muss sich registrieren, ja?“ „Wage es, Magier ...“, knurrte es neben ihm. Shaolan, der endlich wieder durchatmen konnte und Farbe ins Gesicht bekam, musste sogar ein wenig schmunzeln. In einer anderen Welt hatten sie sich auch registrieren müssen – und Kurogane hatte in aller Öffentlichkeit Fye zu Boden gerungen, um ihm das Formular abzunehmen. Er ließ ihm mittlerweile eine Menge Spitznamen durchgehen, doch die 'Große Hündchen'-Nummer blieb ein Tabu. „Das sind Kurogane und Fye. Mein Name ist Shaolan“, sagte er zum Erstaunen der Aufseher. „Und das ist Mokona.“ Er zeigte auf die Tasche an Kuroganes Hüfte, aus der sich zwei lange Ohren herausschälten, bis schließlich Mokonas Gesicht herauslugte. „Wir reisen umher, um verschiedene Legenden und Sagen zu studieren.“ Diese uralte Erklärung war ihre Standard-Tarnung geworden. Fye hatte Kurogane sogar extra gefragt, ob diese kleine Flunkerei in Ordnung wäre. Jedem zu erklären, warum sie tatsächlich unterwegs waren, wäre doch bei weitem zu umständlich. „Aha, okay“, Toya kritzelte emsig auf den Notizblock. „Also, zwei Menschen und … was genau ist das da?“ Er zeigte auf Mokona, die wenig davon angetan war, „das da“ genannt zu werden. „Mokona ist Mokona!!“ „Ein Plagegeist.“ „Mama, Papa ist gemein zu mir!“ „Ha ha.“ „Mokona ist ein magisches Wesen“, erklärte Shaolan in die wenig brauchbaren Reaktionen seiner Gefährten hinein. „Magisches Wesen? Magie gibt es hier nicht, aber wo anders ist das wohl normal, wie? Na schön.“ Toya notierte dies stoisch. „Ist er auch eins?“ Zu ihrer Verwunderung zeigte er nun auf Fye. „Äh, ich?“ Der Blondschopf blinzelte ihn verwirrt an. „Ich bin zwar ein Magier, aber eigentlich laufe ich auch unter der Bezeichnung 'Mensch' … oder?“ „Außer Plagegeist ist wirklich eine Kategorie“, bemerkte Kurogane trocken. Shaolan musterte die zwei Aufseher währenddessen. Sie schienen wirklich irritiert von Fyes Antwort zu sein. Sie kannten keine Magie, warum also sortierten sie ihn in eine andere Kategorie als ihn selbst und Kurogane ein? „Das muss daran liegen, dass sie aus einer anderen Welt kommen“, sagte Yukito letztlich schulterzuckend und Toya fuhr fort, seine Aufzeichnungen zu komplettieren. „Habt ihr eine Unterkunft?“ „Noch nicht“, erwiderte Shaolan. „Reich seht ihr nicht aus, also teile ich euch das günstigste Gasthaus zu.“ „O-okay?“ „Wie lange wollt ihr bleiben?“ „Das kommt darauf an ...“ Dem Jungen lief es bei Toyas strengem Blick eiskalt den Rücken hinunter. Es musste wohl eine genauere Antwort sein. „Sieben Tage? … Etwa?“ „Könnt ihr euren Lebensunterhalt bestreiten?“ „Ähm ...“ Shaolan warf Fye einen leicht verzweifelten Blick zu. Der Magier verwaltete die Haushaltskasse. „Dürfen wir uns hier Arbeit suchen?“, fragte Fye und antwortete so auf die Frage, ohne sie zu beantworten. „Ich fülle euch eine Arbeitserlaubnis aus. Für alle vier?“ „Für Kuro-tan und mich reicht völlig.“ „Alles klar. Dann seid ihr jetzt registriert. Benehmt euch ordentlich, sonst werdet ihr aus der Stadt entfernt. Wir bringen euch zu eurer Unterkunft.“   Dieser Ort warf nicht gerade wenige Fragen auf, dachte Shaolan, nachdem Toya und Yukito sie in dem zugeteilten Gasthaus abgesetzt hatten. Das Zimmer mit den drei Betten war groß genug für sie und sauber. Es gab einen Waschtisch und ein Fenster, von dem aus man auf die Hauptstraße blicken konnte. Es gab weder fließendes Wasser noch Elektrizität, doch immerhin war direkt am Haus eine Quelle, aus der man Frischwasser holen konnte. Zudem schien dieses Land friedlich und ohne größere Probleme zu sein. Ein paar Straßen weiter, das hatte Yukito ihm verraten, befand sich die Bibliothek, in der er sich so bald wie möglich umsehen wollte. So weit, so gut. Doch - Warum hatte man ihnen auf dem Weg hierher so seltsame Blicke zugeworfen? Die Leute auf der Straße hatten sich teilweise sogar nach ihnen umgedreht und getuschelt. Auch der Inhaber des Gasthauses hatte sie mit großen Augen angesehen. Es waren keine böswilligen Blicke gewesen, nein, vielmehr … erstaunte? Warum sahen sie sie so an? Weil sie von weit weg kamen? Weil sie aus dem Nichts in der Straße aufgetaucht waren? Nein, irgendwie sagte sein Instinkt ihm, dass es das nicht war. Allerdings hatte Shaolan das Gefühl, irgendetwas Offensichtliches zu übersehen. „Ist das stickig hier drin.“ Fye verzog das Gesicht und öffnete das Fenster. Er nahm einen tiefen Atemzug und fächerte sich von neuem Luft zu. „Fühlst du dich wieder besser, Shaolan-kun?“ „Das siehst du doch“, entgegnete Kurogane launisch, „er grübelt über irgendetwas nach.“ Mit einem Mal saß der Junge kerzengerade auf seinem Bett und wedelte mit den Händen. „Entschuldigt, nein, es ist nichts.“ „Gut. Denn es ist ja in der Tat nichts.“ Er wusste, dass Kurogane nur so streng klang, weil es schon wieder passiert war. Er hatte schon wieder Panik bekommen, obwohl es keinen Grund dafür gab. Sie machten sich nur Sorgen um ihn und das tat ihm von Herzen leid. Er wollte ihnen keine Sorgen bereiten. „Also, wie wollen wir vorgehen?“, fragte Fye heiter in die Runde. „Es scheint noch ziemlich früh am Tag zu sein. Wollen wir uns gleich in der Stadt umsehen?“ „Ich würde gerne noch heute die Bibliothek aufsuchen“, antwortete Shaolan. „In Welten, in denen es keine Magie gibt, findet man in der Regel nur sehr wenig oder gar nichts, was uns weiterhelfen könnte. Wenn ich nichts Brauchbares finden kann, könnte ich ja auch etwas Geld verdienen … huh?“ Er stockte, als die Erwachsenen einen Blick austauschten. „Ist etwas?“ „Sag du es ihm“, brummte Kurogane und der Magier zuckte mit den Schultern. „Dein Eifer in allen Ehren, Shaolan-kun, aber du würdest uns mehr helfen, wenn du die Dinge etwas langsamer angehen würdest.“ „Huh?“ „Wenn du nichts zum Recherchieren hast, okay, dann ist das so“, fuhr Kurogane mit der Belehrung fort, „aber schalte mal einen Gang runter. Du brauchst deine Kräfte noch und solltest sie mal aufladen.“ Der Junge blinzelte sie verdattert an. Er wollte doch nur helfen, war daran irgendetwas falsch? Es war wahr, dass er – wenn er konnte – seine Zeit meistens damit verbrachte, nach einer Lösung für sein Problem zu suchen (und sich mit Watanuki darüber auszutauschen, denn es war ihr Problem). Aber seiner Meinung nach hatte er bereits einen Gang heruntergeschaltet, seit Sakura mit ihm gesprochen hatte. Wirkte er immer noch wie ein Besessener? Oder … oder wollten die beiden nur verhindern, dass es wieder schlimmer mit ihm wurde? „Shaolan-kun“, Fye setzte sich neben ihm auf das Bett, „ich weiß, dass das, was ich jetzt sage, viel verlangt ist, aber ...“ Er holte Luft. „Trotz allem, trotz der schweren Aufgabe, die wir erfüllen wollen, solltest du nicht vergessen, dein Leben zu leben. Verstehst du, was wir dir sagen wollen?“ Shaolan sah direkt in die glasklaren, blauen Augen des Magiers. Sein sanfter Blick hatte immer etwas Beruhigendes an sich. Er nickte. „Es ist in Ordnung hin und wieder auch einmal zu lächeln … nicht wahr?“ Fye stutzte kurz, schluckte, legte seine Arme um die Schultern des Jüngeren und drückte ihn an sich. „Genau das will ich damit sagen.“ Ein leichtes Gewicht ließ sich auf seinen Knien nieder und Shaolan musste nicht hinsehen, um zu wissen, wer ihm da auf die Beine gehopst war. „Mama und Papa haben Angst, dass du nicht glücklich bist, Shaolan.“ Mokona tapste ein Bein entlang und drückte sich in einer Geste der Umarmung gegen seinen Bauch. „Eltern wollen immer, dass ihr Kind glücklich ist.“ „Ja.“ Shaolan legte eine Hand um Mokona und presste seine Lippen zusammen, um nicht zu weinen. Egal, wie viel Mühe er sich gab, so zu tun, als wäre er ganz ruhig und ausgeglichen, sie würden es immer merken, dass es nicht echt war. Damit, dass er sie nicht sorgen wollte, hatte er ihnen vermutlich noch mehr Sorgen bereitet. „Es tu-“ „Wenn du dich jetzt schon wieder entschuldigst, setzt es Hiebe.“ Kuroganes Einwurf ließ ihn schnell verstummen. „Wir wissen, wie schrecklich es ist, dass es schon so lange dauert“, ergänzte Fye, „aber du wirst nichts dadurch beschleunigen, dich so aufzureiben.“ Für ein paar Augenblicke verharrten sie in vollkommener Stille, bis Shaolan sich aus der Umarmung des Blonden löste. Eindringlich sah er zuerst zu ihm, dann zu Kurogane. „Ich bin nicht unglücklich. Und das ist euer Verdienst.“ Zunächst überrumpelt, dann gerührt erwiderte der Magier seinen Blick und drehte sich dann dem Ninja zu – der sein Gesicht auffällig abgewandt hatte. „Wollten wir uns nicht in der Stadt umsehen?“ Kurogane räusperte sich verdächtig und ließ Fye damit amüsiert den Kopf schütteln. „Du hast ihn voll erwischt, Shaolan-kun.“ „Wollknäuel, du bleibst bei dem Bengel“, sagte der Schwarzhaarige, die Bemerkung des anderen Mannes gekonnt ignorierend. „Ihr zwei seid mir zu ähnlich, deswegen wird der Klops auf dich aufpassen.“ „Das war vermutlich kein Kompliment“, lachte Fye und gab Shaolan einen Klaps auf den Rücken. „Aber Papa meint es nur gut.“   Gemeinsam gingen sie bis zur Bibliothek, wo sie Shaolan und Mokona absetzten und Letztere stolz schwor, ganz doll auf ihren Bruder Acht zu geben und aufzupassen, dass er sich nicht übernahm oder seine Nase zu lange in die Bücher steckte. Dann machten die beiden Männer kehrt und gingen die Straße, die sie gekommen waren, zurück. „Ich habe dein Notizheft gefunden“, sagte Kurogane aus dem Blauen heraus und obwohl es keinen offensichtlichen Grund dafür gab, wurde Fye etwas angespannter. „Und?“ „Du zählst die Tage, die wir seit der Abreise aus Clow damals unterwegs sind.“ Verblüfft riss der Magier die Augen auf. „Wow, Kuro-sama, wie hast du das denn geschlussfolgert?“ „Ich überschlage seither den ungefähren Zeitraum im Kopf und die Anzahl der Striche passt.“ Was für ein Pech, dass Striche in jeder Sprache zu lesen waren, dachte Fye zerknirscht und wunderte sich selber. Es war mal wieder so, dass er kein Geheimnis daraus hatte machen wollen und es dennoch vor Kurogane verborgen hatte. „Ich … ich dachte nur … es ist für Shaolan doch eh schon schwierig zu sagen, wie alt er ist und so können wir wenigstens ab einem gewissen Datum die Jahre zählen.“ Der Ninja blieb stehen und fixierte mit seinen stechend roten Augen den Mann vor sich. „Wenn es dir darum geht, dass dem Kleinen nicht das Gleiche passiert wie dir und er sein Alter irgendwann nicht mehr weiß, dann ist das in Ordnung und kein Grund, das Heft heimlich zu führen.“ „Ich habe es nicht heimlich geführt“, wehrte sich Fye empört. „Es hastig verschwinden zu lassen, wenn ich den Raum betrete, ist nicht heimlich?“ Verdammter Ninja mit seinem verdammten Anschleichen! Er hatte schon so eine Ahnung gehabt, dass Kurogane sich manchmal absichtlich auf leisen Sohlen näherte. Fye wollte am liebsten entrüstet sein und eine Szene machen, aber … er wusste ja, woher der Argwohn des Anderen kam. Und wer Schuld daran hatte. Nein, er wusste, warum er es vor Kurogane verheimlicht hatte und warum er sich selbst einreden wollte, dass es nur ein Versehen war. Shaolan und er waren sich in der Tat in dieser Sache ähnlich. Das Notizheft zu verstecken, hatte wie die vernünftigere Wahl geklungen. Es war doch nur eine Kleinigkeit, hatte Fye sich immer und immer wieder selber versichert, kein richtiges Geheimnis oder gar eine Lüge. Anfangs hatte er sogar überlegt, ihm direkt davon zu erzählen, doch eine Stimme in seinem Inneren hatte ihn davon abgehalten. Wenn er die Strichliste findet, wird er Vermutungen dazu anstellen. Er wird denken, dass es mit meiner Vergangenheit zu tun hat und sauer werden. Er wird sich Sorgen machen, obwohl ich das nicht will. Wenn er nichts von der Strichliste weiß, gibt ihm das auch keinen Anlass, sich Sorgen zu machen. Er hatte es vermasselt. Mal wieder. „Ich will nie wieder“, begann Fye und wandte seine Augen ab, „ich will nie wieder jegliches Zeitgefühl verlieren. So wie damals in dem … in dem Tal. Ich war mir nicht sicher, ob du das verstehen würdest. Du sollst nicht glauben, ich würde ständig daran denken, aber es kommt eben vor. Und die Strichliste beruhigt mich ein wenig.“ Er hörte den Dunkelhaarigen ausatmen. „Wenn du mich nicht andauernd von vorneherein ausschließen würdest, müssten wir solche Diskussionen auch nicht andauernd führen.“ „Ha“, der Magier lachte gequält und blickte auf, „ich wünschte, du hättest mal ein Geheimnis vor mir, dann wäre ich nicht immer der Böse.“ „Du bist nicht der Böse, du bist ein Trottel.“ Kurogane deutete ein Kopfschütteln an. „Bei der nächsten Heimlichtuerei deinerseits vergess ich mich. Verstehen wir uns da?“ „Verstanden, Kuro-tan, verstanden.“ Mehr Schelte bekam er nicht? Kurogane gab ihn doch nicht etwa auf, oder? „Was machen wir? Teilen wir uns auf?“, wechselte der Ninja das Thema. Fye nickte. „Ich vermute, in den Seitenstraßen befinden sich die Werkstätten, die die Waren für den Markt herstellen. Vielleicht haben wir da Glück.“ „Bis zum Abend bist du wieder in das Gasthaus zurückgekehrt. Die Leute gucken immer noch und ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“ Der Magier musste schmunzeln. „Pass du auch auf dich auf.“ Wortlos ruhten die leuchtend roten Augen einen langen Moment lang auf ihm, bevor Kurogane sich in eine Straße zu ihrer Rechten aufmachte und Fye eine in der entgegengesetzten Richtung ansteuerte. Der Ninja war kein Mann, der seine Gefühle mit Worten ausdrückte; er würde auch keiner mehr werden. Aber dieser Blick gerade! Fye fasste sich mit einer Hand an die Brust, um sein schnell schlagendes Herz zu spüren. Er wünschte sich, dass er auch mit einem einzigen Blick ausdrücken könnte, wie viel Kurogane ihm bedeutete. Ernsthaft, wie bekam er das hin, so viel Warmherzigkeit und Leidenschaft in einen Blick zu packen? Fye hatte ganz weiche Knie bekommen. Jetzt war es ihm noch heißer als es ihm in dieser Welt sowieso schon war. Immerhin war Kurogane demnach wohl nicht sauer auf ihn. Wieso, wieso kostete es ihn so viel Mühe, ehrlich zu sein?? Der Magier verfluchte sich selbst in Gedanken. Die Notizheft-Angelegenheit war eigentlich eine Lappalie und rückblickend betrachtet hatte Kurogane wieder einmal Recht. Er hätte es ihm einfach sagen sollen. Aber ich will ihn nicht beunruhigen. Ich will ihn schützen. Vor mir und meiner Unfähigkeit, mit allem fertig zu werden, hörte er abermals seine eigene Stimme in seinem Innern und Fye schüttelte wütend den Kopf. Wenn er diese Gedanken nicht abstellte, würde Kurogane irgendwann endgültig der Geduldsfaden reißen. Ich darf ihn nicht mehr belügen. Und ich darf ihm keine Sorgen bereiten. Wie schwer konnte es denn sein, sich daran zu halten? Konnte er nicht wenigstens einmal das hinbekommen? Warum fiel es ihm so schwer? So in Gedanken versunken stolperte Fye über eine Unebenheit im Boden. Er geriet ins Straucheln und beim Versuch sich abzufangen, riss er ein vor einem Gebäude stehendes Schild mit um. Mit einem lauten Knall fielen beide zu Boden und er landete auf dem Rücken. War das etwa die Antwort des Schicksals auf die Frage nach seinen Unfähigkeiten? Na, vielen Dank auch. „Du meine Güte“, hörte er eine besorgte Stimme aus dem Haus herauseilen. „Ist dir etwas passiert?“ Diese Stimme … Fyes Augen weiteten sich im Schock, als der Mann, zu dem die Stimme gehörte, sich über ihn beugte. Seine langen, tiefschwarzen Haare fielen dem Mann wie Strähnen aus Seide ins Gesicht und mit einer anmutigen Geste schob er sie beiseite. Er lächelte ein bezauberndes, sanftmütiges Lächeln. „Ist alles in Ordnung? Ich helfe dir hoch.“ Er hielt dem entgeisterten Magier eine Hand hin. Fye reagierte nicht und starrte nur unentwegt in die dunklen Augen seines Gegenübers. „König Ashura …“ Kapitel 3: Die vergessene Geschichte ------------------------------------ Shaolan kniff die Augen zusammen, als er vor dem Bücherregal stand. Eine große Hinweistafel war daran angebracht, die darüber informierte, welche Bücher in diesem Gang zu finden waren. Er interessierte sich für Sagen, Legenden und die Geschichte dieses Landes und der Nachbarländer hatte er am Empfang erklärt und der Angestellte dort hatte wissend genickt. „Du gehörst zu diesen Dimensionsreisenden, nicht? Die Aufseher haben schon Meldung gemacht. Kannst du unsere Sprache denn überhaupt lesen?“ Aufmerksam wie der Junge war, hatte er bereits kurz nach ihrer Ankunft nach Schriftzeichen Ausschau gehalten. Sie waren denen von Clow ein wenig ähnlich, doch ob es reichen würde, um Bücher zu lesen, konnte er erst sagen, wenn er sie sich ansah. Auf dem Schild vor der Bibliothek hatte er das Wort für „Buch“ entziffern können. Das war doch ein Anfang, oder? „Ich will es versuchen“, hatte er daher geantwortet und umgehend auch nach Büchern in anderen Sprachen gefragt. Die Antwort war schon wieder recht rätselhaft ausgefallen. Die noch existierenden Länder teilten sich eine Sprache, hatte der Angestellte erläutert, aber sie besaßen nur noch wenige Ausgaben der untergegangenen Länder. Untergegangene Länder? Was war geschehen? Ein Krieg? Eine Naturkatastrophe? Zu seinem Unverständnis hatte der Mitarbeiter mit den Achseln gezuckt. Das war so lange her, das wusste hier niemand mehr. Shaolan suchte nun gezielt nach diesen Ausgaben. Es war leichter, sehr viel leichter sich mit solchen Geschehnissen zu befassen, wenn er Gewissheit haben konnte, dass die Federn nichts damit zu tun hatten. Das Problem war, dass die Menschen dieses Landes die Geschichte der anderen Länder nirgends notiert hatten. Ihre eigene Geschichte war relativ gut dokumentiert. Die Bevölkerung lebte seit Jahrhunderten auf diesem Fleck, sie hatte nie große Krisen erlebt. Das war eigentlich ein erfreulicher Umstand, aber etwas nagte an Shaolan. Die einzigen hervorstechenden Ereignisse waren eine kleine, wirtschaftliche Krise vor über zweihundert Jahren (wohl weil einige Händler aus dem Ausland nicht mehr kamen) und eine plötzliche Zuwanderungswelle ungefähr zur gleichen Zeit. Doch niemand hatte die Gründe dafür aufgeschrieben. Wie seltsam. Es war ihnen schon mehrmals begegnet, dass ein tragisches Ereignis zu einem Tabu wurde, über das nicht mehr gesprochen werden durfte. Vielleicht war hier genau das passiert? Und nun wussten die Leute eventuell selbst nicht mehr, was sich zugetragen hatte? Er dachte zurück an das Gespräch mit Toya und Yukito. Die Aufseher hatten akribisch ihre Daten aufgenommen, aber sie hatten ansonsten überraschend wenig Interesse an ihnen gezeigt. Von den verwunderten Blicken abgesehen, reagierte auch niemand hier besonders auf sie. Gleichermaßen war der Besuch Kamuis und Subarus in den Geschichtsbüchern ein Eintrag wie jeder andere gewesen. Es fanden sich keine Hinweise darüber, dass man die Zwillinge nach ihrer Herkunft oder Ähnlichem gefragt hätte. Shaolan konnte sich nicht vorstellen, dass es an seinen fehlenden Sprachkenntnissen lag. Die Verben dieses Landes machten ihm Schwierigkeiten, doch die Nomen konnte er lesen. Endlich fand er ein Buch, dessen Umschlag anders aussehende Buchstaben zierten. Enttäuscht ließ er den Kopf hängen. Die Buchstaben waren zu anders. Er konnte nichts davon entziffern. Die untergehende Sonne warf ihre rot gewordenen Strahlen durch das Fenster hinter ihm. Erstaunt drehte er sich um. War es schon so spät? „Mokona?“ Shaolan ging zu der kleinen Kreatur, die auf einem der Tische am Fenster hockte und gespannt nach draußen blickte. Vor dem Fenster war ein kleiner Garten. „Lass uns für heute Schluss machen und nach Hause gehen.“ Erfreut wandte sie sich zu ihm um. „Shaolan ist sooo vernünftig! Das wird Mama und Papa freuen!“ Der Junge lachte leise. „Das hoffe ich sehr. Aber … nenne Fye-san und Kurogane-san vielleicht nicht ständig 'Mama' und 'Papa.'“ Mokona legte den Kopf schief. „Warum nicht?“ „Vielleicht ist ihnen das unangenehm.“ Shaolan hatte das Gefühl, dass es Fye kurioserweise weniger unangenehm sein könnte als Kurogane. „Nein.“ Das Wollknäuel schüttelte energisch den Kopf. „Das macht sie froh.“ Bedächtig hob Shaolan sie auf. Mokona log nicht. Niemals. Kurogane und Fye waren seinen leiblichen Eltern so ähnlich; in der Art, wie sie sich aufopferungsvoll um ihn kümmerten, wie sie seinetwegen so viel auf sich nahme- Er hielt inne. Natürlich waren sie sich ähnlich. Seine Eltern hatten schließlich unfassbar viel Zeit mit den beiden verbracht. Als Kind hatte er seinen Eltern geschworen, nicht nur ein guter, sondern der beste Sohn zu sein und sie zu beschützen und glücklich zu machen. Ein sanftes Lächeln formte sich auf seinen Lippen. Das Gleiche galt für die Eltern, die er nun zusätzlich bekommen hatte. Er konnte nicht aufhören, sich für alles schuldig zu fühlen, aber vielleicht konnte er ihnen wenigstens ein guter Sohn sein. Vielleicht würde das alles erträglicher machen. „Gehen wir, Mokona.“ Die Kreatur strahlte über ihr ganzes Gesicht, weil sie seine Entschlossenheit spürte. „Gehen wir morgen wieder in die Bibliothek?“ „Ja. Ich will morgen nach einem Wörterbuch suchen, um das ausländische Buch zu lesen.“ „Dann wird Mokona wieder mitkommen. Auch wenn der Garten ein wenig langweilig ist.“ „Wieso?“ Shaolan warf beim Verlassen des Gebäudes einen Blick auf die Pflanzen, die von dort zu sehen waren. „Es gibt gar keine bunten Blumen. Alles hat die gleiche Farbe.“ Das stimmte. Alle Pflanzen bestanden aus dunkelgrünen Blättern.   „Ich hab den Eindruck, die interessieren sich nicht sonderlich für uns.“ Wieder auf ihrem Zimmer verschränkte Kurogane die Arme vor der Brust, während er gegen die Wand lehnte und flüchtig zum Fenster hinausblickte. Die Sonne war untergegangen und ein gewisser Jemand noch nicht wieder aufgetaucht. Er gab ihm noch zehn Minuten, dann würde er in dieser Stadt keinen Stein mehr auf dem anderen lassen. „Vielleicht findest du deswegen nichts zu anderen Ländern“, fuhr er fort und sah wieder zu Shaolan, der auf seinem Bett saß und dem Älteren alles, was er bis jetzt in Erfahrung gebracht hatte, erzählt hatte. „Weil sie sich für nichts, was außerhalb ihrer Mauern existiert, interessieren. Kann doch sein.“ „Das wäre eine mögliche Erklärung, aber das empfinde ich als schwer nachvollziehbar.“ „Das überrascht mich nicht.“ Kurogane grinste und wurde zügig wieder ernst. „Ist dir auf dem Weg aufgefallen, ob die Leute hier dir weiter erstaunte Blicke zugeworfen haben?“ Nachdenklich legte Shaolan seine Stirn in Falten. „Mir eigentlich nicht, denke ich. Nur Mokona wurde ein paar Mal fragend angesehen.“ Er schaute auf seine Begleiterin, die auf seinem Bett eingeschlafen war. Er spürte, wie Kurogane mit einem Mal angespannter wurde. „Ist etwas vorgefallen?“ „Das ist ja das Komische. Die haben mich keines Blickes mehr gewürdigt, als ich alleine unterwegs war.“ „Das ist wirklich seltsa-“ Der Junge stockte, als die Augen des Ninjas zur Tür schnellten. Wenige Sekunden später wurde diese geöffnet und Fye trat herein. Kurogane musterte ihn kurz, als wollte er sichergehen, dass alles an dem Magier noch dran war, dann explodierte er: „Wo zur Hölle hast du gesteckt?!“ Nachdem er sich von dem Schreck erholt hatte, so begrüßt zu werden, lächelte Fye schuldbewusst. „Ich weiß, ich weiß, ich bin ein bisschen spät dran. Ich habe mich in diesen verschlungenen Seitengassen furchtbar verlaufen. Ein wenig Mitleid wäre angebracht!“ „Du hast dich verlaufen?“ Kuroganes Stimme und Miene trieften vor Skepsis. Der Idiot war ein Idiot, aber war er wirklich so idiotisch? „Nein, furchtbar verlaufen. Das ist ein Unterschied“, entgegnete der Blondschopf theatralisch. „Aber dafür gibt es was zu essen!“ Er hielt eine Tasche mit Lebensmitteln hoch. „Es ist zwar immer schade, wenn ich nichts für euch kochen kann, aber verhungern lasse ich euch trotzdem nicht.“ Beschwingt stellte er die Tasche bei Shaolan ab und reichte ihm daraus etwas, das nach einem kleinen Brot aussah. Der Junge nahm es dankend entgegen. Er hatte Hunger, doch irgendwie wurde die Atmosphäre gerade merklich angespannter. „Der Markt hat längst zu. Wo hast du das Essen her?“ Kritisch blickte Kurogane zuerst auf das Brot, das der Magier ihm entgegenhielt und dann auf den Magier. Dieser schluckte und für den Bruchteil eines Augenaufschlags wirkte er merkwürdig verunsichert. „Was? Glaubst du, ich wäre irgendwo eingebrochen und hätte es geklaut? So schlimm ist unsere finanzielle Lage noch nicht, Kuro-rin.“ Als die Miene des Schwarzhaarigen sich nicht aufhellte, schüttelte Fye den Kopf und lächelte. „Oje, oje, du alter Kuro-Skeptiker. Die Inhaber einer Bäckerei haben mir den Weg zum Gasthaus gezeigt und mir die unverkauften Reste des Tages mitgegeben. Andere Leute wissen meinen Charme eben zu schätzen.“ Shaolan sah zwischen den beiden Erwachsenen, die sich ein Anstarrduell lieferten, hin und her. Fye hatte keinen Grund, sie wegen irgendetwas anzulügen, aber Kurogane wiederum hatte einen siebten Sinn, wenn es um den Magier ging. „Vielen Dank für das Essen, Fye-san“, blubberte er daher leicht hilflos dazwischen. „Ist dir aufgefallen, ob die Bewohner dieser Stadt dich seltsam angesehen haben?“ „Hm?“ Fye wandte sich ihm zu. „Ja. Das geht doch schon den ganzen Tag so, dass sie uns so ansta-… habe ich etwas verpasst?“ Er bemerkte die alarmierten Gesichter der beiden anderen. „Kleiner, wenn die Leute hier keine Magie kennen, dann spüren sie doch auch nicht, wenn der Magier ein Magier ist, oder?“ „Das ist unmöglich. Nur Wesen, die selbst über Zauberkräfte verfügen, können diese auch spüren. Kurogane-san und ich wurden von der Bevölkerung quasi ignoriert“, erklärte Shaolan zunehmend aufgeregter in Fyes Richtung. „Verstehe.“ Der Blonde fasste sich mit einer Hand ans Kinn. „Es gibt hier keine Magie, da bin ich mir absolut sicher.“ Er sah in die Gesichter seiner Gefährten und schüttelte ganz sacht den Kopf. „Kuro-ron, wirken die Leute hier irgendwie feindselig auf dich?“ „Nein“, brummte er. „Shaolan-kun, hast du einen Hinweis dazu gefunden, dass es hier irgendein Geheimnis oder eine Verschwörung geben könnte?“ „Bisher nicht ...“ „Also!“ Fye klatschte in die Hände. „Kommt mal wieder runter. Was auch immer es ist, weswegen die Leute starren, es wird schon nichts Schlimmes sein. Kuro-pon, du steckst den Jungen mit deiner Paranoia an. Das ist nicht in Ordnung.“ „Du bist auffallend entspannt“, widersprach der Ninja. „Einer muss ja einen kühlen Kopf bewahren – und das in dieser Hitze. Sag mir lieber, ob du etwas gefunden hast, um unsere Haushaltskasse aufzubessern.“ „Ja.“ Er wiederholte das Brummen von vorhin. „Auf einer Baustelle. Ich muss früh raus.“ „So?“, hakte Fye hörbar erfreut nach. „Auf dich ist doch Verlass! Ich habe auch etwas in Aussicht.“ „Wo?“ „In einer Töpferei. Ich habe null Talent dazu, aber ich soll auch nur beim Glasieren und Aufräumen helfen.“ „Wie willst du den Laden wiederfinden, wenn du dich auf dem Rückweg verlaufen hast?“ „Ich bin immer noch nicht ganz dumm“, erwiderte Fye gespielt empört. „Nimm den Klops mit.“ „Nein, mir ist es lieber, Mokona bleibt bei Shaolan.“ „Warum?“ Fye entglitten die Gesichtszüge und er starrte den Anderen sprachlos an, bevor er mit beiden Armen abwinkte. „Jetzt ist es genug, Kuro-sama. Ich habe das Gefühl, du willst mich bevormunden. Es ist viel zu spät und viel zu warm, um solche Diskussionen zu führen.“ Demonstrativ schritt er zu seinem eigenen Bett, zog seine Schuhe aus, ließ sich darauf nieder und zog die Bettdecke bis zu seinem Kinn hoch. „Gute Nacht!“, fügte er unterkühlt an. „Gute Nacht, Shaolan-kun.“ Dieser letzte Satz klang um Längen warmherziger. Kurogane gab ein unzufriedenes Knurren von sich, fuhr Shaolan im Vorbeigehen über den Kopf und legte sich selbst hin. Als er sich zu Fye drehte, drehte dieser sich eingeschnappt in die andere Richtung. Nach einem weiteren Knurren wurde es mucksmäuschenstill in dem vom sehr hellen Mondlicht erleuchteten Zimmer. „Gute Nacht“, flüsterte Shaolan in die unangenehme Stille hinein. Er hasste es, wenn sie sich stritten.   Das konnte doch nicht sein! Fye wollte vor Frust am liebsten in das dünne Laken beißen. Das war nicht normal! Er hatte sich völlig normal benommen, wie konnte Kurogane dann den Braten riechen?? Hatte er sich zu normal benommen? Gab es so etwas wie sich zu normal zu benehmen? Wahrscheinlich hatte der Fehler darin gelegen, dass er so spät nach Hause gekommen war. Er hatte wahrgenommen, dass die Sonne dabei war unterzugehen, doch er hatte sich nicht von seinem Gesprächspartner loseisen können – oder wollen. Selbstverständlich war es ihm klar, dass das nicht sein Ashura war, aber … es war ein Ashura. Er hatte seine herzliche Art, seine freundliche Stimme, sein bezauberndes Lächeln. Und das alles ohne einen Kriegerdämon im Hintergrund, der durch das Unglück der Zwillinge heraufbeschworen worden war und von ihm getötet werden wollte. Fye biss sich mit voller Wucht auf die Lippen. Die Tränen brannten bereits in seinen Augen und wenn auch nur der leise Hauch eines Schluchzens über seine Lippen käme, würde Kurogane wahrscheinlich aufspringen. Er wollte ihn nicht belügen. Er war fest entschlossen, ihm die Wahrheit zu sagen – später. Wenn er ihm jetzt schon davon erzählen würde, dass es in dieser Welt jemanden mit der Seele von König Ashura gab, würde Kurogane vielleicht verlangen, dass er ihn nicht wiedersah. Doch wenigstens noch ein Mal, noch ein einziges Mal wollte er Ashura aufsuchen und ihn sehen, ihn hören, in seiner Nähe sein. Nur noch ein einziges Mal sich der Illusion hingeben, das wäre sein Ashura. Dann würde er Kurogane beichten, ihm begegnet zu sein. Kurogane würde sehen, dass alles in Ordnung war und ihn nicht mehr für dermaßen zerbrechlich halten. Die nackte Panik hatte ihn zuvor überkommen, als er endlich realisiert hatte, dass es draußen bereits dunkel geworden war. Der Ashura dieser Welt hatte ihm nach seinem Sturz aufgeholfen und ihn zu sich in die Töpferei gebeten, um sicher zu gehen, dass der Besucher sich auch wirklich nicht verletzt hatte. (So verwirrt wie Fye gewirkt haben musste, hatte ihn das nicht gewundert.) Ashura hatte gesagt, dass er noch nie so einen besonderen Gast gehabt hätte und Fye war von der gesamten Situation derart überfordert gewesen, dass er sich wieder wie ein kleines Kind gefühlt hatte. Übernervös und schüchtern hatte er angefangen, dem dunkelhaarigen Mann Fragen zu seinen Töpferwaren zu stellen und ach ja, einen Job suchte er auch noch. Als ihm bewusst geworden war, wie spät es schon war, war der Magier aufgesprungen und hatte sich übereilt verabschieden wollen und Ashura hatte ihm – sozusagen als Wiedergutmachung für den Sturz über sein Schild – etwas zu essen mitgegeben. Während Fye in das Gasthaus zurückgeeilt war (natürlich kannte er den Weg noch), hatte er sich nicht einmal eine Lüge zurechtgelegt. Sein Kopf war einzig und allein von den Gedanken beherrscht gewesen, dass er Ashura unbedingt wiedersehen wollte – und dass Kurogane dies noch nicht erfahren sollte. Ab da hatte sich in Fye ein Automatismus in Gang gesetzt, der ihn selbst erschreckte. Er musste nicht über die Lügen nachdenken, sie sprudelten einfach aus ihm heraus. Als würde er gar nicht aktiv an dem Gespräch teilnehmen, sondern nur danebenstehen und sich kopfschüttelnd fragend, was der blonde Wirrkopf da tat und ob er nicht wusste, dass er dies nicht tun sollte. Nicht durfte, weil es denjenigen, den er über alles liebte, verletzte. Es war kein Wunder, dass Kurogane so misstrauisch war. Er hatte jeden Grund dazu. Es tat ihm schrecklich leid, so eine Show abgezogen zu haben. Aber er würde es ihm am morgigen Abend erklären. Er würde vollkommen ehrlich sein. Damit Kurogane ihn am Ende nicht doch noch aufgab. Fye stellte fest, dass die Tränen, die er mit Gewalt zurückgehalten hatte, wieder getrocknet waren. Er schob das Betttuch ein wenig von sich und fiel in einen unruhigen Schlaf.   „Trottel“, murmelte Kurogane, als er mit den ersten Sonnenstrahlen aufstand und bemerkte, dass Fye das Laken komplett weggestrampelt hatte. Die Nacht war recht frisch gewesen und der Holzkopf holte sich noch eine Erkältung, wenn er ohne Decke schlief. Er deckte ihn wieder zu und seufzte. Dann bemerkte er zwei Augen auf sich, oder vielmehr zwei Augenschlitze. „Nicht traurig sein“, jaulte Mokona leise. „Wer hat gesagt, dass ich traurig bin?“ „Du musst es nicht sagen.“ Der Anblick ihrer herabhängenden Ohren ließ ihn von neuem seufzen. Ohne ein Geräusch zu machen und die beiden anderen zu wecken, schritt Kurogane zu Shaolans Bett und fuhr der darauf stehenden Mokona in der gleichen Weise, wie er es am Abend zuvor bei dem Jungen gemacht hatte, über den Kopf. „Pass du heute wieder auf den Bengel auf. Der Magier behauptet, er könne auf sich selber aufpassen.“ „Wer passt auf Papa auf?“ Der Ninja stutzte kurz, ehe er grinste. „Ich bin es gewohnt, auf mich selbst aufzupassen.“   Vor dem Gasthaus warf Fye sich an der Quelle eine große Ladung Wasser ins Gesicht. „Ist es heute ernsthaft noch heißer als gestern?“ Verwundert blickte Shaolan von ihm zur Sonne am Himmel hinauf und wieder zurück zu seinem Kameraden. In Clow hatte er sich nie so stark beschwert. „Findest du? Es kommt mir gar nicht so vor.“ Fye schüttelte seine nun triefnassen Haarspitzen und machte ein gequältes Gesicht. „Ich werde nie verstehen, wie du es in einem Wüstenland aushältst, Shaolan-kun.“ Der Junge lächelte verlegen und begann, herumzudrucksen: „Ah, Fye-san, wegen gestern Abend …“ Der Magier schreckte ein wenig zusammen. „Tut mir leid, dass du das mitbekommen hast.“ „Nein, das … das ist es nicht. Du weißt noch, was du uns versprochen hast, oder?“ Die blauen Augen seines Gegenübers weiteten sich und wurden von Bedauern überkommen. „Ich bin wirklich ein furchtbarer Mensch. Du glaubst direkt, ich würde irgendwelche Sorgen vor euch verbergen?“ „Du bist kein furchtbarer Mensch! Aber …“ Shaolan wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte, dass Fye so wirkte, als würde er etwas vor ihnen verheimlichen. „Ah, ich weiß etwas. Mokona, komm mal her.“ Fye hielt seine Arme auf und das Wollknäuel sprang hinein. „Bin ich besorgt? Oder traurig?“ „Hmmm ...“ Mokona grübelte heftig. „Nein, eher … aufgeregt.“ „Bei der ganzen Aufregung ist das kein Wunder.“ Fye lachte und tätschelte ihr Köpfchen. „Der Punkt ist: Mir geht es gut. Ich werde heute Abend mit Kuro-sama reden. Ganz vernünftig und ruhig. Wie klingt das?“ Sichtlich erleichtert nickte Shaolan. Er nahm Mokona von neuem entgegen und nach dem Hinweis, dass Fye viel trinken und sich im Schatten aufhalten sollte, da er das Klima nicht so gut zu vertragen schien, verabschiedeten sie sich voneinander. Wieder in der Bibliothek fragte Shaolan umgehend nach einem Wörterbuch zu der Sprache, die er am Vortag zu entziffern versucht hatte. „Wörterbücher?“ Der Angestellte kratzte sich am Hinterkopf. „Ja, wir hatten mal eins. Ob das noch hier steht?“ Er war selbst überrascht, es in einem der Regale zu finden. Eine ultra dicke Staubschicht hatte sich auf dem uralten, auseinanderfallenden Buch angesammelt. Shaolan wusste, sein Gedanke war seltsam, aber er hatte Mitleid mit dem verwahrlosten, unbeachteten Wörterbuch. Kuroganes Theorie schien sich mehr und mehr zu bewahrheiten. Ein Land, das sich nicht für andere Länder interessierte, interessierte sich auch nicht für deren Sprachen. Engagiert setzte der Junge sich zusammen mit Mokona, dem ausländischen Buch und dem Wörterbuch an einen Tisch und begann, die Schriftzeichen des Titels nachzuschlagen.   Zielsicher steuerte Fye die Seitengasse an, in der sich die Töpferei befand. Sein Herz überschlug sich gerade aus zwei Gründen: Erstens, der Umstand, Ashura wiederzusehen und mit ihm ein wenig Zeit zu verbringen; zweitens, der Umstand, sich vollkommen bewusst zu sein, wie falsch es war, es den anderen nicht gesagt zu haben. Doch jetzt war es zu spät. Er konnte nur noch darauf hoffen, dass sie es verstehen würden, dass sie ihn verstehen würden und ihm glaubten, dass er sie nicht hatte anlügen wollen. Aber er hatte es trotzdem getan. Fye schluckte und versuchte, ruhig zu atmen. Wenn er von sich selbst schon so enttäuscht war, wie sehr würden sie es dann sein? War er vielleicht wirklich ein hoffnungsloser Fall? Verunsichert blieb er vor der Töpferei stehen. Es gab noch die Möglichkeit, umzudrehen und seine Lüge damit nicht noch schlimmer zu machen. Es gab auch die Möglichkeit, umzudrehen und ihnen gar nichts hiervon zu erzählen. Die Tür ging auf und er hielt unbewusst den Atem an. „Ah, Fye, da bist du ja“, begrüßte Ashura ihn freundlich und der Magier hatte das Gefühl, sein Herz wurde gleich aus seinem Brustkorb herausspringen. Wie sehr er sich danach gesehnt hatte, diese Stimme noch einmal zu hören! Noch einmal zu hören, wie diese Stimme ihn ansprach! Gleichzeitig zog sich alles in ihm zusammen, weil er vor seinem inneren Auge an die letzten Momente seines Ashuras denken musste. Damals, in Ceres, als sein Ashura dieses furchtbare Ende gefunden hatte und er selbst einfach nur nutzlos gewesen war. Sah man es so, hatte er womöglich gar kein Recht, mit diesem Ashura so ungezwungen zu sprechen. Der Ashura dieser Welt sah ihn derweil mit bewundernden Augen an. „Wie die Sonne auf deinen Haaren glitzert … etwas Derartiges habe ich noch nie gesehen. Es ist wunderschön.“ „So?“ Fye lächelte (zum Teil aufrichtig, zum Teil schuldbewusst) und zupfte zum wiederholten Mal an seiner Kleidung, um mehr Luft an sich zu lassen. Vielleicht gab es einen dritten Grund für sein Herzrasen: diese verdammte Hitze. Sie war heute in der Tat noch viel, viel schlimmer als gestern. Selbst in der Nacht war es ja kaum abgekühlt. Ashura trat beiseite und signalisierte ihm, einzutreten. Ich werde es Kuro-sama später erklären. Sobald ich wieder im Gasthaus bin, werde ich es ihm auf der Stelle erklären. Mit schnellen Schritten, als hätte er Angst, entdeckt zu werden, huschte Fye in das kleine Gebäude.   „Hmm …“ Angestrengt starrte Shaolan auf das Zeichen, das er einfach nicht finden wollte. Die Benutzung des Wörterbuchs war recht einfach; man musste nur herausfinden, was das Hauptzeichen eines Buchstabens war und dann die Liste aller Zeichen, in denen dieses vorkam, durchgehen. „Willst du eine Pause machen?“, fragte Mokona aufmunternd. Sie saß die ganze Zeit schon neben ihm auf dem Tisch und versuchte zu helfen. „Noch nicht. Ich will unbedingt erst noch wissen, was dieses Zeichen bedeutet. Es steht in diesem Kapitel als Überschrift und kommt auch auffallend häufig im Text vor.“ „Die Geschichte des Landes Phaeton“ war der Titel des Buchs, das Shaolan seit Stunden zu entziffern versuchte. Er konnte nicht jedes Schriftzeichen nachschlagen, denn dann würde er niemals damit fertig werden, doch er besah sich die Überschriften jedes Kapitels und pickte einzelne Abschnitte aus den Texten heraus. Das Land hatte südlich von Helios gelegen und war, nach dem was er verstand, ein sehr wohlhabender Staat gewesen, der mit vielen Ländern Handel betrieben hatte. Der Verfasser des Werks erwähnte im Vorwort, dass er vermutete, der Letzte zu sein, der von seinem Volk noch übrig war. Das Unheil, das aus dem Nichts über sie gekommen war, hatte in ihrem Land und den Nachbarländern gewütet und nur wenige, die so waren wie er, hatten sich nach Helios oder in dessen Umgebung retten können. Da die Leute hier jedoch nicht an den Geschehnissen von außerhalb interessiert waren (Kurogane hatte also Recht), befürchtete er, dass die schlimmen Ereignisse in Vergessenheit geraten könnten. In Shaolan zog sich grundsätzlich alles zusammen, wenn er von „Unheil“ und „schlimmen Ereignissen“ hörte oder las. War es am Ende doch eine Feder gewesen? „Ist es das?“ Mokona tippte mit ihrer Pfote auf eine Stelle im Wörterbuch und holte ihn so aus seinen Gedanken. Sie hatte im Alleingang darin geblättert und ein kleineres Zeichen als das Hauptzeichen des Buchstabens ausfindig gemacht. Aufgeregt besah er es sich näher. „Ja! Das ist es!“ Er streichelte mit einer Hand ihren Kopf und erstarrte, als er die Übersetzung las. „Tod?“ Mit einem unguten Gefühl im Magen begann er, nach dem nächsten Schriftzeichen zu suchen.   'Krach!' „Fye!“ Ashura sprang auf und hielt den schwankenden Blonden fest, der beinahe umgekippt wäre. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja ...“ Der Magier wischte sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn. „Tut mir leid, ich habe das Tablett mit den fertigen Waren fallen gelassen ...“ „Das ist nicht so tragisch.“ Ashura lächelte mitleidsvoll und geleitete ihm zu der Sitzbank, die in seiner Werkstatt stand und auf der sie sich am Vortag so lange unterhalten hatten. Die letzten Stunden hatte Ashura ihm die Abläufe seiner Arbeit erklärt und sich sichtlich darüber gefreut, dass Fye alles, was er sagte, wie ein Schwamm aufzusaugen schien. Nach ein paar Versuchen hatte er es auch raus gehabt, wie man die Tonwaren in die Glasur tauchte, ohne Blasen daran entstehen zu lassen oder sie in der Wanne mit der Glasur zu verlieren. Doch obwohl er sich den ganzen Tag drinnen aufgehalten hatte und die Häuser hier so gebaut waren, dass es im Inneren merklich kühler war als draußen, war ihm heißer und heißer geworden. Schließlich hatte ihn plötzlich ein Schwindelanfall überkommen. „Möchtest du noch etwas Wasser?“ Ashura hatte den Krug und den Becher schon in der Hand. „Ja ... bitte.“   Tod durch Sonne? Shaolan schüttelte den Kopf. Hatte er das richtig übersetzt? Zuerst, das entnahm er dem Buch vor sich, hatte es wohl die Pflanzen betroffen. Von einem auf den anderen Tag waren sie alle eingegangen. Die Menschen hatte es wenige Tage später getroffen. Es war immer ein warmes Land gewesen, doch, so schrieb es der Verfasser, war es innerhalb kürzester Zeit wärmer und wärmer geworden. Hilflos hatte er zusehen müssen, wie der Tod durch die Sonne einen nach dem anderen dahinraffte. Seine Frau war wie die anderen ihrer Art innerhalb von drei Tagen tot gewesen. Auch seine Kinder, die nach ihr gekommen waren, waren nicht verschont geblieben. Die Wirtschaftskrise und die Zuwanderungswelle; das war ihr Ursprung gewesen. Anscheinend hatte eine Epidemie dort gewütet und die Überlebenden waren hierher geflohen. Aber … eine Epidemie, die zuerst Pflanzen und dann Menschen befiel? Shaolan kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. Und nur gewisse Menschen? Vielleicht hatte er etwas missverstanden. Ungeduldig blätterte er weiter. Die Bewohner der betroffenen Länder hatten selbst keine Erklärung dafür, was geschehen war. Die Sonne musste sich verändert haben und nun verbrannte sie die Menschen innerlich. Der Junge schluckte bei diesen Sätzen. Was für eine grausame Vorstellung das war. Zunehmend fahriger fuhren seine Finger die Listen im Wörterbuch entlang. „Symptom“, las er und suchte hastig nach dem nächsten Zeichen.   Irgendetwas stimmte nicht. Fye fühlte mit seiner eigenen Hand gegen seine schweißnasse Stirn. Hatte er Fieber? Er hatte innerhalb von Minuten plötzlich seine gesamte Kleidung durchgeschwitzt. Die Symptome eines normalen Hitzschlags waren anders. Darüber hatte er sich bei ihrem zweiten Besuch in Hanshin schlau gemacht (oder vielmehr hatte Sorata ein Handpuppentheaterstück zu diesem Thema aufgeführt, weil es wohl zu dieser Zeit ein akutes Problem dort gewesen war und er nicht wollte, dass den Reisenden etwas passierte). Die Sicht vor seinen Augen verschwamm. Es war auch egal, wie viel Wasser er trank, er wurde das Gefühl nicht los, komplett ausgetrocknet zu sein. „Du siehst gar nicht gut aus“, sagte Ashura besorgt. „Soll ich dich zu deinen Gefährten bringen?“ Die Adresse des Gasthauses hatte er von der Arbeitserlaubnis, die Fye ihm vorgezeigt hatte. Kurogane würde noch nicht zurück sein, er würde also nicht in ihn hineinrennen. Schwach nickte der Magier. „Bitte.“   War die mysteriöse Krankheit so etwas wie ein Fieber? Das schlussfolgerte Shaolan aus den wenigen Wörtern, die er lesen konnte. Ein Fieber, das durch die Strahlung der Sonne verursacht wurde? Das Wörterbuch ließ ihn an dieser essentiellen Stelle im Stich. Es gab ihm als Übersetzung des Zeichens die Umschreibung „Krankheit, bei der der Körper sehr heiß wird.“ Hatte dieses Land kein Wort für Fieber? Zudem ärgerte es Shaolan, dass er ein weiteres Wort die ganze Zeit nicht finden konnte. Er hatte die starke Vermutung, dass dieses Wort ihm Aufschluss darüber geben könnte, wer von dieser Krankheit befallen worden war. Allerdings war der einzige Eintrag, den er dazu im Wörterbuch gefunden hatte, das Wort „hell“ gewesen. Das gab keinen Sinn. Immerhin hatte er einige der Symptome entschlüsseln können. Die Betroffenen klagten über Hitzewallungen, Schweißausbrüche, Schwächeanfälle und einen unstillbaren Durst, bevor sie innerhalb von drei Tagen nach dem Auftreten der ersten Symptome verstarben. Mit plötzlich geweiteten Augen hielt Shaolan inne. Das … Er erschrak Mokona fast zu Tode, als er schlagartig aufsprang. Sein rastloser Blick schnellte zu den Pflanzen draußen vor dem Fenster. Sie waren alle dunkelgrün. Es gab keine hellen Blüten, keine andersfarbigen Gewächse. Seine Augen rasten zu den anderen Menschen, die sich in der Bibliothek aufhielten. Sie alle …. Moment, wie war es gestern und heute auf dem Weg hierher gewesen? Er konnte sich nicht mehr genau erinnern, da es bis eben nicht wichtig gewesen war. „Mokona!“, rief er geradezu panisch aus. „Hast du in dieser Welt bisher auch nur einen Menschen mit hellen Haaren gesehen??“   Nur eine Sekunde, nachdem Mokona verängstigt „Ich glaube nicht“ geantwortet hatte, hatte Shaolan sie geschnappt und war in Windeseile aus der Bibliothek gestürmt. Vielleicht lag er falsch, vielleicht lag er falsch, wiederholte er wie ein panisches Mantra in seinem Kopf. Aber alles passte zusammen. Fyes Klagen über die Hitze, die sonst keiner von ihnen verspürte, die seltsamen Blicke, die sie kassiert hatten, der dunkelhaarige Yukito …. Er besah sich im Laufen die Passanten und tatsächlich besaßen sie alle dunkle Haare. Es gab keinen einzigen Menschen mit blonden Haaren. Sie waren es gewesen, die von der Strahlung der Sonne dahingerafft worden waren. Nur der dunkelhaarige Teil der Bevölkerung hatte überlebt und sich hier niedergelassen, wo man weder die Wörter für Fieber noch für blond kannte, weil scheinbar keins von beidem hier je existiert hatte. Shaolan wusste nicht einmal, wohin er genau laufen sollte. Fye hatte ihm lediglich die Richtung gezeigt, in der die Töpferei lag. Vielleicht lag er falsch, vielleicht lag er falsch - Abrupt blieb er auf der Hauptstraße stehen. Sein Herz setzte kurz aus, als die Gewissheit, nicht falsch zu liegen, ihn wie ein Schlag ins Gesicht traf. „FYE!“, schrie Mokona erschrocken, als sie den gesuchten Kameraden bewusstlos in den Armen eines Mannes erblickte, der ihr verdächtig bekannt vorkam. „Gehört ihr zu ihm?“, fragte der Mann atemlos. „Er hat plötzlich das Bewusstsein verloren.“ „Ja.“ Shaolan schüttelte den Schock, den er gerade erlitten hatte, so gut es ging ab. Das vor ihnen war jemand mit der gleichen Seele wie König Ashura. Es erklärte Fyes merkwürdiges Verhalten vom Vortag. Beherzt streckte Shaolan eine Hand nach Fyes Stirn aus, um dort seine Temperatur zu fühlen (er konnte ehrlich nicht sagen, wie oft der Magier dies schon bei ihm getan hatte). Er war glühend heiß. „Er hat hohes Fieber!“ Während Mokona ängstlich jaulte, runzelte Ashura überfragt die Stirn. „Was … was bedeutet das?“ Sie kannten nicht nur das Wort nicht. Auch das Konzept war ihnen fremd. „Er ist sehr krank!“, beeilte sich Shaolan zu erklären. „Er braucht ...“ Er stoppte jäh. Auch ein Arzt würde das Konzept nicht kennen. Was sollten sie tun? „Bitte, können Sie mir helfen und ihn auf unser Zimmer tragen?“ Ashura nickte und gemeinsam rannten sie die letzten Meter zum Gasthaus zurück. Shaolan füllte draußen einen großen Krug mit dem kalten Wasser aus der Quelle. „Mokona, kannst du irgendwie Kurogane finden?“ Zitternd zappelte das auf den Boden gesprungene Wesen hin und her. „Ich weiß nicht, wo sein Arbeitsplatz ist. Ich kann ihn suchen, aber das wird bestimmt lange dauern!“ „Gehört er auch zu eurer Gruppe?“, hakte Ashura nach. „Dann wissen die Aufseher, wo er arbeitet. Wenn man jemanden einstellt, muss man ihnen das melden.“ Shaolan spürte wie sich zu seiner Panik blanke Wut gesellte. Sie dokumentierten jeden Mist, aber alles, was sie nicht betraf, vergaßen sie gnadenlos. Er schluckte seine Wut hinunter, denn er musste einen kühlen Kopf bewahren. „Sind die Aufseher immer auf der Hauptstraße?“ Ashura nickte von neuem und dieses Mal hüpfte Mokona mit großen Sprüngen augenblicklich los.   Das hektische, schwere Poltern, das er vernahm, ließ Shaolan umgehend noch angespannter werden, als er es sowieso schon war. Nur einen Augenblick später riss Kurogane die Tür auf und preschte ins Zimmer, wo der Junge nach bestem Wissen kalte Bandagen um Fyes Gelenke gewickelt hatte. „Was ist verdammt nochmal passiert?!“ Kurogane schnaufte vor Zorn und Hast. Sein ungläubiger Blick verweilte lange auf der bewusstlosen Gestalt des Magiers, ehe er zu dem Jungen schnellte. Hinter ihm trafen Toya und Yukito (mit Mokona auf der Schulter) ein. „Ich glaube, Fye ist krank“, begann Shaolan und erschrak bei dem entsetzten Gesicht, das Kurogane daraufhin machte. „Was soll das heißen??“ „Er hat sehr hohes Fieber.“ „Heute Morgen hatte er das noch nicht! Was zum Teufel ist in der Zwischenzeit passiert??“ Aufgebracht landete sein Blick von neuem auf dem schwerfällig atmenden Magier. „Das stimmt“, äußerte Mokona bekümmert. „Heute Morgen hat er sich noch nicht so schrecklich heiß angefühlt.“ „Ihm wurde schwindelig“, ertönte da eine Stimme hinter den Aufsehern. „Und dann klappte er zusammen.“ Ashura, der frisches Wasser geholt hatte, stellte den Krug im Zimmer ab. Shaolan bekam gerade so noch mit, wie Kuroganes Augen größer wurden, bevor er sich blitzschnell zu dem gerade Eingetroffenen umdrehte. „Du ….“ Sein ganzer Körper bebte vor Zorn. „DU!“ Er ging auf Ashura los und packte ihn mit beiden Händen an seinem Kragen. „Hast du etwas damit zu tun?! Hast du etwas mit ihm gemacht?!“ „Hey!“ Toya versuchte unverzüglich, den Ninja von dem Stadtbewohner wegzureißen, doch der Fremde war stärker. Obwohl er so grob angegangen wurde, blieb Ashura seelenruhig. „Ich habe ihm nichts getan. Warum sollte ich?“ „Kurogane-san!“ Shaolan war an seine Seite geeilt. „Er hat nichts damit zu tun. Ich habe in einem Buch etwas von einer Krankheit gelesen, die anscheinend von der Sonne verursacht wird.“ Unbeeindruckt hielt Kurogane den langhaarigen Mann fest. „Von der Sonne?! Was für ein Schwachsi-“ „Nein“, der Junge schüttelte energisch den Kopf, „sieh aus dem Fenster. Es gibt in diesem Land oder vermutlich sogar in dieser gesamten Welt keine blonden Menschen. Die Sonne dieser Welt scheint eine für sie gefährliche Strahlung zu besitzen.“ Ashura immer noch nicht loslassend, drehte Kurogane hastig seinen Kopf zum Fenster. Er konnte von hier auf die stark frequentierte Hauptstraße sehen und – tatsächlich. Unter so vielen Menschen gab es keinen einzigen mit blonden Haaren. Jetzt, wo er darüber nachdachte, fiel ihm ebenso auf, dass ihm hier auch sonst nirgends ein hellhaariger Mensch begegnet war. Selbst der Yukito dieser Welt war dunkelhaarig …. Mit einem fassungslos gewordenen Blick ließ er von Ashura ab und wandte sich Fye zu. „Das kann doch nicht … das ist … du willst mir ehrlich sagen, dass seine Haarfarbe ihn krank macht??“ „Na ja, nicht direkt. Es muss etwas mit der Sonne zu tun haben. Er reagiert auf sie anders als wir.“ Kuroganes Augen schnellten zu Mokona. „Hey, Klops, was ist mit dir?“ „Mir?“ Mokona blinzelte. „Fühlst du dich gut?“ „Ja … bei mir ist alles so wie immer.“ „Vielleicht ist Mokona nicht betroffen, weil sie ein magisches Wesen ist. Oder weil ihr Fell die Strahlung abhält“, mutmaßte Shaolan und Kurogane atmete kurz aus. Seine Unruhe allerdings war immer noch greifbar. „Warum habt ihr Flachpfeifen uns nicht davor gewarnt, als wir angekommen sind?!“, richtete er wütend an Toya und Yukito. „Gewarnt? Wir hören zum ersten Mal von irgendeiner Sonnenkrankheit“, gab Toya zurück. „Sie wissen nichts darüber“, warf Shaolan ein, als er sah, wie der Ninja kurz davor war, den beiden an den Kragen zu gehen. „Das Volk dieses Landes hat wahrscheinlich vergessen, dass es diese Krankheit – oder blonde Menschen – gibt. Erinnerst du dich an die Registrierung? Sie hatten angenommen, Fye sei kein Mensch. Weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass Menschen blond sein könnten.“ „VERGESSEN?!“ Kurogane ballte seine Hände zu Fäusten. „In was für einem kranken Land sind wir hier gelandet?!“ „Ich verstehe das alles nicht so richtig“, hauchte Ashura erschüttert. „Seine Haarfarbe ist so besonders, so schön und sie soll der Grund sein, dass er sich schlecht fühlt?“ „Okay, jetzt, wo wir wissen, warum er hohes Fieber hat“, ignorierte Kurogane Ashuras Einwurf, „was machen wir dagegen? Gibt es hier Ärzte? Medizin?“ Er bemerkte Shaolans verkniffenes Gesicht. „Was?“ Der Brünette sah zu den Aufsehern. „Hat einer von euch schon einmal den Begriff 'Fieber' gehört?“ Der Ninja stutzte, als er diese Frage hörte. Was sollte das denn? Wer wusste denn nicht, was Fie- „Fieber?“, hakte Yukito verwirrt nach. „Die Krankheit, bei der der Körper sehr heiß wird.“ „Ah“, machte der Brillenträger, „davon hat meine Großmutter einmal erzählt. Aber Genaueres weiß ich darüber nicht. Leidet er daran? Ist das gefährlich? Es klingt ganz danach.“ „Das ist gefährlich!“, rief Mokona aus. „Sehr gefährlich! Fye braucht ganz, ganz dringend Hilfe!“ Shaolans hilfloser und Kuroganes entsetzter Blick trafen sich. Sie mussten nicht aussprechen, was sie dachten: Sie wissen nicht, was das ist – dann wissen sie auch nicht, was man dagegen tut. „Wir müssen Fye-san hier wegbringen. Solange er in dieser Welt ist, ist er der Strahlung schutzlos ausgeliefert. Aber nur ein Ortswechsel allein wird ihn nicht gesund machen.“ „Und wenn wir in einer Welt landen, die noch gefährlicher ist? Oder in einer, wo man ihm nicht helfen kann?“ Mokona standen bereits dicke Tränen in den Augenwinkeln. „Wir können auf keinen Fall hier bleiben“, sagte Shaolan ernst und Mokona blickte ratsuchend zu Kurogane. „Wollknäuel, los!“ Der Ninja schritt eilig zu Fye und hob ihn vom Bett hoch. Erschrocken erstarrte er für einen Augenblick. Der Körper des Anderen strahlte eine glühende Hitze aus. Er war schweißgebadet und schien kaum vernünftig Luft zu bekommen. Die Hände des Schwarzhaarigen verkrampften sich um ihn. Es war nicht normal, dass ihm so etwas ständig passierte. Es war nicht seine Schuld, das war ihm auch klar, aber … Kurogane wollte auf irgendjemanden wütend sein, seine Wut an irgendjemanden auslassen. Wer war schuld daran, dass der Magier in diese Gefahr geraten war? Er fühlte, wie der Anblick des Mannes in seinen Armen sein Herz sich panisch überschlagen ließ. Die Schuldfrage war nicht wichtig. Dass der Wirrkopf nicht starb, war das einzig Wichtige im Moment. Er durfte nicht sterben. Kurogane hatte geschworen, das nicht zu zulassen. Er drückte den bewusstlosen, heißen Körper fest gegen seinen, als Mokonas den Ortswechsel ankündigender Zirkel aufleuchtete und ihre Flügel wuchsen. Toya, Yukito und Ashura machten perplex einen Schritt zurück. „Bitte“, rief Shaolan flehentlich in Richtung der Einheimischen, „notiert ausführlich, was hier geschehen ist und sorgt dafür, dass es nicht wieder in Vergessenheit gerät. Bitte fangt an, euch für die Länder außerhalb eurer Mauern zu interessieren. Das ist wichtig, bitte!“ Er konnte ein zaghaftes Nicken seitens Ashura ausmachen, bevor sie aus dieser Welt teleportiert wurden. Kapitel 4: Ein Bekenntnis der Liebe ----------------------------------- Sie kamen aus geringer Höhe auf dem Boden auf und sogleich sprang Mokona beunruhigt in Shaolans Arme. „War das zu fest? Ist alles in Ordnung?“ Ihre Stimme überschlug sich beinahe vor Sorge. Der Junge hatte schon länger die Vermutung, dass die Landungen sehr von Mokonas Gemütszustand abhingen. Eilig ging sein Blick zu Kurogane, der Fye fest im Arm hielt. „Ist nichts weiter passiert“, antwortete der Ninja. „Wo sind wir gelandet?“ Die schmale, dunkle Seitengasse wurde zu beiden Seiten von Hochhäusern eingerahmt, sodass kaum Licht in sie fiel. Dafür drang ein übler Gestank in ihre Nasen. Eine Mischung aus schon zu lange herumliegendem Müll und Abgasen. Der ekelerregende Geruch war nicht der Grund, warum sich Kuroganes Magen umzudrehen begann. „Wartet hier.“ Den ohnmächtigen, schwer atmenden Magier nach wie vor auf dem Arm tragend, begab er sich im Laufschritt zum Eingang der Gasse. Hinter ihnen war nur eine Sackgasse und von vorne ertönte der Krach einer stark befahrenen Straße. Tatsächlich kam er am anderen Ende an einer ohrenbetäubenden Hauptverkehrsstraße heraus. Dahinter erstreckten sich mehrere hässliche Hochhäuser. Grobe, gräuliche Betonzweckbauten, die bereits bessere Jahre gesehen hatten. Vor allem hatte Kurogane sie schon einmal gesehen. „Scheiße“, entfuhr es ihm und obwohl er Shaolan befohlen hatte, zurückzubleiben, tauchte der Junge samt Mokona neben ihm auf. „Ist das …“, hauchte er fassungslos, „Infinity?“ Was war nun los, dass sie ständig in Welten landeten, die nichts außer furchtbaren Erinnerungen zu bieten hatten? Trotz der Abgase atmete Kurogane durch. Er musste seine Gedanken sortieren. Es gab medizinische Versorgung in Infinity und sie war nicht so schlecht. Allerdings gab es einen Unterschied zwischen der Versorgung, die man als Teilnehmer eines Schachturniers erhielt und der, die man als normaler Bürger erhielt. Des Öfteren hatte er während ihres quälend langen Aufenthalts in dieser grausamen Stadt etwas von Kliniken gehört, die von Organhändlern betrieben wurden und Ärzten, die einem ungefragt verbotene (sprich: schädliche) Substanzen spritzten. Er schaute auf den schwerkranken Mann in seinen Armen. Bei Fyes Glück würden sie an die Organhändler geraten. Doch selbst wenn er die in den Boden stampfen würde, er könnte nicht beurteilen, ob man den Magier falsch behandeln würde. Nein, keine Klinik. Den Blick auf eines der exakt gleich aussehenden Hochhäuser vor ihnen gerichtet, überlegte Kurogane, was die beste Lösung war. „Hier gibt es Apotheken, richtig?“ Als er so plötzlich angesprochen wurde, schreckte Shaolan zusammen. „Ja. Die gibt es hier.“ „Gut. Wir suchen uns schnell eine Unterkunft und du besorgst ihm etwas gegen das Fieber.“ An der Art, wie er dies sagte, konnte man spüren, dass er sich in dieser kurzen Zeit erstaunlich viele Gedanken darüber gemacht hatte. Daher stimmte Shaolan ihm stumm und ohne jeglichen Zweifel zu.   Sie waren immer noch knapp bei Kasse und ihr Geld reichte dieses Mal nur für eine Zweizimmerwohnung. Sie kannten es noch, dass manche der Wohnungen wochenweise und voll ausgestattet vermietet wurden und in dieser Stadt wunderten sie sich auch nicht, dass der Hausverwalter nicht einmal wegen des ohnmächtigen Mannes, den sie dabei hatten, nachfragte. Nach der Vertragsunterzeichnung eilten sie zu ihrer Wohnung im 18. Stock (Shaolan hätte schwören können, im Aufzug Kuroganes schnell schlagendes Herz gehört zu haben) und der Ninja rauschte durch den winzigen Wohnraum in das dahinter liegende Schlafzimmer. Immerhin waren diese Apartments, so baufällig die Gebäude auch waren, relativ sauber. Ohne dass er etwas sagen musste, erneuerte Shaolan die kalten Wickel um Fyes Gliedmaße. „Er glüht immer noch“, stellte Kurogane fahrig fest. „Wir müssen das Fieber senken“, sagte Shaolan und biss sich unbewusst auf die Unterlippe. Er hatte dem Älteren nichts davon gesagt, dass die von dieser Krankheit betroffenen alle innerhalb von drei Tagen gestorben waren. Er wusste nicht, ob es einen Unterschied machte, dass Fye nun nicht mehr der Strahlung ausgesetzt war. „Ich muss dir nicht sagen, dass du hier vorsichtig sein musst.“ Kurogane reichte ihm den Geldbeutel. Shaolan hatte mehr Ahnung von Medizin und solchem Kram, daher war es klüger, ihn zu schicken, auch wenn er angesichts der Gefahren dieser Welt lieber selber gehen wollte. „Nimm das Wollknäuel mit.“ „Ich werde mich beeilen.“ Shaolan umklammerte Mokona und rannte wie der Wind los. Kaum war er aus dem Raum, zog Kurogane sämtliche Vorhänge der großen Fenster zu. Es war noch Tag und selbst vom Bett aus konnte man mit Leichtigkeit erkennen, in welcher Welt sie sich befanden. Er setzte sich ans Bett und strich mit einer dezent zittrigen Hand über Fyes Kopf. Solange es ihm so schlecht ging, musste er nicht wissen, wo sie gelandet waren.   Shaolan war bewusst, dass Kurogane nur äußerlich die Ruhe behielt. In seinen Augen konnte man sehen, wie sehr es in ihm brodelte, wie sehr ihn die Situation an seine Grenzen brachte. Es war immer so, wenn etwas mit Fye war. Wenn Fye krank oder verletzt war, konnte Shaolan hören, wie etwas in Kurogane zerbrach. Es war Angst. Die Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren. Er durfte sich keine „Was, wenn“-Fragen stellen. Wenn einem der beiden oder Mokona etwas zustoßen würde, dann wüsste er nicht mehr, wie er weitermachen sollte. Dann wäre es das wahrscheinlich gewesen. Er wollte niemandem mehr wehtun und hörte doch nicht auf damit. „Da! Shaolan! Das rote Kreuz! Das heißt doch Apotheke, oder?“ Mokonas Ausruf riss ihn aus seinen Gedanken, während er wie ein Irrer die Straße entlang hetzte. An keinem anderen Ort musste man so höllisch aufpassen, nicht in jemanden reinzudonnern. Es konnte passieren, dass der Angerempelte einfach eine Waffe zog und schoss. Das hatte Shaolan damals mehrmals in den Nachrichten gehört. Gerade als er abbremsen wollte, kam aus einem anderen Geschäft ein Mann hinaus und Shaolan krachte mit voller Wucht in ihn hinein. Mokona jaulte und erschrocken stolperte er rückwärts. „Es tut mir leid! Verzeihen Sie bitte vielmals!“, presste er atemlos hervor und verbeugte sich dabei so tief er konnte. Er hatte keine Zeit, sich einen Kampf zu liefern und erst recht keine Zeit, angeschossen zu werden. Fye brauchte die Medizin und das am besten sofort. „Huh? Das … bist du das etwa?“ Shaolans Kopf schnellte nach oben. Vor ihm stand ein hellhaariger, großgewachsener Mann mit einem Stirnband und blinzelte zunächst ihn, dann Mokona verdattert an. Die Anwesenheit der weißen Kreatur schien ihm Gewissheit zu geben. „Ihr seid wieder hier? Hat alles geklappt?“ „Eagle …“ war alles, was Shaolan wie vom Donner gerührt herausbrachte. „Ich … ja, ähm … ich … tut mir leid … ich muss …“ „Langsam, langsam, du bist ja völlig durch den Wind. Ich gehe also recht in der Annahme, dass etwas nicht stimmt, ja?“ „Fye ist ganz doll krank!“, warf Mokona hibbelig ein. „Er braucht ganz dringend Medizin!“ „Fye?“ Eagle hob eine Augenbraue, drehte sich zu dem hinter ihm liegenden Eingang zur Apotheke um und dann wieder skeptisch Shaolan zu. „Ihr seid unterwegs, um für ihn Arznei zu besorgen?“ Der Junge nickte hastig. „Er hat hohes Fieber.“ Der hellhaarige Mann tippte erwägend mit zwei Fingern gegen sein Kinn. „Das klingt sehr ernst. Das Zeug aus der Apotheke könnte nicht stark genug sein.“ Er sah Shaolans Schultern schlagartig herabsinken und lächelte ermutigend. „Ich werde meinen Leibarzt holen.“   „Was zur Hölle?!“ Entgeistert starrte Kurogane auf Eagle, der im Türrahmen stand und lächelnd winkte, während ein anderer, ihm unbekannter Mann, der eine Tasche bei sich hatte, auf Fye zusteuerte. „Ich bin ihm zufällig begegnet“, erklärte Shaolan. „Er ist in mich hineingedonnert.“ „Er war so nett, seinen Leibarzt zu rufen“, sagte der Junge weiter, da er merkte, dass dies den Ninja ganz und gar nicht besänftigte. Er konnte ihn verstehen. Eagle und seine Männer waren damals nicht wirklich aufrichtig gewesen, aber alles in allem hatten sie ihnen geholfen. „Ich denke, es ist besser, wenn ein Arzt sich ihn ansieht.“ „Dann behalte du den komischen Kauz neben dir im Auge und ich den hier.“ Der Doktor, ein schüchtern wirkender Mann mittleren Alters, wich dem bohrenden Blick des Schwarzhaarigen aus. Er ahnte offenbar, was ihm blühen würde, wenn er etwas Unvorsichtiges tat. „Ich will nur hoffen, mein Arzt kann da überhaupt etwas machen“, wandte Eagle zweifelnd ein. „Ich wusste bisher nicht, dass Vampire überhaupt krank werden können und keine Ahnung, ob ein Menschenarzt bei ihm etwas ausrichten kann.“ Er sah die entsetzten Mienen der beiden Reisenden und deutete sie falsch. „Darf man das nicht laut sagen? Oder stört es euch, dass ich davon weiß? Ich meine, ihr wisst, dass wir euch beobachtet haben und das, was wir gesehen haben, lässt sich nur so deuten. Es war ein wahrhaft … interessanter Anblick.“ Er biss sich auf die Zunge, als Kuroganes zorniger Blick ihn traf. „Nein, nein“, kam es von Mokona, die als Einzige die Ruhe bewahrt hatte, „Fye ist doch gar kein Vampir mehr.“ „Huh? War das ein temporärer Zustand?“ „War es! Thema beendet!“, wetterte Kurogane wutentbrannt und ließ den armen Arzt, der beim Wort „Vampir“ ganz blass geworden war, noch blasser werden. Die Erinnerung daran, wie schwierig es gewesen war, den Idioten dazu zu bringen, sein Blut zu trinken, war schon unwillkommen genug, da brauchte er dazu jetzt nicht noch Kommentare von einem dahergelaufenen Voyeur. Und was noch wichtiger war: Der Idiot brauchte keine Kommentare dazu zu hören. „Oje, da habe ich einen Nerv getroffen, was?“ Eagle zuckte ungerührt mit den Schultern. „Ich traue mich ja kaum zu fragen, wo die bezaubernde Sakura abgeblieben ist.“ „Ihr geht es gut. Sie reist nicht mehr mit uns“, entgegnete Shaolan automatisch und fast wie eine Maschine. „Ihr seid wirklich wunderlich. Die Geschichte würde ich gerne noch zu Ende hören, aber ich verstehe natürlich zu gut, dass ihr gerade andere Sorgen habt.“ Kurogane grummelte laut.   Shaolan riss die Augen wieder auf, als das Knurren seines eigenen Magens ihn geweckt hatte. Er hatte vermutlich nur für wenige Sekunden geschlafen, doch trotzdem schaute er schuldbewusst über das Bett zu Kurogane herüber. Jeder von ihnen saß an einer Seite des Magiers, während Mokona neben seinem Kopf hockte und mit einer Pfote sanft über seine Haare streichelte. Mokona gab kein besseres Bild als Shaolan ab, so wie ihre Augen immer wieder zufielen und ihr ganzer kleiner Körper erschöpft nach vorn kippte. Inzwischen musste es Nacht geworden sein. Von draußen drang nur noch schwach ein künstliches Licht durch die verhüllten Fenster. „Leg dich auf die Couch im Wohnzimmer und schlaf“, sagte Kurogane leise und dennoch mit Nachdruck. Er stöhnte, als Shaolan den Kopf schüttelte. „Erst, wenn es ihm deutlich besser geht.“ Eagles Leibarzt hatte (unter den wachsamen, drohenden Augen Kuroganes) Fye ein Mittel gegen das Fieber gespritzt und ihnen zusätzlich eine weitere Medizin da gelassen, die er alle vier Stunden schlucken musste. Da Fye jedoch nach wie vor nicht bei Bewusstsein war, mussten sie sie ihm einträufeln und seinen Schluckreflex auslösen. Für den Fall, dass sich sein Zustand verschlimmern sollte, hatte Eagle ihnen ein Telefon überlassen, mit dem sie den Arzt im Notfall anrufen konnten. Telefone kannten sie aus mehr als genügend anderen Welten. Kurogane hasste die Dinger, aber im Moment war er nicht unglücklich darüber, eins zu haben. Dieser Eagle und seine Truppe waren eine genauso undurchsichtige Bande wie so viele andere, denen sie bislang begegnet waren. Doch Yuko und vor allem 'Sakura' hatten ihnen damals vertraut. Also würde er wieder einmal in den sauren Apfel beißen und auf die Hilfe anderer bauen. Gott, wie er das hasste. „Seine Atmung ist etwas ruhiger geworden“, sagte Shaolan in die Stille des mehr oder weniger finsteren Raums hinein. Mokona war in der Zwischenzeit trotz ihrer Bemühungen eingeschlafen. „Ja. Das Fieber geht runter.“ Er hörte den Jungen erleichtert ausatmen. „Spuck schon aus, was dir auf dem Herzen liegt.“ „ …?“ Kurogane konnte zwar die Miene des Jüngeren nicht deutlich sehen, doch er wusste, was für ein verblüfftes Gesicht er gerade machte. Wenn den Bengel etwas bedrückte, hatte seine Stimme immer diese gewisse Nuance, als würde der Kleine zwar versuchen, tapfer zu klingen, doch seine Stimme trotzdem um Hilfe rufen. „Vielleicht ...“, fing Shaolan an und klang nun in der Tat bedrückter, „vielleicht war in einem der anderen Länder eine Feder aufgetaucht oder verschwunden und hat damit die Strahlung der Sonne gefährlicher gema-“ Der Ninja stöhnte in seine Ausführung hinein. „Wir können es nicht ausschließen!“, wehrte der Brünette sich, erschrak bei seiner Lautstärke und wurde umgehend wieder leiser. „Es wäre eine mögliche Erklärung.“ „Das mag sein. Und? Was ändert das?“ „Nichts, aber-“ „Nichts. Genau. Was in aller Welt wolltest du da für ein Aber dranhängen?“ Stille trat zwischen sie und Kurogane bekam Magenschmerzen, als diese von einem unterdrückten Schluchzen durchbrochen wurde. War er zu hart mit ihm ins Gericht gegangen? War der Kleine inzwischen so fertig, dass er selbst eine gemäßigte Schelte nicht mehr vertrug? „Aber“, wimmerte Shaolan und gab sich hörbar Mühe, nicht zu wimmern, „aber es tut mir schrecklich leid, dass das mit Fye passiert ist.“ Ein Stich in sein Herz gesellte sich zu den Magenschmerzen hinzu. Verdammt! Ausgerechnet jetzt war der Magier nicht da, um Trost zu spenden! Das war seine Abteilung! „Es ist nicht deine Schuld. Wenn du das nicht bald kapierst, setzt es gewaltige Hiebe.“ „Ich weiß.“ Er konnte ausmachen, wie Shaolan sich die Tränen mit einem Arm wegwischte. „Ich wünschte nur, alles wäre anders.“ Kurogane seufzte. „Die Dinge sind, wie sie sind.“ Mir tut es leid, dass du so leidest, war der Gedanke, den er nicht aussprach. Der Bengel war niemand, der Mitleid wollte. Wahrscheinlich würde er sich dadurch nur noch schlechter fühlen. „Ich sage es ein letztes Mal, also hör gut zu“, fuhr er stattdessen fort, „nichts hiervon ist deine Schuld. Keiner von uns kann wissen, wie die Dinge gelaufen wären, wenn die Zeit nicht zurückgedreht worden wäre und wir alle unserer eigenen Wege gegangen wären. Vielleicht hätte jeden von uns da ein schlimmeres Schicksal erwartet. Ist auch egal. Davon abgesehen, dass die Kinder noch nicht wieder da sind und ich ihnen noch keine für ihr Verhalten verpassen konnte, habe ich kein schlechtes Leben. Und der da“, er deutete mit dem Kopf in Richtung Fyes, „würde es selbst in Nihon schaffen, sich irgendwie ständig in Schwierigkeiten zu bringen. Da bin ich nicht gerade glücklich drüber, aber es gibt Dinge, die man ändern kann und es gibt Dinge, die man nicht ändern kann. Wenn du deine ganze Kraft an Letztere verschwendest, wirst du im Leben nie etwas erreichen.“ Shaolan schluckte seine restlichen Tränen hinunter. „Ich weiß nicht, ob ich mich jemals weniger schuldig fühlen werde.“ „Du bist noch jung. Für dich habe ich noch Hoffnung.“   Langsam und schwerfällig öffnete Fye die Augen. Er blickte auf eine Zimmerdecke, die nicht nach der Welt aussah, an die er sich zuletzt erinnern konnte. Der Raum war allerdings auch nicht wirklich hell. Seine Augen wanderten zur Seite und erblickten die zugezogenen Vorhänge, durch die gerade so viel Licht in das Zimmer fiel, dass man etwas darin erkennen konnte. „Fye-san!!“ Etwas – nein, jemand; nein, Shaolan … (Hilfe, sein Hirn funktionierte aber langsam) – schmiss sich ihm um den Hals. „Du bist aufgewacht! Wie geht es dir? Wie fühlst du dich? Tut dir etwas weh? Brauchst du irgendetwas? Kannst du sprechen? Der Arzt sagte, du sollst viel trinken, wenn du wieder bei Bewusstsein bist!“ Shaolan rückte von ihm weg und musterte ihn besorgt. Fye hatte ein Déjá-vu und schmunzelte müde. Was war hier überhaupt los? Moment, der Arzt …? War er krank? Wieso erinnerte er sich nicht einmal daran, krank zu sein … oh oh. Die Erinnerung setzte wieder ein und ließ ihn leicht panisch werden. Ihm war schrecklich schwindelig geworden und Ashura hatte angeboten, ihn ins Gasthaus zu bringen und …. Fyes Blick wanderte durch den Raum. Das war nicht das gleiche Zimmer. Das war nicht einmal die gleiche Welt. „Was ...“ der Blondschopf hustete und räusperte sich. Seine Stimme war ganz rau, so als hätte er sie lange nicht benutzt. „Was ist passiert?“ „Die Sonne in Helios war gefährlich für Menschen mit hellen Haaren“, erläuterte Shaolan gefasst. „Du hast Fieber bekommen und bist ohnmächtig geworden. Wir sind weitergereist, um Medizin zu besorgen.“ Als hätte er sich selbst ein Stichwort gegeben, ging sein Blick zu der Uhr auf dem Nachttisch und ohne weitere Erklärung schraubte der Junge eine Flasche auf und kippte den Inhalt in einen kleinen Messbecher. „Kannst du das hier trinken?“ „Die Sonne also … deswegen war es da so heiß“, überlegte Fye laut. „Und meine Haare, sagst du? Das kann doch wohl mal wieder nicht wahr sein. Wieso hat man uns das denn nicht direkt gesagt?“ Er versuchte, sich aufzusetzen und scheiterte. „Herrje, ich habe überhaupt keine Kraft.“ „Das muss vom Fieber sein, auch wenn deine Temperatur jetzt fast wieder normal ist. Und die Einheimischen wussten nichts von der Gefahr.“ Shaolan hob vorsichtig den Kopf des Älteren an und gab ihm die Medizin zu trinken. Der Magier verzog unverzüglich das Gesicht. „Buargh. Das erklärt den widerlichen Geschmack in meinem Mund.“ „Tut mir leid. Dann schmeckt es also wirklich so, wie es riecht. Der Arzt meinte, du musst es nur nehmen, bis das Fieber endgültig weg ist.“ „Wo sind Kuro-sama und Mokona?“, fragte Fye und wurde dabei spürbar nervöser. Er wusste nicht, was genau geschehen war. Es bestand die Möglichkeit, dass Ashura ihnen doch über den Weg gelaufen war. „Sie besorgen ein paar Lebensmittel.“ Nachdem Fyes Zustand im Laufe der Nacht und des darauffolgenden Tages besser geworden war, hatte Kurogane am dritten Tag in Infinity genügend Ruhe, um selbst Erledigungen zu machen. Shaolan hatte natürlich gehen wollen, aber der Ninja hatte ihm dies untersagt: „Du bist vollkommen übermüdet und hungrig. Wir können es weder brauchen, dass du in den Straßen zusammenklappst, noch dass du hier in irgendwelche verdammten Verbrecher rennst.“ Die Straßen von Infinity waren tagsüber ein wenig sicherer als nachts (auf gar keinen Fall durfte man hier nachts vor die Tür gehen), doch wenn es schlecht lief, konnte man auch am Tag in Schwierigkeiten geraten. „Ah, gut ...“ Fye beobachtete, wie Shaolan geschwind den Raum verließ und gleichermaßen geschwind mit einem vollen Glas Wasser wieder hereinkam. Erneut hob er mit einem Arm den Kopf des Anderen und flößte ihm behutsam etwas von der Flüssigkeit ein. Während er diese in kleinen Schlücken trank (urgh, fühlte sich sein Hals rau an), wanderte sein Blick erneut durch den Raum. Es war ein bisschen seltsam, dass Kurogane Besorgungen machte. Normalerweise kümmerte Fye sich im Alleingang darum, manchmal übernahm Shaolan dies und manchmal ließ sich der mürrische Ninja breitschlagen, Fye zu begleiten. Stimmte etwas nicht? Es war merkwürdig, dass Kurogane nicht bei ihm blieb, wenn er krank war. Fye verschluckte sich am Wasser, als ihm ein beängstigender Gedanke kam. War Kurogane Ashura begegnet? „Ist alles in Ordnung?“ Shaolan stellte das Glas weg. „Ja.“ Der Magier winkte mit einer schwachen Hand ab und lächelte. „Wir sind also ganz abrupt aus der vorigen Welt abgereist?“ Der Junge nickte - und senkte betroffen seine Stimme. „Du konntest dich nicht von dem dortigen Ashura verabschieden.“ Erschrocken die Luft einziehend, starrte Fye durch ihn hindurch. Sie wussten es. Sie wussten, dass er sie angelogen hatte. Sie wussten, was er ihnen verheimlicht hatte. Kein Wunder, dass Kurogane nicht hier war. Er musste stinkwütend sein. Er hatte es ja schließlich angekündigt. Die nächste Heimlichtuerei würde er ihm nicht mehr verzeihen. Dann … dann war es das jetzt gewesen? Hatte er ihn tatsächlich ein für alle Mal aufgegeben? Fye fühlte sein eigenes Herz brechen. „Shaolan-kun … ich wollte nicht … ich wollte es euch sagen.“ Erbärmlich. Er war einfach nur erbärmlich. Warum sollten sie ihm das jetzt noch glauben? Shaolan bemerkte seine entsetzte Mimik und schüttelte den Kopf. „Das ist wahr, Fye-san. Du hättest es uns sagen sollen. Aber Kurogane-san hat mir erklärt, wie schwierig es für dich ist.“ … was? Große, blaue Augen starrten ihn nun gänzlich verwirrt an. „Kuro-sama hat … was?“ „Ich hatte ihn gefragt, ob er wüsste, warum du uns manchmal immer noch nicht die Wahrheit sagst und er hat mir erklärt, dass du dir bereits große Mühe gibst, dies zu tun, es dir aber einfach sehr schwerfällt.“ Shaolan unterschlug den genauen Wortlaut Kuroganes, weil er vermutete, dass es ihm nicht recht wäre, wenn er dies Fye sagen würde. „Du kannst nicht erwarten, dass jemand so schnell eine Gewohnheit ablegt, die zu einem Teil von ihm geworden ist. Er hat nicht damit angefangen, als er uns begegnete. Er musste schon Jahre vorher sich selbst belügen. Man hat etwas von ihm verlangt, was vollkommen wider seiner Natur ist. Er hat sich diese ganzen Schutzmechanismen zugelegt, um überhaupt überleben zu können. Der Mist ist, dass er sie nur sehr langsam wieder los wird. Vielleicht wird er sie auch nicht mehr alle los. Er versucht, das Richtige zu tun und hat gleichzeitig Angst, etwas falsch zu machen, weswegen er andauernd mit sich selbst Konflikte austrägt, die gar nicht sein müssen. Ich kann ihm das nicht durchgehen lassen, aber ich kann ihm auch keinen Vorwurf deswegen machen. Ich kann nur geduldig sein und ihn hin und wieder in die richtige Richtung schubsen.“ „Ich kann dich da verstehen, denke ich“, ergänzte Shaolan. „Aber du weißt, dass es mir lieber wäre, wenn ich ebenso immer wüsste, was in dir vorgeht.“ Gerührt hob Fye eine Hand bis zu einer Wange des Jungen und strich darüber. „Tut mir leid.“ Der Junge legte eine Hand auf die des Älteren. „Kurogane-san hat Recht. Sich immer weiter zu entschuldigen, macht es wirklich nicht besser. Kannst du mir stattdessen versprechen, dir noch mehr Mühe zu geben? Dann will ich mich auch mehr anstrengen.“ Einen langen Augenblick sah der Blonde ihn stillschweigend an. Was für eine Niete von Vorbild er war. Er spielte sich als sein Elternteil auf und war in Wahrheit um Längen unreifer als er. Das musste sich ändern. Er wollte sein Elternteil sein. Auch wenn er sich immer noch nicht sicher war, ob wegen seines Fehlers nicht sozusagen eine Scheidung ins Haus stand. „Auf jeden Fall, Shaolan-kun. Auf jeden Fall.“   „Er war zwischendurch wach“, begrüßte Shaolan das heimkehrende Duo flüsternd im Wohnzimmer und erregte damit Kuroganes Aufmerksamkeit. „Wie geht es ihm?“ „Das Fieber ist weg. Er fühlt sich verständlicherweise recht kraftlos, aber ansonsten gut. Er ist noch einmal eingeschlafen, aber er wacht bestimmt gleich wieder auf.“ „Gut. Dann kann ich ihn ja verprügeln.“ Empört hüpfte Mokona auf seinem Kopf auf und ab. „Das machst du nicht, Papa! Du musst lieb zu Mama sein!“ „Ruhe auf den billigen Plätzen.“ Er schnappte sich das Wollknäuel und setzte es auf der winzigen Arbeitsfläche der Kochnische ab. „Macht euch was zu essen. Ich sehe zuerst nach ihm.“ Kurogane übergab Shaolan die Tasche mit den Einkäufen und ging in das angrenzende Zimmer. Die Sonne ging unter und ein rötliches Licht fiel durch die Vorhänge. Bedächtig näherte er sich dem Bett, in dem Fye nach wie vor schlief. Jedoch war sein Gesichtsausdruck nun dabei ein anderer als vorher. Während er unter dem Fieber gelitten hatte, war seine Miene stets ganz schmerzverzerrt gewesen. Jetzt lag er vollkommen ruhig und entspannt da. Kurogane setzte sich an seine Seite und schob eine blonde Haarsträhne aus seinem Gesicht. Zwei blaue Augen öffneten sich langsam und der Ninja zog seine Hand zurück. Fye blinzelte ein paar Mal, ehe er endgültig wach war – und den Anderen erblickte. Für das, was wie eine halbe Ewigkeit schien, aber sicherlich keine war, sahen sie sich einfach schweigend an. „Hey“, sagte der Magier schließlich. „Hey.“ „Wie sauer bist du?“ „Rate.“ „Sehr?“ „Das trifft es nicht mal annähernd.“ Fye nickte schwach. „Ich verstehe.“ „Ach ja? Tust du das?“ Erstaunt über diesen Einwand versuchte der Blondschopf die Mimik des Dunkelhaarigen zu lesen. Doch Kurogane zog die gleiche sauertöpfische Miene, die er in solchen Situationen immer zog. „Bevor wir irgendetwas Weiteres besprechen“, fuhr Kurogane ruhig fort, „verrate mir eins: Hast du gemerkt, dass du krank warst und nichts gesagt, weil du diesen Kerl treffen wolltest?“ Der Magier erschrak bei dieser Frage. „Nein. Nein, ich habe erst gemerkt, dass etwas nicht stimmt, kurz bevor ich das Bewusstsein verloren habe. Das ist die Wahrheit! Wirklich!“ Er versuchte mit aller Gewalt, sich aufzusetzen, doch kam nicht sehr weit. Kurogane drückte ihn behutsam wieder auf das Bett zurück. „Langsam, du Idiot. Du musst erst einmal wieder zu Kräften kommen. Ich glaube dir ja. Ich wollte nur, dass du meine Annahme bestätigst.“ Nun guckte Fye ihn mit so großen Augen an, dass er ächzen musste. „Verstehst du, warum ich sauer bin?“ „Äh …“ Schiere Planlosigkeit stand dem Magier ins Gesicht geschrieben. „Weil … weil ich gelogen habe … oder nicht?“ „Warum hast du gelogen?“ Kuroganes Stimme blieb die gesamte Zeit so ruhig, dass es ihm fast unheimlich war. Es war ein bisschen so, als würde er mit einem Kind reden, das begreifen sollte, was es falsch gemacht hatte. „Weil ich dachte, du würdest es nicht gut finden, wenn ich mich mit jemandem treffe, der die gleiche Seele wie König Ashura hat.“ „Okay, du bist also doch in der Lage mitzudenken.“ „Hey!“ Das wurde jetzt langsam beleidigend. „Was soll das denn-“ Er stockte, als der Ninja mit einer Hand andeutete, dass er noch nicht fertig war. „Wo war ich während deiner Diskussion? Wann hast du dir tatsächlich meine Meinung dazu angehört?“ Fye runzelte die Stirn, halb aus Verärgerung, halb aus Überforderung. „Was meinst du? Ich weiß doch, wie du darüber denkst-“ Die Hand signalisierte ihm erneut innezuhalten. „Du hast wieder einmal alles mit dir selbst ausdiskutiert. Du hast angenommen zu wissen, wie ich reagieren würde, aber tatsächlich gefragt hast du mich nicht. Du wolltest einen Konflikt vermeiden, den es von vorneherein nur in deinem Kopf gegeben hat. Natürlich bin ich nicht begeistert, wenn du in so einen Typen reinrennst, aber ich frage mich, ob du überhaupt verstehst, warum ich nicht begeistert wäre.“ „Pah!“, machte Fye entrüstet. Selbstverständlich verstand er den Grund dafür! Für wie dumm hielt er ihn eigentlich? Er hatte die gesamte Diskussion in seinem Kopf geführt, das entsprach der Wahrheit, ja, aber doch auf einer völlig realistischen Grundlage! Er verstand, warum Kurogane so dachte! Fye öffnete bereits den Mund, um ihm die Antwort um die Ohren zu hauen. Der Grund war … der Grund war … … … oh. Der Schwarzhaarige war dazu übergegangen, seine Arme vor der Brust zu verschränken und sich selbstzufrieden zurückzulehnen. „Du wolltest etwas sagen? Bitte, ich bin ganz Ohr.“ Fyes Entrüstung und Selbstsicherheit fielen schlagartig in sich zusammen. „Du bist herzlos, Kuro-rin. Mich so zu traktieren, wo ich von der Krankheit doch noch so geschwächt bin …“ „Tsk!“ Der Ninja lachte selbstgefällig. „Jetzt packen wir die billigen Ausreden aus, wie? Im Ernst, du Trottel,“ er löste die Verschränkung seiner Arme auf und beugte sich mit ernster Miene zu ihm hinunter. „Ich wäre nicht begeistert, weil ich nicht will, dass du verletzt wirst. Und die Erinnerung an deinen König tut genau das. Glaubst du, ich habe nicht gemerkt, wie du in der Nacht versucht hast, deine Tränen zurückzuhalten? Ich halte dich nicht für zerbrechlich. Aber ich weiß, wie sanftmütig du bist – und wie schnell dir deswegen Leid zugefügt werden kann.“ Durch und durch verdattert starrte der Magier seinen Geliebten nach diesen eindringlichen Worten an. „Tut mir leid“, hauchte er nach einer Weile mit brüchiger Stimme und presste beschämt die Lippen zusammen. Er wusste, dass Kurogane die ewigen Entschuldigungen nicht mehr hören wollte. „Ich hätte dich nicht aus der Diskussion ausschließen dürfen.“ „Die Erkenntnis hat einen furchtbar langen Anlauf gebraucht.“ „Oh Gott, das ist schrecklich“, sagte Fye entgeistert und verwirrte damit nun den Anderen. „Was?“ „Du bist vielleicht wirklich klüger als ich. Natürlich nur ein klitzeklein bisschen, aber dennoch ist das wirklich, wirklich schlimm, Kuro-tan.“ „WAS ZUR-?!“ Der Dunkelhaarige schnaufte durch. „Immerhin hab ich jetzt Gewissheit, dass es dir wahrhaftig besser geht.“ Der Blondschopf schmunzelte ein wenig und wurde gleich darauf wieder nachdenklich. „Es muss sehr schwer sein, es mit mir auszuhalten, oder? … Hältst du es noch mit mir aus?“ Kuroganes Laune machte einen heftigen Sprung in den Keller. „Solche schwachsinnigen Fragen können erstens nur von dir kommen und werden zweitens von mir grundsätzlich ignoriert.“ Er schaute in das blasse, verunsicherte Gesicht des Magiers und ächzte von neuem. „Es ist nicht gerade leicht, es mit dir auszuhalten. Aber hast du mich auch nur ein einziges Mal vor einer Aufgabe zurückschrecken sehen?“ Bevor Fye darauf reagieren konnte, schloss Kurogane die Distanz zwischen ihnen und küsste ihn erstaunlich zärtlich auf den Mund. Der Gedanke traf Fye wie ein elektrischer Schlag. Kurogane liebte ihn tatsächlich so sehr, dass ihn das all seine Unarten und Fehler ertragen ließ. Er liebte ihn so sehr, dass er ihn nicht aufgab. Der Schwarzhaarige wollte von ihm ablassen, als zwei schlanke Hände sich um sein Gesicht legten. Fragend sah er in die ergriffenen blauen Augen. „Ich will für immer an deiner Seite sein“, sprudelte es aus Fye heraus, ohne dass er über diesen Satz nachgedacht hatte. Nach einer kurzen Verwirrung formte sich ein deutliches Lächeln auf dem Gesicht des größeren Mannes. „Klingt gut.“ Seine lapidare Antwort brachte den Magier zum Lachen. „Ah, so viel Romantik halte ich ja kaum aus, Kuro-sama! Mir wird ja wieder ganz heiß!“ „Keine Witze darüber, sonst gibt's Hiebe.“ Kurogane pochte mit einer Faust sacht auf seine Stirn. Immer noch lachend griff Fye mit einer Hand nach der „angreifenden“ Faust und legte seine Finger in die des Anderen. „Es beunruhigt mich aber doch ein wenig, dass ich auf dich abfärbe, Kuro-pon.“ „Häh? Wo, wie und wann willst du auf mich abgefärbt haben?“ Der Blick des Blonden wurde etwas ernster. „Du willst vor mir verbergen, wo wir sind.“ Für den Bruchteil einer Sekunde entgleiste Kuroganes Miene und Fye sprach sogleich weiter: „Dass am helllichten Tag alle Vorhänge zugezogen sind, ist schon arg seltsam. Aber dass Shaolan mit keinem Wort etwas über die Welt, in der wir gelandet sind, erwähnt, ist am allerseltsamsten. Davon abgesehen erkenne ich selbst bei wenig Licht diese hässliche Bruchbude wieder. Wir sind in Infinity.“ Der Ninja zuckte mit den Schultern. „In Tokyo habt ihr alle angefangen zu heulen. Das brauchte ich kein zweites Mal.“ „Jajajajaja.“ Kopfschüttelnd führte Fye die Hand, die er hielt, zu sich und gab ihr einen Kuss auf die Innenfläche. „In dieser Sache verstehe ich dich wirklich, Kuro-sama, und es ist lieb gemeint, aber das musst du nicht tun. Auch wenn ich nicht hier bin, denke ich an das, was damals hier geschehen ist. Das lässt sich leider nicht ändern. Hätte 'Sakura'-chan nicht getan, was sie getan hätte, wäre es noch viel schlimmer gekommen und so versuche ich einfach, froh zu sein, dass es nicht so gekommen ist.“ Er dachte an den Albtraum zurück, den er vor einer ganzen Weile dank der natürlichen Magie in Matrisis gehabt hatte und schluckte. Es brachte nichts, darüber nachzugrübeln. „Ich hoffe sehr, dass du ihr irgendwann dafür persönlich danken kannst.“ „Ja, das hoffe ich auch.“ Fye strich mit seiner anderen Hand über die Wange des Anderen. „Danke, dass du mich auch damals schon nicht aufgegeben hast.“ „Ich war ja auch schon damals klüger als du.“ „Hey!“ Kurogane lachte. „Wobei der Typ mit dem Stirnband, dem wir den wahrscheinlich einzigen brauchbaren Arzt in diesem Drecksloch zu verdanken haben, meinte, es wären erst vier Monate vergangen, seit wir hier waren. Dieser Fluss-der-Zeit - oder wie das heißt – Scheiß nervt tierisch.“ „Du malst mit Worten, Kuro-pii.“ Fye lachte abermals und stutzte daraufhin. „Riechst du das auch?“ „Riecht irgendwie verbrannt.“ „Ahhh!“, drang Mokonas Kreischen an ihre Ohren. „Vorsicht, Shaolan! Vorsicht! Das ist heiß!!“ „Was stellen die schon wieder an??“ Kurogane stand auf und stapfte zur Tür. Als er sie öffnete, kam ihm eine dickte, graue Rauchschwade entgegen. Der Qualm zog durch das geöffnete Fenster ab und machte den Blick frei auf einen zerknirschten Jungen, ein geschmolzenes Etwas in der Spüle und einen aufgeregt zappelnden Klops, der den Stecker der Mikrowelle gezogen hatte. „Was ist los? Was ist passiert?“, rief Fye besorgt hinter ihm. „Dieses Modell der Mikrowelle ist ein anderes als in der Wohnung, die wir hier zuvor gehabt haben“, erklärte Shaolan bedröppelt. „Ich glaube, ich habe die falsche Einstellung gewählt.“ „Es hat zzzzz, pfffff, brrrrzzz und dann 'puff' gemacht!“, ergänzte Mokona und gestikulierte wild dazu. Kurogane beäugte die beiden (vom Schreck abgesehen schienen sie in Ordnung zu sein) und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Das Zeug, das ich gekauft habe, lässt sich doch bestimmt auch anders zubereiten, oder?“ „Ja, ich glaube schon. Da sind Symbole auf der Packung, die nach einem Herd und einer Pfanne aussehen.“ „Dann versuchen wir das.“ „Moment, Moment!“ Kurogane drehte sich in das Schlafzimmer zurück und traute seinen Augen nicht. Dieser wahnsinnige Wirrkopf kroch auf allen Vieren die Matratze entlang. „Was wolltet ihr denn machen?“, fragte Fye, der nun erschöpft auf dem unteren Bettrand hockte. „Das hier!“ Mokona schnappte sich eine der noch ungeöffneten Packungen und hüpfte damit in den Schoß des Blonden. „Ich bin sooo froh, dass du wieder gesund bist!“ „Ich auch“, erwiderte Fye, streichelte das Wollknäuel und nahm ihm die Packung ab, auf der ein Bild des Inhalts prangte. Blankes Entsetzen bildete sich auf seiner Miene. „Das wollt ihr essen?? Das sieht aus wie ein gepresster Matschklumpen!“ „Es schmeckt auch so“, entgegnete Kurogane gefasst, „aber beim ersten Besuch hier hab ich aufgeschnappt, dass es nährstoffreich ist und das Zeug gibt tatsächlich Kraft. Der Bengel, der Klops und ich haben es damals ständig gegessen.“ Dem Magier entglitten endgültig die Gesichtszüge. „Ihr habt DAS gegessen??“ „Wir mussten irgendwas essen. Die Prinzessin allerdings hat irgendwelche Energieriegel geknibbelt.“ Gänzlich erschüttert schüttelte Fye den Kopf. Er konnte ihnen keinen Vorwurf machen, denn er war schließlich schuld daran. Er hatte sich nicht mehr um das Essen für die Gruppe gekümmert. Er hatte keine Nahrung gebraucht … keine feste zumindest. „Das esst ihr also, wenn ich nicht für euch koche? Das geht nicht. Das … mir fehlen die Worte.“ „Man kann das auch als Zutat verwenden und zum Beispiel zu Suppen hinzugeben“, wandte Shaolan zaghaft ein, in der Hoffnung, die Lage zu retten. „Ja?“, hakte der Blondschopf skeptisch nach. „Na ja, vielleicht …. Gibt es hier Gemüse? Ich werde euch nicht diesen Matsch pur essen lassen.“ „DU wirst dich wieder hinlegen.“ Kurogane schnippte gegen seine Stirn. „Dann machen der Kleine und ich eben etwas Akzeptables daraus. Du musst schließlich auch was essen.“ „Mama braucht wieder Kraft!“, flötete Mokona fröhlich. „Dann kann Mama wieder für uns kochen und das macht Mokona sehr froh, denn Mamas Essen ist das Beste!“ Sie kuschelte sich an Fye an, der sich sichtlich sowohl über die Geste als auch über die Worte freute. „Mokona“, raunte Shaolan ihr zu, „wir hatten doch darüber gesprochen. Du sollst ihn nicht immer so nennen.“ „Huh?“, machten Fye und Mokona gleichzeitig und der Junge wurde spürbar verlegen. „Ich meine … wegen … vielleicht … vielleicht ist dir das nicht Recht, Fye-san … ich meine …“ „Ah~“, machten beide wieder unisono. „Shaolan-kun“, sagte Fye freudig, „ich habe schon länger darüber nachgedacht und ich kann mir gut vorstellen, dass Kuro-sama das ähnlich sieht. Mir würde es nichts ausmachen, wenn du die Höflichkeitsanrede weglässt. Es würde mich sogar sehr freuen. Nenn uns einfach so, wie du willst.“ Perplex schaute Shaolan daraufhin zu ihm, dann zu Kurogane, der achselzuckend seine Zustimmung gab. „Ausnahmsweise hat der Spinner Recht. Fühl dich aber zu nichts gezwungen.“ „Mama und Papa sind soooo lieb!! Komm, Shaolan, sag es mit mir: Mama und Papa sind soooo lieb! Mama und Papa si-““ „FÜHL DICH VOR ALLEM NICHT DAZU GEZWUNGEN!“ Der Ninja schrie dem kleinen Wesen direkt ins Gesicht und es grinste nur genüsslich. Shaolan begann zu lachen. Er wusste selber nicht so genau, warum er lachte, doch es kam über ihn und ließ sich nicht aufhalten. Die beiden Erwachsenen sahen ihn verwundert an und er konnte immer noch nicht aufhören. Es fühlte sich einfach nur gut an. „Ich habe euch lieb“, sagte er zu ihrem Erstaunen letztlich. „Ich habe euch sehr lieb, Fye und Kurogane.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)