Home - Türchen 1 von lady_j (Adventskalender des YuKa-Zirkels 2023) ================================================================================ Kapitel 1: Home --------------- Der Moment, in dem Yuriy realisierte, dass er irgendwo im Leben angekommen war, kam, als er den Kaufvertrag für seine Wohnung unterschrieb. Sie befand sich in Harlesden, West London, und kostete rund 300.000 Pfund. Das auch nur, weil sie nicht renoviert war. Für Yuriys Empfinden war es auch keine Wohnung, es war ein Scheibchen Reihenhaus (Terrasse, Dach, zwei Etagen, sogar ein Kamin – ganz klar ein Haus), aber in London definierten sich die Dinge etwas anders. Nun hatte er jedenfalls genug Platz für sein Studio (das er, sollte das Geld mal knapp werden, auch an andere Fotografen vermieten konnte) und sein Leben. Dieses Leben, von dem er noch immer nicht glauben konnte, dass es wirklich seines war. Obwohl er schon seit drei Jahren seine unbegrenzte Aufenthaltserlaubnis in Form einer kleinen Plastikkarte mit sich herumtrug, hatte er sich noch nicht ganz daran gewöhnt. Was daran liegen mochte, dass er bei Reisen außerhalb der EU noch immer auf seinen russischen Pass angewiesen war und er die russische Botschaft in London inzwischen genauso gut kannte wie sein Lieblingscafé. Sobald das mit der Renovierung geklärt war, würde er die doppelte Staatsbürgerschaft angehen. Dann würde er den vermaledeiten roten Pass in einen Safe legen und nur wieder herausholen, wenn er Boris und die anderen besuchte. Bevor er den Kredit für die Wohnung aufgenommen hatte, hatte er alle Unterlagen von Kai auf Herz und Nieren prüfen lassen. Wenn der keine Fallen fand, war alles in Ordnung. Außerdem war es ein guter Grund für Yuriy gewesen, ihn für eine Weile länger in seiner Nähe zu halten. Ihre Beziehung war schwammiger als seine Staatsbürgerschaft, und eventuell noch schwieriger zu lösen. Fakt war: Yuriy war heute nur in London, weil er Kai gefolgt war. Damals, als er neunzehn Jahre alt und frisch verliebt gewesen war und sich zum ersten Mal von seiner Vergangenheit und seiner Beyblade-Karriere befreit gefühlt hatte, hatte Kai ihn gefragt, ob er mit ihm kommen würde. Und Boris hatte ihn an den Schultern gepackt und gesagt: „Vielleicht hängst du an Russland, aber Russland liebt dich nicht, also geh, bevor es zu spät ist.“ Also war er gegangen. Er war glücklich mit Kai gewesen, dann nicht mehr ganz so sehr, dann hatten sie sich getrennt, beinahe aus den Augen verloren, gäbe es nicht die Sozialen Medien und den erschreckend großen Kreis ihrer gemeinsamen Bekannten – und dann, im letzten Herbst – im vorletzten? - hatten sie wieder zueinandergefunden. Jetzt stand Yuriy mit einem Eimer weißer Farbe vor einer vergilbten Wand und fragte sich, wie zum Teufel er hier gelandet war. Vor dem Fenster zu seiner Linken lag die triste Straße. Es war wieder Winter geworden. Vielleicht würde es bald schneien. Kai wollte vorbeikommen. Zum ersten Mal würde er die Wohnung sehen, die Yuriy ihm auf Fotos gezeigt hatte. Zwei Wochen waren seit ihrem letzten Date vergangen, denn sie waren beide beschäftigt. Yuriy mit der Wohnung, und Kai wie immer mit der Firma und seinem Studium. Für jemanden, der sein Erbe eigentlich loswerden wollte, verbrachte er ziemlich viel Zeit bei Hiwatari Enterprises. Aber Yuriy wusste, die Wege des Business waren unergründlich, und solange Kai immer wieder zu ihm zurückkam, würde er sich nicht beschweren. Sie dachten nicht an eine gemeinsame Zukunft. Das würde eine Planungsakrobatik erfordern, zu der sie zu diesem Zeitpunkt nicht fähig waren. Also lebte Kai in seinem Appartement in der Stadt, und Yuriy war nun hier gelandet, immer noch zwanzig Minuten mit der U-Bahn von ihm entfernt, jetzt jedoch in die andere Richtung. Keine allzu große Umstellung also. Mit diesem Gedanken tauchte er die Farbrolle ins Weiß und machte sich daran, die Wände aufzuhübschen. In dieser Ecke war später Platz zum Fotografieren: An der Decke sollten verschiedene aufrollbare Hintergründe montiert werden, und hier standen die Beleuchtungen auch nicht im Weg. Im hinteren Teil des Raumes befanden sich schon sein Schreibtisch und, eingepackt in Folie, eine Sitzecke aus Loungemöbeln. Zum Glück hatte er keine neue Küche kaufen müssen und das Geld stattdessen in sein zukünftiges Studio investieren können. Mit den altmodischen Fliesen im Bad würde er ebenfalls fürs erste leben. Woran er beinahe nie dachte, war, wie viel Platz er hier hatte. Trotz des Studios. Im oberen Stockwerk befanden sich das Badezimmer, das Schlafzimmer und ein weiterer Raum, mit dem er noch nichts anzufangen wusste. Die Küche ging im Erdgeschoss nach hinten raus, zum Garten. Er besaß einen verdammten Garten. Momentan bestand dieser zwar aus vier Quadratmetern schlecht gepflasterter Terrasse und ansonsten Matsch, aber mittelfristig sollte er wohl dafür sorgen, dass dort zumindest Gras wuchs. Dazu würde er sich Boris herholen müssen. Yuriy konnte zwar einige Renovierungsarbeiten erledigen, hatte mit Pflanzen aber nicht viel am Hut. Kai auch nicht. Kai konnte gut mit Tieren, aber das war es auch schon. Er hatte es vor ein paar Jahren geschafft, einen lebenden Stein zu töten – die einzigen Pflanzen, die bei ihm nicht eingingen, waren aus Plastik. Yuriy lachte in sich hinein, als er an den verstaubten Plastikefeu dachte, der auf Kais Küchenregal stand. Hiromi hatte ihn gekauft, als sie zu Besuch gewesen war. Das war noch vor ihrer Trennung gewesen. Yuriys Mundwinkel sackten ein wenig hinab. Sie hingen jetzt seit etwas mehr als einem Jahr in der Schwebe. Als Kai ihn damals nach einem Date gefragt hatte, hatte er nicht damit gerechnet, dass es so laufen würde. Eigentlich hatte er sich nur über seine eigenen Gefühle klarwerden wollen. Nun, das hatte funktioniert. Er hatte sich eingestehen müssen, immer noch mehr für Kai zu empfinden als nur Freundschaft. Aber war dieses Mehr genug für eine Beziehung? Momentan wichen sie dieser Frage beide aus. Kai schien es ebenfalls nicht eilig zu haben. Soweit Yuriy wusste, war er mit ihrer jetzigen Situation zufrieden. War Yuriy es? Es klingelte an der Tür. Die Malerrolle rutschte Yuriy beinahe aus der Hand. Ein Klecks Farbe fiel auf seine Jeans, den er mit einem Stück Zeitung zu entfernen versuchte, während er zur Tür stakste. Draußen stand Kai, einen dicken Schal um den Hals geschlungen und einen Beutel in der Hand. „Ich habe etwas zu Essen mitgebracht“, sagte er und reichte Yuriy den Beutel, damit er seinen Mantel ablegen konnte. Darunter trug er ausgewaschene Jeans und einen dunklen Pullover. Er kam also nicht direkt aus dem Büro. Yuriy küsste ihn auf die kalten Lippen, bevor er ihm eine kleine Tour durch das Erdgeschoss gab, die am Terrassenfenster endete. „Oh Shit, du hast einen Garten“, sagte Kai. „Sag das nicht Boris, sonst will er im Schuppen Gras anbauen.“ „Und von Russland aus per Ferndiagnose pflegen, oder was?“ Yuriy drehte sich um und nahm zwei Tassen für Tee aus den oberen Küchenschränken. „Hast du schon Hunger?“ „Ich könnte dir noch ein wenig zur Hand gehen, wenn du willst.“ Freiwillige Hilfe ließ Yuriy sich nicht entgehen. Kai wärmte sich die Hände an dem Tee auf, dann machten sie sich zu zweit im Wohnzimmer an die Arbeit. Für ein, zwei Stunden war nicht viel zu hören außer dem Geräusch der Malerrollen auf der Raufasertapete und ihren gelegentlichen Gesprächsfetzen. Mit Kai hatte Yuriy schon immer gut schweigen können. Schweigen und Sprüche klopfen und streiten. Das lief richtig gut bei ihnen. Wenn es darum ging, Gefühle in Worte zu fassen, ging plötzlich gar nichts mehr. Das war Yuriy erst aufgefallen, als er mit anderen Leuten angebandelt hatte und diese ihn mit Liebesbekundungen überschüttet hatten. Dass das nicht immer ernst gemeint war, war ihm quasi sofort danach klargeworden. Was auch nie wirklich gut gelaufen war, war Sex. Sex gab Yuriy nicht viel, im Gegensatz zu anderen Menschen kam er auch ohne zurecht. Er schaltete dabei auf Autopilot, was bei kurzen Affären nicht weiter auffiel, in ernsthaften Beziehungen aber zu einem Problem werden konnte. Das hatte auch ein objektiv heißer Mann wie Kai nicht ändern können. Es war einer der Gründe für ihre Trennung gewesen. Unter Kais kühler Oberfläche brodelte es. Immer und ständig. Er schien alles dreimal intensiver zu fühlen als Yuriy. Manchmal dachte Yuriy, dass selbst Freude ihm wehtun musste. Kai war es gewohnt, zu bekommen, was er wollte. Und er wollte viel. Wenn sie jetzt miteinander schliefen (was nicht oft passierte, aber es passierte), meinte Yuriy, dass Kai sich absichtlich zurückhielt, um ihn nicht zu überfordern. Dabei war er nicht überfordert, er versuchte nur, herauszufinden, wie er mit dem Bündel Energie in seinen Armen umgehen sollte. Bei Kai war kein Autopilot möglich, das hatte er eingesehen. Doch auch hier stellte sich die Frage: War das, was er ihm geben konnte, genug? Sie schafften es, den ganzen Raum zu streichen. Draußen war es längst dunkel. Die Farbe wirkte etwas uneben, und Yuriy hoffte, dass es nur am Licht lag oder daran, dass noch nicht alles trocken war. Er hatte wenig Lust, das Ganze noch mal zu machen. Kais dunkler Pullover war mit winzigen weißen Punkten gesprenkelt. Als er versuchte, sie abzuwischen, zogen sie Schlieren. Beinahe wirkte es, als hätte der Stoff ein Sternenhimmel- oder Schneeflockenmuster. „Weißt du, was dir hier fehlt?“, fragte er, nachdem er es aufgegeben hatte, an seinem Pullover herumzurubbeln. „Stühle.“ „No shit, Sherlock“, sagte Yuriy, bereute aber, nicht vorgeschlagen zu haben, in ein Restaurant zu gehen. Während er das Essen in die Mikrowelle schob, setzte Kai sich auf die Anrichte ihm gegenüber. Die Küche war ein schmaler Schlauch, es gab hier keinen Platz für einen Esstisch. Yuriy verschränkte die Arme und lächelte Kai an, der, nach kurzem Zögern, ebenfalls die Mundwinkel hob. „Viel zu tun?“, fragte Yuriy. Kai zuckte die Schultern. „Nur ein paar alte, nervige Männer, die einfach nicht in Ruhestand gehen wollen. Bald nicht mehr mein Problem“, fügte er in einem beinahe zufriedenen Ton hinzu. Yuriy hatte Kai nie gefragt, was er machen wollte, sobald er die Firma los war. Finanziell hatte er ausgesorgt, das war klar. Er würde keinen Tag in seinem Leben arbeiten müssen, wenn er nicht wollte. Aber Yuriy war sich sicher, dass das nicht in Kais Sinn war. Vermutlich würde er sich etwas Eigenes aufbauen. „Und wenn die alten Männer weg sind und du deinen Klotz am Bein los bist? Nimmst du dir dann endlich mal Zeit zum Durchatmen?“, fragte er. „Sagt der Richtige“, entgegnete Kai belustigt und nickte vielsagend in Richtung des Studios. „Bist du sicher, dass du hier alles alleine machen willst? Ich weiß, ich hab es dir schon einmal angeboten–“ „Ich will dein Geld nicht“, unterbrach Yuriy ihn sanft. Kai war vielleicht verschlossen und ließ so schnell niemanden an sich heran, aber er war auch alles andere als geizig. Wenn man es in seinen engen Kreis geschafft hatte, musste man nicht erst um Hilfe fragen. Kai konnte Probleme lösen, bevor sie überhaupt entstanden. Doch Yuriy hatte seinen Stolz. Was er alleine schaffen konnte, würde er alleine tun, auch wenn es etwas länger dauerte. Das einzige, was er Kai schuldig war, war, dass der ihm einen Grund gegeben hatte, Russland zu verlassen. Alles, was passiert war, nachdem seine Füße britischen Boden berührt hatten, war sein eigener Verdienst. Auch die Trennung, sagte eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf. Die Trennung war einvernehmlich gewesen, aber man könnte behaupten, Yuriy habe ausbrechen wollen. Oder als erster aufgegeben. Je nachdem, wie man es sehen mochte. Doch Kai war derjenige gewesen, der den Kontakt gänzlich abgebrochen hatte. Und das wiederum hatte Yuriy mehr wehgetan als er zugeben wollte. Die Mikrowelle gab ein lautes Ping von sich, das sie beide ignorierten. „Ich will mein Geld auch nicht“, behauptete Kai. „Jedenfalls nicht alles davon. Gott, was soll ich damit denn tun?“ „Spenden?“, schlug Yuriy amüsiert vor. „Habe ich schon. Und ich will auch nicht zehn Charities gründen, das fühlt sich dann auch geheuchelt an.“ Kai seufzte. „Immerhin konnte ich Takao bei der Renovierung des Dojos helfen und Kyoujyu mit seinem Forschungszentrum …“ „Wenn du mir helfen willst – im Studio muss noch neuer Boden verlegt werden, und früher oder später müssen die Fliesen im Bad raus.“ Kai verstummte und sah ihn an, als hätte er ihn darum gebeten, mit bloßen Händen eine Klärgrube auszuheben. Kai war kein Handwerker. Dass er ihm heute beim Streichen geholfen hatte, musste zu den größten Liebesbeweisen zählen. „Hör mal, ich hab nicht mal Klamotten, um so etwas zu machen.“ Er zupfte an seinem beklecksten Pullover. „Das Ding lang ganz hinten in meinem Schrank und ich bin mir sicher, es ist ein Überbleibsel von einem One-Night-Stand.“ „Und so etwas schleppst du in mein Haus?“, sagte Yuriy und Kai warf resigniert die Hände in die Luft. „Was muss ich machen, damit du mein Geld nimmst?“, rief er gen Decke. Yuriy sah ihn an, wie er dort auf der Anrichte saß, mit übereinandergeschlagenen Beinen, beleuchtet vom warmen Licht der Glühbirne, die den Raum erhellte – und fühlte sich entlohnt. „Ich weiß!“ Kai grinste ihn herausfordernd an. „Ich lege einen Trust Fund an, und wenn du dreißig wirst, dann…“ „Untersteh dich!“ „Was willst du tun? Du kannst mir nicht diktieren, was ich mit meinem Geld mache!“ „Ich werde jeden Cent verschenken!“ „Dafür musst du es mir erstmal abnehmen!“ „Du kannst mir das nicht aufzwingen!“, sagte Yuriy und lachte, weil dieser Schlagabtausch einfach zu abstrus war. Doch auf Kais Gesicht lag purer Tatendrang. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, zog er sein Handy aus der Hosentasche. „Stopp!“, sagte Yuriy, jetzt mit leichter Panik. „Hör auf, das ist nicht mehr lustig!“ Kai legte den Kopf schief. „Come over here and make me“, sagte er. Oh, es machte etwas mit ihm, wenn Kai Englisch sprach. Vielleicht, weil er sich so posh anhörte. Verdammtes Jungeninternats-Söhnchen. Yuriy sparte sich eine Erwiderung. Er musste nur zwei Schritte tun, um direkt vor Kai zu stehen, der instinktiv ein Stück auf der Arbeitsplatte zurückrutschte. Ohne ihren Blickkontakt zu unterbrechen, griff Yuriy nach Kais Hand und entwand seinen Fingern das Telefon; er schob es über die Platte, sodass es außerhalb ihrer Reichweite war. Aber Kai interessierte sich schon nicht mehr dafür. Er zog Yuriy zu sich heran, schlang Arme und Beine um ihn und küsste ihn. Schwer zu beschreiben, wie sich ihre Küsse verändert hatten. Ihre einjährige Pause hatte Spuren hinterlassen. Er kannte alles von Kai, jeden Laut und jede Geste, und trotzdem war er ihm nicht mehr so vertraut wie vorher. Es fiel ihnen beiden nicht mehr so leicht, sich fallenzulassen. Kais Körper wurde immer wärmer; Yuriy spürte, wie seine Hitze in ihn hineinsickerte. Der Stoff des unsäglichen Pullovers fühlte sich auf einmal viel zu kratzig an. Yuriy tastete nach dem Saum und zog ihn über Kais Kopf, warf ihn in irgendeine Ecke, wo er hoffentlich nie wiedergefunden wurde. Kais Arme lagen so fest um ihn, als wolle er immer und immer mehr von ihm spüren. Yuriy musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihn weiter küssen zu können. Die Kante der Arbeitsplatte drückte unangenehm in seine Mitte. Er wusste genau, worauf das hier hinauslaufen würde. Kein Autopilot nötig. Er sehnte sich nach Kais Nähe, danach, von ihm gehalten zu werden. Kai ließ von ihm ab, um Luft zu holen, und bevor er sich wieder auf Yuriy stürzen konnte, hielt er ihn zurück. „Ich hab dir das Schlafzimmer noch nicht gezeigt“, sagte er. Das Essen war noch immer in der Mikrowelle, als Yuriy am nächsten Morgen in der Küche stand. Kein Wunder, dass er einen Bärenhunger hatte. Zum Frühstück konnte er sich allerdings besseres vorstellen als kaltes Curry. Ob Kai Lust hatte, mit ihm frühstücken zu gehen? Immerhin war es Samstag und sein Kühlschrank war leer – bis auf Milch für Kaffee und Tee. Er hatte Kaffeepulver in den Schrank gestellt, als hätte er geahnt, dass Kai jetzt öfter über Nacht bleiben würde. Vielleicht hatte er es gehofft. Wie Kai am Vorabend setzte er sich auf die Anrichte und nippte an seinem Tee. Draußen ging gerade erst die Wintersonne auf. Der Tag war frostig. Auch im Haus war es kalt, die Kälte rührte eher von der fehlenden Einrichtung her. Hoffentlich war bis zum Jahresende das meiste erledigt. Es war schön, wieder neben Kai aufzuwachen. Inzwischen sprang er nicht mehr, wie vor ein paar Monaten noch, sofort auf und machte Anstalten, abzuhauen. Anfangs hatte es auch Yuriy erleichtert, dass Kai früh gegangen war. Dann hatte er sich mehr und mehr gewünscht, er würde bleiben. Jetzt ließ er ihn schlafen, denn wer schlief, bewegte sich normalerweise nicht von der Stelle. Doch als er seinen Tee getrunken hatte, kam es ihm seltsam vor, dass Kai noch immer nicht die Treppe heruntergekommen war. Er war kein Langschläfer. Yuriy goss eine Tasse Kaffee auf und trug sie ins Schlafzimmer. Vorsichtig stieß er die Tür auf, doch das erste, was er sah, war Kai, der mit angezogenen Beinen auf dem Bett saß. Als er ihn hereinkommen hörte, zuckte er kurz zusammen. „Hey“, sagte Yuriy. „Hab ich dich erschreckt?“ Er setzte sich neben ihm aufs Bett. „Warum bist du nicht runtergekommen?“ Kai nahm ihm die Tasse ab. „Ich dachte…“, fing er an, dann schüttelte er den Kopf. „Ich hab was Dummes gedacht.“ „Ich verspreche, ich erzähle es nicht weiter.“ Kai schnaubte belustigt und trank lieber Kaffee, als ihm zu antworten. Yuriy beobachtete ihn verstohlen. Seine Körpersprache war ihm vertraut. Kai dachte zu viel nach, war wahrscheinlich drauf und dran, zu behaupten, es wäre nichts, und wieder einmal alles in sich hineinzufressen. Es war wirklich nicht gut, dass sie in den entscheidenden Momenten beide so verkopft waren. „Ich habe gedacht, du bist nicht mehr da“, sagte Kai auf einmal. „Ich dachte, wenn ich aufstehe, dann finde ich einen Zettel in der Küche, und dann sehen wir uns irgendwann in den nächsten Wochen wieder. Ich hatte nicht so viel Lust, aufzustehen.“ „Wo sollte ich denn sein?“, fragte Yuriy verdattert. Kai hob die Schultern. „Im Baumarkt? Arbeiten? Was weiß ich.“ „Hatte ich aber nicht vor“, sagte Yuriy. „Du kannst bleiben, wenn du willst. Brauchst dir auch nichts anziehen“, fügte er mit einem Blick auf Kais nackte Arme hinzu. Kai stieß ihn grinsend mit der Schulter an, aber beinahe sofort darauf verschwand sein Grinsen wieder. Yuriy wartete, und Kai schwieg. Je länger er schwieg, desto drückender wurde die Stille zwischen ihnen. Sie erstickte die paar Fünkchen Glücksgefühle, die Yuriy gespürt hatte, bevor er Kais nachdenkliche Miene gesehen hatte. Er war nicht bereit, schlechte Nachrichten zu bekommen. Erst recht nicht aus Kais Mund. Es dauerte noch eine Weile länger, bis Kai sich wieder regte. „Yuriy“, sagte er, holte hörbar Luft – und schien schon nicht mehr zu wissen, wie es weiterging. Yuriy seufzte. „Sag es einfach“, verlangte er und wappnete sich innerlich für das, was auch immer auf ihn zukommen mochte. „Mir ist etwas klar geworden“, fing Kai an. Er stierte in seine Tasse, sein ganzer Körper stand unter Spannung, als wolle er nun doch aufspringen und einfach wegrennen. Yuriy wusste nicht, ob er die Kraft hätte, ihn festzuhalten. Dann hob sich Kais Blick, er sah ihn direkt an, wirkte für eine Sekunde fest entschlossen und dann sehr, sehr elend. „Ich liebe dich“, sagte er. Yuriy starrte ihn an. „Huh?!“, entfuhr es ihm. „Oh Gott, es tut mir leid!“ Beinahe hätte Kai beide Hände in die Luft geworfen, wobei auch der Kaffee an der Wand gelandet wäre. Diese Realisation hielt ihn wahrscheinlich davon ab, die Geste zu vollenden. Stattdessen legte er die freie Hand an die Stirn und fuhr sich durchs Haar. „So meinte ich das – also doch, ich meinte es so, aber ich wollte es nicht so sagen! Es ist mir rausgerutscht! Hör mal, du musst nichts sagen, vergiss es einfach wieder-“ „Kai“, unterbrach Yuriy ihn. „Es ist alles gut.“ Er bemerkte, wie sich rote Flecken an Kais Hals und auf seiner Brust bildeten. Die bekam er nur von schwerem Rotwein oder wenn er sehr, sehr nervös war. Kai legte die Hand über die Augen und stieß einen Laut puren Leids aus, und Yuriy musste sich ein Prusten verkneifen. „Das war so nicht geplant“, sagte Kai. Yuriy zog ihm die Hand von den Augen, damit sie sich ansehen konnten, und hoffte, dass Kai erkennen würde, was gerade in ihm vorging. Das alles in Worte zu fassen würde ihm in diesem Moment nicht gelingen. Zum Glück entspannte Kai sich sichtlich. „Willst du noch mehr sagen?“, fragte Yuriy. Kai stellte seine Tasse auf dem Nachttisch ab, wickelte sich in die Decke und schlang die Arme um die Knie. „Es liegt an dem Haus“, sagte er. „Du bist gerade dabei, dir ein verdammtes Zuhause aufzubauen. Irgendwie ist mir das erst gestern bewusst geworden. Und auf einmal hatte ich diesen Gedanken … Ich wollte mir nicht vorstellen, dass du mit einem anderen Menschen hier leben könntest. Und als ich aufgewacht bin und du nicht da warst, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass du mich nicht hierhaben wollen könntest. Ich glaube, da ist mir bewusst geworden, dass…“ Er unterbrach sich und rieb sich einmal mehr die Stirn. „Du bist es, Yuriy“, fuhr er fort. „Du bist es immer gewesen. Ich glaube, das ist mir schon klargewesen, als wir noch gar nicht hier gelebt haben. Aber es hat mir auch Angst gemacht. Ich meine, wie wahrscheinlich ist es denn, dass man mit 16 schon den Menschen fürs Leben findet?!“ Yuriy machte ein Geräusch, das vielleicht Zustimmung war. Er hatte sich damals noch ganz anderen Fragen stellen müssen. Kai war der erste Mann, für den er bewusst Gefühle entwickelt hatte. Und auch wenn er sich inzwischen ein paarmal mehr verliebt hatte, war eine bestimmte Nuance von Liebe für Kai reserviert, die er nur schwer erklären konnte. „Wir müssen darüber reden, wie wir weitermachen wollen“, sagte Kai. „Denn mir ist das hier verdammt ernst. Wenn es dir nicht so geht, dann … habe ich ein Problem.“ Sie hatten noch nie so miteinander gesprochen. Nicht einmal in den vier Jahren, die sie zusammen gewesen waren, bevor sie sich getrennt hatten. Sie hatten nicht einmal „Ich liebe dich“ gesagt, weil es ihnen selbstverständlich schien, dass es so war. Jetzt summten tausend Gedanken durch Yuriys Kopf, die er vielleicht aussprechen sollte, aber sie waren so unstet und zusammenhangslos, dass er es niemals geschafft hätte, sie in logische Sätze zu pressen. Es war ein gutes Chaos. Ein verdammt gutes. „Wie ich vorhin schon gesagt habe“, sagte er schließlich. „Du kannst so lange bleiben, wie du willst.“ Daran, wie Kai lächelte, erkannte er, dass er verstanden hatte. Endlich schaffte Yuriy es, sich aus seiner verkrampften Sitzhaltung zu lösen. Er schlüpfte zu Kai unter die Decke und ließ seine Wärme auf sich einwirken. Kai legte ihm die Hand auf die Wange, damit er den Kopf zu ihm drehte, und küsste ihn. Küsste ihn lange. „Du willst nicht mehr reden, oder?“, stellte Yuriy amüsiert fest. Kai öffnete nicht einmal die Augen. „Ich habe heute schon viel zu viel geredet“, sagte er. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)