Die Prinzessin aus Marzipan von Erzsebet (Phantasiestück in fünf Aufzügen) ================================================================================ Kapitel 2: 2. Aufzug, 1. Bild ----------------------------- Turmzimmer des Hofastronomen Auf höchstmajestätischen Befehl hatten Hofastronom und Hofzauberer ihren ständigen Konkurenzkampf mit den dazugehörigen Beleidigungen tatsächlich zurückgestellt und arbeiteten zusammen an dem Problem der unglücklichen Liebe des Prinzen Jakob. "Als erstes brauchen wir einen Körper für den Geist", sagte der Hofzauberer und schaute von dem dicken, ledergebundenen Folianten auf, der vor ihm auf dem Lesepult lag. Nachdenklich rieb er sich seine, in der Kälte des Turmzimmers nahezu eingefrorenen, knotigen Finger, blätterte ein paar Seiten und murmelte vor sich hin, während der Lehrling des Hofastronomen sich zum Mitschreiben bereit machte. Der Hofastronom blickte seinerseits von dem umfangreichen Geschichtswerk auf, das er vor sich liegen hatte und schob seine Brille etwas nach unten, um den Hofzauberer über deren Rand hinweg mustern zu können. Im Stillen mußte er sich eingestehen, daß es zu einem nicht geringen Teil der Neid auf die prächtige Gesundheit des Hofzauberers war, der seine Abneigung gegen seinen 'Konkurenten' schürte. Der Hofzauberer kam, obwohl er seinen 90sten Geburtstag schon lange hinter sich hatte, noch immer ohne Brille oder sonstige Hilfsmittel aus. Wie man munkelte hatte er sogar bei den jungen Kammerzofen des Schlosses in Liebensdingen noch beachtliche Erfolge zu verzeichnen und im Hof der Wasserburg jagten sich tagsüber mit lautem Geschrei die beredten Zeugnisse seiner Potenz. "In der Landeschronik habe ich bisher nichts finden können", sagte der Hofastronom. "Es gibt nur einen erbärmlichen Hinweis auf eine Hochzeit auf der Wasserburg, während der es unter den Gästen anscheinend zu irgendwelchen Auseinandersetzungen kam, in deren Verlauf fünf Personen, unter ihnen eine 'Prinzessin Helene', ums Leben kamen." Der Hofastronom langte nach der Chronik der Burg. "Das ist es!" rief der Hofzauberer plötzlich und schlug freudestrahlend auf die Pergamentseiten seiner Lektüre, so daß sich der Staub in dicken Wolken erhob. Der Hofastronom schrak auf und sein Lehrling stieß vor Schreck das Tintenfaß um, dessen Inhalt sich über seine Notizen ergoß. Im letzten Augenblick konnte er ein größeres Unglück jedoch verhindern. Von draußen hörte man den Ruf eines Uhus und irgendwo am Fuße des Astronomenturms rief jemand: "Sei still, Du dummes Vieh!" "Hört, was hier steht", sagte der Hofzauberer begeistert: "Zur Bekörperung von Geistern verwende man ein formbares, weiches Material, dessen Konsistenz dem Wesen des Geistes zu entsprechen hat. Man forme eine lebensgroße Gestalt aus diesem Materiale und zwar von höchster Kunstfertigkeit, so daß diese Gestalt genau so aussieht, wie der Geist zu seinen Lebzeiten. Je größer die äußere Aehnlichkeit der Gestalt mit der früheren Erscheinung des Geistes ist, desto leichter wird der Geist dazu zu bewegen sein, in die bereitete Hülle zu schlüpfen. Man entsage sich jedoch Beschönigungen der wahrhaftigen Gestalt des Geistes, da sich dieses nachtheilig auf das Wesen des Bekörperten auszuwirken pflegt. Man statte diese Gestalt mit körperlichen oder persönlichen Gegenständen des Geistes aus (zum ersteren zählt man Haare, Nägel, Zähne, Knochen, Blut und Haut, sowie die Exkremente und auch Erbrochenes (der Gebrauch der beiden letztgenannten Substanzen kann sich jedoch nachtheilig auf das Gemüth des wiederbelebten Geistes auswirken), zu letzterem gehören Kleidung, Schmuck, Waffen und auch andere Gegenstände aus dem persönlichen Besitz des Geistes, sofern er sie mindestens ein Jahr zu seinem Eigenthum zählen konnte). Merke: Je größer die Zahl der körperlichen und persönlichen Gegenstände des Geistes an der Gestalt sind, desto größer ist die Anziehung, die die Gestalt auf den Geist ausübt. Alsdann bringe man die Gestalt an den Ort, an dem der Geist bevorzugt zu erscheinen pflegt und erwarte dessen Erscheinen. Sind zum Erscheinen des Geistes irgendwelche Bedingungen zu erfüllen, so erfülle man diese Bedingungen. Sobald der Geist in den neuen Körper eingezogen ist, wird dieser künstliche Körper wie tot darniederfallen und nach drei Tagen Leichengeruch ausströmen. Daher gehe man nach der Bekörperung wie folgt weiter vor: Man behandle den Bekörperten wie einen wiederzuerweckenden Toten, weise im Spruch aber gesondert darauf hin, daß der Körper keine tödliche Wunde aufweist und somit der Tod versehentlich eingetreten ist. Sodann wird der Bekörperte zu sprechen beginnen, der Bewegung jedoch unfähig sein. Der Bekörperte ist zu überzeugen, daß er lebensfähig ist, dann werde ihm ein Trunk gereicht, der aus Folgendem bereitet wird: 1) 1/8 Liter Drachenblut - 1 Schlangenei, mittelgroß - 1 Prise Teufelswurz (Satanis radix ordinaris), zerrieben - 2 Prisen Hexenkraut (Herbula mala speciosa), gehackt 2) 1 Drachenreißzahn, gestoßen - Basiliskenbadewasser, nicht älter als zwei Tage - Drachentränen Man vermenge die unter 1) angegebenen Zutaten in einem Kupfertopf zu einem homogenen Brei, dem man solange das Badewasser eines Basilisken beifügt, bis er sich vollständig safrangelb gefärbt hat. Das Ganze verdünne man 1:3 mit Drachentränen und verrühre es mit dem gestoßenen Drachenreißzahn. Sodann fülle man alles in einen goldenen Kelch und gebe es dem Bekörperten zu trinken. Darauf wird der Bekörperte würgen und nach Wein verlangen. Statt dessen reiche man ihm jedoch einen dünnen Brei aus Weizenmehl und geraspelten Rüben. Erst danach darf der Bekörperte den Wein erhalten. Hiernach wird der Bekörperte in einen tiefen Schlaf fallen, aus dem man ihn nach 23 Stunden zu wecken hat, um dann ein weiteres Mal einen Weizenbrei zu reichen, diesmal mit geriebenem Apfel vermengt. Alsdann spreche man den Bekörperten mit seinem Namen an und befehle ihm, sich zu erheben. Dann führe man ihn zu einem Spiegel. Das Spiegelbild wird zuerst verschwimmen, dann jedoch wieder klar werden und in diesem Moment verwandelt sich der künstliche Körper in einen wahrhaftigen Leib aus Fleisch und Blut. Als nächstes werden dem Bekörperten die Augen verbunden, denn nach seinem Spiegelbild muß er als nächstes eines heiligen Mannes seiner Konfession ansichtig werden (so vereinbart bei der 3. Konferenz der Wiederbeleber mit den Abgesandten der Vereinigten Kirchen). Dieser heilige Mann hat in etwa 10 Minuten, jedoch nicht kürzer als 6 Minuten einen kurzen Abriß des von ihm vertretenen Glaubens zu geben, den der Bekörperte in den wichtigsten Punkten wiederholen muß (man weise den Bekörperten nach seiner Bespiegelung geeignet ein). Hiernach ist der Bekörperte als Mensch anzusehen. Ein möglicher Mißerfolg der Bekörperung zeigt sich darin, daß, trotz aller Bemühungen, vom Bekörperten nach drei Tagen Leichengeruch ausströhmt." "Das soll funktionieren?" fragte der Hofastronom skeptisch und rieb sich seinen schmalen Kinnbart. "Klingt ja toll!" mischte sich der Lehrling des Hofastronomen ein. Der Hofzauberer nahm das als Kompliment und lächelte geschmeichelt. "Oh, das ist ja nicht mein Verdienst. Ich habe nur den Text in diesem Buch entdeckt." "Funktioniert das?" fragte der Hofastronom ungeduldig. "Aber ja, aber ja, natürlich funktioniert das. Sonst wäre es gar nicht publiziert worden", antwortete der Hofzauberer gereizt. "Funktioniert es in unserem Fall?" fragte der Hofastronom wieder. "Der Geist, mit dem wir es zu tun haben, ist, wie ich inzwischen herausgefunden habe, genau 372 Jahre und 59 Tage alt. Wo sollen wir die benötigten Haare, Fingernägel und all das herbekommen? Und woher bekommt man das Badewasser eines Basilisken?" "Letzteres ist ja wohl ganz allein meine Sorge, Meister Astronom. Ich habe einen Basilisken und ich traue es mir noch zu, ihn zu baden. Etwas anders liegt es da mit den körperlichen Gegenständen, die Ihr eben anspracht. Welche Informationen über die Tote sind in den Chroniken zu finden?" Der Hofzauberer bedachte seinen Gegenüber mit einem prüfenden Blick aus seinen stachelbeergrünen Augen. Der starre Blick der stechenden Augen bereitete dem Hofastronomen körperliches Unbehagen, so wandte er sich schnell wieder der vor ihm liegenden Chronik des Regierungssitzes von Schwarzweiß - Burgberg, der Wasserburg 'Königsblick', zu. "Hier steht: Zu den Feierlichkeiten kam auch der König der Nordsümpfe mit seinen drei Töchtern, von denen war die jüngste gerade erblüht, die älteste bereits zum Weibe gereift. Alsbald fanden sich unter den anderen Hochzeitsgästen zahlreiche Verehrer der drei Grazien, die allesamt die Anmut ihrer verstorbenen Mutter, einer Prinzessin der Goldenen Inseln, geerbt hatten, ebenso deren honigfarbenes Haar und die meerblauen Augen. Unter den Bewerbern um die mittlere der Prinzessinen, deren Schönheit man als die größte unter den drei Schwestern rühmte, waren zwei Brüder, Prinzen aus dem Reiche der Silberberge. Dem jüngeren der beiden nun schenkte die Prinzessin ihr Lächeln und erlaubte ihm, sie mit Blumen zu beschenken. Darüber war der ältere in Flammen vor Wut und so kam es zum Kampf zwischen den Brüdern. Der ältere erstach den jüngeren und danach auch die Prinzessin, die seine Liebe verschmäht hatte. Als Rache für seine Tochter tötete darauf der Vater der Toten den wütenden Prinzen und in der Nacht kamen aus dem Gefolge des Königs von den Nordsümpfen und dem des Königs von den Silberbergen noch je ein Mann ums Leben, so daß die Hochzeit das Blut von fünf Menschen forderte. Die tote Prinzessin und der Prinz von den Silberbergen, dem sie zugeneigt war, wurden Seite an Seite im Burggarten der Wasserburg 'Königsblick', dem Regierungssitz des Königreiches Schwarzweiß - Burgberg beigesetzt und auf ihr Grab wurde ein Holunderbusch gepflanzt, der schon wenig später und völlig außer der Zeit in voller Blüte stand." Der Hofzauberer seufzte leise. "Das ist schlecht, sehr schlecht. Wir werden schwer an den Leichnam der Prinzessin herankommen, um Knochen oder Haare von ihr zu bekommen. Aber vielleicht gibt es im Schloß bei den Nordsümpfen noch einige ihrer persönlichen Gegenstände", sagte er dann nachdenklich. "Darf ich Euch daran erinnern, daß das Schloß in den Nordsümpfen vor knapp zwanzig Jahren in denselben versunken ist, mit allem, was sich in ihm befand, einschließlich seines letzten Königs? Wahrscheinlich verließ er sich zu sehr auf seinen Hofzauberer. Ein Astronom, sogar der jüngste Lehrling, hätte ihm sagen können, daß das Schloß auf denkbar unsicherem Grund stand." Der Hofzauberer hielt sich symbolisch die Ohren zu. "Hört auf, Meister Astronom, seid still. Denkt lieber darüber nach, wie wir an den Leichnam der Prinzessin Helene herankommen?" "Ausbuddeln", schlug der Hofastronom vor. Der Hofzauberer verdrehte resignierend die Augen. "Warum habe ich auch gefragt. Zu Eurer Information: ein Holundergeist bewacht das Grab und es wird nicht einfach sein, an den Leichnam darunter heranzukommen. Ganz und gar nicht einfach." "Aber es gibt eine Möglichkeit?" fragte der Hofastronom, sich verzweifelnd an das letzte bischen Hoffnung klammernd. Der Hofzauberer spitzte die Lippen und legte die Fingerspitzen aneinander. "Nunja, eine Möglichkeit gibt es meistens, so auch in diesem Fall. Wie sollten wir sonst dem Prinzen Jakob zu seiner Liebe verhelfen? Nur ist diese Möglichkeit ziemlich kostspielig..." "... und gefährlich", ergänzte der Hofastronom voreilig. "... und mühsam", vervollständigte der Hofzauberer seinen Satz nachdrücklich. "Ein Holundergeist kann einem lebenden Menschen nicht wirklich gefährlich werden, Mühe bereitet er aber auf jeden Fall. Was wir brauchen, ist eine Jungfrau... einen Moment, bitte..." Mit flinken Fingern suchte der Hofzauberer ein schmales Heft aus seinem Bücherstapel und blätterte darin. "Nein, einen unberührten Jüngling brauchen wir. Er muß strahlend blonde Haare haben und hellgraue Augen, außerdem muß ihm an der linken Hand das letzte Glied des kleinen Fingers von Geburt an fehlen. Dieser Jüngling wird in ein Gewand aus hauchdünnem Goldblech gekleidet und allein mit diesem am Leibe muß er mit einem silbernen Spaten den Holunder aus der Erde graben und allein seine Hände dürfen den Holunder berühren. Erst dann ist der Weg frei." Der Hofzauberer legte das Heft wieder auf den Stapel zurück. "Das Unangenehme ist, daß der Jüngling dabei wohl seine Unschuld verliert und zum Zurückpflanzen des Holunders unbrauchbar wird." "Muß der denn zurückgepflanzt werden?" fragte der Lehrling des Hofastronomen, der jedes Wort mit fliegender Feder mitgeschrieben hatte. "Aber natürlich. Schließlich liegt auch dieser Prinz noch da unten. Also brauchen wir zwei gleichartige Jünglinge der eben ausgeführten Art, außerdem noch ein paar Kleinigkeiten für den Trunk und irgendein Material, aus dem wir den Körper formen können", zählte der Hofzauberer an seinen faltigen Fingern auf. "Wie wäre es mit Ton oder Lehm?" schlug der Hofastronom vor. "Nach dem, was Prinz Jakob uns erzählt hat, scheint das Wesen dieses Geistes kaum spröde und bröckelig zu sein und auch nicht hart. Ihr müßt Euch schon etwas Besseres ausdenken." "Also gut", sagte der Hofastronom. "Ich kümmere mich um das formbare Material und Ihr Euch um die restlichen Zutaten. Und diese beiden Jünglinge..." "Um die kümmert Ihr Euch", beeilte sich der Hofzauberer zu sagen. "Das ist Eure große Chance, die Überlegenheit der wissenschaftlichen Logik über die Zauberei, von der Ihr so gerne sprecht, unter realen Bedingungen zu beweisen, Meister Astronom. Sicherlich wird es Euch ein Leichtes sein, zwei Jünglinge zu finden, die unseren Ansprüchen genügen." Der Hofastronom seufzte schicksalsergeben. "Ich werde mich bemühen. Ich hoffe nur, die Majestäten bewilligen die notwendigen Mittel für die zwei goldenen Gewänder." "Und das wird nicht die letzte Ausgabe in diesem Fall sein", prophezeite der Hofzauberer. "Alles in allem wird das Ganze eine reichlich teure und ziemlich anstrengende Angelegenheit werden... nunja, ich werde mich um einen Drachentöter kümmern und Ihr seht Euch nach den beiden Jünglingen um." Der Hofzauberer stapelte die mitgebrachten Bücher und Hefte und wankte unter ihrer Last zur Tür, die der Lehrling des Hofastronomen beflissen aufhielt. "Wird hier eigentlich nie geheizt?" fragte der Hofzauberer beiläufig, als er auf der Schwelle stand. Irgendwie schaffte er es, trotz der Bücher mit einer Hand seine vor Kälte weiß gewordene Nase zu reiben. "Einsparungen, mein Lieber, Einsparungen", seufzte der Hofastronom und zeigte seine Hände, die in wollene Handschuhe mit halben Fingern staken. "In den Türmen wird halt an der Heizung gespart. Aber Ihr habt ja ohnehin immer ein Feuer bei Euch brennen, da merkt Ihr das wahrscheinlich gar nicht." "Das Feuer brauche ich von Berufs wegen. Aber wie haltet Ihr das im Winter nur aus? Es ist ja noch nicht einmal richtig Herbst." "Oh, das ist halb so schlimm", sagte der Hofastronom wegwerfend. "Einmal gewöhnt man sich an die Kälte, zum Zweiten habe ich hier einen ganzen Stapel warmer Decken zur Verfügung, und zum Dritten kümmere ich mich während der kältesten Wintermonate vor allen Dingen um die Uhr im Thronsaal, und da ist immer gut geheizt." Mit einem verschwörerischen Grinsen verabschiedete der Hofastronom seinen Konkurenten. * * * Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)