Die Mysterien von Tohoku von MieseBrise ================================================================================ Kapitel 1: Holpernde Anfänge ---------------------------- Ein dumpfes Klopfen weckte Jason Greco aus dem Schlaf. Widerwillig öffnete er seine Augen um einen Spalt und zog die Bettdecke genau ausreichend zurück, um seine Umgebung zu betrachten. Das Sonnenlicht, das sich durch die Schlitze seines Rollladens schlich, tauchte sein Zimmer in ein angenehmes Zwielicht und enthüllten die Unordnung, die er am Vortag zurückgelassen hatte. Klamotten bedeckten jede freie Fläche seines Fußbodens, als hätte ein Wirbelwind jegliche Schubladen seines Kleiderschranks geleert, um sie mit gezielter Absicht auf Chaos in seinem Zimmer zu verteilen. Jasons Blick schweifte weiter durch den Raum, immer noch schlaftrunken aber entschlossen, die Ursache seines unsanften Aufwachens zu finden. Die Wände waren mit Postern von berühmten Trainern und Champions zugepflastert, sodass die hellgrüne Tapete dahinter kaum noch zu erspähen war. Jason sah sich weiter um. Sein Schreibtisch war nicht weniger unordentlich wie der Rest seines Zimmers. Zahllose Skizzen von verschiedenen Pokémon stapelten sich darauf, sowie verschiedene Kabel und sein PokéCom. Das Gerät war zwar ein veraltetes Modell, aber es war nach wie vor sehr zuverlässig. Außerdem weigerten sich seine Eltern, ihm die neuesten Modelle zu kaufen. Jason konnte beinahe die Stimme seines Vaters vernehmen, dass man für Luxus hart arbeiten müsse. Etwas angefressen von der mentalen Standpauke setzte sich Jason auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Durch seine Verschlafenheit konnte er erst jetzt den rhythmischen Klang des Radios erkennen, der vom sich Erdgeschoss durch seine Tür schlich. Seine Mutter war wohl schon aufgestanden. Jason ließ sich wieder in sein Kissen zurückfallen, entschlossen, noch eine Weile verstreichen zu lassen, bevor er aus dem Bett kriechen würde. Dieser Entschluss wurde durch ein erneutes Klopfen, beinahe schon Krachen, das mit einem lauten Krächzen begleitet wurde, gebrochen. Entnervt sprang Jason auf. Das Geräusch kam überraschenderweise nicht von seiner Tür, sondern von dem gesenkten Rollladen seines Fensters. Er bahnte sich einen Weg durch die Kleiderhaufen auf seinem Boden und schob den Rollladen kraftvoll hoch, um den Störenfried zu vertreiben. Die Strahlen der Sonne begrüßten ihn mit geballter Kraft und blendeten Jason, sodass er seinen Blick abwenden musste. Als er schließlich keine Sterne mehr sah und seine Augen sich fokussierten, konnte er die Kreatur erblicken, die ihn so unsanft aus seinem Schlummer gerissen hat. Vor ihm saß ein kleiner Vogel mit schwarzem Gefieder und einer zylinderähnlichen Federformation auf dem Kopf. Das Kramurx neigte seinen Kopf zur Seite und klopfte ein weiteres Mal mit seinem Schnabel gegen die Scheibe, als ob es Jason mit Absicht auf die Nerven gehen wollte. Jason riss das Fenster auf und wedelte mit den Armen. „Zisch ab“ knurrte er. Das Kramurx stob hämisch schnatternd auf und segelte davon. Jason konnte nun von seinem Fenster das mehrere Hektar große, eingezäunte Grundstück beobachten. Das Gelände war in verschiedene Sektionen unterteilt, um jedem Pokémon einen optimalen Lebensraum anzubieten. Er erblickte Gestein Pokémon, die sich auf felsigem Untergrund in der Sonne räkelten, Menkis und ein Griffel, die sich im Waldareal um die dort wachsenden wilden Beeren zankten und dabei zahlreiche weitere Pokémon aufscheuchten und eine Herde von Ponita, die über die weitreichende Ebene galoppierten. Im Hintergrund schillerte sogar ein See, auf dem Pokémon schwammen oder am Ufer rasteten. Seine Eltern hatten sich hier nach ihren Karrieren als Trainern niedergelassen, um einen Pokémon-Hort zu eröffnen. Menschen, die keine Zeit oder nicht in der angemessenen Umgebung für ihre Pokémon leben, können sie hier absetzen oder sogar trainieren lassen. Jason grummelte und wandte sich von seinem Fenster ab und fing an, seine Klamotten für diesen Tag zusammenzusuchen. Er spürte, wie sich Vorfreude in ihm aufwallte und den bisherigen Missmut vertrieb. Heute war sein 16. Geburtstag und er war sich sicher, dass ihm heute ein sehr besonderes Geschenk gegeben wird. Mit neugefundenem Elan begann er in den Bergen von Klamotten nach seinem Overall zu suchen. Dabei konnte er einen Blick auf sein Aussehen in seinem Spiegel erhaschen, der an seinem Kleiderschrank hing. Wilde, braune Locken die bis zu seinen Schultern reichten umrandeten sein Gesicht. Er hatte ausgeprägte Wangenknochen und einen breiten Kiefer, die ihn gut aussehen lassen würden, wären nicht die dunklen Augenringe, durch die nur seine abenteuerlustig schimmernden grünen Augen herausstachen. Jason konnte seinen Overall ausfindig machen und sprang quasi in das widerstandsfähige Kleidungsstück hinein, bevor er aus seinem Zimmer eilte, weshalb er fast die Treppe herunterpolterte. Der Duft von frisch gebackenem Brot empfing Jason im Grundgeschoss. Die Musik war hier lauter und er konnte seine Mutter hören, wie sie den Liedtext mitsang. Er umrundete den Türrahmen und rief: „Guten Morgen, Mama!“ Sie ließ einen kleinen Schrei von sich und wirbelte herum. Jasons Mutter rannte ungestüm auf ihn zu und warf ihre Arme um Jason. Dabei rammte sie versehentlich ihren Kopf in seine Brust, was ihm kurz die Luft wegnahm. „Alles Gute zum Geburtstag, Schatz“ ließ sie von sich und drückte dabei noch fester zu, was beeindruckend für ihre kleine Statur war. Sie nahm ihr Gesicht aus Jasons Brust und strahlte ihn an. Sie besaß dieselben wilden Locken und Augen wie Jason, wobei die braune Farbe ihres Hauptes von grauen Strähnen unterbrochen wurden und ihre Augenwinkel ausgeprägte Krähenfüße aufwiesen. „Mama lass mich los. Du bist so peinlich“ nörgelte Jason mit einem Halbgrinsen und gab seiner Mutter einen schnellen Kuss auf ihre Wange. „Sei nicht so gemein zu mir, ich habe dich doch nur lieb“ witzelte sie zurück und wies auf einen freien Stuhl am Esstisch. „Setz dich, du hast sicher Hunger. Dein Vater und ich haben schon den ganzen Morgen auf dich gewartet. Er hat gemotzt, dass du so lange schläfst, aber…“ Wörter entsprangen ihrer Lunge wie ein reißender Fluss, doch für Jason war dies nur ein dumpfes Hintergrundgeräusch. Er hatte die kleine Box in buntem Geschenkpapier auf dem Tisch erspäht. Seine Fingerspitzen kribbelten, als er realisierte, dass der Behälter die passenden Dimensionen für einen Pokéball hatte. Seine Gedanken rasten und die Zeit um ihn herum stand still. Hatte er endlich das Vertrauen seiner Eltern? Welches Pokémon würde er bekommen? Wann kann er aufbrechen? Wie lange wird er brauchen, um seine Schwester einzuholen? Ein liebevoller Klaps brachte ihn in die Realität zurück. Jason schüttelte kurz den Kopf und blickte zu seiner Mutter, die ihn mit einem vorwurfsvollen Blick strafte. „Du hast mir ja gar nicht zugehört! Das Geschenk gibt es erst nach dem Essen. Du sollst nicht noch dünner werden. Jetzt iss!“ befahl sie und wies auf den Tisch, auf dem sich nun ein mit verschiedenen Eigerichten, Käsestückchen und belegten Broten bespickter Teller befand. Jason setzte sich widerwillig und begann das Essen so schnell wie möglich herunterzuschlingen. Seine Mutter rollte mit ihren Augen und tadelte: „Nicht so hastig, dir klaut niemand was!“ Jason antwortete nur mit einem gehobenen Daumen, während er sich weiter den Mund vollstopfte. „Kommt Medea?“ schaffte er, zwischen dem halbgekautem Essen in seinem Mund hervorzustoßen. „Sie kommt leider nicht“ antwortete seine Mutter und ließ ihm einen bedauernden Blick zukommen. „Deine Schwester ist auf einer Pressetour in Kalos und kann es zeitlich nicht schaffen. Aber sie will später anrufen.“ Jason verspürte einen kurzen Stich der Enttäuschung in seiner Brust, der seiner Aufregung schnell wieder wich. Mit einem trockenen Schluck schaffte er es, den Rest seines Frühstücks herunterzuwürgen und widmete seine volle Aufmerksamkeit der verpackten Box auf dem Tisch. Seine Mutter gab ihm ein aufforderndes Lächeln und Jason begann, das Geschenkpapier aufzureißen. Er spürte, wie seine Hände zitterten und mit jedem Riss des Papiers schlug sein Herz ein Stück höher. Seine Atmung wurde schneller und schneller, bis sie auf einmal gänzlich aussetzte. Er spürte, wie sich sein Magen zusammenzog und es fühlte sich an, als ob jemand ihm einen Haken in den Bauch verpasst hätte. Vor ihm lag eine kleine Box. `PokéCom Modell 5 made by Kronos Inc.` war darauf zu lesen. Jason spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete und er versuchte, seine Enttäuschung nicht nach außen zu vermitteln. Nein, es war keine Enttäuschung. Es fühlte sich nicht an wie Enttäuschung. Es war Leere. Eine abgrundtiefe emotionale Leere, von der es keine Hoffnung des Entkommens gab. „Ich hoffe, dass es dir gefällt. Dein Vater und ich haben gesehen, wie hart du uns auf dem Grundstück hilfst und wir waren uns einig, dass du eine Belohnung verdient hast.“ Die Worte rissen ihn aus seiner Trance. Er begann wieder, die Welt um sich herum wahrzunehmen. Doch sein Gehirn schaffte es nicht, eine Antwort zu formulieren. Jason saß schweigend auf dem Stuhl. Er spürte die Hand seiner Mutter auf seiner Schulter. „Ich weiß, dass du auf etwas anderes gehofft hast. Ich verspreche die, dass ich in den nächsten Tagen mit deinem Vater zu reden über dein…“ „Alles gut“ Jason erhob sich hastig. Seine Mutter suchte seinen Blick, doch er hatte seine Augen auf den Boden gerichtet. „Mir gefällt es gut“ sagte er etwas halbherzig. „Ich muss los, die Pokémon müssen gefüttert werden.“ Glücklicherweise hakte seine Mutter nicht weiter nach, sodass er die Küche in Richtung der Terassentür verlassen konnte. Dabei führte ihn sein Weg durch den Flur des Hauses, welcher mit mehreren Vitrinen geschmückt war, die mit zahlreichen Trophäen und Medaillen bestückt waren. Jason versuchte vergeblich, diesen keinen Blick zu würdigen, doch er spürte, wie sein Körper entgegen seinem Willen am Herzstück des Flurs stoppte. Vor ihm befand sich ein großer Glasschrank, der drei gewaltige Pokale beinhaltete. Alle drei waren identisch, fast einen halben Meter groß und aus Silber gegossen. Auf jedem war eine Plakette zu finden, auf der ein Name mit der Inschrift `Sieger der Tohoku Konferenz` graviert war, begleitet von einem eingerahmten Foto. `Aison Greco`, `Polymea Argo`. Jason spürte einen Schwall der Wehmut in seiner Brust aufwallen, als er die Pokale und Bilder betrachtete. Die jungen Antlitze seiner Eltern strahlten ihm entgegen, der Sieg des Turniers hatte zu diesem Zeitpunkt ihre ultimative Errungenschaft ihrer Trainerkarriere dargestellt. Er stockte, als sein Blick an dem neuesten Pokal ankam. Die Trophäe war sichtbar neuer und besaß die zusätzliche Verzierung eines faustgroßen Rubins, der über dem eingravierten Namen eingesetzt wurde. `Medea Greco`. Wie ein elektrischer Schock schoss Neid durch Jasons Adern, sodass er seine Hände zu Fäusten ballte. Auf dem Foto war ein Mädchen zu sehen, die von seinen Eltern und ihm selbst umringt war und wie verrückt in die Kamera grinste. Sie war jung, kaum 14 Jahre alt und besaß dieselben unzähmbaren braunen Locken wie Jason und seine Mutter. Sie hielt den massiven Pokal so fest, dass man selbst auf dem Bild sehen konnte, wie ihre Knöchel an der Hand hervortraten. Jason zwang sich, sich von dem Schrank abzuwenden. Tränen hatten sich in seinen Augenwinkeln angesammelt, welche er sich hastig aus den Augen wischte. Es hatte keinen Sinn der Eifersucht nachzuweinen. Mit einem tiefen Atemzug tätigte er die letzten Schritte zu der Terassentür und öffnete sie. Die frische Luft kitzelte Jasons Nase und er atmete erneut tief durch. Seine Ohren konnten alle möglichen Geräusche wahrnehmen. Er legte den Kopf in den Nacken und blickte in den Himmel. Es war ein perfekter Frühlingstag, die Sonnenstrahlen hatten eine angenehme Wärme und es war weit und breit keine Wolke zu sehen. Ein erfreutes Quietschen ließ Jason aufhorchen. „Guten Morgen Nyx“ begrüßte Jason ein fuchsähnliches Pokémon mit schwarzem, von gelben Ringen gespickten Fell, das es sich auf dem Kissen einer an dem Vordach angebrachten Himmelsschaukel gemütlich gemacht hatte. Ein Paar scharlachrote Augen starrten ihm erwartungsvoll entgegen. Mit einem Grunzen rollte es sich auf den Rücken und gab ihre Unterseite preis. Jason schlenderte zu dem Nachtara und begann den Bauch ausgiebig zu kratzen, was zu einem enthusiastischen Hecheln führte. Nyx war die erste Partnerin seiner Mutter gewesen und sie waren immer noch quasi unzertrennlich. Sie war aber vor allem mit dem Alter immer fauler geworden und vertrieb den Großteil ihrer Zeit schlafend in der Sonne. „Kannst aber nicht mal aufstehen, um mir zu Geburtstag zu gratulieren, na?“ stichelte Jason und kraulte das Nachtara dabei unter dem Kinn. Als Antwort bekam er nur ein Keckern, was Jason ein leichtes Lächeln entlockte. „So das reicht erstmal. Ich komme später wieder aber nur wenn du auch wach bist.“ Jason stoppte das Liebkosen, woraufhin Nyx ihre Augen schloss und ihren Kopf im Kissen vergrub. Schon kurz darauf war das rhythmische Geräusch von Schnarchen zu vernehmen. Jason rollte nur mit den Augen und machte sich in Richtung des Haushorts auf. Der Haushort war ein Gartenhaus, das in einen Lebensraum für Pokémon, welche nicht in der Wildnis geboren waren, umgewandelt wurde. Jason öffnete die Tür und musste sich ein resigniertes Seufzen verkneifen. Vor ihm lagen zwei Reihen von nebeneinanderliegenden Ställen, die mit jeweils einem Gast besetzt waren. Er nahm eine Tüte des dort aufbewahrten Trockenfutters und fing an, seine Runde zu machen. Im ersten Stall blickte er in die glasigen Augen eines Snubulls. „Guten Morgen, Kleine. Hier hast du dein Frühstück.“ Sprach Jason dem pinken Hund zu und füllte ihre Futterschale. Das Snubull wandte ihren Blick zu der gefüllten Schale, dann wieder zu Jason und leckte sich träge die Popel von der Nase. „Du bist nicht wirklich die Hellste, oder?“ murmelte Jason, woraufhin das Pokémon ihn langsam anblinzelte, wobei ein Auge dem anderen eine halbe Sekunde hinterherhinkte. Jason wandte sich ab und widmete sich den anderen Ställen. Er spürte, wie sein Körper den Autopiloten aktivierte und seine Gedanken fingen erneut an zu wandern. Die Arbeit im Haushort war langweilig und einfach, so einfach, dass es ein kleines Kind erledigen könnte. Deshalb hasste Jason diesen Job. Die Pokémon, die sie hier aufnahmen, waren zahm und ungefährlich. Jeglicher Überlebenssinn war ihnen von Geburt an abtrainiert worden. Sie wuchsen in einer häuslichen Umgebung auf, die Wildnis hatten sie keine Sekunde erlebt. Jason wusste nur zu gut den Grund, warum er zu dieser Arbeit verdonnert wurde. Vor einigen Jahren hatte er sich verletzt, als er ein Pokémon für seine Reisen fangen wollte. Er konnte sich nicht mehr genau an den Ablauf des Tages erinnern. Er ist auf eigene Faust mit einem Pokéball in den angrenzenden Fichtenwald gewandert, danach erinnert er sich nur noch an einen brennenden Schmerz in seiner Brust und die Sicht der Baumkronen, als er am Waldboden lag. Er wachte nach mehreren Tagen in dem Krankenhaus der nächstgelegenen Stadt Basshaven auf. Seitdem hatte sein Vater ihm verweigert, ein eigenes Pokémon zu geben, ganz zu schweigen ihn auf eine Reise durch Tohoku zu lassen. Und es schien unmöglich, seinen Vater vom Gegenteil zu überzeugen. Jason war schnell mit seiner Runde fertig. Es war unmöglich, diese Aufgabe falsch zu machen. Er verließ das Gartenhaus und blickte umher. Er erkannte das entfernte Glitzern des Seeufers und er begann, in diese Richtung zu wandern. Der See, oder auch Tümpel wie Jason ihn gerne nannte, erstreckte sich so weit das Auge reichte. Das Wasser war kristallklar, sodass man die Fische, die in dem See schwammen, erkennen konnte. Am seichten Ufer wälzten sich eine Horde Felino unter der Aufsicht eines Morlord, doch Jason hielt nach einer anderen Kreatur Ausschau. Es dauerte nicht lang, bis er fündig wurde. Auf einem kleinen Felsen konnte er einen Haufen grüner Schuppen ausfindig machen. „Hallo Fafnir“ rief Jason und rannte auf das Pokémon zu. Ein gewaltiger Kopf erhob sich und schnaubte etwas genervt, bevor es einladend grollte. Jason erklomm den Felsen und begann die Schnauze von Fafnir zu kratzen, dem schillernden Dragoran und ehemaligen Ass seines Vaters. Heutzutage war er allerdings nur noch ein Friedensstifter im Hort, sollten sich zwei Pokémon zu sehr zanken. Das Dragoran peitschte mit seinem Schweif und ließ ein lautes Schnurren von sich, was jedes Atom in Jasons Körper vibrieren ließ. Nach kurzer Zeit lehnte sich Jason an Fafnirs Körper zurück und zückte sein Tagebuch aus einer Tasche seines Overalls. Die Seiten waren mit zahllosen Illustrationen und Skizzen von Landschaften und Pokémon geschmückt. Jason war ein sehr guter Zeichner und er genoss es, Papier mit Abbildungen zum Leben zu bringen, aber es stellte auch einen Weg dar, seine Fantasien in diese Welt zu bringen. Die ersten Seiten beinhalteten grobe Zeichnungen von ihm selbst mit seinem imaginären Team, mit dem er Kämpfe bestritt und Preise gewann. Mit der Zeit wurden solche Bilder allerdings seltener und wichen schließlich gänzlich aus dem Buch. Jason verbrachte den restlichen Morgen und den Anfang des Mittags damit, seine Umgebung zu betrachten und bei Gelegenheit zu zeichnen. Er zählte Karpador, die aus dem Wasser in die Luft sprangen und sogar ein Garados, das den Kopf aus dem Wasser steckte. Dieses verschwand jedoch schnell wieder unter der Wasseroberfläche, als es Fafnir erblickte. Jason genoss die idyllische Stille des Tümpels, die nur durch das allmähliche Schwappen des Wassers unterbrochen wurde. Jason schloss die Augen und driftete allmählich in den willkommenen Abgrund des Schlafs. Ein ohrenbetäubendes Klingeln durchbrach die Stille wie ein Blitz den Nachthimmel. Bereits zum zweiten Mal an diesem Tag wurde Jason unsanft aus dem Schlaf gerissen. Er riss die Augen auf und blickte panisch umher. Mehr als eine Schar Taubsi, die davonstob und ein Hoothoot, das von einem Ast fiel konnte er nicht erkennen. Das Klingeln ertönte erneut und er fischte seinen neuen PokéCom aus seiner Tasche und akzeptierte den Anruf. „Hä“ murmelte er verschlafen in das Mikrofon. „Hi Jason, ich bins, Medea. Ich wollte kurz anrufen um dir alles, alles Gute zum Geburtstag zu wünschen. Ich wollte so gerne heute vorbeikommen, aber ich bin zurzeit so im Stress, du kannst es dir nicht vorstellen.“ Die Stimme seiner Schwester schwallte aus dem Lautsprecher des Mobiltelefons. Jason fühlte, wie sich Fafnir unter ihm regte. Der Drache war wohl ebenso aus seinem Schlummer erwacht. „Wie geht es dir? Hat dir Papa endlich ein Pokémon gegeben? Wie geht es Mama? Oh Mann, wäre ich gerne daheim, aber ich habe so viele Termine.“ „Ok“ war das Einzige, was Jasons Mund entwich. Seine Neuronen spielten Flipper und er fühlte, wie sein Gehirn von der Konversation schmerzte. Seine Schwester hatte das Talent des ununterbrochenen Wortschwalls wohl von ihrer Mutter geerbt. „Oh das freut mich so für dich! Dann muss ich erst recht vorbeikommen. Jemand muss dir ja zeigen, wie man richtig kämpft. Okay ich muss jetzt los. Ich hab dich lieb, Kleiner!“ Seine Schwester war so schnell wieder weg, wie sie gekommen war. Jason blickte verdutzt auf den Bildschirm seines PokéComs, bevor er resigniert aufstöhnte. In den vier Jahren, seitdem seine Schwester die Konferenz gewonnen hatte, hatte er sie ganze fünf Mal gesehen. Sie wurde nach ihrem Sieg über Nacht ein globaler Superstar, da sie die jüngste Siegerin in der Geschichte des Wettbewerbs war. Seitdem reiste sie um die Welt, um an globalen Turnieren teilzunehmen und stärker zu werden. Doch Jason vermisste sie trotzdem, egal wie sehr er ihren Ruhm gönnte. Fafnir hob seinen Kopf und öffnete sein Maul. Mit seiner massigen Zunge verpasste er Jason eine saftige Speicheldusche, wohl ein Versuch, um ihn aufzuheitern. Jason grummelte widerwillig und versuchte vergeblich, den spielerischen Angriff des Drachens abzuwehren. Ein Krachen ertönte, das Jason und Fafnir aufhorchen ließ. Sein Vater hat wohl die tägliche Trainingslektion angeläutet. Jason verabschiedete sich kurz von dem Dragoran und machte sich auf den Weg in die Richtung der Kampfgeräusche. Jason erspähte eine geebnete Fläche des Grundstücks, das von kleinen Löchern und Brandflecken gespickt war. Darauf standen sich ein schwarzes Pokémon mit gebogenen Hörnern und ein braun gestacheltes Pokémon mit jeweils zwei langen Klauen an jeder Pfote gegenüber. „Noch einmal Hundemon!“ Eine tiefe Stimme donnerte über den Platz. Das Hundemon knurrte kurz, bevor es sein Gewicht auf seine Vorderpfoten verlagerte und seine Fänge in loderndem Feuer tränkte. Mit einem Satz begann es in die Richtung des anderen Pokémon, ein Sandamer, zu sprinten. Das Sandamer machte einen kleinen Sprung in die Luft und benutzte das Momentum, um sich blitzschnell im sandigen Boden zu vergraben. Das Hundemon schnappte in ins Leere und begann, sich hastig umzusehen. Es schnupperte, um den Igel unter dem Boden zu finden. Das Sandamer tauchte ein paar Meter entfernt auf, worauf das Hundemon erneut angriff. Es war wieder zu spät, da der Igel erneut unter der Erde verschwand. „Stopp!“ hallte die Stimme erneut. Ein großgewachsener Mann mit Armen so umfangreich wie der Körper eines Vipitis trat entschlossen auf den Kampfplatz. Seine Glatze schimmerte in der Mittagssonne, wobei die einzigen Haare seines Kopfs von seinen buschigen Augenbrauen und dichten Schnauzer stammten. Jason sah seinem Vater zu, wie er den Höllenhund tadelte, bevor er näher schritt. „… deshalb benutz die Ohren, um Gegner unter dem Boden zu orten, nicht die Nase!“ donnerte er, bevor er innehielt, als er seinen Sohn erblickte. „Kurze fünf Minuten Pause.“ Ein breites Grinsen schmückte das Gesicht des Mannes als er auf ihn zuging. „Alles Gute, mein Sohn“ polterte er und gab Jason die Hand. Dieser konnte gerade so ein Winseln verhindern, da der Griff seines Vaters einer Hydraulikpresse ähnelte. „Ich hoffe du bist zufrieden mit deinem Geschenk. Es war sehr teuer und du weißt ja, dass nur harte Arbeit…“ dröhnte er weiter, doch Jason hatte längst abgeschaltet, da er dieselbe Rede bereits millionenfach gehört hatte. Was ist los mit seiner Familie und Monologen? Sein Blick wanderte zu dem Hundemon, dass vor Frust kleine Feuerbälle auf den sandigen Boden schoss und diesen in kleine Glasstücke verwandelte. Jason empfand ein wenig Mitleid für den Hund. Er würde verrückt werden, wenn er den ganzen Tag seinem Vater zuhören musste, wie er jedes kleine Detail kritisiert. Nicht, als ob das ihm noch nie widerfahren ist. „Meinst du, ich kann ein bisschen zusehen?“ fragte Jason und unterbrach seinen Vater damit. Dieser schien kurz nachzudenken. „Gut, weil es heute dein Geburtstag ist. Aber pass auf und halte genug Abstand!“ Jason verdrehte die Augen und schritt einige Meter zurück. Er setzte sich in das kurze Gras und widmete der Trainingseinheit seine volle Aufmerksamkeit. Die nächsten Stunden vergingen wie im Flug. Das Hundemon schaffte es nicht, das Sandamer zu erwischen, sodass es am Ende der Einheit unter einer Kritikbarrage von Jasons Vater von dem Platz kroch. Das Sandamer grunzte nur selbstgefällig und fing an, an einem Stein zu knabbern. Auf einmal rollte ein tiefes Grollen über die Ebene, was Jason aufhorchen ließ. Er blickte zu seinem Vater, doch dieser war dieses Mal nicht der Ursprung des Geräuschs. Dieser schaute auf den Horizont, woraufhin Jason seinem Blick folgte. Finstere Gewitterwolken hatten sich dort aufgebaut und folgten dem Wind in ihre Richtung. „Deck alles ab, was nicht nass werden soll. Schnell!“ befahl Jasons Vater. Dieser gehorchte sofort und eilte zu dem Haushort. Das Snubull hatte tatsächlich realisiert, dass etwas Essbares in ihrer Schüssel war und ist deshalb selbstverständlich in der halbgegessenen Mahlzeit eingeschlafen. Jason rümpfte nur die Nase und begann, alle Fenster zu verriegeln und Türen zu verschließen. Danach deckte er die Terrasse ab, wobei er eine missmutige Nyx in das Haus scheuchen musste. Die Wolken waren mittlerweile schnell nähergekommen und die Luft war dick geworden, sodass Jason Schwierigkeiten hatte, zu atmen. Er flüchtete in das Haus, bevor die ersten Regentropfen den Boden berührten und er sah zu, wie sein Vater ihm kurz darauf folgte. Es schien, als ob selbst der Himmel Respekt vor Jasons Vater hatte, da es anfing, aus allen Kübeln zu schütten, sobald der Mann die Türschwelle überquert hatte. Das Prasseln war ohrenbetäubend und wurde nur von dem gelegentlichen Poltern des Donners übertönt, welcher das Fundament des Hauses zum Ächzen bringen schien. Jason schlenderte durch die Wohnung und traf auf seine Mutter, die ihn strahlend am Arm griff und in das Wohnzimmer führte. „Komm schnell mit, deine Medea ist gerade im Fernsehen!“ blubberte sie enthusiastisch und warf ihn beinahe auf die Couch. In der Tat lief gerade eine Talkshow und er konnte seine Schwester erkennen. Sie hatte sich verändert, ihre Haare waren kürzer und sie hatte sich in ein enges Kleid gezwängt, im Gegenteil zu ihrer üblichen Bekleidung von lockeren Hosen und weiten Shirts. Doch Jason konnte sich nicht auf das Programm konzentrieren. Vor ihm lag die immer noch geschlossene Verpackung seines neuen PokéComs. Alle Gefühle der Frust und Trauer, die er über den Tag hinweg unterdrückt hatte, begannen sich wieder in sein Bewusstsein zu bohren. Jason meinte, er würde einige Zentimeter in das Polster des Sofas sinken und er nahm gerade so wahr, wie sich seine Eltern am anderen Ende der Couch niederließen und ein lockeres Gespräch führten. Er spürte, wie sich die Leere, die er auch schon am morgen empfunden hatte, sich in einen überwältigenden Eindruck der Hoffnungslosigkeit entwickelte und er schluckte trocken. Er würde wohl nie aus diesem Haus entkommen. Einige Stunden vergingen und der Sturm war größtenteils vorbeigezogen, doch das Gewitter in Jasons Kopf war alles andere als aufgelöst. Er hatte kein Wort gesprochen, seitdem er das Haus betreten hatte. Sein Frust war einer brodelnden Wut gewichen, die wie Magma in seinem Herzen blubberte und nur ein kleiner Funken fehlte, um diesen Vulkan ausbrechen zu lassen. Mittlerweile hatte seine Mutter das Abendessen serviert. Seine Eltern und er saßen am Esstisch, doch er stocherte nur appetit- und lustlos in seinem Essen rum. Seine Mutter berührte ihn am Arm, um seine Aufmerksamkeit auf sie zu leiten. „Du bist heute so still Jason. Dein Vater war früher genauso still. Ich glaube, er war schüchtern“ kicherte sie in einem Versuch, Jason aufzuheitern. „Bei unserem ersten Date hat er so schlimm gestottert, dass ich ihn gar nicht verstanden habe.“ Jasons Vater protestierte lautstark, doch Jason schwieg weiter. Hilfesuchend blickte seine Mutter zu seinem Vater, der sich kurz räusperte und seine Stimme erhob. „Das stimmt nicht so ganz. Du weißt ja, dass ich deine Mutter bei der Konferenz kennengelernt habe. Wir standen beide im Finale und als sie mich besiegt hatte, wusste ich, dass ich diese Frau heiraten muss.“ Er drückte die Hand seiner Frau sanft und sah ihr liebevoll in die Augen. „Ich wollte keinen Fehler machen und sie nicht abschrecken. Zum Glück wollte sie mich trotzdem haben und ich bereue seitdem keinen Tag.“ Jasons Mutter quietschte erfreut und gab ihrem Mann einen schnellen Kuss, doch Jason spürte, wie das Brodeln in seinem Herzen unaushaltbar hochschwappte. Ein roter Schleier legte sich über seine Sicht und seine Wut suchte nach einem Ausgang aus seinem Körper. „Warum könnt ihr mir dann nicht erlauben, auch solche Erfahrungen zu machen?“ stieß Jason hervor. Stille. Jason blickte panisch auf. Er hatte nicht beabsichtig, so etwas zu sagen, doch der Damm war gebrochen. „Warum?“ hakte er nach, wobei seine Stimme zitterte. Der Blick seines Vaters war versteinert. Es fühlte sich an, als wären die Wolken des Sturms zurückgekehrt und zirkelten um den Kopf seines Vaters. „Du weißt ganz genau warum“ brachte dieser zwischen knirschenden Zähnen hervor. „Seit dem Unfall sind Jahre vergangen. Ich bin eine ganz andere Person geworden. Ich…“ flehte Jason, doch sein Vater fiel ihm ins Wort. „Weil ich dir nicht Vertrauen kann. Ich werde nicht zulassen, dass man deinen Körper in ein paar Wochen in einem Graben findet.“ Die Stimme seines Vaters donnerte durch das Zimmer. „Beruhigt euch bitte, nicht am Tisch“ versuchte seine Mutter vergeblich, doch der Streit war nicht mehr aufzuhalten. „Das kannst du nicht wissen. Du verbringst den ganzen Tag mit deinen Pokémon, wir kennen uns kaum. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll, um dich umzustimmen“ rief Jason aus, wobei sich seine Augen mit Tränen füllten. „Weil du weigerst, dich zu ändern. Würde ich dir erlauben, ein Pokémon zu fangen, würdest du wieder in den Wald rennen und dich verletzen oder sterben. Du kannst die Gefahr nicht erkennen, selbst wenn sie vor deinem Gesicht tanzt. Und ich weigere mich mein zweites Kind an den Weg des Trainers zu verlieren“ konterte sein Vater und gestikulierte wild um sich. Jason sprang auf, sodass sein Stuhl krachend umflog. Seine Tränen konnte er nur mit großer Mühe zurückhalten. „Wie soll ich auch Gefahren erkennen, wenn du mich zu den Haustieren in den Haushort steckst und mir keine andere Verantwortung gibst. Ich warte jeden Tag darauf, dass ich ins Bett gehen kann, weil ich es hier nicht mehr aushalte. Ich merke wie meine Träume hier sterben.“ Jason schluckte und trat einen Schritt zurück. „Ich kann nichts dafür, dass du alles um dich kontrollieren musst. Medea hat es geschafft zu entkommen und du tust alles, dass ich es nicht schaffe.“ Er bereute die Worte bereits, als sie seine Lippen verließen. „Es reicht!“ brüllte sein Vater und rammte seine Faust auf die Tischplatte, die wunderlicherweise nicht in tausend Stücke zersprengt wurde. Jason schniefte nur und wandte sich ab. Er sprintete zu der Haustür hinaus, wobei er die Rufe seiner Eltern ignorierte. Der erdige Petrichorgeruch überwältigte seine Nase, als er das Haus verließ. Eine große Träne rollte seine Wange herunter und er konnte sich nicht davon abhalten, zu schluchzen. Die Wut war gänzlich seinem Körper entwichen und hinterließ ihn mit einer gewaltigen Erschöpfung. Sein tränenverschleierter Blick wanderte und er erblickte den nahen Rand des Waldes, in dem er verletzt wurde. Doch etwas stimmte nicht. Er wischte die Tränen aus seinen Augen und versuchte, seine Sicht zu fokussieren. Es war mittlerweile dunkel geworden, sodass man ohne Licht nichts erkennen würde, aber er konnte Kampfgeräusche vernehmen. Jason kniff die Augen zusammen. Ein Blitz am Horizont erhellte seine Umgebung kurz, aber es reichte aus, dass er zwei Umrisse am Waldrand etwa 100 Meter von ihm entfernt ausmachen konnte. Ein großer, orangegepanzerter Käfer mit einem gewaltigen Pilz auf dem Rücken, der ein sich windendes, weißes Etwas in seinen Klauen festhielt. Er spürte, wie sein Atem ihn verließ. Er musste helfen. Jason spürte den festen Griff seines Vaters. „Bitte komm wieder rein. Es tut mir leid.“ Er konnte die Besorgnis in der Stimme seines Vaters hören. Er ist wohl vom Schlimmsten ausgegangen, als Jason von ihrer Konversation geflohen ist. „Es braucht meine Hilfe“ brachte Jason hervor, wobei seine Augen weiterhin in die Distanz gerichtet waren. „Wovon redest…“ begann sein Vater, doch Jason wand sich mit all seiner Kraft frei und begann, in Richtung des Walds zu sprinten. Er konnte hören, wie sein Vater ihm Befehle hinterherbellte, doch der Junge ignorierte diese. Der Boden war matschig und jeder Schritt fühlte sich an, als ob tausende kleine Hände an den Sohlen seiner Schuhe zerrten, um ihn aufzuhalten. Jasons Entschlossenheit war jedoch stärker und er verkürzte schnell den Abstand zu den Pokémon. Seine Augen hatten sich schnell an die Dunkelheit gewöhnt und er verpasste dem Käfer, den er mittlerweile als Parasek ausgemacht hatte, einen Tritt. Er konnte zwar keinen Schaden anrichten, allerdings verlor das Parasek kurz das Gleichgewicht, weshalb seine Beute aus seinen Klauen kullerte. Jason klaubte das verletzte Pokémon auf und wirbelte herum. Er spürte, wie es sich kurz seinem Griff widersetzte, doch irgendwie schien es, dass Jasons Entschlossenheit zu Helfen es beruhigte. Er rannte zurück, doch er konnte das matschige Trippeln hinter sich vernehmen. Das Parasek würde nicht einfach so aufgeben. „Fafnir“ Er konnte die Stimme seines Vaters vernehmen. Einen Augenblick später landete etwas gewaltiges hinter ihm im Matsch, sodass Jason hinfiel, wobei er darauf achtete, nicht auf der Kreatur in seinen Armen zu landen. Er wandte sich um und konnte die massige, grüne Gestalt des Dragoran erkennen. Die Fassade des friedlichen Drachen war gebrochen, der Schutzinstinkt hatte ihn übernommen. Fafnir ließ ein gewaltiges Brüllen von sich, das jedes Pokémon in der Nähe aufschrecken ließ. Das Parasek floh hastig in den Schutz des Waldes zurück und eine neugefundene Stille legte sich. Jason führte sein Herz im Hals und er versuchte, seine Atmung zu beruhigen. Er hatte es geschafft. Ein breites Grinsen machte sich auf seinem Gesicht erkennbar und er betrachtete die kleine Kreatur in seinen Armen. Es hatte einen kleinen, weißen Körper. Auf dem Kopf ragte ein rotes Horn zwischen grünen Haaren hervor, die die Augen verdeckten. Es lag schlaff in seinen Armen. Jason fluchte. Er bedankte sich kurz bei dem schillernden Dragoran und eilte in das Haus, wobei er wortlos an seinen Eltern vorbeischritt. Im Licht der Küche hatte Jason die Gestalt als Trasla identifizieren können. Er hatte es mit einem Gegengift und mehreren Tränken behandeln müssen und es war auf dem Küchentisch in einen tiefen Schlaf gefallen. Daraufhin hatte er es in eine Decke gewickelt und sah dem kleinen Pokémon beim Schlafen zu. Eine tiefe Erschöpfung hatte sich in Jasons Körper breit gemacht, die alle anderen Gedanken überschattete. Sein Vater war seit dem Vorfall uncharakteristisch still. Er hatte sich gegenüber von seinem Sohn niedergelassen und hatte keine Miene verzogen. Jason spürte, wie sich der Blick seines Vaters in seine Haut bohrte. „Das hier ist genau das, wovon ich geredet habe. Du denkst nicht nach! Du hast…“ knurrte er, doch Jasons Mutter erhob ihre Stimme. „Es reicht! Hört auf!“ Ihre Stimme war lauter als gewöhnlich, sodass sowohl Jason, als auch sein Vater aufhorchten. Sie blickte die beiden mit einem gepeinigten Gesichtsausdruck an. „Jason, geh bitte ins Bett. Wir reden morgen nochmal.“ Jason gehorchte und hob das Trasla sanft auf, bevor er sich in sein Zimmer begab. Er legte das Pokémon in einem der verschiedenen Kleiderhaufen auf seinem Boden ab und fiel erschöpft in sein Bett. Es dauerte nicht lange, bevor er einschlief. Jason erwachte sanft. Er konnte seine Umgebung nicht erkennen, doch eine tiefe Friedlichkeit hatte seinen Körper erfasst. Er befand sich in einer weißen Leere, die sich so weit das Auge reicht erstreckte. Er blickte umher, doch konnte niemanden erkennen. Dankbarkeit. Ein Gedanke breitete sich in seinem Bewusstsein aus. Es waren keine Worte, sondern mehr das Konzept des Gefühls, dass er spürte. „Hallo?“ rief er in die Leere. Seine Stimme schien in der Unendlichkeit zu verschwinden. Ein Quietschen ließ ihn aufhorchen. Das Trasla war neben ihm erschienen und blickte zu ihm hinauf. Er konnte die roten Augen zwischen den Haarsträhnen aufblitzen sehen. „Wo sind wir?“ fragte Jason. Bilder und Empfindungen machten sich erneut in seinem Kopf breit. Er war zuerst von den Informationen überfordert, doch schaffte es sie allmählich zu sortieren. Traum. Er war in einem Traum. „Wir sind in einem Traum? Warst du das?“ fragte er erneut, worauf das Trasla nickte. Jason fühlte die Dankbarkeit erneut, doch dieses Mal war es von neuen Bildern begleitet. Das Trasla drückte eine Art Schuld aus, die es begleichen wollte, sowie eine tiefe Zuneigung für Jason. Er konnte ausmachen, dass es an seiner Seite bleiben wollte. „Du willst bei mir bleiben? Quasi als Partner?“ Jason spürte, wie sich ein dümmliches Lächeln auf seinem Gesicht breitmachte. Fühlte es sich so an, ein Trainer zu sein? Wenn ja, will er sich nie wieder anders fühlen. Das Trasla kicherte und streckte seine kleine Pfote aus. Es konnte wohl auch seine Gedanken lesen. Jason lachte und gab dem kleinen Trasla seine Hand. Ein warmer Sonnenstrahl kitzelte Jasons Nase. Er öffnete langsam seine Augen und sah sich in seiner gewohnten Umgebung um. Alles war so, wie er es am Abend zuvor zurückgelassen hatte. Die Ausnahme dazu bildete das Trasla, das an seiner Bettkante zu ihm hinauffunkelte. „Morgen“ nuschelte er und setzte sich auf. Er suchte sich schnell seine Klamotten zusammen und platzierte das Pokémon in der Bauchtasche seines Pullovers, bevor er die Treppe hinabstieg. Er hatte sich auf eine Konfrontation mit seinem Vater eingestellt, doch er fand nur seine Mutter, die scheinbar auf ihn gewartet hatte. Sie saß erwartungsvoll in der Küche und sie bemerkte Jason, als er über die Türschwelle schritt. „Hallo Jason“ begrüßte sie ihn und er rang sich ein Lächeln ab, unsicher, was er zu erwarten hatte. Er konnte nicht einschätzen, was seine Mutter empfand. Etwas unsicher setzte er sich und machte sich bereit, sich zu entschuldigen. „Bevor du etwas sagst, möchte ich reden“ begann seine Mutter, wobei sie mit dem Ring an ihrem Finger spielte. Sie tat so etwas nur, wenn sie nervös war. „Dein Vater und ich haben uns gestern und heute Morgen unterhalten und wir haben erkannt, dass du viele wahre Sachen gestern gesagt hast.“ Reue stach in Jasons Herz, als er an den gestrigen Abend zurückdachte. „Dein Vater und ich lieben dich, ich hoffe du weißt das. Wir wollen nur das Beste für dich und dadurch haben wir dir nicht immer zugehört. Wir vermissen auch deine Schwester und das hat dazu geführt, dass wir dir nicht immer Vertrauen geschenkt haben, weil wir wussten, dass wir dich nicht aufhalten können, wenn du losziehen möchtest. Das war egoistisch, wir sehen das ein.“ Sie machte eine kurze Pause. Es schien ihr schwerzufallen weiterzureden, weshalb sie eine Umhängetasche auf den Tisch legte und zu Jason schob. Sie atmete tief durch und erhob erneut ihre Stimme. „Wir haben uns beschlossen, dich auf Reise zu lassen, wenn du möchtest.“ Die Zeit um Jason verlangsamte sich und er blickte in die Augen seiner Mutter. Sie lächelte ihn an, doch er konnte eine Wehmut aus ihren Gesichtszügen erkennen. Ihr Ausdruck dämpfte seine Freude ein wenig, doch er konnte sich nicht davon abhalten, bis zu beiden Ohren zu grinsen. „Echt?“ rief er und sprang auf. Seine Mutter nickte und er umrundete den Tisch blitzschnell, um ihr eine kräftige Umarmung zu geben. Seine Gedanken rasten, als er sie losließ. Er konnte es nicht glauben. „Ich bin gleich wieder da“ gab er von sich und sprintete mit der Tasche in sein Zimmer und begann, wie in einem Rausch Klamotten und andere wichtige Gegenstände einzupacken. Dabei fiel ihm auf, dass die Tasche bereits mit einigen Pokébällen und Tränken, sowie dem neuen PokéCOm gefüllt war. Nach kurzer Zeit hatte er alles eingepackt und begab sich ins Wohnzimmer, wo er von beiden seiner Eltern empfangen wurde. Sein Vater sah etwas kleiner aus und vermied Augenkontakt. „Dein Vater hat sich bereiterklärt, dir ein Pokémon zur Verfügung zu stellen.“ Seine Mutter deutete auf einen Pokéball auf dem Wohnzimmertisch. Jason bedankte sich kurz bevor er innehielt. „Vielen Dank, aber das ist nicht notwendig“ antwortete er und nahm das Trasla aus seiner Tasche, bevor er es auf dem Fußboden absetzte. Es sah erwartungsvoll zu ihm hinauf, als er einen Pokéball aus seiner Tasche fischte und neben dem Pokémon platzierte. Es drückte ohne zu Zögern auf den zentralen Knopf der Kapsel und verschwand in einem gleißenden Licht, bevor ein Klicken signalisierte, dass das Pokémon gefangen war. Jason hob den Ball auf und betrachtete sein Spiegelbild in der polierten Oberfläche der Kapsel. Er verabschiedete sich ausgiebig von seiner Mutter, die ihn zahllose Schmatzer auf seine Backe verpasste. Danach wandte er sich seinem Vater zu. Der großgewachsene Mann blickte immer noch beschämt auf dem Boden, weshalb er überrascht war, als sein Sohn ihm in seine Arme fiel. „Es tut mir leid, was ich gestern gesagt habe“ murmelte Jason in die Brust seines Vaters. „Ich liebe dich.“ Dieser erwiderte die Umarmung und drückte ein wenig zu fest zu. „Ich liebe dich auch. Ich hatte nur Angst dich auch zu verlieren.“ Die beiden lösten sich und Jason erhaschte, wie sein Vater sich eine Träne aus dem Auge wischte. Alle standen noch kurz im Wohnzimmer und tauschten Entschuldigungen und Verabschiedungen aus, bevor Jason sich aufmachte, das Haus zu verlassen. Er war erst ein paar Schritte aus der Tür gekommen als er aufhorchte. „Warte!“ rief seine Mutter. Jason wandte sich der Stimme zu und betrachtete seine Eltern, wie sie Arm in Arm in der Türschwelle standen. „Hast du dich schon für einen Namen für dein Trasla entschieden?“ Jason holte den Pokéball aus seiner Tasche und lächelte. „Mars. Er heißt Mars.“ Hosted by Animexx e.V. 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