Juli 1970 von Erzsebet (Pathologie eines Philologen) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Hohenheim, den 29. Februar 1948 Mein lieber Marcel, die Zeit drängt. Du erinnerst, was wir Chanuka besprochen haben. Leider weiß ich nicht, ob ich die Unterlagen, die Gabriels Vater mir hinterließ, bis ins Detail richtig gedeutet habe - auch wenn mir Gabriels Mitarbeit eine große Hilfe ist. Aber nun müssen wir unser Werk vollenden, und auch Deine Unterstützung wird dabei unerläßlich sein. Insbesondere da Anna ihr Möglichstes tut, alles zu hintertreiben. Bisweilen drängt es mich, ihr einmal ohne Umschweife zu sagen, worum es eigentlich geht, aber natürlich kann ich das nicht wagen, soll unser Werk gelingen. Ich werde für die Nacht auf Mittwoch, den dritten März, mit Gabriel alles vorbereiten und erwarte Dich baldmöglichst bei mir. Mit den besten Grüßen nach Colmar, auch an Deine Familie, Dein Papa. * * * Kapitel 1: Keine halben Sachen ------------------------------ Donnerstag, 9.7.1970 Michael warf einen flüchtigen Blick auf die Nachmittagspost, die seine Frau auf den Gartentisch gelegt hatte. Anna schenkte sich eine Tasse Tee ein und sagte: "Da ist auch eine Karte von Greta dabei." Tatsächlich lag oben auf dem kleinen Stapel eine Postkarte mit dem Panorama einer Ruinenlandschaft. 'L'Antique Carthage' hieß es darunter und auf der Rückseite klebte eine farbenprächtige tunesische Briefmarke. 'Lieber Papa, die allerbesten Grüße von uns allen dreien. Gestern haben wir uns die Ausgrabungsstätten angeschaut. Sie sind wirklich sehr eindrucksvoll. Grüße bitte auch ganz herzlich Andreas von uns, wenn Du ihn besuchst. Die schönsten Grüße und bis bald, Deine Tochter Greta, Paul und EVA.' Michaels Enkelin hatte offensichtlich selbst mitunterschrieben. Er legte die Karte beiseite. Die Telefonrechnung war das nächste auf dem verbliebenen Stapel, darunter ein Brief vom Institut, einer vom Verlag und einer vom Philologenverband. Anna hatte ihre hübsche, korrigierte Nase im Hohenheimer Tageblatt vergraben, und die ganzseitige Anzeige der Eidgenössischen Betriebe Baden Oberrhein auf der Rückseite wurde von der Sonne angestahlt. Michael fragte sich, woher die, angesichts ihrer angeblich noch immer prekären Finanzlage, das Geld dafür hatten. Er schüttelte darüber - und über die Tatsache, daß er nach fünf Jahren nun seiner Gattin wieder gegenübersaß - den Kopf. Tatsächlich hatten er und Anna sich seit ihrer Rückkehr nur wenig zu sagen gehabt und Michael fragte sich zum wiederholten Male, wie er sie nur je hatte vermissen können. Ja, er hatte in den vergangenen Jahren sogar von ihr geträumt, sich ihre Rückkehr erträumt, da er glaubte, sie als Muse zu brauchen. Doch mit Cassandras Erscheinen hatte sich die ganze Situation geändert und seine jahrelange Schaffenskrise war behoben. Seine Phantasie war geradezu überschäumend und einige seiner Ideen schienen ihm bisweilen wirklicher als die Realität. Diese Gedanken hatten seine grazile Muse herbeigewünscht, und Cassandra umarmte Michael von hinten, küßte ihn auf die neuerdings bärtige Wange. "Nimm mich mit", raunte sie ihrem Dichter ins Ohr, obwohl Anna sie ohnehin weder hören noch sehen konnte. "Wohin?" fragte Michael leise zurück. "Na, nach Merburg, zum Kongress." Sie schmiegte sich eng an seinen Rücken und tippte, an ihm vorbei, auf den noch ungeöffneten Brief vom Philologenverband. Michael hatte sich im Frühjahr zum Kongress 'Phantastische Literatur der Romantik' angemeldet, in dem Brief mußte sich die Bestätigung dafür befinden. Michael öffnete den Umschlag und fand darin tatsächlich das Vermutete. Mit sechzehn war er einmal in Merburg gewesen, das mußte im Sommer 1928 gewesen sein. Woher hatte Cassandra von den Tagungsunterlagen gewußt? Aber diese Frage war müßig, denn sie teilte ja seine Gedanken. Michael hauchte seiner Muse einen Kuß auf den samtigen Oberarm, der ihn noch umfangen hielt. "Du bist herzlich dazu eingeladen." "Sagtest du etwas?" fragte Anna hinter ihrer Zeitung. Sie ließ sie sogar sinken und spähte über den Rand. Auch sie brauchte inzwischen eine Lesebrille, stellte Michael mit Genugtuung fest, aber natürlich trug sie ein Designermodell. Michael versteckte sein Grinsen hinter der zum Mund gehobenen Teetasse. "Nein, nichts. Die Telefonrechnung ist nur unverschämt hoch." Anna bekundete mit einem damenhaften kleinen Grunzen ihre Zufriedenheit mit der Antwort und las weiter. Die Zeitung wurde umgewendet und die EBBO-Werbung abgelöst von der Weltpolitik mit einem reich bebilderten Artikel zur Dreißig-Jahr-Feier des Bundes-Sieges über Sachsen. 'Oh, Anna, Anna! Hast du dich so verändert oder bin ich es?' dachte Michael wehmütig. Immerhin war es ein heißblütiger Streit gewesen, der Annas plötzlichem Weggang vorausgegangen war. Damals hatten sie sich noch etwas zu sagen gehabt. Und bis zu Cassandras Erscheinen hatte ihn jeder Gedanke an die Lücke, die Annas Verschwinden in sein Leben gerissen hatte, Schmerzen bereitet. Nicht eine Zeile hatte er in den fünf Jahren ohne Muse geschrieben... aber seinen zaghaften Versuch vor einigen Tagen, seiner Frau von der merkwürdigen Begegnung zu berichten, die ihn wieder zum literarischen Schaffen veranlaßte, hatte sie durch ihr geradezu unverschämt offensichtliches Desinteresse abgeschmettert. Und auch ihr Bericht über die fünf Jahre Italien, als Designerin von Accessoires für ein Florentiner Modehaus, war sehr knapp ausgefallen. Ja, er wußte nicht einmal, warum sie so plötzlich wiedergekommen war, sogar - in gewisser Weise - sein Bett teilte. Vor sechs Tagen hatte sie plötzlich im Hausflur gestanden, in dem für sie typischen hellen Reisemantel, die Quittung des Taxis, das sie vom Basler Flughafen nach Hohenheim gebracht hatte, noch in der Hand. Anna war freundlich, aber völlig unverbindlich und - bei Lichte betrachtet - nach seinen vielen geträumten Annas eine furchtbare Enttäuschung. Seine Muse strich ihm übers Haar. "Sei nicht traurig", tröstete sie ihn. "Ich werde mich nie ändern." Und das glaubte Michael sogar. Cassandra ging ins Haus, ihr 'Taschentier', das zahme Streifenhörnchen namens Casus Belli, folgte ihr in kleinen Sprüngen. "Sag mal, Anna..." "Hmm??" "...wieso bist du denn wieder hier?" Bisher hatte er nicht gewagt, seine Angetraute so geradeheraus zur Rede zu stellen. Anna ließ die Zeitung sinken, legte sie auf den Tisch. "Was denkst du denn?" fragte sie zurück. Über den Rand ihrer Lesebrille sah sie ihn scharf an. "Wenn ich eine Vorstellung hätte, würde ich nicht fragen", antwortete Michael ein wenig giftig. "Es kommt dir also nicht in den Sinn, daß es vielleicht deinetwegen sein könnte?" "Willst du eine ehrliche Antwort?" Anna ignorierte die Spitze und sagte: "Andreas behauptete, du würdest mich vermissen. Ich muß allerdings sagen, daß es auf mich ganz und gar nicht diesen Eindruck macht." "Du warst also bei ihm." "Er ist schließlich auch mein Sohn. Und nach dem, was er mir erzählte, sind dir die fünfzig Kilometer nach Basel ja offenbar zu weit und zu beschwerlich." "Sagt er das? Nun, bei dieser Hitze ist das allerdings so. Hattest du in den vergangenen Jahren häufiger zu ihm Kontakt?" Michael stellte die Frage ganz beiläufig. "Soll das jetzt ein Verhör werden?!" Sie blitzte ihn aus ihren blauen Augen an. "Natürlich wußte Andreas, wo ich bin - wie Greta auch. Aber du hast ja gar keine Anstalten gemacht, mich ausfindig zu machen. Und jetzt, wo ich wieder in deinem Haus bin, scheint es dir lieber zu sein, wenn ich schnellstens wieder verschwinde. Ganz offensichtlich bin ich ja überflüssig... hast du wieder ein Verhältnis mit einer deiner Studentinnen, das du vor Greta bisher geheim halten konntest? Oder wie kommst du zur Zeit zu deinem Stich?" Soetwas mußte ja kommen, aber Michael versuchte, sich seine Verärgerung nicht anmerken zu lassen. Demonstrativ seufzte er tief. "Ich will doch einfach nur wissen, was dich nach fünf Jahren dazu bewegt hat, wieder den Weg nach Hohenheim zu finden. Das rekordverdächtige Sommerwetter wird es allein ja wohl nicht sein." Der Trick hatte Erfolg, Anna beruhigte sich schlagartig. "Es ist ganz banal. Ich habe meinen ersten richtigen Urlaub seit fünf Jahren, und ich dachte, daß ich ihn dafür nutzen sollte, unseren... embarras zu bereinigen." "So, dachtest du", wiederholte Michael leise. Er erinnerte sich lebhaft daran, wie Anna - die die gelegentlichen kurzlebigen Affären in seinen Mittvierzigern damals stets ohne ein Wort hingenommen hatte - ihm an jenem denkwürdigen Abend vor fünf Jahren plötzlich vorwarf, er unterdrücke und bevormunde sie, lasse ihr keinen Raum zur Entfaltung, zum Ausleben ihrer eigenen Kreativität. Den Raum wolle sie sich nun schaffen und im übrigen werde er von ihrem Anwalt hören. Doch es war nie auch nur zum ersten Schritt in Richtung Scheidung gekommen. "Vielleicht sollten wir den embarras einfach durch eine Scheidung beenden", schlug Michael vor. "Ich hätte nie gedacht, soetwas mal von dir zu hören!" "Du bist also doch gegen eine Scheidung", schloß Michael daraus. "Überhaupt nicht... nicht grundsätzlich zumindest. Aber ich dachte, ich sollte uns noch einmal eine Chance geben." Michael schüttelte den Kopf. "Du siehst doch, es hat gar keinen Sinn. Wir haben uns auseinander gelebt, haben uns ja kaum noch etwas zu sagen. Andreas hat recht: ich hatte die ganzen fünf Jahre Sehnsucht nach dir, aber diese Sehnsucht kannst du in leibhaftiger Form gar nicht befriedigen. Ich sehne mich nach der Anna, die ich mir in den vergangenen fünf Jahren erträumt habe. Und ich denke, dir muß es ähnlich gehen." Anna musterte ihren Mann nachdenklich. "Möglicherweise hast du recht. Und ich glaube, das war schon so, bevor wir uns trennten. Aber wir brauchten wohl die fünf Jahre Pause voneinander, um es endlich zu begreifen." Nun, eigentlich hatte es für Michael dazu des Auftauchens einer anderen Muse bedurft. "Also lassen wir uns scheiden?" Anna hob beide Hände zur Verteidigung. "Nicht so schnell. Wir sollten nichts überstürzen. Ich wollte noch ein Weilchen hier in der Gegend bleiben, auch mal meine Schwester wieder besuchen. Aber wenn es dir unangenehm ist, mich und nicht deine geträumte Anna in unmittelbarer Nähe zu haben, gehe ich in ein Hotel." "Du kannst doch auch in das Gästezimmer." "Oh, nein! Keine halben Sachen", verlangte Anna bestimmt. * * * Kapitel 2: König für eine Nacht ------------------------------- Anna zog noch an dem Nachmittag in ein Hotel und Michael fühlte sich fast wie ein Teenager mit sturmfreier Bude. Doch Cassandra ließ Michael nur kurz seinen Willen, und nach dem Austausch einiger flüchtiger Zärtlichkeiten erinnerte sie ihn an die Geschichte seines Bartes. "Du hast versprochen, sie mir vorzulesen", mahnte sie mit gespielter Strenge. Sie griff nach den fünfzehn eng mit Bleistift beschriebenen Seiten, und drückte sie ihrem Dichter in die Hand. Dann neigte sie mit einer leicht spöttisch wirkenden Bewegung ihr bronzerot beschopftes Haupt. "'Meister', ich bin ganz Ohr", versprach sie. Michael kontrollierte, ob die Blätter in der richtigen Reihenfolge lagen, nahm einen grünen Kopierstift für etwaige Korrekturen zur Hand und begann vorzulesen: "König für eine Nacht Vor dem Zubettgehen betrachtete Michael kritisch den im Entstehen begriffenen Bart, der sein Kinn nach den ereignisreichen Tagen zierte. Während seiner Heldentaten hatte er keine Zeit gehabt, sich regelmäßig zu rasieren. Als er vor fast vierzig Jahren schon einmal versucht hatte, sich einen Bart stehen zu lassen, war der Bartwuchs teilweise noch etwas spärlich gewesen. Nun standen die Haare dicht an dicht, doch er wurde an Wangen und Kinn schon grau, das Muster schien allerdings symmetrisch. Er sollte es jetzt, während der Ferien, doch noch einmal versuchen - obwohl er sicher war, daß seine Gattin Anna gar keinen Sinn dafür hatte. Als Michael aus dem Badezimmer ins Bett kam, war Anna auf ihrer Seite schon eingeschlafen. Aber Cassandra, seine hübsche Muse, schmiegte sich an ihn und der Dichter schloß die Augen. Es begann mit einem leichten Schwindelgefühl, aus dem zunehmend ein reißender Strudel wurde. Michael wurde in undurchdringliche Dunkelheit gerissen. Er hatte ganz weiche Knie, als er plötzlich festen Boden unter den nackten Füßen spürte. Noch immer war es dunkel, doch die kalte Ebene unter ihm und das Tappen seiner probehalber unternommenen Schritte schienen real. "Was ist passiert?" fragte er leise und die Worte verklangen zögernd. Michael tastete mit seinen Händen um sich und erfühlte eine kalte Steinmauer, der Boden war aus rauhen Steinplatten. "Hallo!! Ist hier jemand?!" rief er laut. Wenig später hörte er, wie sich hastige Schritte stiefelbewehrter Füße näherten, und ein leuchtendes Rechteck erschien plötzlich in einer Wand der finsteren Steinkammer. Michael war zu geblendet, um mehr als einen undeutlichen Schatten gegen das Licht erkennen zu können, aber der Ankömmling war hörbar erstaunt. "Was sucht ihr denn hier?" "Das frage ich mich auch", entgegnete Michael mit einem verlegenen Grinsen. Der Mann ging auf Michaels Bemerkung nicht ein. "Wer seid ihr? Was sucht ihr in den Vorratsräumen seiner Majestät?" fragte er herausfordernd, aber in seiner Stimme schwang Unbehagen. Michaels Augen hatten sich inzwischen soweit an die Lichtverhältnisse gewöhnt, daß er in seinem Gegenüber einen in archaisch-osmanische Rüstungsteile gekleideten Mann mit einer stahlspitzenbewehrten Holzstange in der Hand erkannte. Besagte Stahlspitze zeigte in Michaels Richtung - allein zwanzig Zentimeter und der noch halbwegs gutwillige Gemütszustand des Bewaffneten trennten sie von Michaels Bauch. "Wer ist denn 'seine Majestät'?" wagte Michael, sich höflich zu erkundigen. Die blitzenden schwarzen Augen des Mannes musterten ihn abfällig. "Woher kommt ihr denn, daß ihr noch nie von seiner Majestät Silion von Berresh, König von Hannai, Eroberer von Tetraos, Herrscher über die Wüste und Bewahrer der wahren Götter gehört habt?" Michael verbeugte sich, achtete aber darauf, der Stahlspitze nicht näher als nötig zu kommen. "Ich bin Michael Drake aus Hohenheim, Republik Baden-Oberrhein, meines Zeichens Philologe und Dichter mit einer persönlichen Muse." Der Gedanke an Cassandra erwärmte ihn in dem kühlen Vorratsraum seiner Majestät wieder etwas. Der Mann, wahrscheinlich ein Wächter der königlichen Vorratskammern, winkte Michael mit einer ungeduldigen Bewegung aus dem steinernen Raum. "Da ihr offenbar Ausländer seid, unterliegt euer Fall der königlichen Rechtsprechung. Seine Majestät wird entscheiden, was mit euch zu geschehen hat." Mit festem Griff packte er Michaels Oberarm und führte ihn eine Treppe hinauf, in steingeflieste, von Fackeln erhellte Gänge. Über eine weitere Treppe und durch ein massives Holztor erreichten sie endlich marmorgepflasterte Gänge, die im hellen Licht der durch große Fensteröffnungen scheinenden Sonne lagen. Über die Wände zogen sich Arabesken in leuchtenden Farben, zusammengesetzt aus bunt glasierten Fliesen. Der Weg endete vor einer breiten Tür aus geschnitztem, dunkelrotem Holz. Zwei riesige, muskelbepackte und grimmig dreinschauende Wächter kreuzten ihre blanken Schwerter vor der Tür. "Wer stört den König?" wollte einer der beiden mit tiefer Stimme wissen. Der Wächter der königlichen Vorratskammern verneigte sich tief. "Dieser Mann drang in den Palast ein und verbarg sich in einer der königlichen Vorratskammern. Da er ein Ausländer ist, will ich ihn dem König zum Verhör bringen." Mit einem Blick auf die Schwerter der Fleischberge fügte er hinzu: "Seine Majestät wird wissen, was mit diesem Mann zu geschehen hat, denn seine Weisheit ist unfehlbar." "Weise Unfehlbarkeit", bestätigte der Sprecher der martialischen Wache. Er schien einen Moment nachzudenken, dann wurden die Schwerter gesenkt, und der Wächter der königlichen Vorratskammern durfte die Tür mit seinem Gefangenen passieren. Hinter der Tür befand sich ein kleiner Raum und eine weitere verschlossene Tür. Michael wurde von dem Wächter der Vorratskammern durch Stöße mit dem stumpfen Ende des Spießes durch die Tür, einen weiteren Gang entlang und schließlich in einen hellen Raum dirigiert. Eine seiner Wände bestand aus säulengetragenen Arkaden, die sich zu einem schattigen Garten öffneten, die massiven Wände waren weiß getüncht und der Raum war auf das Sparsamste mit einem niedrigen Tisch und einigen niedrigen Regalen voller Papier möbliert. Nur auf dem Boden lagen farbenfrohe, üppige Teppiche. Hinter dem Schreibtisch saß ein kahlköpfiger, bärtiger Mann mittleren Alters, dessen Feder sich sorgsam über einen Bogen Pergament bewegte, von rechts nach links." Michael hielt inne. Angesichts seiner intensiven Beschäftigung mit den literarischen Traditionen des mittelalterlichen Orients in den vergangenen Monaten war es wohl kein Wunder, daß er ein orientalisches Szenario vor Augen hatte. Aber entstand dieses Bild auch vor den Augen des Lesers? "Was ist?" fragte Cassandra. Aber Michael schüttelte nur kurz den Kopf und las weiter: "Zunächst von der offenen Tür verdeckt, stand in einer Ecke des Raumes ein prächtig geschmückter Mann in seidenen Gewändern, mit dicken Ringen an den Fingern und mit pomadisiertem Haar und Bart. Er hielt eine rotlederne Mappe in der einen Hand, in der anderen ein Lorgnon. Ob der plötzlichen Störung warf der Mann einen kurzen, Mißachtung ausdrückenden Blick über seine Sehhilfe hinweg auf Michael und den Wächter, dann schaute er wieder in die aufgeklappte Mappe: "...und er wagte es, euer Majestät in aller Öffentlichkeit als 'Dieb und Mörder' zu bezeichnen", setzte er seinen anscheinend unterbrochenen Bericht mit affektiert näselnder Stimme fort. "Er soll hängen", sagte eine müde Stimme von den Arkaden her. Dort stand, in einem schlichten weißen Gewand, ein untersetzter ergrauter Mann, der in den Garten sah. Er kam Michael vage bekannt vor. "Das ist bereits geschehen, euer Majestät", beeilte sich der Gelackte zu versichern. "Des weiteren", und er warf einen flüchtigen Blick in seine Unterlagen, "vier seiner Konspiranten." Der Mann bei den Arkaden, offenbar Silion von Berresh, König von Hannai, Eroberer von Tetraos, Herrscher über die Wüste und Bewahrer der wahren Götter, kratzte sich am bärtigen Kinn. "Jaja", sagte er deutlich gelangweilt. "Und was schreibt mein Bruder?" Der Gelackte blätterte mit seinem Lorgnon geschickt durch die Seiten in der Mappe und überflog das Geschriebene. "Das Übliche: Aufständische, die versuchten, in den Palast zu Tetraos einzudringen und zwei Giftanschläge, euer Majestät." "Ach, und wie befindet sich mein Bruder?" "Wohl, euer Majestät." "Wie schön." Seine Majestät ging zwischen zwei der Säulen hin und her. "Und wie weit sind die Festvorbereitungen gediehen?" erkundigte sich der König nach einer kurzen Denkpause. Der Gelackte klappte die Mappe zu. "Es ist alles bereit, euer Majestät. Bei Sonnenuntergang kann es beginnen." "Gutgut." Der König nickte und strich sich über den Bart. Mit einem kurzen Wink entließ er den Gelackten. Erst als der sich der Tür und damit dem Wächter und seinem Gefangenen näherte, schien der König die beiden zu bemerken. "Was ist?" fragte er kalt. Der Wächter schubste Michael mit dem Spieß ein Stück nach vorne und trat neben ihn. "Dieser Ausländer wurde in einer der versteckten unterirdischen Vorratskammern gefunden, die euer Majestät für den Fall einer Hungersnot anzulegen geruhten." Der König musterte Michael mit plötzlich erwachtem Interesse. "Meint ihr, daß er ein Spion ist?" fragte er den Wächter und ließ den Blick über Michaels Kleidung schweifen. Verlegen sah Michael an seinem blau-beige gestreiften Pyjama hinunter und auf die nackten Füße. "Du trägst seltsame Kleidung, Fremdling. Wo ist dergleichen üblich?" fragte der König herablassend, noch bevor der Wächter die Frage seines Herrn beantworten konnte. "Ich wurde mitten in der Nacht aus meiner Heimat fortgerissen", rechtfertigte Michael seinen Aufzug. "Ich komme aus Hohenheim." "Euer Majestät", soufflierte der Wächter zischend. "Euer Majestät", ergänzte Michael gehorsam. "Sieh mich an", befahl seine Majestät. "Du hast doch sicher einen Namen." Michael hob den Kopf, sah dem König, der nun direkt vor ihm stand, gerade in die dunklen Augen und erschrak. Einmal abgesehen von der abweichenden Haar- und Barttracht, glichen der König und er selbst sich wie Zwillinge. "Ich... ich heiße Michael Drake, euer Majestät", sagte Michael zögernd und schluckte. Auch der König hatte die verblüffende Ähnlichkeit bemerkt. Er ergriff Michaels bärtiges Kinn und drehte den Kopf so, daß er das Profil genau betrachten konnte. "Erstaunlich", sagte er leise und ließ Michaels Kinn los. Dann wandte er sich plötzlich an den Wächter. "Geht... und ihr auch, Schreiber." "Hätte der Wächter die Ähnlichkeit nicht auch schon bemerken müssen?" fragte Cassandra plötzlich. Michael zog unzufrieden die Augenbrauen zusammen. "Hat er aber nicht... ja, du hast eigentlich recht", und er quetschte eine kurze Notiz an den Rand. "Der Schreiber erhob sich sofort und verschwand fast lautlos durch die Tür, der Wächter jedoch zögerte noch und sah zurück. Offensichtlich war ihm nicht wohl dabei, den König mit einem Ausländer, der höchstwahrscheinlich Übles im Schilde führte, allein zu lassen. Aber schließlich war ein königlicher Befehl ein königlicher Befehl, und nachdem er ebenfalls den Raum verlassen hatte, verschloß der König die Tür eigenhändig mit einem Riegel. "Wirklich erstaunlich", sagte der König noch einmal, als er um Michael herumging. "Und zu diesem Zeitpunkt sehr passend." Er winkte Michael, ihm zu folgen, als er in den Garten hinaustrat. Bei dem Garten handelte es sich um einen weitläufigen Innenhof, rundherum von Arkaden umgeben, hinter denen sich offenbar die verschiedenen Gemächer des Königs befanden. Sie betraten eine Art Ruheraum, in dem unter den schattenspendenden Arkaden lederne Sitzpolster und seidene Kissen auf den Teppichen verteilt waren. Auf eine beiläufige Handbewegung des Königs hin brachte ein dunkelhäutiger Knabe, der neben einer Säule gekauert hatte, ein Tischchen und Trinkgeschirr, sowie eine Kanne mit wasserverdünntem Fruchtsaft. "Ihr habt meinen Wesir gesehen", begann der König, als er und Michael im Schatten der Arkaden auf Kissen saßen und tranken. "Dieser gelackte..." Michael unterbrach sich hastig, als ihm einfiel, wer sein Gegenüber war. Der König lächelte milde. "Ich teile eure Gedanken. Nichtsdestoweniger ist er gefährlich. Schon lange strebt er nach dem Thron, und wenn Prinz Faron, mein Sohn, erst einmal offiziell als mein Nachfolger designiert ist, braucht er sich nicht mehr zurückzuhalten. Schon jetzt hat mein Wesir sich bei Faron eingeschmeichelt. Und bin ich erst einmal ausgeschaltet, wird er Faron vollständig unter seinen Willen zu zwingen. Mein Sohn wird es wohl nicht einmal merken. Das Fest heute abend, zu dessen Beginn ich Faron an meine Seite hole, wird für meinen Wesir auf lange Zeit die beste Gelegenheit sein, mich aus dem Weg zu schaffen. Ich will ihn bloßstellen, dabei aber nicht zu Schaden kommen. Am besten geht das, wenn nicht ich es bin, dem sein Anschlag gilt - aber doch jemand, der an meiner Stelle heute abend glaubhaft den König darstellt." Michael versuchte, das Gehörte zu verdauen, indessen klatschte der König in die Hände und der Knabe lief herbei. "Meinen Barbier und meine Festgewänder", befahl der König, und der Knabe zog sich schweigend wieder zurück. Überflüssigerweise erklärte der König Michael noch: "Ihr werdet heute abend statt meiner als König von Hannai am Fest teilnehmen, als Köder für meinen geschätzten Wesir." Michael meinte, aufs neue von einem kräftigen Sog erfaßt zu werden, denn der Boden schien ihm zu entgleiten. "Ihr habt doch wohl keine Einwände, nicht wahr?" fragte seine Majestät verdächtig freundlich. Obwohl ihm schwindelig war, riß Michael sich zusammen, fixierte den etwas schwankenden König und sagte: "Doch! Ich hänge an meinem Leben. Und zuhause habe ich eine Muse und eine Gattin, die sich um mich sorgen werden." Die letzten Worte machten Michaels Zunge einige Mühe. Sollte da etwas in den Fruchtsaft gemischt gewesen sein, das ihm nun diesen Tunnelblick und das Gefühl verschaffte, bis zum Hals in dickem Sirup zu stecken? Der König machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ihr solltet stolz darauf sein, euer erbärmliches Leben für einen großen König riskieren zu dürfen... und", ergänzte er dann wie beiläufig, "ihr habt doch die Schwerter meiner Leibwache gesehen?" Der König wies mit dem Kinn in das Halbdunkel des Raumes, der sich rechts von Michael erstreckte. Vor einer Tür, die wohl in die übrigen Teile des Palastes führte, standen wie Statuen zwei muskelbepackte Riesen, scheinbar Zwillinge des Paares vor der Tür zu den Kanzleiräumen. Michael nickte mühsam, brachte aber keinen Ton heraus. "Nun, ich denke, dann verstehen wir uns wohl", sagte der König mit einem zufriedenen Lächeln. Und da kam schon eine mittelgroße Karavane von Männern verschiedenen Alters, die meisten mit Bergen von kostbarem Stoff in den Armen, von den gegenüberliegenden Arkaden her durch den Garten. Einer ging zielstrebig auf seine Majestät zu und wollte ihm ein weißes Tuch um die Schultern legen, aber der König hielt ihn mit einer kurzen Handbewegung zurück. "Nicht ich", wies er den Barbier zurecht, "schneidet ihm die Haare und den Bart, so daß er mir vollkommen gleicht." Und der König wies auf Michael. Der Barbier zog sich mit einigen Verbeugungen zurück und wandte sich dann Michael zu, um ihn kritisch zu mustern. "Mit Verlaub, euer Majestät, in dieser Kleidung wird er euch nie vollkommen gleichen", wagte er einzuwenden. "Schweigt über alles, was sich hier ereignet", gebot der König streng. "Sonst werdet ihr euch nicht mehr lange eurer geschwätzigen Zunge erfreuen können." Gehorsam schweigend machte der Barbier sich also ans Werk, während der König einem der Barbiergehilfen befahl, ihm den Bart zu stutzen. Dabei begann der König, Michael über das Fest und ihrer beiden Rollen dabei zu informieren. "Ich werde mich, wie auch die Leibwachen, ständig in eurer Nähe aufhalten, in der Kleidung eines Leibdieners. In Zweifelsfällen kann ich euch raten, was ihr sagen oder tun müßt, um euch nicht als Barbar zu enttarnen. Das Fest wird zu Ehren meines Sohnes gegeben, also ist er in dieser Nacht der Herr des Festes. Als König von Hannai obliegt euch nur, öffentlich Farons Designierung zu verkünden und die Segnung des Festes zu vollziehen. Alles andere könnt ihr getrost meinem Sohn überlassen." Mit einem scheinbaren Anflug von Besorgnis erkundigte er sich dann: "Ihr versteht mich doch?" Michael hatte das Gefühl, sein Gehirn sei in Melasse getaucht, doch er hatte jedes Wort gehört und auch der Sinn sickerte langsam zu ihm durch, also nickte er. Immerhin hatte der Tunnelblick sich inzwischen gegeben und die Erde schwankte nicht mehr. "Unser Weg beginnt mit einem Gang zu den Frauengemächern, um die Mutter des Thronfolgers, die Königin von Hannai, Prinzessin Mara von Nahem, abzuholen und zum Festsaal zu geleiten. Ihr redet sie mit 'Prinzessin Mara' oder 'meine Königin' an, dritten gegenüber ist sie 'ihre Majestät'. Denkt daran, daß ihr Silion von Berresh seid, den das Volk den 'Eroberer' nennt, den Beherrscher des Südens. Ihr seid Herr über Leben und Tod eines jeden hier, vermeidet also plumpe Vertraulichkeiten und wahrt die Würde der Rolle, die ihr spielen sollt." Zum Teil mit Hilfe eines Handspiegels betrachtete der König kritisch das Ergebnis des Haar- und Bartschnittes an sich und Michael, dann nickte er befriedigt und entließ den Barbier und seine Gehilfen. Dann begannen die Diener, Michael in die Festgewänder des Königs zu hüllen, während sich seine Majestät in eine Dienstbotentracht bequemte, einfache grüne Kleidungsstücke, die auf der Brust ein Feld mit einem gallopierenden Rappen trugen. "Seid vor dem Wesir auf der Hut!" riet der König, als man ihm bei einer breiten Schärpe, die er um den Bauch wickelte, half. "Es nützt keinem, wenn ihr zu früh den Weg in die Dunkelheit antretet. Die Gäste müssen müde genug sein, um gegebenenfalls trotz eures Todes glauben zu können, daß man den König nur erheblich verwundet hat. Vor Gift seid unbesorgt, schließlich haben wir einen Vorkoster." Die Betäubung seines Gehirns, die Michael fast willenlos machte, schien allmählich etwas nachzulassen. Er versuchte zu sprechen und fragte mit schwerer Zunge: "Was ist, wenn ich das Fest überlebe? Vielleicht hat der Wesir gar keinen Anschlag für heute abend geplant." Der König schürzte die Lippen. "Nun, wir werden sehen." Doch die Gedanken hinter seiner gerunzelten Stirn konnte Michael förmlich hören: 'Überleben wird er sicherlich nicht, selbst wenn der Wesir ihn verschont.' Wenn er also so oder so sterben sollte, wollte Michael es dem König so sauer wie möglich machen, daß er ausgerechnet ihn in diese undankbare Rolle gedrängt hatte - auch wenn seine Möglichkeiten angesichts der Leibwache beschränkt waren. Bedauernd sah er auf das juwelenbesetzte Zeremonienschwert, dessen Gehänge ihm zur Vervollkommnung seiner Festkleidung umgeschnallt wurde. Vielleicht kam sein Gehirn rechtzeitig wieder in Gang, so daß ihm ein praktikabler Ausweg oder zumindest eine denkwürdige Rache für seinen Tod einfiel." "Ziemlich kaltblütiger Gedankengang", kam es von Cassandra, als Michael den Absatz durch eine kurze Lesepause akustisch verdeutlichte. Ihr Dichter lächelte und nahm dann den Faden wieder auf: "Mit einem juwelenüberladenen Turban auf dem Kopf und kostbarem Schmuck - darunter einem großen Siegelring mit schwarzem Stein am rechten Ringfinger - war Michael schließlich ganz zum König in Festtracht geworden. Und die kleine Prozession - bestehend aus Leibdiener, König und zwei Leibwächtern - machte sich auf zu den Frauengemächern. Der König war sichtlich aufgeräumt und sein Schritt fast beschwingt, als er als 'Leibdiener' voranging und der Aufseherin der Frauengemächer die Ankunft des Königs meldete. Die Frau verneigte sich tief vor Michael, flüsterte eine kurze Bestätigung und zog sich hinter einen Vorhang aus Bahnen feiner, orangener Seide zurück. Wenig später erschien sie wieder und ihr folgte eine prächtig geschmückte Frau, bei deren Anblick Michael das Herz stillzustehen drohte. Es war - richtiger es schien Anna zu sein. Sicherlich war es Prinzessin Mara von Nahem, doch die Ähnlichkeit war erschreckend. Diese Frau hatte unter dem hauchdünnen Schleier das gleiche blonde Haar wie Anna - nur daß sie es viel länger trug, als Anna das jemals getan hatte - und sie hatte die gleichen dunkelblauen Augen wie Michaels Ehefrau. Allerdings umschmeichelten die locker fallenden Seidengewänder einen fraulich gerundeten Körper, den Anna angesichts ihrer stets dem aktuellen Modeideal folgenden Figur zur Zeit als fett bezeichnet hätte. Mara von Nahem, die Königin von Hannai, hatte von dem Aufruhr in Michaels Innern offenbar nichts bemerkt und auch nichts davon, daß es sich bei Michael gar nicht um ihren Gatten handelte, denn sie ging zielstrebig auf ihn zu, um ihn zur Begrüßung federleicht und ohne jedes Gefühl auf die Wange zu küssen. "Seid gegrüßt, mein König", sagte sie mit unverbindlicher Freundlichkeit. Michael erwiderte den Kuß auf gleiche Weise und sah über die Schulter der Königin das triumphierende Lächeln des Königs: sogar sie ließ sich täuschen. "Meine Königin, darf ich euch zum Fest geleiten?" fragte Michael mit einer angedeuteten Verbeugung, die ihm angemessen schien. Huldvoll neigte die Königin ihr juwelengeschmücktes Haupt und bot ihrem vermeindlichen Gemahl die Rechte. Michael folgte seinem 'Leibdiener', die Königin an seiner Seite, zum Festsaal und ihm war gar nicht wohl zumute. So langsam lichtete sich zwar der Nebel, der seine Gedanken umwölkt hatte, doch wenn nicht einmal die Königin ihren König von einem bedauernswerten, in diese merkwürdige Geschichte verschlagenen Philologen unterscheiden konnte, wie sollte das dem Wesir gelingen? Die halb gehegte Hoffnung, er könne seiner Köder-Rolle durch eine plötzliche Aufdeckung der Maskerade entgehen, verflog. * * * Kapitel 3: Der Prinz und der Vorkoster -------------------------------------- Der riesige Festsaal wurde von einer Kuppel überspannt, deren Mauerwerk wie feine Spitze durchbrochen war, so daß die letzten Strahlen der schwindenden Sonne den Marmorfußboden und die Blumen- und Ornamentfliesen an den Wänden mit rosenfarbenen Lichttupfen übersäten. Allerdings waren auch schon stark duftende Öllampen entzündet worden, die überall im Raum an hohen Messinghaltern aufgehängt waren. Dem Eingangsportal gegenüber hing ein riesiges grünes Banner, auf das ein galoppierender Rappe gestickt war. Darunter stand eine breite aber niedrige, goldfarbene Bank, in einiger Entfernung daneben war ein orangeseidener Baldachin über einem kleinen Hügel bunter Kissen aufgespannt, wohl der Platz der Königin. Die bereits anwesenden Gäste, ausnahmslos in farbenprächtige, seidig raschelnde Gewänder gehüllt, verneigten sich beim Erscheinen von König und Königin tief, während der Zeremonienmeister verkündete: "Seine Majestät Silion von Berresh, König von Hannai, Eroberer von Tetraos, Herrscher über die Wüste und Bewahrer der wahren Götter mit seiner Gemahlin Prinzessin Mara von Nahem, der Königin von Hannai." Als die Gäste sich wieder aufgerichtet hatten, ging der 'Leibdiener' seinem 'König' voran, hielt auf die Thronbank zu - die Königin wandte sich mit ihren Dienerinnen in Richtung Baldachin. Nach einer Weile hatte die Prozession das andere Ende des Saales erreicht und der König flüsterte fast unhörbar über die Schulter: "Das ist euer Platz." Mit einer halb versteckten Handbewegung wies er auf die mit einem goldbestickten Polster versehene Bank. Viel mehr interessierte Michael jedoch das Banner. Im Näherkommen hatte er gesehen, daß auf dem ansonsten gleichmäßig ausgeblichenen grünen Stoff über dem Pferd ein etwas dunklerer Schatten in Form eines fliegenden Raubvogels zu erkennen war. Offenbar hatte die Herrschaft des Silion von Berresh über Hannai auch etwas mit Umsturz und Eroberung zu tun. Kein Wunder, daß er einen Mordanschlag fürchtete. Der König eilte hinter die Bank und wies Michael flüsternd von hinten an: "Wartet bis mein Sohn und der Wesir eingetroffen sind. Dann segnet das Fest mit den Worten, die ich euch vorsagen werde. Erst dann dürft ihr euch setzen." Michael zeigte mit einem kurzen Nicken, daß er verstanden hatte. Auch die Leibwächter hatten ihre Plätze, rechts und links an den Seiten der Thronbank, eingenommen. Die Königin ließ sich unter ihrem Baldachin nieder und eine dunkelhäutige Dienerin begann, ihr mit einem großen Wedel Kühlung zufächeln. Die Augen des Hofstaates waren indessen erwartungsvoll nach oben zur Kuppel gerichtet, durch die inzwischen das glühend rote Licht der unterge-henden Sonne fiel. Als der ganze Raum in abendliches Violett getaucht war, schwangen die Flügel des Hauptportales erneut auf und der Zeremonienmeister verkündete: "Prinz Faron, erster Sohn des Königs von Hannai." Der schlanke Mittzwanziger trug keine Kopfbedeckung, war aber ansonsten prächtig geschmückt und kam gemessenen Schrittes auf Michael zu. Er hatte deutliche Ähnlichkeit mit Michaels Sohn Andreas, aber angesichts seiner Eltern war das kaum verwunderlich. "Heißt ihn an eurer Seite willkommen und bietet ihm die Prinzenkrone von Hannai dar", flüsterte der König hastig. "Er wird dann schon wissen, was er zu tun hat." Von Michael unbemerkt hatte der Wesir den Saal durch einen Seiteneingang betreten, stand nun neben dem 'König' und ließ ihm durch einen jugendlichen Diener ein dunkelrotes Samtkissen reichen, auf dem ein schmaler goldener Reif lag, geschmückt mit einem fahlblauen ovalen Edelstein. Michael griff nach dem Kissen, der Wesir lächelte undeutbar und zog sich mit dem Jungen zurück, an Michaels rechte Seite. Michael seinerseits streckte nun dem Prinzen, der vor ihm stehengeblieben war, das Kissen hin und improvisierte: "Sei mir willkommen, mein Sohn und nimm Platz an meiner Seite... denn einst wirst du allein auf dem Thron sitzen, und dann solltest du wissen, was dich erwartet." Da der König keinen geflüsterten Protest verlauten ließ, schienen das angemessene Worte gewesen zu sein. Der Prinz nahm, etwas zögernd, den Goldreif entgegen. "Ich danke euch, mein König und Vater", antwortete er mit belegter Stimme. Michael reichte das Kissen nach hinten an seinen 'Leibdiener' weiter, sollte der doch sehen, wo er damit blieb. Dann nahm er seinen 'Sohn' am Ellbogen und dirigierte ihn zur freien linken Seite der breiten Thronbank, die leicht vier Personen Platz geboten hätte. Da Faron die Prinzenkrone noch immer in den Händen hielt und nicht recht zu wissen schien, was er damit machen sollte, nahm Michael sie ihm wieder aus der Hand und setzte sie ihm auf die rote Lockenpracht. "Fasse dich, mein Sohn", sagte er leise. "Bald wirst du ihr König sein", mit einer sparsamen Handbewegung deutete Michael auf alle Anwesenden, Hofstaat, Gäste und Bedienstete, "Und sie werden dir als ihrem König keine Schwäche zugestehen. Auch wenn du sie jetzt, in deiner Jugend zeigst, werden sie sich doch ewig daran erinnern. Aber begehe nicht meinen Fehler - werde nicht hart gegen sie. Stehe stets zu deinem Wort und regiere gerecht." Diese Ratschläge waren wohl nicht im Sinne des Königs, aber das war Michael egal... Das ist nicht gut, die Szene knirscht an allen Ecken und Enden", nuschelte Michael vor sich hin. Er überlegte, was er dagegen tun konnte. "Nun lies doch endlich weiter", drängelte Cassandra jedoch, als die Pause begann, sich auszudehnen. Michael schrak auf. "Wo war ich... Ratschläge nicht im Sinne des Königs... Die dunkelblauen Augen des Prinzen dagegen, ganz die der Königin, trafen Michaels. "Ich hätte nie gedacht, dich einmal so sprechen zu hören, Vater", erwiderte er ebenso leise. "Ich bin heute eben ein ganz anderer Mensch", sagte nun Michael mit einem kaum verhohlenen Lächeln, dann wandte er sich an die Versammelten. "Ehrt meinen Sohn als meinen Mitregenten und meinen Thronfolger! Es lebe Prinz Faron von Hannai!" Gehorsam aber zögernd sprach der Hofstaat es Michael nach: "Es lebe Prinz Faron von Hannai." Mit sich zufrieden trat Michael wieder an die Thronbank zurück. "Sein Name ist Prinz Faron von Berresh, Prinz von Hannai", zischte der König. "Und was habt ihr da eben mit ihm geflüstert?" Ganz offensichtlich war er beunruhigt. Michael freute sich über den Unmut des Königs und zuckte kaum merklich mit den Schultern. "Nichts weiter... ich habe ihn nur ein wenig aufgemuntert." Michael hörte, wie der König tief Luft holte, als wolle er Protest äußern, aber da erloschen plötzlich die letzten durch die Kuppel dringende Sonnenstrahlen. "Ihr müßt den Segen herabrufen. Breitet eure Arme aus und sprecht mir nach: Orem, Herrscher über die Nacht, wieder breitest Du Deinen Sternenmantel über uns und bewahrst uns vor den Widrigkeiten Chelems. Segne Du dieses Fest und segne meinen Sohn, den ich an meiner Seite willkommen geheißen habe und der eines Tages König über Hannai und Bewahrer der wahren Götter sein wird." Gehorsam sprach Michael die Worte nach und andächtige Stille breitete sich im Festsaal aus. "Senkt nun die Arme und verharrt einen Moment in Schweigen", flüsterte der König wieder." "Was ist mit einer Opfergabe?" wollte Cassandra wissen. Michael fuhr erschrocken auf. "Was?" "Na, ein bißchen Weihrauch, eine Schale Wein, sowas in der Art." Entschieden schüttelte Michael den Kopf. "Zu antik, die Vorstellung. Ich glaube nicht, daß das hier paßt. Endlich entschied Michael, genug geschwiegen zu haben, und er ließ sich auf der sehr niedrige Thronbank nieder. Faron setzte sich allerdings nicht neben ihn auf die Bank, sondern auf eines der runden Sitzpolster, die auf dem Boden lagen. Dann klatschte der Prinz in die Hände. "Das Fest möge beginnen!" rief er und aus allen Türen des Saales strömte eine endlos scheinende Schar von Dienern mit niedrigen Tischchen, mit Getränken und Platten voller Köstlichkeiten herein. Michael konnte sich nicht verkneifen, den König flüsternd zu fragen: "Meint ihr nicht, daß ich euren Gott verärgert habe, indem ich an eurer Stelle zu ihm sprach?" Vor ihm, dem Wesir und Faron wurde ein Tischchen mit Speisen gerichtet. "Pah, die Götter", flüsterte der Bewahrer der wahren Götter abfällig. "Wer außer dem dummen Volk glaubt schon an die Götter?" Michael dachte an Athena und seine hübsche Muse Cassandra, die er der Göttin verdankte, und ihm wurde schwer ums Herz. Er würde sie also niemals wiedersehen. Er hatte als Held im Dienste der antiken griechischen Götter gestanden - sie mit Cassandras Hilfe vor dem Untergang gerettet -, und nun mußte er sich mit Mördern herumschlagen, die sich sein alter ego zum Feind gemacht hatte." "Na, das ist ja eine tolle Idee - und du findest ein Weihrauchopfer unpassend?" Cassandra grinste über das ganze Gesicht, dann küßte sie Michael plötzlich auf die Wange. Der warme Abdruck ihrer Lippen verhielt einen Moment und der Blick aus ihren verschiedenfarbenen Augen versprach mehr, sobald Michael erst einmal den 'König für eine Nacht' fertiggelesen hatte. "Gedankenverloren griff Michael nach dem Kelch, der vor ihm stand, aber da hatte ihn schon eine feingliedrige, dunkelhäutige Hand genommen und ein vielleicht dreißigjähriger Mann in den Kleidern eines Dieners hob den Kelch an den Mund. 'Das ist also mein Vorkoster', dachte Michael und besah sich den sympathisch wirkenden jungen Mann. Er hatte etwas dunklere Haut als die meisten anderen im Saal und sein lockiges Haar war von einem blauglänzenden Schwarz, aber seine Augen waren gelb wie die eines Falken. Anders als selbst die meisten Diener war er bartlos, wahrscheinlich, damit die Haare nicht in das königliche Getränk hingen. Mit einem seidenen Tuch wischte der Jüngling die Lippe des Kelches ab und gab das Trinkgefäß an Michael weiter. Auf der freien Fläche unter der Kuppel, nun beleuchtet von hoch angebrachten Lampen, begannen einige Mädchen, von Trommeln und Saiteninstrumenten begleitet, eine Art Schleiertanz aufzuführen, aber Michael würdigte sie kaum eines Blickes. "Wie heißt Ihr?" fragte er den Vorkoster. "Er ist ein Sklave, Dummkopf", zischte der König hinter ihm. "Ihr könnt doch nicht in aller Öffentlichkeit direkt das Wort an einen Sklaven richten!" Der junge Mann riß seine hellen Augen auf. Michael konnte sich in etwa vorstellen, was hinter dem schmalen Gesicht vor sich ging: der König hatte einen Sklaven angesprochen! Er winkte den Vorkoster, sich zu seinen Füßen auf eines der Polster zu setzen. Und die aufgebrachte Reaktion des Königs bestärkte ihn noch darin, das Gespräch mit dem Sklaven zu suchen, der ebenso der Willkür des Königs ausgeliefert war, wie er selbst. Vielleicht ergab sich für Michael hier die Möglichkeit, vor seinem sicheren Tod eine Tat zu vollbringen, an die Silion von Berresh sich noch lange mit Unbehagen erinnern würde. "Euren Namen, Vorkoster." "Ich... ich heiße... oh, Herr!... Ich heiße Nefut Darashy, euer Majestät." Der Vorkoster schien im Boden versinken zu wollen, aber er setzte sich nicht. Michael konnte den König in seinem Rücken aufgebracht schnaufen hören und er mußte sich mühsam ein breites Grinsen verkneifen. "Wie kommt es, Nefut Darashy, daß Ihr ein Sklave in diesem Palast seid?" wollte er nun von dem Vorkoster wissen. "Der... der Sklavenmeister des Palastes hat mich auf dem Markt gekauft, euer Majestät", stotterte Nefut Darashy. "Und wie seid Ihr zum Sklaven geworden?" Der Vorkoster schluckte schwer. "Banditen überfielen unsere Jagdgesellschaft, Euer Majestät... alle Überlebenden wurden als Sklaven nach Hannai gebracht." "Von wo kommt Ihr?" Hinter Michael stöhnte der König nun auf, und der Vorkoster war offensichtlich verblüfft. Auch der Wesir, der dem Gespräch aufmerksam gefolgt war, sah Michael erstaunt an, dann erhellte sich sein Gesicht jedoch in plötzlichem Begreifen. "Euer Majestät werden sich erinnern, daß seit Eurem Sieg über die Oshey-Stämme einer Eurer Titel 'Herrscher über die Wüste' lautet", warf er ein. "Ich muß es tatsächlich vergessen haben", sagte Michael langsam mit einem freundlichen Kopfnicken zum Wesir. Wenn der Mann nicht völlig auf den Kopf gefallen war, mußte ihm schon bei jener kurzen Begegnung im Büro die große Ähnlichkeit des Eindringlings im Pyjama mit dem König aufgefallen sein." "Kanzlei", warf Cassandra plötzlich ein. "Häh?... oh ja, richtig. Das paßt besser." Michael verbesserte den Satz. "Wenn der Mann nicht völlig auf den Kopf gefallen war, mußte ihm schon bei jener kurzen Begegnung in der Kanzlei die große Ähnlichkeit des Eindringlings im Pyjama mit dem König aufgefallen sein. Und es brauchte auch keine großartigen Kombinationsfähigkeiten, um aus den im Flüsterton geführten Gesprächen zwischen König und Leibdiener, dem Auftauchen eines Doppelgängers wenige Stunden zuvor und der offensichtlichen Unkenntnis des Königs über sein eigenes Hoheitsgebiet die richtigen Schlüsse zu ziehen. Der Wesir musterte Michael, und seinem Blick nach hatte er sich eine Meinung gebildet. Nun mußte er nur noch seine Attentäter zurückpfeifen. "Sagt mir, Nefut Darashy, welche Stellung hattet ihr, bevor ihr ein Sklave wurdet?" Wehmütig wanderte der Blick des Vorkosters zu Prinz Faron, der gebannt die akrobatischen Verrenkungen der Tänzerinnen verfolgte. "Euer Majestät, ich bin der erste Sohn eines großen Stammesfürsten." "Was ist mit eurem Vater, Prinz?" fragte Michael und forderte den Mann ein weiteres Mal auf, sich zu setzen. Da Michael ihn mit der Anrede in seinem Rang bestätigt hatte, setzte der Prinz sich tatsächlich auf eines der Polster. "Mein Vater wurde bei dem Überfall getötet, euer Majestät", sagte er dann leise. In Michaels Gehirn, das den Drogennebel inzwischen weitgehend verarbeitet hatte, überschlugen sich die Gedanken. "Also, Prinz Nefut Darashy, ihr seid demnach ein Fürst eures Volkes... habt ihr in dieser Position genügend Einfluß auf andere Stämme, um ihnen klarzumachen, was es heißt, wenn ich heute die Wüstenstämme für unwiderruflich souverän erkläre?" Angesichts des schweren Atmens in seinem Rücken war Michael sicher, daß der König einem Wutanfall näher war als jemals zuvor. Der Wüstenprinz dagegen musterte Michael eine Weile und nickte endlich stumm. Michael drehte sich zum Wesir. "Schickt nach dem Schreiber, Wesir, damit ich einen Vertrag aufsetzen kann." Der Wesir hatte seine Verblüffung schnell unter Kontrolle und gehorchte, indem er den Jungen, der noch in seiner Nähe stand, mit entsprechenden Anweisungen aus dem Saal schickte. Aus dem Augenwinkel sah Michael, daß sein 'Leibdiener' vor Wut zitterte. "Das wird euch noch leidtun", stieß der König durch zusammengepreßte Zähne hervor. "Oh ja, sehr leid! Es wird mir ein Vergnügen sein, euch persönlich jeden einzelnen Knochen zu brechen, euch die Zunge herauszureißen, die Augen mit glühenden Eisen zu versengen, eure Mannheit..." Abwehrend hob Michael die Hand. "Seid jetzt still", zischte er seinerseits dem König zu. "Bedenkt, ich bin euer Köder. Sicher wollt ihr doch nicht selbst euren genialen Plan verraten. Nach diesem Fest - wenn ich dann noch lebe - werden wir weitersehen. So lange bin ich der König und ihr müßt mir freie Hand lassen, ob es euch gefällt oder nicht." Der König schwieg tatsächlich. Der jugendliche Diener des Wesirs erschien wieder, den Schreiber und einen Diener mit niedrigem Schreibpult im Schlepptau. Michael ließ ihnen Zeit, sich niederzulassen, einen Pergamentbogen auf dem Pult auszubreiten und Federn bereitzulegen, dann begann er: "Ich, Silion von Berresh, König von Hannai und so fort, gebe hiermit meinem Sklaven Nefut Darashy, seines Zeichens königlicher Vorkoster, die Freiheit und... wie lange seid ihr schon hier, Prinz?" "Zwei Monate, euer Majestät." "...gebe meinem Sklaven die Freiheit und verfüge, daß er zweihundert Goldstücke als Entschädigung für seine Knechtschaft erhält... ich hoffe, das ist ausreichend." Michael schaute fragend zum Vorkoster. Der Wüstenprinz nickte. "Und weiter im Text", wandte Michael sich wieder an den Schreiber. "Des weiteren erkläre ich ihn, in meiner Eigenschaft als Herrscher über die Wüste, zu meinem Sprecher gegenüber den Wüstenstämmen und trage ihm auf, den Stämmen mitzuteilen, daß ich jeden Anspruch, den ich auf die Wüste und ihre Bewohner jemals erhoben habe, für alle Zeiten aufgebe." "Man nennt sie 'Oshey', Euer Majestät", erinnerte der Wesir Michael flüsternd. "Dank euch, Wesir... aufgebe. Als souveränen... Nachbarn..." Michael warf dem Wesir einen fragenden Blick zu und der nickte, "bitte ich die Oshey, unter sich ihrerseits einen Bevollmächtigten als Botschafter und Sprecher zu wählen oder sonstwie in einer ihnen angemessen scheinenden Weise zu bestimmen, der ihre Interessen bei den Verhandlungen um Entschädigung für während meiner Herrschaft entstandene Unbilden vertritt. In meinem Palast werden Räume für diesen Botschafter und sein Gefolge sowie für seine Nachfolger bereitgestellt." Einer plötzlichen Eingebung folgend wandte Michael sich wieder an den Wüstenprinzen: "Gibt es bei den Oshey-Stämmen einen, der einen Raubvogel im Wappen hat?" "Die Tashrany tragen den aufsteigenden Falken... einst herrschten sie über Hannai, euer Majestät." Michael nickte. "Ja, so etwas habe ich mir schon gedacht... so, Schreiber, schließt mit der üblichen Formel und laßt mich mein Siegel daraufsetzen. Und euch Nefut Darashy bitte ich, als erstem Stamm den Tashrany Bescheid zu geben. Ist das möglich?" "Ja, euer Majestät." "Das Siegel, euer Majestät", bat der Schreiber und drückte dann den Ring, den Michael ihm gegeben hatte, in den heißen Siegellack. Michael nahm den Goldring mit dem schwarzen Stein, in den ein galoppierendes Pferd geschnitten war, wieder entgegen." 'Aber eigentlich müßte der Stein eher grünschwarz - oder sogar dunkelgrün - sein, und das galoppierende Pferd sollte eigentlich Flügel tragen', dachte Michael plötzlich. Aber das lag wohl daran, daß für ihn als Dichter natürlich nur ein Pegasus in Frage kam. Er quittierte den erstaunten Blick Cassandras über sein Verstummen mit einem kurzen, entschuldigenden Lächeln und las weiter: "Michael streifte sich den Siegelring wieder über und befahl: "Schreiber, bitte veranlaßt, daß Prinz Nefut Darashy von seinem unschönen Armband befreit wird und er angemessene Kleidung erhält... sowie an Transportmitteln, Proviant und Soldaten alles was er wünscht, um zu den Seinen zu gelangen." Der Wüstenprinz ergriff Michaels Hände und küßte sie. "Ihr seid ein großer und weiser König. Alle haben euch verkannt, doch von mir wird die Welt erfahren, wie großmütig ihr seid. Und die Oshey werden euch stets und für alle Zukunft willige und starke Gefährten sein, euer Majestät." Mit Freudentränen in den Augen eilte der Prinz dem Schreiber hinterher. Michael war gerührt. Schöner hätte er es auch nicht formulieren können. Aber andererseits wurmte ihn, daß er dem König unbeabsichtigt einen begeisterten Bündnispartner verschafft hatte. "Dieser Bote wird die Stämme niemals erreichen", zischte der König giftig. "Ich werde..." "Eure Entscheidung sollte verkündet werden", unterbrach nun der Wesir den Ausbruch des 'Leibdieners'. Michael nickte erleichtert. "Ich bin überzeugt, ihr werdet euch darum kümmern, daß es morgen in ganz Hannai bekannt ist." "Aber gewiß, euer Majestät", erwiderte der Wesir und verbeugte sich steif. Neben Michael ließ sich nun Prinzessin Mara auf der Thronbank nieder. Während der Vertrag aufgesetzt und besiegelt worden war, mußte sie von ihrem etwas abseits gelegenen Platz herübergekommen sein. "Was sagt ihr zu den Tänzerinnen, mein König?" fragte sie mit säuselnder Stimme. Michael musterte die sparsam bekleideten Odalisken und lächelte beifällig. "Wirklich ganz nett", sagte er und griff nach einer kandierten Frucht. "Ihr seid unvorsichtig, Majestät", mahnte der Wesir. "Ihr habt keinen Vorkoster mehr." Michael zuckte die Achseln und steckte die Frucht in den Mund, kaute genußvoll. "Da allgemein bekannt ist..." begann er noch mit vollen Mund, aber er verstummte, denn sein Blick fiel auf ein Streifenhörnchen, das zu Füßen der Königin saß und sie aus seinen Knopfaugen mordlüstern anstarrte - Cassandras Casus Belli. Wenn das halbwegs zahme Taschentier hier war, konnte auch seine Besitzerin - und damit die Rettung - nicht weit sein. Und da stand seine Muse in ihrem gelbseidenen Kimono auch schon vor der Königin. In der Hand hielt sie ein paar der bläulichen Papierbögen, die Michael als ihre 'Unterrichtsblätter für die praktische Anwendung zauberischer Fähigkeiten' erkannte. "Wer seid ihr?" fragte die Königin irritiert, während Cassandra sie durchdringend aus ihren verschiedenfarbigen Augen musterte. "Ich bin eine Zauberin", sagte Cassandra herausfordernd zur Königin, "und ich komme, um einen Unschuldigen vor dem Tod durch eure Hand zu bewahren." "Was wißt ihr schon?" erwiderte die Königin abfällig. "Für seine Taten hat er den Tod tausendfach verdient!" "Aber der, dem sich euer Messer schon bis auf Haaresbreite genähert hat, ist nicht der, den ihr eigentlich töten wollt!" Michael spürte an seiner rechten Seite den sanften Druck eines spitzen Gegenstandes und rückte schnell von der Königin ab. Gleichzeitig sprang der Wesir auf, um der Königin den schmalen Dolch zu entwenden. Da aber traf schon ein Blitzstrahl die zarte königliche Hand, den Cassandra mit einem ihrer im Fernkurs erlernten Zaubersprüche herbeigerufen hatte. Mit einem schmerzvollen Aufschrei ließ die Königin den nun glühend heißen Dolch fallen. Die verbrannten Finger versuchte sie mit ihrem Speichel zu kühlen. "Was fällt euch ein?!" fauchte sie aufgebracht und hätte Cassandra wohl mit ihren Blicken getötet, wenn es ihr möglich gewesen wäre. "Dieser Mann ist nicht der König, auch wenn er ihm aufs Haar gleicht", eröffnete Cassandra ihr. Michael sah sich nach dem wirklichen König um, aber der hatte sich bereits mit den Leibwächtern aus dem Staub gemacht. Was seine Todfeinde betraf hatte Silion von Berresh, König von Hannai, offenbar ganz furchtbar schlampig recherchiert. Indessen setzte Cassandra ihre Erklärung fort: "Dieser Mann ist Michael Drake, Held der Göttin Athena und mein Gebieter." Und sie wandte sich mit einem fast spöttisch zu nennenden Lächeln an Michael. "Na, was ist, 'Meister'? Hast du dein Teleportations-Abonnement vergessen, oder hat es dir hier so gut gefallen, daß du nicht mehr weg wolltest?" Das Teleportations-Abonnement! Michael hatte es tatsächlich vergessen und dabei hätte er sich schon davonmachen können, bevor der ganze Ärger überhaupt anfing. Wie hatte er nur seinen Lohn für die Rettung der Götter vergessen können? Aber wie teleportierte man überhaupt? "Ich weiß gar nicht, was ich da machen muß", gab Michael kleinlaut zu. "Nun, wenigstens weiß ich es", entgegnete Cassandra mit einem etwas herablassenden Lächeln." "C'est merveilleux, Maître... et charmant! Wirklich!" rief Cassandra erfreut aus und klatschte Beifall. Entzückt nahm Michael Cassandras Überschwang zur Kenntnis. Dann suchte er die Stelle, an der er unterbrochen worden war. "Cassandra hob Casus Belli vom Teppich auf, wo das Taschentier sich für eine heruntergefallene Frucht zu interessieren begonnen hatte und ergriff Michaels Hand. Sie zog ihn hoch von der Thronbank und führte ihn durch die wie erstarrt wirkende Menschenmenge aus dem Festsaal und in einen kleinen Garten-Innenhof. Eine Sekunde später atmete Michael bereits die kühle Hohenheimer Nachtluft ein und bemerkte erleichtert, daß er wieder seinen gestreiften Pyjama trug. Sie standen vor der Eingangstür des drake'schen Hauses. "Du hältst einen ganz schön in Atem", klagte Cassandra leise, aber die Lampe über der Tür zeigte ihr Lächeln. Plötzlich umarmte sie ihn und küßte ihn sanft auf die Lippen. "Sieh' zu, daß du in Zukunft besser auf dich aufpaßt. Aber du kannst mich für meine Mühen entschädigen!" Ihr Knie strich seinen Oberschenkel entlang. "Aber doch nicht hier auf der Straße", verwahrte Michael sich mühsam. "Laß uns reingehen. Mir wird kalt", behauptete er. Und sie gingen ins Haus. * * * Kapitel 4: Ein Hauch von Zauberei --------------------------------- Ein irrer Traum, dachte Michael, während er - von der Morgensonne schon geweckt, aber noch mit geschlossenen Augen - im Bett lag. Und dabei schien er ihm so real gewesen zu sein. "Oh, du siehst ja richtig chic aus", begrüßte ihn Anna und berührte mit ihrem Rosenmund Michaels Stirn. Er schlug die Augen auf. "Bist du gestern Nacht noch einmal aufgestanden, um mich zu überraschen?" Cassandras Kommentar auf Michaels verwirrten Blick war ein breites Grinsen, dann streckte sie sich wohlig und stand auf. "Was meinst du?" fragte Michael seine Angetraute etwas befremdet. "Na, deinen Bart, was sonst. Das Gestrüpp war ja entsetzlich, ich wollte es dir eigentlich gar nicht sagen, aber jetzt... richtig flott, wie ein Kalif." Lächelnd streichelte Anna seine Gesichtszier. Und nun strich sich auch Michael verwundert über das Kinn und den elegant gestutzten Bart." Cassandra klatschte noch einmal Beifall. "Ich danke dir dafür, mich zu einer Zauberin gemacht zu haben. Die Idee gefällt mir... aber du hast gemogelt! Das ist die Geschichte deiner Bartfrisur, nicht die seines Entstehens. Da muß ich also Nachbesserung anmahnen... mal ganz abgesehen von dem deus, richtiger der musa ex machina, die die ganze Sache so schnell zu einem glücklichen Ende bringt." Michael nahm die Kritik mit einem steifen Nicken zur Kenntnis. Cassandra hatte da ihren Finger auf einen wunden Punkt gelegt... aber beim Sichten des Manuskriptes zeigte sich immerhin, daß die Anstreichungen zur erzählerischen Glättung des Textes nur dünn gesät waren. Also hatte sein Talent die vergangenen fünf Jahre offenbar nur geschlummert und war nicht verendet - oder Cassandra hatte es erfolgreich wiederbelebt. Es sollte mit dem Roman wohl klappen. "Ich werde nachbessern, versprochen. Für dein ungeteiltes Wohlwollen nehme ich die Rettung der Götterwelt in Angriff," sagte er leise und hauchte seiner Muse einen Kuß auf die samtige Wange. Cassandra spielte mit, aber dann fiel ihr ein: "Willst du wirklich wissen, wie das Teleportieren funktioniert?" Und als Michael nachdrücklich nickte, nahm die Muse den Stapel von Zauberlehrgangsblättern, über den sie nun verfügte, zur Hand, suchte darin und zog dann ein Blatt heraus. Für Michael sah es so normal aus, wie irgendein leeres Blatt Papier, aber als Cassandra mehrmals mit den Händen darüberstrich, bildeten sich langsam Buchstaben und Zeichen auf dem bläulich-weißen Papier. Zwei Überschriften fielen ins Auge. Auf dem oberen Ende der Seite stand 'Zu Teleportieren', im unteren Drittel 'Durch Wände zu gehen'. "Diese Anleitung ist natürlich eigentlich für Menschen, die über magische Fähigkeiten verfügen", erklärte Cassandra ernsthaft. "Aber das Teleportationsabo versieht dich mit einer Art zweckgebundener Magie, die auch dir die Teleportation erlaubt..." Michael hörte nur mit einem halben Ohr der einführenden Erklärung zu. Ihn interessierte das Kapitel 'Durch Wände zu gehen' viel mehr. Schematisch war eine rechte Hand abgebildet, Kleiner und Ringfinger mit dem Daumen zusammengelegt, Zeige- und Mittelfinger gerade ausgestreckt. Eine gepunktete Schleifenlinie markierte, wie die ausgestreckten Finger zu führen seien, darunter stand noch: 'Und befiehl der Wand, sich Dir zu öffnen.' Cassandra stieß ihn an. "Halloho! Hör zu! Teleportation gelingt nur im Freien, unter dem offenen Himmel. Und du brauchst für deine ersten Versuche einen festen Bezugspunkt. Vorzugsweise suchst du dir diesen Bezugspunkt an einem Ort, der für dich sicher ist und nicht von aller Welt einsehbar. Dein Garten ist also ideal. Präge dir den Punkt, den du wählst, genau ein; versuche, ihn mit allen Sinnen zu erfassen, ihn zu spüren, auch wenn du nicht an diesem Ort bist. Zu diesem Punkt kannst du dann von überall her gelangen, einfach indem du dir vorstellst, an ihm zu sein. Und wenn du etwas Übung hast und deine Imagination ausreicht, kannst du auch andere Orte erreichen, dich im eigentlichen Sinn des Wortes hindenken. Aber du brauchst immer eine genaue Vorstellung von dem Ort, an den es gehen soll." "So einfach ist das?" Michael staunte. "Gibt es da nicht auch die Gefahr von Zusammenstößen, der Materialisierung in bereits vorhandener Materie oder ähnliches?" Cassandra schüttelte den Kopf. "Das müßtest du dann schon bewußt herbeiführen. Wenn du so einfach dastehst, sinkst du ja auch nicht in festen Untergrund ein. Zauberei setzt die Naturgesetze schließlich nicht außer Kraft, sondern nutzt nur ihre vorhandene Elastizität aus. Natürlich geht nichts ohne Übung. Stehen und Laufen hast du schließlich auch lernen müssen." Die Muse grinste über Michaels Gesichtsausdruck. "Ja, ich weiß, das ist schon ein Weilchen her, aber das sollte dir nicht den Mut nehmen. Das Üben nimmt dir jedoch keiner ab." "Und wenn ich mal Mist mache, bist du da, um mich zu retten?" fragte Michael halb im Scherz. Cassandra zögerte mit der Antwort. "Wir werden sehen", sagte sie dann, doch ihr Lächeln wirkte etwas bemüht. Noch an dem Abend streifte Michael durch seinen Garten, um sich einen Bezugspunkt zu suchen und mit seinen 'Gehversuchen' zu beginnen. * Freitag, 10.7.1970 Da der Verlag nun, nach dem ersten Romanexposé seit über fünf Jahren, schon drängelte und das Institut ihn daran erinnerte, daß zu Beginn des Herbsttrimesters bereits die Vorlesungsverzeichnisse für das Frühjahr zusammengestellt würden, mußte Michael sich wohl oder übel am nächsten Morgen außerplanmäßig in die Bibliothek aufmachen, um für den Roman und ein mögliches Vorlesungsthema zu recherchieren. Wie der Fachbereich Philologie war auch dessen Bibliothek im ehemaligen Bischöflichen Palais untergebracht, freilich lag der Haupteingang zur Bibliothek - benutzte man nicht die internen Schleichwege - auf der Rückseite des 'Schlosses', und so lautete seine Adresse nicht 'Am Schloßplatz', sondern 'Auf dem Domberg'. Die Fassade des Palais, auf die Michael von der Innenstadt her zuging, erfüllte alle Anforderungen, die an einen barocken Fürstensitz gestellt werden konnten, einschließlich der inzwischen zur Fußgängerzone umgewidmeten Prachtallee, die auf den Haupteingang des Palais oder 'Schlosses' führte. Es handelte sich bei diesem 'Schloß' jedoch nur um eine alte städtische Klosteranlage, deren Ostflügel im späten 17.Jahrhundert modernisiert worden war. Der rückwärtige Teil mit der 'Bischöflichen Bibliothek', wie sie bis heute trotz der Säkularisierung im 19.Jahrhundert hieß, zeigte noch die gotischen Spitzbögen, ebenso wie der durch einen überdachten Gang mit dem ehemaligen Kloster verbundene Dom 'Maria und Alle Heiligen', der dem über der Neustadt im Tal liegenden Teil der Höhe seinen Namen gegeben hatte. Michael sah die steilen Treppen zur Neustadt hinunter, lehnte sich, wie er es immer tat, weit über das Geländer der Domplatzterrasse. Das Geländer war noch das Gleiche wie zu Michaels Schulzeit, ebenso die aus dem Fels gehauenen Stufen der Treppe, aber die gläsernen Aufzüge waren verhältnismäßig neu. Im vergangenen Jahr war daran noch gearbeitet worden. Im Sonnenlicht glitzerte jenseits der Neustadt der Rhein, der aus Richtung Hohenzell und Basel kam und nach Norden floß. Die verkehrsgünstige Lage hatte Hohenzell bereits in vorrömischer Zeit zu Reichtum verholfen und wohl auch die ersten Anfänge von Hohenheim befördert. Obwohl es noch recht früh war, hatte die Sommerhitze auf dem gepflasterten Platz vor dem Dom schon wieder ein fast unerträgliches Maß erreicht, also flüchtete Michael in die angenehm kühle Bibliothek. "Ah, b'jour, Professor Drake", begrüßte ihn der Bibliothekspförtner, als Michael die schwere Holztür, die vom Treppenhaus zu den Lesesälen und Katalogräumen führte, bedächtig schloß. "Steht ihnen gut, der Bart." "Danke, Herr Lavater", grüßte Michael zurück und trug sich in das dargebotene Benutzerbuch ein. Er war der erste an diesem Freitag und machte eine diesbezügliche Bemerkung. Lavater grinste. "Und dabei ist es hier doch viel angenehmer als in der prallen Sonne." Michael grinste zurück. "Das Schwimmbad ist aber vielleicht doch attraktiver." Lavater freute sich. "Na, zumindest was die sinnlichen Genüsse betrifft." Michael grüßte den launigen Mann und machte sich auf ins Magazin. Als Dozent der mehr ehrwürdigen als alten Friedrich-Philipp-Universität Hohenheim gehörte Michael zu den wenigen Privilegierten, denen der persönliche Zutritt in die Magazine gestattet war. Er ging den bekannten, mit grau-beigem Linoleum ausgelegten Gang entlang, vorbei an den hohen Fenstern mit Blick auf den ehemaligen Kloster-Kreuzgang zur Linken und den kassettierten Holztüren zur Rechten, die in die Büros der Bibliotheksangestellten und ins Vorzimmer des 'Bischöflichen Bibliothekars' führten. Die schmale Treppe nach oben und den dortigen Gang noch weiter, bis zum Wegweiser zu den verschiedenen Magazinräumen. Aber Michael kannte den Weg zu 'seinem' Magazin natürlich im Schlaf, ohne sich dafür auf die Wegweiser verlassen zu müssen. Wie alle Magazine befand sich auch 'seines' hinter einer schweren, brandsicheren Metalltür, die sich auf ihren gut geschmierten Angeln jedoch leicht bewegen ließ. Der vertraute Geruch der Ledereinbände und des alten Papiers umfingen Michael. Er fühlte sich hier so heimisch, wie kaum an einem anderen Ort. Im Trimester besuchte er das Magazin fast täglich und in den Ferien doch zumeist einmal in der Woche. Tatsächlich empfand er den Inhalt der dicht stehenden Regale als 'seine' Bücher, obwohl sie ihm doch gar nicht gehörten, und nur vier der sechs tatsächlich von ihm verfaßten wissenschaftlichen Werke vorne im ersten Regal mit den Institutsschriften unter der Signatur 'FriPhiPL07' standen. Seine Dissertation stand im Magazin 'Deutsche Lyrik' und 'Faszination Morgenland' war im Druck. Die durchgesehenen Korrekturfahnen hatte er in den Briefkasten gesteckt, als er seine Tochter Greta nebst Familie vor einigen Tagen am Basler Flughafen verabschiedete. Er würde im kommenden Trimester an das Thema Orient anknüpfen, im Vorlesungsverzeichnis war es angekündigt als 'Die Geschichten in Geschichten. Wurzeln und Entwicklung einer Erzähltradition'. Natürlich war er bei seinen Recherchen dazu an den antiken Romanen nicht vorbeigekommen... und warum sollte er nicht zu seinen altphilologischen Wurzeln zurückkehren und Antike und Antikenrezeption in den Mittelpunkt einer Vorlesung stellen? Auch sein neuer Roman sollte ja mehr oder weniger im antiken Gewand daherkommen. Nach den Worten seines Verlegers hatten solche Themen zur Zeit beim Publikum die besten Chancen. Michael schlenderte durch 'sein' Magazin. Im hinteren Teil des Raumes standen die antiken Autoren, allen voran natürlich Apuleius, 'Phan.Lat.001'. Er ging ein Regal weiter zu den 'Phan.Graec.' Wieso hatte Achilleus Tatios die Signatur 'Phan.Graec.082'? Zählten die Griechen neuerdings rückwärts? Aber daneben stand Agathons 'Antheus' unter 'Phan.Graec.083'. Michael hatte sich bisher nie etwas dabei gedacht, nun jedoch kam es ihm merkwürdig vor. Er inspizierte systematisch die Regale des Magazinraumes 'Märchen und Phantastische Literatur': 'Phan.Aeg.', 'Phan.Ind.', 'Phan.Orient' und so fort, alle fingen mit 001 für den alphabetisch ersten Autoren des jeweiligen Regales an. Wo waren also 'Phan.Graec.001' bis '...081'? Es waren auch nach eingehender Prüfung keine auffälligen Lücken in der alphabetischen Abfolge der 'Phan.Graec.' zu bemerken, aber es war merkwürdig, daß Achilleus Tatios nicht mit '001' signiert war. Michael inspizierte noch einmal die Stirnseiten der Regale mit den Quellentexten: die 'Phan.Graec.' waren auf ein Regal beschränkt und das stand direkt vor der hinteren Wand des Raumes. Natürlich gab es da noch die stets verschlossene Tür in dieser Wand, ebenfalls eine Brandschutztür. Aber wäre dahinter ein weiterer Teil dieses Magazins, müßte das doch an der Tür oder neben der Tür an der Wand kenntlich gemacht sein, auch falls es sich um eines der nur eingeschränkt zugänglichen Rara-Magazine handeln sollte. Da war doch was faul! Noch einmal schritt Michael die Regale ab, diesmal alle: Quellen, Sekundärliteratur, Handbücher und Bibliographien - nichts zu finden. Also mußte er wohl wieder hinunter gehen in den Katalograum und den Systematischen Katalog durchsehen. Michael ging zurück zum 'Phan.Graec.'-Regal, um seinen Notizblock zu holen und versuchte spaßeshalber doch einmal die Türklinke der grau gestrichenen Brandschutztür. Sie war verschlossen. Wie war das noch mit dem 'Durch Wände zu gehen'? Michael grinste, hielt die rechte Hand in der vorgeschriebenen Weise und zog die imaginäre Schleifenlinie mit den ausgestreckten Fingern nach. "Sesam öffne dich", befahl er, aber natürlich tat sich nichts. Cassandra hatte ihm ja erklärt, daß seine magischen Fähigkeiten auf das Teleportieren beschränkt waren... allerdings hatte er es bei der Tür versucht, dabei war es doch ein Zauber 'Durch Wände zu gehen'! Michael versuchte es also ein zweites Mal, diesmal einige Meter neben der verschlossenen Tür. In der Wand tat sich eine fast türgroße Öffnung mit unregelmäßigen Rändern auf. Michael schnappte erschrocken nach Luft und war froh, im Magazin allein zu sein. Wie sollte er soetwas einem der Bibliotheksangestellten erklären? * * * Kapitel 5: Durch Wände zu gehen ------------------------------- Nach ein paar Sekunden faßte Michael sich ein Herz, trat näher an die Öffnung heran und spähte in den dahinter liegenden düsteren Raum. Soweit er in der allein durch die neue Wandöffnung etwas aufgehellten Düsternis erkennen konnte, standen hier keine Regale, sondern ausschließlich Kartons, offenbar alle dicht mit Staub bedeckt, ebenso wie der Fußboden des Raumes. Es war sicher eine halbe Ewigkeit her, daß diesen Raum zuletzt jemand betreten hatte. Michael machte noch ein paar Schritte vorwärts, stand schließlich ganz in dem unbekannten Raum und plötzlich wurde es dunkel um ihn. Die Wandöffnung hatte sich geschlossen, als Michael sie ganz durchschritten hatte. Doch an der Wand, in der sich im angrenzenden Raum die Fenster befanden, war hier und dort ein haarfeiner Lichtspalt zu erkennen. Michael mußte nur die Fensterläden öffnen... und zwischen den Kartons erst einmal bis zum Fenster gelangen, ohne alles zum Einsturz zu bringen oder größere Blessuren davonzutragen. Doch es gelang ihm schließlich sogar. Er öffnete die Fensterläden und klappte sie an die Wand. Die Scheiben waren dreckig, in den Ecken hingen ein paar Spinnweben, aber das Glas war intakt und durchsichtig genug, um die strahlende Sommersonne hineinzulassen. Auch die Luft unterschied sich in nichts von der in dem angrenzenden Magazinraum. Nur lag hier eben eine dicke Staubschicht auf dem Boden und allen anderen ebenen Flächen. Michael sah sich um. Unter dem zweiten, noch verschlossenen Fenster stand, völlig eingestaubt, einer jener typischen Bibliothekstische - dunkles Holz, die Platte durch eine Auflage aus dunkelgrünem Linoleum als Schreibunterlage geeignet. Der letzte Fürstbischof mochte schon an dieser Art von Tisch in der Bibliothek gesessen haben. Davor stand einer der ebenso typischen Bibliotheksstühle. Ansonsten waren 20 oder 30 Kartons überall im Raum verteilt, einzeln oder bis zu drei Stück hoch gestapelt, alle aus graubrauner Pappe und mit einem gleichfarbigen Deckel verschlossen. Offensichtliche Beschriftungen fand Michael an ihnen nicht. Neugierig aber vorsichtig, um den Staub nicht zu sehr aufzuwirbeln, öffnete Michael einen der am nächsten stehenden Kartons. Wie er schon vermutet hatte, befanden sich Bücher darin. Im Deckel klebte ein Blatt Papier, auf dem in altmodischer Schrift fein säuberlich notiert war: '[style type="italic"]O KLASSIZISTES, Vierteljahresschrift des Instituts für Klassizismusforschung und des Vereins zur Erforschung des europäischen Antikenerbes. Jahrgang 22, 23, 24, 25, 29, 30, 31, 32, 33 vollständig, sowie Hefte 1, 2, 4 des Jg.27; Hefte 2, 3 des Jg.28.[/style]' Michael nahm eines der obersten Hefte aus dem Karton, wie die anderen war es etwa schulheft-groß, einen guten halben Zentimeter dick und in dunkelblaue Pappe gebunden. Es trug bisher weder eine Signatur noch einen Bibliotheksstempel. Der Titel der Zeitschrift war auf den Pappdeckel gedruckt und auf die erste Seite des Heftes. Der erste Artikel war überschrieben: 'Die badischen Hellenen, die Hohenzeller Athene und der Baldus-Hügel als Oikisten-Heroen-Grab Aus Anlaß der sich in Kürze zum 175. Male jährenden friedlichen Revolution des badischen Volkes sei ein ordnender Rückblick auf die ebenfalls nahezu 175 Jahre Forschung zu diesem Gegenstand gestattet. Als Ergänzung zu den wegweisenden staatsrechtlichen Untersuchungen der Neuordnung Baden-Oberrheins, die Lohgerber und Bleyle um 1900 anstellten - sowie jüngst Holtzer - und den Untersuchungen zur eidgenössischen Kunstförderung - ich nenne hier, für viele stellvertretend nur A. Ruprecht: Das öffentliche Kunstwerk, in: C. Long-Llewellyn: Education and Scholarship in Western Europe, Part 2: German Speaking Countries, Vol.5: Baden-Oberrhein - fehlte bisher eine Übersicht über die reichhaltige Literatur zur Antikenrezeption in der Badischen Befreiungstat als Folge der Verinnerlichung des hellenischen Ideals. Als gliedernde Stichpunkte sollen hier dienen: Literatur, Architektur und bildende Kunst. Literatur: Am Anfang muß natürlich stehen: Y. Roman: "Baldus' Hinaufzug in den Schwarzwald" in der Tradition der xenophontischen Anabasis. Der Autor legte 1887 damit eine gründliche literaturkritische Untersuchung und Würdigung der autobiographischen Schrift unseres Freiheitshelden vor.' Michael hatte seinerzeit über die Kampflieder von Baldus' Genossen promoviert. Aber vor kurzem war doch erst der 150. Jahrestag der Revolution von 1816 begangen worden. Michael blätterte noch einmal zum Anfang des Artikels, suchte dann auf dem Deckblatt nach dem Datum des Bandes. Er hatte Heft 4 des Jahrganges 22 in der Hand - aus dem Jahre 1990! Der in dem Karton angeblich zu findende Jahrgang 33 müßte demnach noch weitere 11 Jahre in der Zukunft abgefaßt worden sein. Anscheinend hatte er hier einen Karton zukünftiger Bücher vor sich! Es gab natürlich auch die Möglichkeit, daß sich irgendeiner den Spaß geleistet hatte, Bücher mit falschen Daten zu drucken - oder er ganz einfach über seinen Recherchen eingeschlafen war, nach der langen, schlaflosen Nacht, und nun träumte. Die dichte und bis zu Michaels Eintritt unversehrte Staubdecke im ganzen Raum sprach zumindest gegen einen kürzlichen Scherz. Aber andererseits, wenn es möglich war, durch Wände zu gehen, warum sollten dann nicht zukünftige Bücher schon fertig gedruckt und gebunden vorliegen? Michael schüttelte den Kopf, um die krausen Gedanken in dessen Innern wieder zurechtzurücken. Am einfachsten war, im Alphabetischen Katalog nachzusehen, ob sich dort überhaupt - und gegebenenfalls welche - Jahrgänge des 'Klassizistês' fanden. Und bei der Gelegenheit sollte er im Systematischen Katalog auch gleich Ausschau halten nach 'Phan.Graec.001-081'. Also folgte Michael seinen Spuren im Staub zurück zu der Stelle der Wand, an der er sie schon einmal durchschritten hatte. Diesmal wirkte er den Zauber auf Anhieb erfolgreich und trat zurück in 'sein' Magazin. Seinen Notizblock suchte er jedoch auf dem 'Phan.Graec.'-Regal vergeblich. Dabei war er fest davon überzeugt, ihn auf der Buchablage gelassen zu haben. Sicher hatte er ihn nicht mit in den verschlossenen Raum genommen, denn er hatte dort doch beide Hände frei gehabt. * Die halbherzige Suche im Magazinraum hatte den Notizblock nicht wieder zum Vorschein gebracht, und über die bekannten Flure und Treppen war Michael schließlich in den Katalograum im Erdgeschoß gelangt. "Professor Drake?" sprach ihn eine der Bibliotheksangestellten an, als er an der Ausgabetheke vorbei auf den Zettelkatalog zusteuerte. "Ja?" fragte Michael, etwas ungehalten über die zu erwartende Verzögerung. "Ihre Frau hat vor ein paar Minuten angerufen. Sie möchten bitte nach Hause kommen." 'Meine Frau?' war Michael versucht zu fragen. Anna war doch gerade erst abgerauscht. Oder hatte vielleicht Cassandra in der Bibliothek angerufen, weil sie etwas von ihm wollte? Die große Uhr über dem Durchgang in den Zeitschriftenlesesaal behauptete, daß es schon halb eins wäre. Sollte er tatsächlich so lange in dem verhexten Magazinraum zugebracht haben? Womöglich wollte ihn Cassandra nur an das Mittagessen erinnern. "Ich danke ihnen", sagte Michael schließlich, drehte sich auf dem Absatz um und ging. Am Eingang saß Lavaters Ablösung, schob Michael das Buch zum Austragen hin und verabschiedete ihn, als Michael schon die schwere Holztür aufschob. Michael erwiderte den Gruß nur flüchtig und ging durch das kühle, steingeflieste Treppenhaus des ehemaligen Klosters hinaus - um sich dem Atem der Hölle ausgesetzt zu sehen. Die heiße Luft, die über den Domplatz strich und Michael in Sekundenschnelle einhüllte, schien geradewegs aus einem Backofen zu kommen. Der Rückweg nach Hause war fast so anstrengend wie der Marsch durch eine Wüste, aber immerhin bot die Schloßallee den Schatten der alten Linden und Platanen. Und während Michael gemächlichen Schrittes seinem Heim und seiner auf ihn wartenden Muse zustrebte, überlegte er, wie weit er in seinem Roman wohl gehen könnte, ohne sich seinen Lesern zu sehr zu entfremden. Immerhin hatte ihn seine Muse nicht nur wieder zum Schreiben, sondern auch wieder zu Lust und Liebe inspiriert. Er würde eine milesische Geschichte schreiben - einen Roman voller Verwicklungen, verzehrender Liebe und ihrer glücklichen Erfüllung. Das bisherige Exposé war so vage abgefaßt, daß damit fast alles abgedeckt war, solange es nur im mediterranen Raum spielte, also sollte das keine Probleme geben. Aber spätestens in dem Moment, als er den Achilleus Tatios in der Hand gehalten und darin geblättert hatte - wieder einmal auf die schöne Stelle gestoßen war, an der dem Erzähler erstmals begegnet, wie einen die Liebe umtreiben kann - da war dem ganzen Romankonzept ein Schubs in die erotische Richtung gegeben worden. Michael lächelte zufrieden über seine Idee, die ersten Formulierungen, die er erwog und über das Gesicht, das sein Verleger machen würde, nach über fünf Jahren 'Funkstille' nun ein so pubertäres Werk angetragen zu bekommen. Aber damit mußte der gute Mann leben. Noch immer spielte ein Lächeln um Michaels Lippen, als er die Winifredstraße erreichte, sie entlangging und schließlich das drake'sche Grundstück betrat, die paar Stufen zur Haustür hinaufstieg. Er bekam den Schlüssel nicht ins Schloß! 'Ach, was soll's', dachte Michael fröhlich und drückte den Klingelknopf in einem beschwingten Rhythmus. "Ja, ja, ich komme ja", brummelte eine Frauenstimme gedämpft hinter der Tür. Dann wurde geöffnet und Michael fror das frivole Lächeln und die für Cassandra gedachten Zärtlichkeiten auf den Lippen fest. Eine völlig Fremde stand vor ihm, rundlich und etwa so alt wie er selbst, die grau durchzogenen schwarzen Haare zu einer Rolle auf dem Hinterkopf zusammengesteckt. * * * Kapitel 6: Schatten der Erinnerung ---------------------------------- "Ruth", entwich es ihm flüsternd, als er in dem scheinbar fremden Gesicht ansatzweise die Gesichtszüge einer jungen Frau von etwa zwanzig Jahren wiedererkannte, die er vor Jahrzehnten gekannt hatte. "Ja, richtig geraten." Ruth öffnete die Tür weit, um Michael eintreten zu lassen, wartete jedoch nicht darauf, sondern hatte sich schon umgedreht und ging wieder zurück in die Küche, aus der der Duft lange nicht genossener Speisen drang. "Komm rein, Mischa, das Essen ist gleich fertig." Michael stand wie vom Donner gerührt in der offenen Haustür. Ruth Mandelbaum - was hatte die in seiner Küche zu suchen? Was hatte sie in seinem Haus zu suchen? Wieso ging sie überhaupt aufrecht unter der Sonne? Sie war seit über dreißig Jahren tot! "Und denk daran, daß du meinem Vater versprochen hast, heute Abend mitzukommen", rief Ruth - zweifellos war sie es, denn ihre Stimme hatte sich weniger geändert als ihr Äußeres - aus der Küche. "Wohin mitkommen?" fragte Michael ganz automatisch. Ruths Kopf tauchte im Rahmen der Küchentür auf. "Na, in die Synagoge. Heute ist Freitag!" Und dabei klang sie fast wie Anna, wenn die fürchtete, ein ihrer Meinung nach längst zu ihren Gunsten entschiedenes Thema noch einmal durchfechten zu müssen. Ruth klang wie eine langjährige Ehefrau. Und der Blick auf das kleine dunkle Bild neben der Wohnzimmertür, gerahmt in einen vergoldeten Barockrahmen, bewies Michael, daß hier etwas definitiv nicht stimmte. Es war die sogenannte 'Beschneidung des Salomon', Michaels einziges Erbstück von seinem mütterlichen Großvater. Hier hatte es gehangen, seit Großvater Dumeloille vor gut zwanzig Jahren gestorben war - bis zu dem Zeitpunkt als auch seine Mutter starb und Anna mit dem Hausrat völlig frei walten konnte. Seit dem war das Bild verschwunden - gewesen. Michael ging näher heran. Es war wirklich dasselbe Bild, mit der gleichen kleinen Fehlstelle im Gewand des Hohepriesters, durch die man den hölzernden Malgrund sah. "Mischa, komm zu Tisch!" rief Ruth aus der Küche. "Cassandra?" rief Michael flüsternd in das Wohnzimmer, aber er rechnete gar nicht mit einer Antwort. Als er am Morgen in die Bibliothek gegangen war, war die Wand zum Garten noch ein Panoramafenster gewesen und der Raum möbliert mit Ledercouch und Ledersesseln, die Anna vor gut zwanzig Jahren angeschafft hatte. Nun sah er auf den doch längst abgerissenen Wintergarten und es standen hier, wie zur Zeit seiner Mutter, das Biedermeier-Sofa, das Anna Michaels jüngster Schwester überlassen hatte, und die Sessel, die Michaels Vater angeschafft hatte. Und an der Stelle des steinplattengedeckten Couchtisches stand wieder der hohe, runde Holztisch, bedeckt von dem an den Enden schon etwas ausgefransten Teppich, wie seit den Tagen des drake'schen Großvaters - bis eine aufstebende junge Designerin aus Basel die erstbeste Gelegenheit genutzt hatte, den 'altmodischen Plunder' zugunsten einer zeitgemässeren Innenausstattung aus dem Haus zu verbannen. Wie hatte er Anna nur jemals freie Hand lassen können? Wie hatte er sich überhaupt jemals einbilden können, eine gemeinsame Basis mit Anna zu haben? Es war merkwürdig, hier zwischen den Besitztümern seiner Altvorderen zu stehen, aber es fühlte sich an wie die Rückkehr in die eigene Kindheit - wie eine Rückkehr zu sich selbst. Fast erwartete Michael, den schlurfenden Schritt seines väterlichen Großvaters im Flur zu hören, der ebenfalls auf den Ruf zum Essen reagierte. Aber natürlich war der ältere Michael schon seit vielen Jahrzehnten tot - ebenso wie Ruth... aber anscheinend war sie seine Frau geworden... und was sie da kochte, roch ganz wie die koschere Elsässer Küche, die seine Mutter so virtuos beherrscht hatte. * Nach dem Essen erkundete Michael sein Arbeitszimmer, das fast genauso aussah, wie vor fünfzig Jahren, als es noch Michael Drake seniors Reich war. Es hatte etwas von einer Zeitreise, den dunklen Raum, vollgestopft mit Büchern, Papieren und Erinnerungsstücken aller Art zu betreten. Michael setzte sich an den Schreibtisch, der nach den obersten Papieren zur badischen Erzähltradition, zur Überlieferungsgeschichte der Tausend-und-Eine-Nacht und einigen theoretischen Aufsätzen zur vergleichenden Literaturwissenschaft eindeutig sein Schreibtisch war - und doch war es nicht sein eigener. Es war der Schreibtisch seines Großvaters, auf dem kleinen Aufbau stand - wie zu Lebzeiten des Großvaters - noch die Sammlung von gläsernen paperweights und die bronzene Tintenkröte, daneben ein kleiner silberner Bilderrahmen, in dem ein Foto drei unbekannte, runde Kindergesichter zeigte. Mit einiger Phantasie konnte Michael gewisse Ähnlichkeiten zu sich und Ruth in den Gesichtern feststellen, aber das Bild war seiner Meinung nach zu neu, um ihre gemeinsamen Kinder zu zeigen. Hier hatte er es eher mit seinen Enkeln zu tun. Während Michael begann, in den Schubladen zu stöbern, wartete er eigentlich nur darauf, daß plötzlich die Tür in seinem Rücken geöffnet wurde, sein Großvater ihn hier unbefugt in seinem Allerheiligsten sitzen sah, mit seiner rasselnden Stimme einen knappen cornishen Tadel sprach, dem Lieblingsenkel mit der verstümmelten rechten Hand über den Schopf strich und ihn vor die Tür setzte. Nicht, ohne ihm, wie immer, eine Ermahnung mit auf den Weg zu geben, dies oder jenes nicht zu tun, was Michael dann natürlich doch tat und sich stets, wie vorgewarnt, den Fuß verstauchte oder sonstige Blessuren holte. Eine Zeitlang hatte Michael geglaubt, sein Großvater sähe die Zukunft, aber als er selbst älter geworden war, hatte er gemerkt, daß es eben die Lebenserfahrung eines fast achzigjährigen war, die diese Warnungen motivierte. Kurz nach Michaels zehntem Geburtstag war Großvater Drake gestorben, danach war der Schreibtisch und sein Inhalt auf den Boden geschafft worden, denn Michaels Vater - Gabriel Basil Drake - respektierte das Testament des älteren Michael, der den gesamten Inhalt seines Arbeitszimmers dem Enkel vermacht hatte. Anna hatte ihn veranlaßt, den Schreibtisch auf dem Boden zu lassen, als er selbst nach dem Tode seines Vaters dieses Zimmer als Arbeitszimmer übernommen hatte. Michael betrachtete die aus den Schubladen zusammengesammelten Beutestücke, die er auf der Tischplatte ausgebreitet hatte: ein Stapel Visitenkarten, die wohl seine eigenen, nicht die seines Großvaters waren; einige hübsch glänzende Badische Silbergroschen - Jubiläumsprägungen zur 125. Revolutionsfeier; der alte Kolbenfüllhalter, den er seit Jahren verloren glaubte; das Petschaft mit dem entenschnabligen, in sich verschlungenen Drachen, das sein Großvater sich in London hatte anfertigen lassen; ein ledernes Ringkästchen mit einem Siegelring, den jemals zuvor gesehen Michael sich nicht erinnern konnte. Das abgegriffene Kästchen schien schon sehr alt, war mit bereits stumpf gewordener Seide ausgekleidet und der Ring wirkte noch sehr viel älter. Der Goldreif war ganz schlicht, aber der durchscheinende, grüne Stein, den er umfaßte, war mit einem Pegasus graviert. Das kleine Pferd, der Hengst, war mit erstaunlicher Lebendigkeit dargestellt, die Schwingen waren ausgebreitet und es schien durch die Luft zu gallopieren. Ein wunderschöner Ring. Und dann hatte er noch ein Fotoalbum und ein dünnes Heft mit schwarzem Umschlag gefunden, auf dem außen mit Bleistift in etwas unbeholfener Handschrift 'Diary' stand und auf der Innenseite des Umschlages, ebenfalls in englisch: 'Begonnen auf ärztliche Anweisung zu Merburg im September des Jahres 1882 im britischen Militärhospital daselbst.' Der englische Text auf den linierten Seiten war zum Teil mit Kopierstift geschrieben. 'Es heißt, ich hätte vor zwei Monaten ein Schiffsunglück überlebt. Ich kann mich an diesen Unfall ebensowenig erinnern, wie an die ersten Wochen in diesem Krankenhaus. Auch meine eigene Geschichte, meine Daten, sind mir unbekannt. Die Ärzte erklärten mir, das läge an der Schwere meiner Verletzungen und dem daraus resultierenden Schock. Sie sagten weiter, ich sei gut vierzig Jahre alt und aller Wahrscheinlichkeit nach kein Einheimischer, sondern Brite aus dem Mutterland. Letzteres folgern sie allerdings aus meiner Kenntnis und Beherrschung der englischen Sprache. Meine Kleidung ist verbrannt, ebenso wie meine Haare. Meinen linken Arm habe ich verloren und meine rechte Hand wurde so schwer verletzt, daß sie bis vor einigen Stunden noch geschient war. Mein Rücken und meine Beine sind ebenfalls verletzt und bis heute kann ich nur das linke Bein bewegen, doch auch nur wenig. Zumindest wurde mein Gesicht nicht entstellt, doch es ist mir trotzdem so fremd wie das eines beliebigen Menschen. Die Art der Verletzungen und Verbrennungen, die ich erlitten habe, lassen zumindest auf ein Feuer und vielleicht auch auf einen Sturz schließen. Da es einen Tag vor meiner Auffindung einen Brand auf einem britischen Truppentransporter in der Nähe der hiesigen Küste gegeben hatte, glaubt man, daß ich dabei über Bord ging und wahrscheinlich auch von einer der Schiffsschrauben erfaßt wurde, bis ich schließlich nackt und verletzt an den Strand von Merburg gespült wurde. Meine Rettung aus den Fluten verdanke ich allein der Tatsache, daß der Sommer dieses Jahr schon früh begann und auch sehr warm wurde, so daß die Temperatur des Wassers auch bei langem Treiben ein Überleben gestattete. Ich habe mir gestern die Stelle zeigen lassen, an der ich gefunden wurde, aber auch der Anblick dieser Stelle am Strand weckte keine Erinnerung. Anders war es beim 'Gang' durch die Stadt. Die Michaelis-Kirche scheint mir vertraut und auch einige der Häuser der Innenstadt. Sicher kann ich sagen, daß ich Merburg bereits einmal gesehen und begangen habe. Hier erinnert sich jedoch niemand an mich. Ein Aufruf mit meinem Bild in der Zeitung und Umfragen in den Kasernen blieben bis heute ergebnislos. Die Nichterwähnung meiner Person in den Unterlagen der Streitkräfte lassen wohl den Schluß zu, daß ich kein Angehöriger der Besatzungstruppen bin, sondern ein ziviler Besucher der Besatzungszone. Als mich die Schwester heute vormittag wieder einmal für ein paar Stunden im Rollstuhl durch die Stadt schob, sah ich ein bekanntes Gesicht in der Menge. Ein junger Mann, sehr schlank und mit rötlichblondem, ingwerfarbenem Haar. 'Ginger' war auch der Name, der mir zu ihm einfiel, auf meinen Anruf jedoch erklärte er, er heiße David O'Sullivan und er sei schon 'Sandy' genannt worden, niemals jedoch 'Ginger'. Er war sehr freundlich und nahm sich die Zeit, mit der Schwester und mir einen Tee zu trinken. Er versicherte mir jedoch glaubhaft, daß er mich vor diesem Nachmittag niemals gesehen habe. Er ist der Sohn eines hiesigen Hotelbesitzers, gehört zur Jeunesse doreé von Merburg und sein Bild ist fast ebenso oft in den Zeitungen zu sehen, wie das des Prinzen oder die der jungen Lords und Peers, so daß er mir wohl daher bekannt vorkam. Heute war ich mit Schwester Blancheville in der Michaelis-Kirche. Während mir die Kirche von außen durchaus vertraut scheint, kam mir das Innere sehr fremd und düster vor. Die Glasfenster zeigen im Norden die Passion Christi und seinen Besuch im Totenreich zur Rettung der Gerechten früherer Geschlechter, im Süden die Schöpfung und die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies. Die die Zyklen im Osten jeweils abschließenden Fenster zeigen rechts über dem Allerheiligsten den Engel mit dem Flammenschwert, links davon die Himmelfahrt Christi. Über dem Altar thront Christus als Weltenherrscher in Mosaik, flankiert von den Seraphim und Cherubim, die Erzengel durch die Namensbezeichnung hervorgehoben. Von den Fenstern schienen mir nur der Engel mit dem Flammenschwert und der gemarterte Christus auf dem Weg zum Schädelberg bekannt. Und das Mosaik schien mir stumpf und altgeworden. Die griechischen Namen der Erzengel waren nur zu erahnen und ihre Gesichter und Gewänder waren eher grau denn weiß. Die lebhafteste Erinnerung kam jedoch angesichts des Namenspatrons auf dem Turm im Südosten der Kirche. Ein bronzener, im Laufe der Jahrhunderte grün angelaufener Barockengel, wie ein Ritter in Rüstung, das Schwert gesenkt, die riesigen Schwingen aufwärts gerichtet, den Drachen schon erschlagen zu seinen Füßen. Von unten glaubte ich beinahe, sein Gesicht erkennen zu können, glaubte zu wissen, der überlebensgroßen Figur schon Aug in Auge gegenübergestanden zu haben. Und natürlich hätte ein Sturz vom Kirchturm einige meiner Verletztungen wohl erklärt. Heute sprach ich mit Dr. Newman über meine Idee vom Kirchturmsturz, er wies mich jedoch darauf hin, daß dieser Sturz als Ursache für meinen Unfall gänzlich auszuschließen sei. Da ich nur wenige, sicher auf einen Sturz zurückführbare Verletzungen erlitten habe, sei der Sturz allenfalls aus sehr geringer Höhe auf den Strand erfolgt. Wahrscheinlicher sei jedoch, daß ich die entsprechenden Verletzungen beim Sturz vom Schiff ins Wasser erlitten hätte. Für mein rechtes Bein ist nun wohl nichts mehr zu hoffen, es wird weitgehend gelähmt bleiben. Immerhin habe ich nicht die Kontrolle über meine Ausscheidungsorgane verloren und habe durch lange Übung nun auch schon eine gewisse Selbstständigkeit mit dem Rollstuhl erlangt. Auch meine Befürchtungen, impotent zu bleiben, sind wohl verfrüht gewesen - ursprünglich hervorgerufen durch die reaktionslos gebliebenen Waschungen meines Unterleibs durch zarte Frauenhände - denn heute morgen reichte allein die freundliche Berührung meiner Beine durch die bezaubernde Esther Blancheville als sie mir in meinen Rollstuhl half, die bisher fehlende Reaktion auszulösen. Die Offensichtlichkeit meiner Erregung, die mich begreiflicherweise weit mehr erfreute als beschämte, sorgte für das allerliebste Erröten dieses hübschen Gesichtes, als sie schamhaft die Augen zur Seite wand. So hat mich doch - wenn auch mit gewissen Einschränkungen - das Leben nun endlich wieder. Ich stamme wohl aus Cornwall. So jedenfalls ist zu vermuten, nach der Sitzung bei Dr. Pembroke, der mir Tonaufzeichnungen der Mundarten verschiedener Gegenden des Mutterlandes vorspielte. Er erklärte, sich allein so behelfen zu können, da mein Englisch so frei von landschaftlichen Färbungen sei, daß zu vermuten wäre, ich hätte die Sprache gelehrt. Auch sei ich wohl lange im Ausland gewesen, denn einige Amerikanismen seien in meinem Englisch festzustellen, wie auch französische und deutsche Wendungen. Als ich das Cornish des Sprechers aus dem Schalltrichter vernahm, überkam mich ein solches Gefühl der Vertrautheit, wie ich es auch angesichts des bronzenen Michaels auf dem Kirchturm verspürt hatte, und ich entsann mich sicher, daß mein Vater in Penzance geboren wurde. Und auch mein Name kam mir in dem Zusammenhang wieder ins Gedächtnis zurück: ich heiße Michael Nigel Drake. Leider sind bis heute der spektakulären Wiederentdeckung meines Namens noch keine weiteren Offenbarungen über meine Person gefolgt. Und der Name brachte mich auch nicht weiter - ebensowenig wie der Hinweis auf die Herkunft meiner väterlichen Familie. Eine Anfrage in Penzance brachte nur zutage, daß sich dort auf einem Friedhof ein im 17.Jahrhundert errichtetes Familiengrab der Drakes findet; durch einen Großbrand vor zwei Jahrzehnten sind jedoch sämtliche Unterlagen wie Taufbücher, Heirats- und Geburtsregister des dazugehörenden Kirchenarchivs verloren gegangen. Weiteren 'heimatlichen' Klang vernahm ich heute aus dem Munde der lieblichen Esther. Während sie bisher mit den Ärzten und Schwestern, und auch mit mir stets Englisch sprach, mit einem entzückenden, mir bis dahin französisch scheinenden Akzent, hörte ich heute nachmittag, als ich auf der Veranda der Rehabilitationsstation saß und in der Zeitung las, wie Schwester Blancheville sich mit einer der einheimischen Bediensteten der Station auf Deutsch unterhielt. Während ich den schweren Zungenschlag der Einheimischen schon oft in der Stadt und auf dem Gelände des Krankenhauses gehört hatte, war diese Sprache aus dem Munde von Schwester Blancheville doch etwas ganz anders, verglichen mit dem spröden, etwas schleppenden Dialekt der Einheimischen so rollend und quicklebendig - wie Champagner im Vergleich zu saurem Weißwein. Ich erinnerte mich sogleich an meine Eltern, die beide viel öfter dieses eigentümlich französisch eingefärbte Deutsch als Englisch miteinander sprachen. Ja, ich selbst bin damit aufgewachsen, während ich Englisch vornehmlich von meinen Großeltern und später in der Schule lernte. Ich habe diese Nacht geträumt. Wohl auch schon in früheren Nächten, denn es hieß gelegentlich, ich hätte im Schlaf geschrien oder um Hilfe gerufen, aus den offensichtlichen Alpträumen geweckt jedoch von nichts mehr gewußt. Heute sah ich den von Grünspan bedeckten Bronzeengel im Schlaf, hoch oben auf seinem Turm, doch neben ihm stand ein zweiter, bronzefarbener Engel, der die Flügel entfaltete und aufstieg in den vom Mond erhellten Himmel. Über der Stadt flog er eine weite Kurve bis zu der großen Bucht, auf deren einander zugeneigten hornartigen Enden im Osten die Burgruine und im Westen der Leuchtturm stehen. Und dann flog er hinaus über das Meer und ich, so schien es mir, flog neben diesem Engel her, selbst wie ein Engel mit riesigen Schwingen anstelle meiner Arme, doch mein Gefieder blitzte weiß. Der andere, bronzefarbene Engel war ein Weib und im Fluge - irgendwie - paarten wir uns. So sollte ich wohl eher von Dämonen als von Engeln sprechen, doch ehrfurchtgebietend wie das eines Engels war das Antlitz dieser geflügelten Frau, in gar nichts ähnlich meiner lieblichen Esther. Schwarze Augen und langes, schwarzgelocktes Haar hatte jenes Weib, bronzefarben wie die Flügel war auch die Haut ihres nackten Leibes und allein ihr Blick auf mir entfachte schon die Lust in meinen Lenden. Viel eher gab ich mich ihr hin, als sie sich mir. Über den Tag mußte ich immer wieder an diesen Traum denken, an das nächtliche Merburg aus der Luft gesehen, so ähnlich seiner jetzigen Gestalt und wieder so unähnlich. Und an jenes engelsgleiche - dämonenhafte Weib mußte ich denken. Ich werde mich heute abend Schwester Blancheville erklären, nun, da ich wieder einen Namen, wenn auch sonst kaum eine Vergangenheit habe. Vielleicht erhört sie mich, und ich wage zu hoffen, denn daß ich ihr nicht völlig gleichgültig bin, merkte ich doch in den vergangenen Monaten, in denen sie sich um meine Genesung so aufopfernd kümmerte. Sie hat mich erhört! Wir werden nicht in der Michaelis-Kirche heiraten, wie ich im ersten Überschwange vorschlug, denn sie ist Jüdin. Und - betrachtet man es genauer - kann ich von mir auch nicht mit Sicherheit behaupten, daß ich Christ bin, denn ich bin beschnitten. Doch es ist nicht auszuschließen, daß es sich dabei vielleicht um eine von dem Unfall herrührende Verstümmelung handelt. Allerdings erinnere ich mich dunkel an Besuche an Gräbern von Verwandten, deren Steine hebräische Buchstaben trugen. Meine Erinnerungen an jedwelchen Kultus aber sind so unpersönlich, als hätte ich sie nur als Erwachsener aus kulturhistorischem Interesse studiert, so wie man in Europa eben die Schrift liest, um die Kunstwerke in den Museen recht verstehen zu können, ebenso wie Ovids Metamorphosen. Sehr religiös war mein Elternhaus nicht, das glaube ich mit Sicherheit sagen zu können, wenn ich auch nicht sicher zu sagen weiß, welchen Glauben wir nicht streng verfolgten. Heute hörte ich zum ersten Mal, daß ich doch etwas außer der nackten Haut am Leibe hatte, als man mich fand. Ein Bäckergesell, auf dem Wege zu seinem Arbeitsplatz, hatte mich an jenem Morgen am Ufer entdeckt und den Ring, den ich an der Rechten trug - sonst wäre er wohl auf immer verloren gewesen - als selbstgewählte Belohnung für die Rettung meines Lebens mir vom Finger gezogen, nachdem er die Krankenstation der Garnison verständigt hatte. Nun, nach Monaten plötzlich in Geldnot geraten, wollte er eben diesen Ring versetzen. Der Pfandleiher, dem die Erzählung, der Goldring mit dem geschnittenen Stein habe einer verstorbenen Tante gehört, merkwürdig vorkam, verdächtigte nun den Mann einer Straftat, erbat sich Zeit, angeblich um den Wert des Ringes von einem Fachmann schätzen zu lassen, und so konnte er - ohne Argwohn zu erwecken - die Polizei auf den Ring hinweisen. Ein Diebstahl war nirgends gemeldet worden, unwahrscheinlich blieb jedoch die Behauptung, er habe der Tante des Bäckers gehört, denn der Ring war sichtlich für eine Männerhand gemacht, dazu sehr alt, der Stein wohl antik, die Fassung nur unwesentlich moderner. Also wurde der Bäckergesell zum Verhör einbestellt und schließlich gestand er die Wahrheit. Mir will man den Ring morgen vorlegen, ob ich ihn wohl als mein Eigentum erkenne. Doch ich weiß ja noch nicht einmal etwas Genaues über meine Kindheit zu sagen, wie sollte ich da mit dem Ring etwas anfangen können. Aber ich habe zugesagt - und vielleicht ist ja mit einer solchen Offenbarung zu rechnen, wie schon einige Dinge sie hervorriefen. Es ist in der Tat mein Ring, und ich wünschte, er wäre einfach verloren gegangen. Ich erinnere mich nun an alles.' * * * Kapitel 7: Eine Geschichte beginnt ---------------------------------- Gebannt hatte Michael die Eintragungen gelesen. Offensichtlich hatte er das Merburger Tagebuch seines Großvaters in der Hand. Er wußte, daß Großmutter Drake den Mädchennamen Blancheville getragen, die Hochzeit seiner Großeltern in Merburg stattgefunden, und die Drake's einige Jahre später, nach einem langen Aufenthalt in Cornwall und der Geburt des ersten Sohnes in Penzance, ihren Wohnsitz in die Heimat der jungen Mutter - nach Hohenheim - verlegt hatten. Ob das der Ring war, von dem in dem Tagebuch die Rede gewesen war? Michael besah sich das Schmuckstück mit dem in den Stein geschnittenen Pegasus, zog ihn aus dem Seidenpolster und probierte ihn auf seinen rechten Ringfinger. Er paßte genau. An was alles hatte der Großvater sich erinnert? Leider endete das Tagebuch sehr unbefriedigend. Aber das paßte natürlich zu Großvater Drakes immer etwas geheimnisvollen Art. Stets hatte er die Geschichten aus seiner Kindheit und Jugend mit düsteren Andeutungen begonnen, war auch gelegentlich ins Detail gegangen, aber wo Orte und Daten konkret benannt werden sollten, brach er stets ab, und mit einer Plötzlichkeit, als hätte er schon zu viel gesagt. Das war für einen kleinen, mit Geschichten leicht zu fesselnden Jungen unbefriedigend und faszinierend zugleich gewesen, denn es war eine Einladung, sich den Rest selbst zu erfinden, und Großvater Drake hatte ihn auch stets in den Bemühungen bestärkt, Geschichten zu Papier zu bringen. Einmal hatte er ihm sogar eine Zukunft als Autor vorhergesagt, wenn er weiter fleißig übe. Und so wie es heute aussah, hatte der ältere Michael wieder einmal Recht gehabt. Michael lächelte in Gedanken an die langen Gespräche bis weit in die Nacht, die er mit seinem Großvater wenigstens einmal wöchentlich geführt hatte so lange er zurückdenken konnte. Die Selbstzweifel, die ihn in seiner literarisch 'stummen' Zeit nach Annas Weggang geplagt hatten, waren seit Cassandras Erscheinen nur noch eine böse Erinnerung. Aber nun hatte er auch die Wurzeln seiner Schaffenskraft wiederentdeckt, denn nach dem Tode von Großvater Drake vor fast fünfzig Jahren war das Schreiben für ihn die Möglichkeit gewesen, die Gespräche mit seinem Großvater über dessen Tod hinaus fortzuführen. Es war gewesen, als sei die Phantasie des älteren auf den jüngeren Michael übergegangen, als habe er mit seinen Mitteln das mündliche Erzählen des Großvaters fortgeführt. Michael blätterte in dem Fotoalbum: die Hochzeit seiner Großeltern Drake; sein Großvater zunächst noch im Rollstuhl, auf späteren Bildern auf einem normalen Stuhl sitzend oder mit dem schwarzen Stock, an den Michael sich noch lebhaft erinnerte. Doch es schien so, als sei seine rechte Hand auf den Fotos völlig unversehrt. Dabei war Michael sicher, daß seinem Großvater Drake an der verbliebenen Hand Ring- und Kleiner Finger gefehlt hatten. Vielleicht hatte der Fotograf die Aufnahme entsprechend retuschiert? Andere Bilder kamen Michael zweifelsfrei bekannt vor: die Hochzeit seiner Eltern; Kinderbilder von ihm und seinen Schwestern; die Beerdigung von Großvater Drake; dann Hochzeitsbilder zuerst mit der jüngeren, dann mit der älteren Schwester als Braut. Doch dann kamen Bilder eines Lebens, das er nie geführt hatte: seine Hochzeit mit Ruth; vier Kinder, die er nie gezeugt hatte, in Strampelhosen; mit der Schultüte im Arm; als Bar- und Batmizwa; bei der Beisetzung von Großvaters Dumeloille - und da stand unter den Trauergästen, gerade neben seinem Schwager Marcel Dumeloille, auch Gabriel Drake! Aber der war doch am selben Tag wie der alte Rabbi gestorben! Den Bildern nach zu urteilen hatte Michaels Vater sogar noch seine Frau um ein paar Jahre überlebt. Und die drei wohlgenährten Kleinkinder auf dem Foto neben der Tintenkröte waren wirklich seine Enkel, Kinder seines ältesten Sohnes von Ruth, so wie es aussah. Mit Sicherheit war Michael nicht dort, wo er seiner Meinung nach eigentlich hingehörte. Er betrachtete den Ring, der an seinem Finger eigenartig vertraut aussah. Und immerhin war ein Pegasus, das Musenroß, ja ein durchaus angemessenes Wappentier für einen Dichter und Philologen. Aber das war nicht sein Ring. Sein eigener müßte sich bei den auf dem Boden seines eigenen Hauses eingelagerten Dingen seines väterlichen Großvaters befinden. Es fiel Michael sehr schwer, den Ring wieder vom Finger zu ziehen - sein Herz schmerzte, als wäre es ein Teil von ihm selbst, das unter dem zuklappenden Deckel des Ringkästchens verschwand. Michael sah hinaus in den Garten, das Kinn auf die Handflächen gestützt. Er wollte Cassandra in die Arme nehmen, durch ihr streichholzlanges, feines Haar fahren, ihre weichen Lippen küssen, von ihnen geküßt werden... er wollte nach Hause teleportieren! Michael räumte seine Beutestücke wieder in die Schubladen, in denen er sie gefunden hatte, dann ging er zur Tür und spähte durch den Türspalt in Richtung Küche. Dort rumorte es, also war der Weg frei, unbeobachtet ins Wohnzimmer zu schleichen, durch die Glastür in den Wintergarten und durch die aufgezogene Seite hinaus in den Garten, unter den offenen Himmel. Er schloß die Augen, versuchte, sich seinen Bezugspunkt vorzustellen, sich hinzudenken, wie er es am vergangenen Abend mehrere Male erfolgreich getan hatte, in die Ecke zwischen Garagenrückwand und Geräteschuppen, zu seinem und den nachbarlichen Gärten hin noch zusätzlich blickgeschützt durch die Eibenhecke, die schon seit seinen Kindertagen dort wuchs. Und er merkte, daß sich sein Standort tatsächlich verändert hatte. Michael schlug die Augen auf, sah vor sich die bereits früchtetragenden Eiben, spührte, als er einen halben Schritt zurück machen wollte, den Widerstand der Garagenwand in seinem Rücken. Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr ihm, und er stützte sich mit einer Hand gegen die weiß gestrichene Mauer - aber faßte in Efeu. 'Oh nein!', dachte er. Anna hatte diesen Efeu doch eigenhändig ausgerottet! Er ging vorsichtig zwischen Efeu und Eiben in Richtung Haus und hatte so freien Blick auf den Garten, doch wo die Terrasse sein sollte, standen die Stützen des Wintergartens, die Glaswände waren, wie schon in den Sommern seiner Kindheit, ausgehängt oder beiseitegeschoben. Er hatte seinen Bezugspunkt erreicht, aber er war noch immer in dieser fremd-vertrauten Welt, in die er nicht gehörte. Was war, wenn sein Gegenstück auftauchte? Wenn Ruth ihn hier draußen fand, wo sie doch erwartete, er bereite sich auf den Synagogenbesuch zum Sabbatauftakt vor... "Was soll ich nur tun?" fragte er, eigentlich niemand bestimmten, aber vielleicht war es ein Stoßgebet an den Ewigen - oder an Athena, die sich so vielleicht eines ihrer Helden in Not erinnerte... Michael versuchte trotz der aufsteigenden Panik, ruhig und vernünftig zu überlegen. Wer konnte ihm in einer solchen Lage helfen? Vielleicht jemand, der über ausgebildete magische Fähigkeiten verfügte? Zumindest konnte er von sojemandem erfahren, an wen er sich wenden sollte, um wieder nach Hause zu kommen. Und er hatte schon eine Vorstellung davon, wie ein Hexenhaus auszusehen hätte... als angehende Zauberin braucht Cassandra doch eine Lehrerin! Ein Innenhof, dessen Boden mit weißem Marmor gepflastert ist, vor den Wänden schlanke, gedrehte Säulen aus buntem Marmor die das umlaufende Dach tragen, und an jeder zweiten Säule ein Fackelhalter für nächtliche Beleuchtung. Nach rechts geht ein obsidiangepflasterte Gang ab, in den kleinen Hof mit dem Jungbrunnen, nach links gelangt man direkt in das Arbeitszimmer der Hexe, der breite Zugang ein dunkles Rechteck hinter den Säulen, in dem man die Platte eines großen Tisches erahnen kann. Bis in den Hof sind die Aromen der Kräuter zu riechen, die im Arbeitszimmer von der Decke hängen. Geradeaus hinter den Säulen eine Bank, ebenfalls aus Marmor, und einige hölzerne Gartenwerkzeuge daneben an die weiß gekalkte Wand gelehnt. Im Rücken der Durchgang in den das Haus umgebenden Garten. Das flache Dach mit hellroten Ziegeln gedeckt, in allen vier Ecken des Hofes Rohre, die von der Regenrinne nach unten in die Zisterne führen. "Das ist nicht sehr höflich, ohne Anmeldung in den Privaträumen einer Dame zu erscheinen", sagte eine junge Frauenstimme tadelnd. Michael öffnete die Augen und war grenzenlos erleichtert, als er die Hexe Para erkannte. Das Mädchen strich sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht. Sie hatte sich ein dünnes, buntes Tuch um den hellen, schlanken Leib und eine Schulter geschlungen, es reichte bis zu ihren Knien, darunter war sie anscheinend nackt. Sie lächelte Michael freundlich an. "Du bist dieser Retter der Welt - der Schützling von Athena, nicht wahr? Wie geht es deiner Muse?" "äh... ich habe keine Ahnung. Ich habe sie verloren - oder sie mich. So genau weiß ich das nicht, aber irgendetwas ist definitiv ganz enorm schief gegangen", gestand Michael. Para winkte ihren überraschenden Gast zu der Bank im kühlen Schatten des Daches, setzte sich, wartete, bis auch Michael sich gesetzt hatte und fragte dann: "Bist du mit ihr zusammen hierher aufgebrochen? Es sähe ihr gar nicht ähnlich, wenn sie den Weg verlöre. Sie ist inzwischen mit dem Zauberer-Fernkurs schon bei Lektion Sieben." Ein ziemlich großes, gut gefüttertes Streifenhörnchen hüpfte auf Paras Schoß und ließ sich kraulen. Genießerisch schloß es die Augen, rollte sich schließlich sogar auf den Rücken, damit Para seinen Bauch streicheln konnte. Ganz offensichtlich hatte es ein sehr viel freundlicheres Temperament als Casus Belli. "Ich bin allein hierhergekommen... weil ich keinen anderen Ausweg mehr wußte. Ich bin irgendwie in einer anderen Welt gelandet, in sowas wie einer Parallelwelt, muß ich wohl sagen, denn einiges war genau wie zuhause und anderes ganz anders, als wären einige Dinge in der Vergangenheit anders gelaufen oder entschieden worden... wird klar, was ich meine?" vergewisserte Michael sich dann. Para wiegte den Kopf, kraulte ihrem Haustier den Hals, der lang und immer länger wurde, um noch mehr zu liebkosende Oberfläche zu bieten. "Es klingt etwas verworren, das muß ich zugeben. Bist du durch eine Teleportation in diese andere Welt gelangt?" Michael schüttelte zuerst nur den Kopf, dann fiel ihm ein: "Aber ich konnte von dort nicht an meinen wahren Bezugspunkt zurück. Ich landete an dem richtigen Fleck, aber war immer noch in dieser Parallelwelt." Para kaute an ihrer Unterlippe. "Hast du... ach nein, das geht ja gar nicht, du kannst ja nur teleportieren." "Und durch Wände gehen", ergänzte Michael, doch mit einigem Stolz. Para sah ihn mit großen Augen an. "Wer hat dir das denn gezeigt?" Michael schmunzelte, freute sich, das Mädchen überrascht zu haben. "Ich habe es gelesen... auf dem Zauberblatt, auf dem auch die Anweisungen zur Teleportation standen." "Und den Warnhinweis hast du auch beachtet?" fragte Para dann, ohne jedoch ganz bei der Sache zu sein. Diesen Fehler hielt sie wohl für zu abwegig. "Was für einen Warnhinweis?" "Niemals durch dieselbe Stelle der Wand zurück, sonst... du bist durch dieselbe Stelle zurück gegangen, was? Oh-oh!" Para schüttelte den Kopf, und das war für Michael wie ein Blick auf die sichere ewige Verdammnis. "Man geht nicht durch dieselbe Stelle der Wand, weil man sonst eine andere Wirklichkeit schafft. Ganz offensichtlich ist dir das passiert." Immerhin war das Kopfschütteln der Hexe jetzt nachdenklich geworden, aber ihr Haustier öffnete unzufrieden ein Auge, weil die Streicheleinheiten nun plötzlich so beiläufig zugeteilt wurden. "Was kann man da machen", murmelte Para vor sich hin. "Was kann man da nur machen?" Para starrte auf die gegenüberliegende Seite des Hofes, dann drehte sie sich wieder zu Michael. "Ich nehme an, du willst zurück in deine angestammte Wirklichkeit?" "Ich will zurück zu Cassandra", seufzte Michael nur. "Oh ihr Götter, noch mal so jung und so geil sein", sagte Para neidisch. Dann schubste sie das Tier von ihrem Schoß und stand auf. "Ich glaube, ich weiß wie man das wieder hinbiegen kann. Aber jetzt wird erst einmal ein Happen gegessen. Soviel Zeit haben wir!" Michael schlug die Einladung der Hexe aus. Jeder Appetit, der nach dem Mittagessen mit Ruth noch hätte aufkommen können, war ihm durch die befürchtete Ausweglosigkeit seiner Situation vergangen. Er blieb statt dessen auf der Bank im Schatten sitzen und überlegte, wie er überhaupt in dieser eigenartigen Situation - als Klient einer Hexe aus seiner Phantasie - landen konnte. Cassandra hatte natürlich ihren Teil dazu beizutragen, weil sie als seine Muse diese Phantasie wieder geweckt hatte. Er sah das magere Mädchen, das den Anstoß gegeben hatte, geradezu wieder vor sich. Er hatte, kurz vor den Trimesterferien, in einer Pause zwischen zwei Veranstaltungen, auf dem Rand des Brunnenbeckens auf dem Schloßplatz im Schatten der Platanen gesessen und versucht, eines der dort herumstreunenden Streifenhörnchen mit Kekskrümeln anzulocken. Und plötzlich hatte sie vor ihm gestanden, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt, ihre Magerkeit noch betont durch das viel zu weite T-Shirt und die ausgewaschenen, viel zu großen Jeans mit umgekrempelten Beinen. Barfüßig war sie gewesen und ihre streichholzlangen, glatten Haare hatten bronzefarben in der Sonne geglänzt, hatten wie feiner Pelz um ihren Kopf gelegen; und dieses strahlende Lächeln, das sie ihm schenkte, als sie auf ihn zukam. "Ich heiße Cassandra", hatte sie nur gesagt. Sie hatte ihn mit einem Blick aus ihren verschiedenfarbigen Augen - das eine meergrün, das andere schiefergrau - irritiert, verwirrt und verzaubert. Michael war nur in der Lage gewesen zu fragen, ob sie Hunger hätte. Cassandra hatte genickt. "Ja", hatte sie gesagt, "und Casus Belli auch." über den Namen war Michael etwas erschrocken. "Wer ist Casus Belli?" wollte er also wissen. Und Cassandra griff nach dem zutraulichsten der kleinen gestreiften Tierchen, streichelte sein Köpfchen und sagte: "Das ist Casus Belli." Als sie es wieder losließ, fegte es einmal rund um ihre Taille und verschwand in der Hosentasche. Und Michael hatte ihr den nicht unerheblichen Rest der Keksschachtel überlassen. Der Gedanke an das Erscheinen der Muse war überaus inspirierend. Es stand ja noch die versprochene Geschichte über die Entstehung des Bartes aus - und nicht zu vergessen über die Rettung der Götterwelt. Und von irgendwoher mußte er ja auch Para kennen. So eine Geschichte mußte natürlich mit dem Wirken der Götter beginnen, mit der Beauftragung des Helden: Der von seiner vorherigen Muse verlassene Dichter schwelgt in Selbstmitleid über die bereits fünf Jahre andauernde Schreibblockade. Noch genau erinnert er sich an den Moment, da seine Gattin Anna zu ihm kam und verkündete, sie werde nun gehen - an den Moment, in dem er seine Phantasie verloren hatte. Das Blatt, auf dem er eine Geschichte als Fingerübung auf einer alten Koffermaschine begonnen hatte, bleibt eingespannt bis zu dem Moment, in dem er das Blatt herausdreht, um es seiner neuen Muse vorzulesen. Michael hatte diese Koffermaschine vor Augen. Die 'Badische Titania', die er von seiner Mutter geerbt hatte. Der schwere Holzkasten mit der schwarz lackierten Schreibmaschine Baujahr '08 stand schon seit einigen Jahren in seinem Büro im Institut. Seine Mutter hatte vor ihrer Hochzeit mit Gabriel Drake darauf als Sekretärin die Korrespondenz ihres Vaters, des Rabbiners Dumeloille, erledigt. Und als der durch das Schicksal zum Schweigen verurteilte Dichter an einem Abend auf dem Sofa liegt - den riesigen Plüschbären seiner Enkelin im Arm - und sich gerade ausmalt, wie es wohl wäre, wenn Anna wiederkäme, im Flur stehen würde, im hellen Reisemantel, einen großen Koffer neben sich, klingelt es an der Haustür. Nein, es ist nicht Anna, sondern eine überirdisch schöne Frau mit dunkelroten Locken. Ihre anmutige Gestalt ist in ein elegantes, in leuchtenden Farben geometrisch gemustertes Minikleid gehüllt, die langen Haare zu einem Zopf gebunden. "Michael Drake?" fragt sie mit Samtstimme und einem bezaubernden Lächeln. Angesichts der strahlenden Schönheit ist Michael nur zu einem Nicken fähig und verliert sich in den wunderbaren grauen Augen. Die Dame nimmt die weiße Unterarmtasche in die Linke und reicht Michael die gebräunte Rechte. "Athena, Tochter des Zeus", stellt sie sich vor. "Ich komme im Auftrag meines Vaters." * * * Kapitel 8: Anna ist an allem schuld ----------------------------------- "Wie war das?" fragt Michael leicht irritiert. "Sie haben schon richtig gehört", versichert die Dame mit strahlendem Lächeln und geht am verdutzten Eigentümer vorbei ins Haus. Sie steuert zielstrebig auf die Wohnzimmertür zu, öffnet sie und dreht sich zu Michael um, der noch mitten im Flur steht. "Wissen sie, ich hatte einige Schwierigkeiten, sie zu finden. Sie wohnen doch sehr abgelegen." Höflich läßt sie Michael den Vortritt in sein eigenes Wohnzimmer. Michael setzt sich zum Bär seiner Enkelin aber ist doch geistesgegenwärtig genug, seiner Besucherin zuvor einen Platz anzubieten. "Was wollen sie denn von mir, Frau..." "Athena", fällt ihm die Schöne ins Wort. "Ich... das heißt, mein Vater hat ein Anliegen von einiger Dringlichkeit an sie: es geht um ihre Kreaturen. Sie werden durch mich von ihm in aller Form gebeten, sie zukünftig im Zaum zu halten." "Meine Kreaturen?" fragt Michael einigermaßen verdutzt. "Ja, so eine Art Gelee-Wesen, wie sagen sie... Amöben." Athena lächelt stolz über ihre Kenntnisse. "Soweit ich weiß, haben sie wohl eine Geschichte nicht zuende geschrieben, zumindest aber ihre Phantasiewesen in geradezu sträflicher Weise vernachlässigt. Sie haben sich verselbstständigt, befinden sich jetzt in unserer Welt und entwickeln sich zu einer Bedrohung für meinen Vater. Um da Abhilfe zu schaffen bin ich hier." "Aber wieso mischen sich die Götter der griechischen Antike in die Belange heute lebender Menschen ein?" Michael hat das Gefühl, aufs Glatteis geführt zu werden. "Wir sollten richtiger vom umgekehrten Fall sprechen. Wenn sie so unverantwortlich sind, sich jahrelang nicht mit ihren Geschöpfen zu beschäftigen, so daß sie einen unheilvollen Einfluß auf unser doch eher zurückgezogenes Leben auf dem Olymp auszuüben beginnen, müssen sie sich nicht über die Einmischung wundern." Athenas Stimme ist noch immer mehr als angenehm, aber ihr Lächeln nicht mehr ganz so freundlich. Michael verdreht die Augen. "Aber das ist doch alles Unsinn! Wer hätte denn je davon gehört, daß Phantasiewesen - gleich welcher Epoche - real Gestalt annehmen?" Athena starrt Michael an. "Aber jedes Phantasiewesen ist real", weist sie ihn scharf zurecht. "Für gewöhnlich tauchen sie nur nicht dort auf, wo sie erdacht wurden." Dann wird ihr Lächeln hinterlistig. "Sie glauben wohl nicht an die Realität der Phantasie, was?" "Nein, allerdings nicht", entgegnet Michael fest, der nun überzeugt ist, es mit einem dummen Scherz zu tun zu haben. "Dann werde ich wohl dafür sorgen müssen, daß sie die Realität der Phantasie einmal am eigenen Leibe zu spüren bekommen." Jetzt funkeln Athenas Augen fast bösartig. Michael lächelte. Das würde Cassandra gefallen. Und als Ausgangsmaterial für die Beweisführung wäre durchaus die Kurzgeschichte über Malfe geeignet. 'Also lassen wir Athenas Augen noch einmal funkeln.' "Denken sie an ihre Kurzgeschichte über Malfe, wenn es soweit ist. Guten Tag." Athena spricht's und verschwindet. Michael schüttelt den Kopf über seine Hirngespinste, aber vielleicht wird er ja verrückt. "All das würde nicht passieren, wenn Anna hier wäre", sagt er leise zu Evas Teddy. Und damit hätte die Geschichten auch einen Titel: Wieso Anna an allem schuld ist... nein, Anna ist an allem schuld! Und der Dichter träumt: von der Rückkehr seiner Frau: Nachts um zwei biegt ein Taxi mit Basler Kennzeichen um die Ecke, hält vor dem drake'schen Haus. Eine blonde Frau in hellem Reisemantel steigt aus, läßt sich den Koffer bis zur Tür tragen. Den Koffer stellt sie unter die Garderobe, den Mantel hängt sie an und geht hinauf ins Schlafzimmer. Dort liegt er, ihr Gatte, träumt - von ihr - sie lächelt, legt sich schließlich zu ihm und schläft ein. Michael wacht plötzlich auf. Seltsam, er friert am Gesicht - und an den Händen fühlt er Fellhandschuhe. Er öffnet seine Augen und erhebt sich staunend. Er steht auf einer endlos scheinenden, schneebedeckten Ebene. Ein rotes Glühen am Horizont bringt die winzigen Schneekristalle zum Funkeln, direkt über ihm ist der Himmel jedoch tiefschwarz, und die Sterne strahlen hell. Als er im Zwielicht an sich herunterschaut, entdeckt er eine Bekleidung, die einem Eskimo der vormissionarischen Zeit alle Ehre machen würde. Ist das nun ein ganz gewöhnlicher Traum oder befindet er sich - wie Athena androhte - in einer anderen, von ihm selbst erdachten Welt? Sonst träumt er allerdings nur von Anna. Er streckt sich und geht ein paar Meter auf und ab. Kein Lebewesen außer ihm in dieser Schneelandschaft, kein Laut außer seinen Atemzügen und dem Knirschen des gefrorenen Schnees unter seinen Füßen. Muß er nun, als Strafe für seine Ungläubigkeit, Langeweile in dieser kalten Einsamkeit erleiden? Nicht einmal die Beleuchtung ändert sich und er sieht, daß das beständige rote Glühen am Horizont zu seiner Linken ihn einen langen, dünnen Schatten werfen läßt. "Hai, Hai!" Der Ruf zerreißt die Stille. Ein heller Punkt nähert sich aus der zwielichtigen Dunkelheit. Dieser Punkt kommt rasch näher, anscheinend handelt es sich dabei um eine Laterne an einem Schlitten. Gezogen wird dieser Schlitten von zwei großen Tieren, die sich mit wieselartigen Wellenbewegungen voranbewegen, gerade auf Michael zu. "Kais!" ruft die Stimme herrisch, die Zugtiere bohren ihren zentimeterlangen Klauen in das Eis und kommen so einige Meter vor Michael zum Stehen. Der in dichten Wolken aufsteigende übelriechende Atem der großen Raubtiere trifft Michael wie eine Faust, und er weicht zurück, als eines der beiden Tiere die langen scharfen Zähne bleckt. Beide Viecher starren ihn aus gelben Raubkatzenaugen an, und ihre Klauen bewegen sich unruhig auf dem Eis. Die Schulterhöhe der graubepelzten Monster entspricht seiner eigenen. So groß hatte er sich die Schlittenzugtiere nie vorgestellt, als er sie vor fast vier Jahrzehnten in seiner Geschichte beschrieb. Ein unförmiger Schatten löst sich von dem Schlitten und kommt auf Michael zu. "Bist du lebensmüde, hier auf der Piste spazieren zu gehen?" fragt die Stimme vorwurfsvoll, in dieser moderaten Lautstärke nun aber sicher als die einer Frau zu erkennen. Die Schlittenführerin ist nur ein Stückchen kleiner als Michael und wie er in dicke Pelze gehüllt. Ihr Gesicht ist dunkel, ohne daß Einzelheiten zu erkennen sind. "Wie bist du denn hier in der Wildnis gelandet?" Sie kehrt zum Schlitten zurück, winkt ihm. "Komm, bis Malfe kann ich dich mitnehmen." Michael folgt der Einladung etwas zögernd, da das bedeutet, den Zugtieren näher zu kommen, als ihm lieb ist. Er macht einen großen Bogen um die Biester und die Frau hilft ihm die von angetautem und wieder überfrorenem Schnee rutschigen Stufen hinauf auf den Schlittenbock. Dann ruft sie: "Hai, Hai!", die Tiere ziehen kräftig an, und Michael wird gegen die Lehne der Sitzbank gedrückt. Als der Schlitten wieder Fahrt aufgenommen hat und ruhig über das Eis gleitet, holt die Schittenführerin einen kleinen Korb unter der Bank hervor und stellt ihn zwischen sich und Michael, gerät so in den Lichtschein der Lampe und Michael kann ihr hübsches, kakaobraunes Gesicht sehen, mit dunklen Augen und vollen Lippen. Einige schwarze Löckchen kringeln sich unter ihrer Fellkaputze hervor. Sie ist wohl etwa Mitte dreißig und muß ihrem Aussehen nach aus der Tundra im Süden stammen, wenn Michael sich recht an seine Überlegungen erinnert. "Nun, wie bist du hier gelandet?" fragt die Frau noch einmal. "Wenn ich das nur wüßte", ist jedoch alles, was Michael dazu einfällt. "Du stehst also nicht immer so einfach mitten in der Eiswüste herum, jenseits jeder Zivilisation?" Die Frau lächelt Michael offenherzig an. "Nenn mich Cesavar", bietet sie an. Dieser Name bestätigt Michaels Vermutung über die Herkunft der Frau. Automatisch erwidert er: "Ich heiße Michael." Vielleicht befindet er sich wirklich in seiner eigenen Phantasie. Er fühlt eine gewisse Vertrautheit in der Gegenwart dieser Frau - diesem Produkt seiner Gedanken. Er kann sich aber nicht erinnern, Frauen auf die Transportschlitten zwischen Malfe und dem Rest der Welt gesetzt zu haben. "Hast du Hunger?" fragt die Frau nun wieder, klemmt die Zügel ihrer... Eiskraller - ja, das war der Name gewesen - unter den Oberschenkel und lüftet den Deckel des Korbes. Darin befinden sich das Viertel eines runden Brotleibs, ein großes Stück Käse und drei äpfel, außerdem eine Steingutflasche. "Greif' zu", bietet Cesavar an, reicht Michael die Flasche. Sie enthält eine streng schmeckende Flüssigkeit, die ihn von innen jedoch auf das Angenehmste wärmt. "Du kommst nicht aus der Gegend, nicht wahr?" fragt sie dann weiter. Michael schüttelt den Kopf, nimmt die großzügig mit Käse belegte Brotscheibe entgegen, die Cesavar ihm reicht, gibt die Flasche zurück. Trotz der Kälte ist die Schärfe des Käses zu schmecken. Das Essen fühlt sich außerordentlich real an. Er schluckt den Bissen, sieht, daß Cesavar ihn nach einem eigenen Schluck aus ihrer Flasche fragend ansieht, und erklärt: "Ich komme aus Hohenheim - Republik Baden-Oberrhein." Natürlich weiß er, daß Cesavar diese Namen ebenso fremd sein müssen, wie die Namen ihrer Welt Michaels Landsleuten - mit Ausnahme derer, die er in seiner Kurzgeschichte über Malfe damals erwähnte. "Und nun kommst du, um die Einsamkeit des Nordens zu erkunden?" fragt Cesavar mit einem breiten Grinsen. Nun muß auch Michael lächeln. "Nein... ich lerne gerade, daß die Phantasie real ist." "Das klingt nach einer interessanten Geschichte. Erzähl sie mir, Michael", fordert die Schlittenführerin ihren Gast auf, macht sich selbst ein Käsebrot. Michael beißt noch einmal von seinem Brot ab, streicht dann mit dem Handschuhrücken über das Kinn, versucht Zeit zu gewinnen, den richtigen Anfang zu finden. "Das Erzählen war zwar mal meine Leidenschaft", sagt er schließlich verlegen, "aber ich bin ziemlich aus der Übung." "Das macht gar nichts", ermuntert ihn Cesavar. "Fang nur an." Michael holt tief Luft und erzählt dann vom Auftauchen Athenas und seiner Skepsis bezüglich der Realität der Phantasie; daß dies Athena dazu veranlaßt habe, ihn in eine Phantasiewelt zu versetzen, und daß das anscheinend auch passiert sei. "Diese Welt - Malfe, die Eiswüste und alles was dazugehört - ist also eine erdachte Welt", sagt er schließlich mit gesenktem Blick, ohne seinen Beitrag zu ihrer Existenz zu erwähnen und mustert die Reste des Käsebrotes in seinen behandschuhten Händen. Die Frau kichert. Erstaunt, aber auch mit der Empfindlichkeit einer Respektsperson, die nicht ernst genommen wird, sieht Michael auf. Cesavar grinst ihn breit an. Hält sie ihn für verrückt oder begreift sie einfach nur nicht, was er gesagt hat. "Glaubst du mir nicht?" fragt er befremdet. Die Frau kann sich kaum zurückhalten, laut loszulachen, bringt es aber fertig, als Antwort auf Michaels Frage den Kopf zu schütteln. "Nein, nein, ich glaube dir. Aber du solltest mal dein Gesicht sehen. Du scheinst zu glauben, daß mich deine 'Offenbarung' in heillose Verwirrung zu stürzen hat." Michael nickt verstört. Amüsement über die Vorstellung, ein Phantasiewesen zu sein, verträgt sich nur schlecht mit seiner Vorstellung vom gesunden Menschenverstand. Cesavar hat nun wirklich zu lachen begonnen, beruhigt sich nach einer Weile jedoch wieder und versucht, Michael zu erklären, was so komisch ist. "Wir wachsen in der Gewissheit auf, daß jegliche Existenz der Phantasie ganz verschiedener Wesen entspringt - nicht nur unsere Welt, sondern auch jede andere, deine nicht ausgenommen." Michael erinnert sich dunkel, Hinweise auf entsprechende theologische Ansätze in seine Kurzgeschichte eingestreut zu haben. "Aber für jeden ist seine Welt natürlich real", fährt Cesavar fort, "schon allein dadurch, daß er an die Realität seiner Umwelt glaubt. Es ist ja auch gar nicht möglich, ein Wesen ohne die dazugehörige Umgebung zu schaffen. Das kann dir jeder Dimensionstheoretiker vorrechnen." Von dieser Profession hat Michael noch nichts gehört. Und er ist auch sicher, in seiner Kurzgeschichte keine Andeutung in der Richtung gemacht zu haben. Sollte das eine ins Wissenschaftliche gewendete, 'moderne' Version der von ihm gestrickten Theologie dieser Welt sein? Cesavar ißt inzwischen einen Apfel, sieht dabei sehr nachdenklich aus. Schließlich wendet sie sich wieder an Michael. "Du sagtest, du hättest dich lange nicht mehr mit deinen eigenen unfertigen Geschichten beschäftigt?" Michael nickt. "Weil meine Frau mich verlassen hat." Jetzt wird Cesavar ernst. "Das hieße ja, daß sich die von dir erdachten Wesen beliebig selbstständig machen können." Sie läßt den Apfelknust in den Korb fallen. "Etwas in der Art sagte auch Athena", gesteht Michael ein. "Ihren Worten nach haben sie sich sogar schon selbstständig gemacht. Ihr Vater - Zeus - sieht in ihnen eine Gefahr für sich." "Aber du bist doch in viel größerer Gefahr!" ruft Cesavar aus. "Bevor deine Wesen versuchen werden, sich in irgendeiner anderen Welt zu etablieren, werden sie sich erst einmal ihres Schöpfers entledigen, damit der sie nicht wieder unter seine Kontrolle bringt. Meine Oma sagt immer wieder, daß es einfach unverantwortlich sei, mächtige Wesen mit einer zweifelhaften Persönlichkeitsstruktur zu erdenken. Die könnte dir Sachen erzählen... naja. Du mußt dir jedenfalls schnellstens etwas einfallen lassen, um die Wesen wieder in ihre angestammte Welt zurückzuschaffen." "Aber wie?" fragt Michael hilflos. "Das ist im Prinzip ganz einfach. Du rekonstruierst den Weg der Wesen in deine Welt innerhalb einer Geschichte. Und dann läßt du die Wesen in dieser Geschichte in ihre eigene Welt zurückkehren, ohne großen Schaden anzurichten. So kannst du sie wieder unter deinen Willen zwingen, als ob nie etwas geschehen wäre." * * * Kapitel 9: Die Realität der Phantasie ------------------------------------- Michael nickt. "Ich denke, ich verstehe. Ich werde versuchen..." Aber plötzlich verschwimmt die Umgebung, die Farben wirbeln durcheinander und Michael ist gerade mit seinem überlichtschnellen Raumer auf einem unbekannten Planeten gelandet. Alle Meßinstrumente zeigen normale Werte, es handelt sich zweifelsohne um einen erdähnlichen Himmelskörper, aber irgend etwas liegt in der Luft, was Michael Gefahr signalisiert. Kaum hat er, mit seiner Laserpistole bewaffnet, das schützende Schiff verlassen, wirft sich auch schon eine schöne, in Fetzen gekleidete Frau schutzsuchend in seine Arme. Sie schluchzt hysterisch und aus ihren unergründlichen grauen Augen fließen die Tränen literweise. "Helfen sie mir! Sie wollen mich fangen! Ich bin geflohen! Oh, helfen sie mir!" In der Ferne sind einige Staubwolken auszumachen, die sich unaufhaltsam nähern. Obwohl er richtig tough ist, rührt das grausame Schicksal der Schönen doch Michaels Herz. Per Fernsteuerung richtet er die Laserkanone seines Schiffes auf die Staubwolke, und noch bevor die Verfolger in gefährliche Nähe kommen können, werden sie aus der Welt geblasen. "Oh, mein tapferer Held!" ruft die Schöne aus und strahlt Michael bewundernd an. Dann legt sie ihren blondbeschopften Kopf wieder an seine Schulter und läßt sich ohne Widerspruch umarmen. "Oh, Miiischa", schnurrt Anna, und da erschüttert ein Krachen die Welt. Michael schreckt auf. Ein Windstoß muß eine Tür zugeworfen haben. Es ist hell, ein verstörter Blick zur Uhr zeigt ihm, daß es bereits Mittag ist, und aus der Küche - die direkt unter dem Schlafzimmer liegt - sind eindeutige Geräusche zu hören: jemand wäscht ab! Das Bett neben Michael scheint unbenutzt, aber Anna hat es schon immer sehr eilig mit dem Bettenmachen gehabt. Wahrscheinlich ist sie schon vor Stunden aufgestanden. Glücklich springt Michael auf. Anna ist wieder da und würde wieder seine Muse sein - und er würde wieder schreiben! Ohne sich mit der Morgentoilette oder gar einer Rasur aufzuhalten läuft Michael die Treppe hinunter. Das fröhliche 'Hallo, Anna!' bleibt ihm jedoch im Halse stecken, als er die Küchentür aufstößt. Die dunkelrot gelockte Schönheit, die in Annas Schürze am Spültisch steht und das Geschirr des Vortages säubert, ist niemand anderes als Athena. "Guten Tag, Herr Drake", begrüßt die Göttin ihn freundlich. "Da sie durch meine Schuld einen halben Tag verloren haben, dachte ich mir, ich könnte ihnen bei der Hausarbeit ein wenig unter die Arme greifen." "Äh, danke, meinen herzlichsten Dank", erwidert Michael lahm und wie im Reflex öffnet er die Kühlschranktür, um sich etwas zum Frühstück herauszusuchen. Zuvorderst liegt eine angebissene Brotscheibe, belegt mit dicken, unregelmäßig geschnittenen Käsestücken. Der Anblick dieses Objektes aus dem Traum verdirbt Michael den Appetit. Athenas graue Augen blitzen, als sie fragt: "Und? Glauben sie jetzt an die Realität der Phantasie?" Michael läßt sich schwer auf einen Küchenstuhl fallen. "Was soll ich sagen... aber solange ich keine Muse habe, kann ich dem status quo nicht abhelfen - sosehr mir auch selbst daran liegt." Schaudernd denkt er an Cesavars Ausführungen. Athena reißt die grauen Augen auf. "Eine persönliche Muse wollen sie haben?!" "Mit Anna wäre ich ja schon zufrieden", beschwichtigt Michael sie. "Erst die Arbeit, dann das Vergnügen", weist Athena ihn scharf zurecht. Dann legt sie die Schürze ab. "Aber lassen sie mich überlegen." Sie beginnt, in der Küche auf und ab zu gehen und ihre langen, gebräunten Beine lassen das Seidenfutter ihres Minikleides rascheln. "Kommen sie mit", sagt die Göttin dann plötzlich, greift nach Michaels Arm und übergangslos stehen sie in der Königin-Winifred-Straße mit ihren klassizistischen Bürgerhäusern und den großen Gärten hinter den schmiedeeisernen Gittern, gerade an der Einmündung auf die Schloßallee, wo die Fußgängerzone beginnt. Mitten auf der ehemaligen Prachtstraße zwischen Bischöflichem Palais und Bahnhof steht, beschattet von dichtbelaubten Linden und Platanen, der Eichkatzerl-Brunnen. Das Wasser im Schatten fast schwarz, spiegelt sich dort nur das von der Sonne durch das Blätterdach erleuchtete bronzegoldene Gesicht des Mädchens, das eines der metallenen Eichhörnchen mit metallenen Nüssen lockt. Sie scheint Michael vom Grund des Brunnenbeckens aus anzusehen. Plötzlich blinzelt das Mädchen und steigt von dem Stein auf dem es eben noch hockte herunter, watet durch das gerade knietiefe Wasser und stellt sich neben Athena, die sie Michael hinschiebt. "Das ist Cassandra", sagt die Göttin, "ihre persönliche Muse." Und wieder löst sie sich in Luft auf. Die lebendig gewordene Brunnenfigur lächelt Michael ein wenig scheu, aber zutraulich an, lockt das ebenfalls lebendig gewordene kleine Eichhörnchen... Nein, er sollte beim Streifenhörnchen bleiben. Also: Cassandra lockt das ebenfalls lebendig gewordene Streifenhörnchen herbei, das springt in ihre Schürzentasche. Dann nimmt der Dichter die Muse mit zu sich nach Hause. In der heimischen Küche breitet Michael den Inhalt seines Kühlschrankes vor Cassandra und dem zahmen Taschentier aus. Dann geht er in sein Arbeitszimmer, um die niemals beendete Geschichte zu holen, getippt auf ein Blatt, das noch immer in die alte Koffermaschine eingespannt ist. Und während Cassandra ißt, dabei Casus Belli einige Bröckchen zuteilt, liest Michael seiner neuen Muse vor... ...sowas wie... "Die Amöben kommen. Vor gar nicht allzulanger Zeit lebten auf einer fremden Welt zwei ganz seltsame Wesen. Es handelte sich um eine Art Amöben, aber viel größer, als wir sie kennen, und sie konnten, nach echter Amöbenart, ihre äußere Form nach Belieben verändern. Meistens hielten sie sich in einem langen, breiten Fluß auf, der die gleiche bräunliche Farbe hatte, wie ihre Körper. Und hätte ein Mensch von diesem Flußwasser gekostet, hätte er gemerkt, daß es Spezi war, und die Amöben Speziamöben. So lebten die Amöben ohne besondere Ambitionen, flossen nur so dahin oder ließen sich treiben, jahraus - jahrein." 'Na, so doll ist das ja nicht.' Michael kaute enttäuscht an seinem Zeigefinger. 'Aber es ließe sich zum Prinzip erheben. Also:' "So doll ist das ja nicht", bemerkt Michael nachdenklich. "Lies doch weiter", drängelt Cassandra. "Jadoch! Also... Eines Tages jedoch wurde ihr friedliches Dasein gestört und zwar durch einen starken, auffordernden, ja geradezu zwingenden Gedanken, dem die Speziamöben, ob sie nun wollten oder nicht, folgeleisten mußten. Und dieser, aus unbekannter Quelle stammende Gedanke besagte: "Macht euch die Welt der Götter untertan." Ehe die Amöben es sich versahen, die bisher friedlich ihr Leben gefristet hatten, schwammen sie nicht mehr in ihrem süßen, etwas klebrigen Spezifluß, sondern in einem salzigen, etwas öligen Meer, und wieder störte ein Gedanke die Amöben: "Nur durch den Herrscher dieser Welt könnt ihr euer Ziel ereichen. Macht ihn euch gefügig." Im Pseudopodienumdrehen waren die Speziamöben im Olymp, gerade vor Zeus' Thron, und noch ehe der erboste Gott irgendwelche Gegenmaßnahmen ergreifen konnte, flossen sie... hier hört es auf. In dem Moment eröffnete Anna mir, daß sie mich verläßt." Traurig läßt Michael den Kopf hängen. Cassandra klopft ihm sanft auf die Schulter. "Komm, fasse dich. Zeus ist sicher bereit, dir einen Wunsch zu erfüllen, wenn du die ganze Angelegenheit zu göttlicher Zufriedenheit geregelt hast. Und wenn du den Wunsch gut nutzt..." Michael nickt und greift zu dem Glas Spezi, das auf dem Tisch neben der Schreibmaschine steht. Etwas Unsichtbares schlägt es ihm jedoch aus der Hand und die Flüssigkeit ätzt dort, wo sie den Küchenboden trifft, tiefe Löcher in das Linoleum. "Was zum..." aber weiter kommt Michael nicht. Plötzlich steht er im Nichts, Cassandra neben sich und Casus Belli fest in seinen Zeigefinger verbissen. Michael fühlt, wie seine Arme plötzlich kalt werden und in seinen Innereien Schmetterlinge flattern, dann wird ihm für einen Moment schwarz vor Augen. "Halt deine Hand still", verlangt Cassandra, und mit geschickten Bewegungen, die zeigen, daß sie Erfahrungen mit solchen Situationen hat, löst sie ihr beißwütiges Schürzentaschentier von Michaels Zeigefinger. Anscheinend verdankt das so niedlich aussehende Tier seinen martialischen Namen dem Umstand, daß es in kritischen Situationen dazu neigt, in fremde Finger zu beißen. Der Anblick seiner halb abgebissenen Fingerkuppe verursacht Michael neue Übelkeit, aber da streicht schon eine sonnengebräunte Hand über die Verletzung und Blut und Wunde sind verschwunden. Erst im Nachhinein spührt Michael einen dumpf pochenden Schmerz, der bald vergeht. "Tut mir leid... das mit Casus Belli", sagt Cassandra zerknirscht. Michael zuckt mit den Schultern. Immerhin hat Athena ihn ja umgehend geheilt. "Schon vergessen", sagt er darum großzügig. Und jetzt hat Michael auch einen Blick für seine Umgebung. Er, Athena und Cassandra befinden sich inmitten einer sonnendurchglühten Wüste, am Rande einer Oase, die aus etwa zwanzig um ein Wasserloch stehenden Palmen besteht. "Was ist passiert?" will er von Athena wissen. "Ich habe sie beide hierher versetzt, um sie vor einem zweiten Anschlag der Amöben zu bewahren." "Einem zweiten Anschlag?" fragt Michael ungläubig, aber da keimt schon ein Verdacht auf, den Athenas Erklärung auch bestätigt. "Das Glas Säure... wer weiß, was als nächstes gekommen wäre." Athena deutet zu einem weißen Etwas hinter der Palmengruppe. "Da hinten steht ein Zelt für sie, mit allem, was sie für einen vierundzwanzigstündigen Aufenthalt hier brauchen. Ich denke, daß sie hier vor weiteren Angriffen sicher sind. Sie können sich also ganz auf die Arbeit an dem bekannten Problem konzentrieren, Herr Drake. Erzählen sie ihrer Muse die unvollendete Geschichte zuende, und falls doch irgendetwas passieren sollte, versuchen sie, die Stadt zu erreichen." Die Göttin deutet vage in eine Richtung, in der sich - wie in alle anderen Richtungen - heller Sand erstreckt. "Suchen sie dort meine Kontaktperson in dieser Welt auf. Sie ist eine Hexe und in der Stadt hinlänglich bekannt. Sie wird ihnen in allem weiterhelfen können. Chairete!" Und Athena verschwindet. Michael und Cassandra sehen sich jedoch zunächst genauer um. Das niedrige, langgestreckte Zelt liegt teilweise im Schatten der Palmen. In seinem Inneren ist es überraschend hell, da das Sonnenlicht durch die weißen Zeltbahnen nur wenig gedämpft wird - dabei aber erstaunlich kühl. Senkrecht aufgespannte Stoffbahnen unterteilen das Zelt in drei 'Räume', die beiden inneren sind mit Teppichen und Kissen reichlich ausgestattet, im ersten stehen, mit Tüchern abgedeckt, große unglasierte Tontöpfe, die mit trockenen Lebensmitteln gefüllt sind. Es finden sich auch Becher und Teller, aber kein Besteck. Casus Belli läßt sich ohne Umschweife in einen Topf mit Nüssen fallen und beginnt, geräuschvoll zu knabbern. Cassandra findet bei ihren Nachforschungen auch zwei lange Baumwollhemden, bestickt mit Arabesken, die der Wüste besser angepaßt sind, als die Hohenheimer Sommertracht. Und Michael fühlt sich in ein Märchen aus Tausend-und-Einer-Nacht versetzt, als er aus dem Augenwinkel beobachten kann, wie Cassandra ihre Schürze abbindet und beginnt, das Kleid auszuziehen, um die zur Verfügung gestellte Kleidung anzulegen. Jetzt mustert er ihren sehr schlanken, aber wohlproportionierten honigfarbenen Körper unverhohlen und fühlt sich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Cassandra ist wirklich eine betörend schöne Frau, an die Anna kaum heranreicht. In dem Moment dreht sich seine Muse nackt zu ihm um und scheint in seinen Augen seine Gedanken zu lesen. Tatsächlich scheint sie seine Gefühle sogar zu erwidern, denn sie kommt zu ihm, läßt sich bereitwillig auf die seidigen Lippen küssen, umarmen, liebkosen. Als Michael erwacht, sucht er vergeblich nach seiner werdenden Manneszier - sein Kinn ist so glatt wie Cassandras bezauberndes Hinterteil. Er blickt verträumt auf seine geliebte Muse, die - noch schlafend - neben ihm liegt. Sieht er da wirklich ein paar weiße Strähnen in ihrem dunklen Haar? Kopfschüttelnd erhebt Michael sich, um in dem 'See' vor dem Zelt ein wenig zu baden. Als er aus dem klaren Wasser eine Handvoll zum Trinken schöpfen will, sieht er in der spiegelglatten Wasserfläche, daß seine Haare einen satten Schwarzton haben, den er seit Jahrzehnten vermißt. Und auch sein Gesicht erscheint eher wie das eines twen, als wie das eines Mannes von über fünfzig. Cassandras Spiegelbild wird neben seinem sichtbar. Michael erschrickt und auch Cassandra ist sichtlich schockiert über ihre Erscheinung: sie sieht aus wie eine alte, abgehärmte Frau. Die Muse schlägt, stumm vor Entsetzen, die Hände vor das alte Gesicht, und Michael muß an Geschichten von Vampiren denken, die es auf die Jugend, nicht auf das Blut ihrer Opfer abgesehen haben. Sollte er etwa... "Laß uns schnell diese Hexe suchen", sagt Cassandra gepresst und unterbricht damit Michaels düstere Gedanken. Dann läßt sie die Hände sinken, sieht ihren Dichter an und fügt hinzu: "Solange wir beide noch laufen können." "Du meinst... es geht weiter?" Aber Michael braucht gar nicht Cassandras geflüstertes "Ich fürchte es", um seine Frage zu beantworten. Die jugendliche Kraft, die er für einen Moment in seinen Gliedern gespürt hat, ist fast schon wieder aus ihnen verschwunden, es bleibt zunehmende infantile Schwäche. Michael wagt kaum, sich das weitere Fortschreiten des Prozesses in letzter Konsequenz auszumalen. "Wahrscheinlich ist es das Werk der Amöben, die uns auf dem Weg hierher gerade noch etwas anhängen konnten", vermutet Cassandra, besieht sich ihre faltig und altersfleckig gewordenen Hände. "Erzähle mir um unseretwillen den Rest der Geschichte!" Ja, das würde Cassandra goutieren. Der ein bißchen dämliche und ein bißchen uneinsichtige Dichter, dem die Muse in jeder Hinsicht auf die Sprünge helfen muß... Michael grinste in sich hinein. Und als der Dichter sich mit seiner Muse und etwas Proviant und Wasser auf den Weg in die Stadt macht, beide sich durch die unbarmherzig heiße Wüstenlandschaft schleppen, erzählt Michael - streckenweise atemlos und vom Stimmbruch gequält - das Ende der Geschichte von den Amöben: "Die beiden Speziamöben hatten es also bis vor Zeus' Thron geschafft. Sie flossen zusammen und bildeten ein riesiges Gesicht mit stechenden Augen, um Zeus zu hypnotisieren. Aber diesem bahnbrechenden Einfall blieb der Erfolg versagt, denn gerade in diesem Moment stürzte Hermes mit einer wichtigen Nachricht bei seinem Chef herein. Er sah sofort, was vor sich ging und konnte die übrigen Götter alarmieren. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die Amöben aus dem Olymp zu vertreiben. Doch die Amöben waren noch nicht besiegt. Sobald sie erfahren hatten, daß ihr Schöpfer aufgefordert worden war, sie in ihre angestammte Welt zurückzuverfrachten und ihm dafür von den Göttern eine Muse zur Verfügung gestellt worden war, überlegten sie, wie sie sich ihres Schöpfers entledigen könnten. Sie versuchten es mit einer List: in ein Trinkglas füllten sie einen Teil ihres stark ätzenden Endoplasmas, und hofften, der Schöpfer würde davon trinken. Doch diesem Anschlag blieb der Erfolg versagt. Zu allem Überfluß wurden Schöpfer und Muse von den Göttern auch noch in eine ferne Welt versetzt, die die Speziamöben nicht körperlich aufsuchen konnten. Sie ließen jedoch nicht locker. Mit Fernbeeinflussung bewirkten sie eine Altersverschiebung von Schöpfer und Muse, so daß sich der erstere unaufhaltsam verjüngte, während letztere ebenso unaufhaltsam älter wurde. Der Schöpfer jedoch, eigentlich schon verloren, ließ nicht locker. Er blieb sich seiner Pflicht bewußt und vertrieb die Speziamöben aus seiner Welt zurück in ihre eigene - ganz einfach indem er sie an ihr vormals so friedliches Leben zurückdenken ließ, an ihren Spezifluß und ihre freundliche kleine Welt." 'Da hätten wir also auch eine Spur Heroismus', und wieder grinste Michael zufrieden. "Die Speziamöben bekamen tatsächlich Heimweh. Und obwohl der Gedanke der Eroberung noch immer tobte und wütete, hatte er nun längst keine Chance mehr: die Speziamöben zog es unaufhaltsam nach Hause. So verstummte der Gedanke schließlich von selbst und verhallte in der Unendlichkeit. Kaum war das geschehen, waren die Amöben bereits wieder auf ihrer Heimatwelt, in ihrem Spezifluß und lebten weiter wie vor ihrem Eroberungszug - in Frieden und vielleicht ein bißchen träge, aber rundherum glücklich und zufrieden. Das war's." Michael tut einen tiefen Atemzug, dann verwünscht er die heiße Luft und klagt in Erinnerung an die in der Eiswüste verbrachte Nacht mit seinem Kinderstimmchen: "Immer diese Extreme." Er rafft den zu langen Saum seines Gewandes ein Stückchen höher, nimmt wieder Cassandras Hand und läßt sich von ihr über den in Wellen erstarrten, sandfarbenen Ozean führen, der sich endlos in alle Richtungen erstreckt. Dann plötzlich funkelt am Horizont, nein, hinter der nächsten Düne, ein phantastischer Edelstein. Es ist eine Stadt, aus weißen Steinen erbaut, mit zahlreichen Türmchen und blaugrün gekachelten Kuppeln, mit den Wipfeln hoher, schattenspendender Bäume, mit belebten Straßen und belebenden Brunnen. Und mit einer Hexe, die in einem der sicher herrlich kühlen Paläste leben muß. Michael bereitet es keine Mühe mehr, mit Cassandras immer zögernder gewordenen Schritten mitzuhalten, und endlich stehen sie vor dem Stadttor, betreten die Stadt. Cassandra, die kaum noch aus eigener Kraft gehen kann und sich schon lange auf Michaels Schulter stützt, sinkt neben einem Trinkbrunnen auf den Boden. Michael richtet sie mühsam auf, schöpft dann mit seinen Patschhändchen etwas Wasser für seine Muse und benetzt ihre Lippen. "Wie sollen wir nur die Hexe finden?" jammert er und ihm ist nach Weinen zumute. Cassandra seufzt nur, aber Casus Belli arbeitet sich aus ihrer Manteltasche hervor, sieht sich einen Moment um, und läuft dann in kleinen Sprüngen vorbei an verdutzten Kameltreibern und Händlern. "Nicht so schnell!" ruft Michael und Casus Belli hält tatsächlich inne, kommt wieder zurück und wartet diesmal, bis Michael seiner greisen Muse auf die Beine geholfen hat und sie dem Taschentier folgen können. Und so erreichen sie schließlich eine hohe Mauer aus weißem Marmor, die im Lichte der untergehenden Sonne wie lauteres Gold glänzt. Man hört deutlich das Rauschen von Wellen, als würde das Meer direkt an die andere Seite der Mauer branden. Auf Michaels zaghaftes Klopfen schwingt das große, bronzebeschlagene Holztor lautlos nach innen auf, dahinter erstreckt sich ein weitläufiger, saftig grüner Wald. Casus Belli ist bald zwischen den Pflanzen verschwunden und auch Michael und Cassandra betreten den Garten. Das Tor schließt sich hinter ihnen wieder und das Rauschen der Meereswellen ist nun von der anderen Seite der Mauer zu hören. Tatsächlich scheint es die Mauer selbst zu sein, die die Geräusche hervorbringt und so gewissermaßen für akustische Kühlung sorgt. Die Zweige der Büsche und Bäume biegen sich von selbst zur Seite und bilden für die Besucher einen Weg zum Hause des Gartenbesitzers. Und nach einigen Metern ist es zu sehen: mitten im Garten steht ein römisch wirkendes Landhaus - eine Villa. Die sich zur Seite neigenden Pflanzen dirigieren Michael und seine Muse zum Eingang und in einen säulenumstandenen Innenhof. "Ah, Klienten", ruft eine jugendliche Stimme freudig aus. "Wie kann ich behilflich sein?" Und aus einer dunklen Öffnung tritt ein schwarzhaariges Mädchen hervor, gekleidet in eine bodenlanges weißes Kleid. Cassandra stützt sich schwer auf Michael, wirkt bereits wie eine Mumie ihrer selbst. "Seid ihr die Hexe, Athenas Kontaktperson?" "Das bin ich in der Tat", antwortet die Hexe. "Mein Name ist Para." Cassandra stellt sich und Michael vor und erklärt in knappen Worten den Sachverhalt. Und Para nickt natürlich, hat die Lösung schon parat. "Ahja. Angesichts des Fortschreitens scheint Eile geboten zu sein. Kommt mit." Sie hilft dem kleinen Michael, Cassandra zu stützen und gemeinsam führen sie die Muse durch einen obsidiangepflasterten Gang, der in einen kleinen Hof führt, fast völlig von einem leeren Marmorbecken eingenommen. In dessen Mitte wiederum steht ein schlanker Marmorsockel und darauf eine rötlich schimmernde Schale. Eine lässige Handbewegung der Hexe veranlaßt die Schale dazu, sich zu neigen und eine klare, goldene Flüssigkeit sprudelt aus ihr hervor, die das Becken schnell zu füllen beginnt. Nach einer weiteren Handbewegung senkt sich die Schale wieder auf ihren Sockel und Para hilft Cassandra, in das Becken zu steigen. Kaum kommen die nackten Füße der altgewordenen Muse mit der sprudelnden goldenen Flüssigkeit in Berührung, bewegt sie sich leichter und geht, ohne zu zögern, auf den Sockel in der Mitte des Beckens zu. Schließlich steht sie bis zur Taille im 'Wasser' des Jungbrunnens und ihre Kleidung zersetzt sich blubbernd in der Flüssigkeit. "Tauch' ganz unter", fordert Para Cassandra auf und sie tut es. Die goldene Flüssigkeit sprudelt und der sich bildende, metallisch blitzende Schaum treibt langsam auf den Beckenrand zu. Von Cassandra ist nichts mehr zu sehen. Doch dann taucht sie wieder auf, und die kurzen, bronze schimmernden Haare kleben naß an ihrem Kopf. Mit ihren schlanken, honiggoldenen Fingern streift sie die Strähnen zurück, die ihr in die Stirn fallen, dann kommt sie langsam zurück an den Beckenrand, wieder in ihrem schönen, jugendlichen Körper. Von irgendwoher hat Para ein großes Handtuch geholt und legt es Cassandra um die Schultern, dann wendet sie sich Michael zu. "Komm, jetzt werden wir uns um dein Problem kümmern." Sie nimmt den Knaben an der Hand und führt ihn zurück durch den obsidiangepflasterten Gang und den Hof in einen angrenzenden Raum. Hier hängen an langen Schnüren, die unter der Decke quer durch den ganzen Raum gespannt sind, zahlreiche trockene Kräuterbüschel, und ein großer, leerer Tisch mit dunkel gefleckter Holzplatte steht im Zentrum des Zimmers. Auf dessen Kante setzt sie Michael nun. Die Holzplatte riecht merkwürdig, findet Michael, dann faszinieren ihn die langen Haare der Hexe. Er faßt danach, aber Para entzieht sich ihm geschickt, drückt mit ihren Händen seine auf die Tischplatte und starrt ihn plötzlich an. Ihre stachelbeergrünen Augen haben geschlitzte Pupillen, wie eine Katze, und sie spiegeln - jedes für sich - Michaels rundes Kindergesicht. Plötzlich bricht Para den Augenkontakt ab und läßt Michael los. Sie wendet sich an Cassandra. "Jetzt können wir nur noch warten", sagt sie und zieht sich mit der Muse in eine entfernte Ecke des Raumes zurück, redet in gedämpftem Ton auf sie ein. Casus Belli hüpft neben Michael auf dem Tisch, schnuppert an ihm - und flieht laut quiekend zu Cassandra, als der Dichter mit einem plötzlichen Ruck seine gewöhnliche Größe und sein natürliches Alter wiedererlangt, seine Kleidung wieder ausfüllt. Michael rutscht von der Tischkante und sieht prüfend an sich hinunter. "Ich wünschte, ich wäre jünger", sagt er leise. Cassandra kommt heran und streicht ihm lächelnd über die Bartstoppeln. "Aber du bist doch gar nicht alt", sagte sie ebenso leise und haucht ihm einen Kuß auf die stachelige Wange. Michael lächelt geschmeichelt. Die Hexte ist mit dem Ergebnis ihrer Bemühungen zufrieden, bietet ein Abendessene oder die umgehende Heimreise an: "Ich kann euch nach Hause teleportieren, dann braucht ihr nicht auf Athena zu warten." "Die Amöben sind ja zurückgeschickt", sagt Michael nachdenklich. "Eigentlich könnten wir wirklich nach Hause." "Brauchst du mich denn noch?" fragt Cassandra. "Du wolltest dir von Zeus doch Anna zur Belohnung wünschen." Die verschiedenfarbigen Augen seiner Muse ruhen mit einem undeutbaren Ausdruck auf Michael. "Was für eine Frage! Natürlich brauche ich dich!" Tatsächlich träumt Michael schon davon, umfangen von der Liebe seiner Muse endlich wieder einen großen Roman zu schreiben. Cassandra lacht. "Dann sollte ich wohl bei dir bleiben." "Warum denn auch nicht?" fragt Michael erstaunt. Para mischt sich ein, bevor Cassandra auf die Frage ihres Dichters antworten kann: "Es wäre aber eine Verschwendung, dein Potential als Zauberin verkommen zu lassen. Dein zahmes Burunduki ist ein Zeichen für exorbitantes Talent." "Gibt es denn nicht eine Art Fernkurs für potentielle Zauberinnen?" will Cassandra wissen. "Noch nicht... aber ich werde ein Lehrbuch zusammenstellen und dir das Material regelmäßig schicken." Para und Cassandra besprechen noch kurz die Lehrgangsmodalitäten, dann teleportiert die Hexe Michael und seine Muse wieder nach Hause. Michael und seine Muse stehen schon eine Weile hinter dem Haus im drake'schen Garten und sehen dem Mondaufgang zu. Cassandra schmiegt sich eng an Michael, steicht mit der Hand über sein borstiges Kinn und flüstert: "Das wird ein schöner Bart... schreib seine Geschichte doch mal auf." Michael küßt seine Muse. "Wenn du mir beistehst..." Cassandra lacht leise. "Ich werde deine Phantasie schon anheizen", flüstert sie dann sehr dicht an Michaels Ohr. Und plötzlich ertönt eine wunderschöne Stimme von der Terrassentür her: "Herr Drake, sie haben einen Wunsch frei!" Im schwachen Lichtschein, der aus dem Flur durch die verglaste Wohnzimmertür bis nach draußen dringt, sieht Michael Athenas wohlgeformte Silhouette. "Was rätst du mir, zu wünschen?" fragt er seine Muse leise, damit die Göttin es nicht hört. Cassandra überlegt nur kurz. "Wünsch dir ein unbeschränktes Teleportations-Abonnement." Michael nickt und ruft es zu Athena hinüber. Die Göttin schweigt, verschwindet kurz und taucht wieder auf. "Dem sterblichen Helden Michael Drake wird ein unbeschränktes Teleportations-Abonnement gewährt", verkündet sie. Ehrlicherweise muß Michael sich eingestehen, daß die Götter ohne seine Geschichte von den Amöben ja gar nicht bedroht gewesen wären, aber er nimmt die Belohnung als Held und Retter der Götter tapfer schweigend entgegen. Und Athena verschwindet entgültig. Ob Cassandra ihm wohl nachsehen könnte, daß er nun wieder... nun, nicht direkt gemogelt, aber doch die Probleme mit dem altbekannten Trick gelöst hatte? Aber solche phantastischen Verwicklungen sind nun einmal durch den sprichwörtlichen Gott am besten zu lösen. Zur Versöhnung sollte er vielleicht noch einen kleinen Nachschlag liefern, um wieder Unruhe hineinzubringen. Ein Ende mit Konfliktpotential würde Cassandra gefallen: Irgendwo tuckert ein Dieselmotor und eine Autotür klappt. Michael und Cassandra gehen eng umschlungen durch die Terrassentür ins Haus, Casus Belli folgt ihnen. Im Flur steht Anna, in einen hellen Reisemantel gehüllt, die blonden Haare etwas länger, als Michael sie in Erinnerung hat, neben sich einen großen, weißen Koffer. In dem Moment kam Para mit einigen Sträußen blühender Kräuter wieder in den Innenhof zu Michael. "Bist du soweit?" fragte sie. Michael nickte und besah sich kritisch das Grünzeug. "Damit werde ich wieder zurückgeschickt?" Überrascht musterte die Hexe ihren Besucher. "Aber nicht doch. Die will ich auf dem Weg nur zum Trocknen aufhängen. Dich werde ich in eine Zeitmaschine stecken. Aber da wir ohnehin durch mein studiolo müssen, kann ich das auch gleich erledigen." * * * Kapitel 10: Zurück ------------------ Diesmal lag ein riesiger Stapel Bücher auf dem Arbeitstisch der Hexe. Para streckte sich nach einer der Leinen, von dem nur einige wenige Kräuterbüschel hingen und befestigte mit raschen Bewegungen die frischen Sträuße. "Und schon bin ich fertig. Die Maschine steht im Keller." Und Para führte Michael hinunter. Auf dem Weg ließ sich die Hexe erzählen, wo und wann Michael durch Wände gegangen war, und als sie den ausgedehnten Weinkeller durchquerten, der sich unter dem Haus erstreckte, bestätigte sie noch einmal: "Das kriegen wir mit der Zeitmaschine hin." Und endlich erreichten sie den Kellerraum, in dem die Zeitmaschine stand. Die geschlossene, mit schmiedeeisernen Beschlägen versehene Holztür hätte jedem mittelalterlichen Kerker Ehre gemacht. Ohne sichtbare Mühe schob Para den schweren Riegel auf, die Tür öffnete sich nach außen und versperrte Michael so zunächst die Sicht. Als er seiner Gastgeberin folgte, legte die gerade einen Schalter an der Wand neben der Tür um, und die elektrisch betriebene Deckenlampe in der Art eines Wohnzimmer-Kronleuchters - fünf Birnen in gelb getönten, strukturierten Glasglocken - flammte auf. Darunter, in der Mitte des düsteren, feuchtkalten Raumes - dem an den Wänden nur Ringe zur Befestigung von Gefangenen fehlten, um als Kerkerraum durchzugehen - stand in einigem Abstand zu anderen Gerätschaften ein an den Boden festgeschraubtes, blausilbernes Herrenfahrrad. "Das ist die Zeitmaschine?" fragte Michael ungläubig. "Nein, das ist der Antrieb der Zeitmaschine." Para schüttelte über die merkwürdigen Ideen ihres Gastes den Kopf. Sie zeigte auf den Keilriemen, der um die nackte Felge des Hinterrades lag und zu einem Kasten führte, neben dem eine Art Faraday'scher Käfig stand, der wohl gerade einem Menschen zusammengekauert Platz bot. Mit einer einladenen Handbewegung wies Para auf die Kugel aus Aluminiumgitter. "Das ist die Zeitmaschine. Und ich möchte dich bitten, in ihr Platz zu nehmen." Die Kugel hatte eine Tür, aber keine Sitzgelegenheit, außer ihrer Bodenwölbung. Folgsam setzte Michael sich aber hinein, Para schloß hinter ihm die Tür und ging dann an den Kasten, in dem der Keilriemen endete. Hier waren nun die Knöpfchen und bunten Lichter, die Michael von einer Zeitmaschine erwartete. Aber es gab keine offensichtliche Verbindung von dem Kasten zum Käfig. "Ich schicke dich zurück in die Bibliothek, bevor du das zweite Mal durch die Wand gehst. Und denke daran, niemals zweimal durch die Selbe Stelle!" mahnte Para. Dann schwang sie sich auf das Fahrrad und trat mit ihren hübschen nackten Füßchen kräftig in die Pedale. Zuerst hörte Michael nur ein leises Summen, wie von einem Dynamo. Dann wurde es zu einem Schnurren, das sich schon mehr nach einem Generator anhörte, und plötzlich wurde Michael von einem regenbogenfarbigen Lichtbogen geblendet, der von dem Kasten auf den Käfig zuschoß. In dem Moment saß er nicht mehr in dem Aluminiumkäfig, sondern zwischen einer Menge graubrauner Kartons im Staub auf dem Fußboden des geheimen Magazinraumes. Und er sah, wie ein grauhaariger Mann im hellen Anzug durch ein Loch in der Wand verschwand. Mit Hilfe der Kartons stemmte Michael sich in eine halbwegs stehende Position und betrachtete seine Hosenbeine, versuchte dann, den Staub abzukopfen. Er löste sich nur widerstrebend und in filzartigen Röllchen von dem beigen Leinenstoff. Dann nutzte Michael die Gelegenheit, sich nach seinem Notizblock umzusehen, aber auch hier war er nicht. Vielleicht lag er doch draußen auf dem 'Phan.Graec.'-Regal, zumindest in seiner angestammten Wirklichkeit? Michael ging zur Wand und stellte sich diesmal auf der anderen Seite neben die Tür. Bevor er den Zauber wirkte, schwor er sich, daß dies das letzte Mal sein sollte, daß er durch eine Wand ging - und er ging. Er kam genau gegenüber der Buchablage des 'Phan.Graec.'-Regales heraus und dort lag sein vermißter Notizblock und der Werbebleistift von den Badischen Wasserwerken, den er dazu benutzt hatte, seine Notizen zum Romanprojekt und die vagen Überlegungen zu den Frühjahrslehrveranstaltungen des nächsten Jahres niederzulegen. Aber die Sache mit den 'Phan.Graec.001-081' und den zukünftigen Zeitschriftenbänden in den weggeschlossenen Kartons war damit noch nicht geklärt! * Natürlich fand sich im Systematischen Katalog kein Hinweis auf die 'Phan.Graec.001-081' und im Alphabetischen Katalog war auch kein 'Ho Klassizistês' aufgeführt. Michael entschloß sich, den Bibliotheksapparat für seine Zwecke in Bewegung zu setzen und baute sich vor dem Pult der Sachbearbeiterin für Altphilologie auf - eben der jungen Dame, die ihm in der anderen Wirklichkeit den Anruf seiner Frau ausgerichtet hatte. "Ich hätte da mal zwei Fragen", begann er. Der unschuldig-hilfsbereite Blick der Frau bewegte Michael fast, von seinem Vorhaben Abstand zu nehmen, aber jetzt wollte er es wissen. "Zum einen suche ich die 'Phan.Graec.001-081'..." "Die stehen schon seit Monaten in der Altphilologie", unterbrach die Frau ihn prompt. "Bei den Phantasten müßte doch ein Hinweisschild dazu stehen, daß die vorklassischen Autoren umsigniert wurden, Professor Drake." "Nun, dann ist dieses Hinweisschild wohl verloren gegangen... im Magazinraum 'Altphilologie' unter 'Graec'?" vergewisserte er sich dann und die Frau nickte. "Und was war ihre zweite Frage, Professor Drake?" "Äh... die Zeitschrift 'Ho Klassizistês', vom Institut für Klassizismusforschung... wird die angeschafft?" Die Frau mußte einen Moment nachdenken. "Die ist gerade im letzten Jahr erstmals herausgekommen, nicht wahr? Ich denke, sie wird angeschafft, schließlich wird sie von einem mit der Universität assoziierten Institut herausgegeben. Erkundigen sie sich dazu aber besser an der Theke im Zeitschriftenlesesaal. Vielleicht können sie den ersten Jahrgang dort sogar schon bekommen." "Danke für die Auskunft", sagte Michael artig, wenn auch etwas unbefriedigt über die unspektakuläre Erklärung und Lösung seines Problems. Blieben die Kartons mit den zukünftigen Bänden des Klassizisten. "Ich habe da noch einen dritten Anschlag", sagte er darum, als sich die Bibliotheksangestellte schon wieder ihren bibliothekarischen Aufgaben widtmen wollte. "Nun... wie soll ich sagen... was liegt eigentlich hinter der stets verschlossenen Tür am Ende des Phantastik-Magazinraumes?" Nun mußte die Frau mit einem Schulterzucken passen. "Ich habe nicht die geringste Ahnung... aber wenn es sie so umtreibt, können wir ja mal nachsehen." Sie bedachte Michael mit einem neckischen Lächeln, erhob sich von ihrem Schreibtisch, umrundete ihn und winkte Michael, ihr zu folgen. * Als Michael und die Bibliothekarin endlich den Gang erreicht hatten, von dem auch der Magazinraum 'Märchen und Phantastische Literatur' abging, sagte die Bibliothekarin: "Vermutlich werden wir beide erstaunt sein über das, was hinter dieser ominösen Tür liegt. Durch die ineinander verschachtelten Bauteile hat die Bibliothek die Eigenart, überraschende Verbindungen herzustellen, wenn man sich einmal die Mühe macht, verschlossene Türen zu öffnen." Michael dagegen befürchtete, nicht nur nicht die Kartons voll zukünftiger Zeitschriften vorzufinden, sondern es mit soetwas Profanem wie einer Besenkammer zu tun zu bekommen, wenn die Tür geöffnet wurde. Gemeinsam betraten sie den Magazinraum und die Frau angelte in ihrer Rocktasche nach dem rotettiketierten Sicherheitsschlüssel, den sie auf dem Weg aus dem Büro der Sachbearbeiter für die Ältere Abteilung geholt hatte. Doch als sie vor der Tür standen, inspizierte sie zunächst das 'Phan.Graec.'-Regal. "Sie haben recht, das Schild ist fort. Ich werde ein Neues hinstellen. Aber zumindest sie wissen ja nun Bescheid." Und sie drehte sich um zu der verschlossenen Brandschutztür. Sie steckte den Sicherheitsschlüssel in das Sicherheitsschloß. Mit einiger Mühe gelang es ihr schließlich, den Schlüssel im Schloß zu drehen. Sie öffnete, quälend langsam, die Tür und spähte durch den Spalt, verstellte Michael so die Sicht. "Oh, entschuldigen sie", sagte sie dann zu jemandem auf der anderen Seite der Tür. "Ich wollte sie nicht erschrecken. Professor Drake wollte gerne wissen, was hinter dieser Tür liegt, also haben wir mal nachgesehen." Dann zog sie die Tür ganz auf und Michael schaute... in sein eigenes Sekretariat, in das höchst erstaunte Gesicht seiner Sekretärin. "Guten Tag, Frau Weyerle", begrüßte er sie und lobte sich für seine Geistesgegenwart, als ihm einfiel hinzuzufügen: "Wenn sie vor ihrer Mittagspause noch einen Moment Zeit haben, würde ich ihnen gerne auch noch ein paar Notizen für die Veranstaltungen im übernächsten Trimester diktieren." Eigentlich war es nicht im geringsten erstaunlich, hier das Sekretariat zu finden. Das Stockwerk stimmte, und auch durch die zwei Fenster des Sekretariates schaute man hinunter in den kleinen Hof des ehemaligen Klosters. Der Raum war derselbe, den er auch durch die Wand betreten hatte, nur fehlten Bibliothekstisch und -stuhl und natürlich die Kartons und der dichte Staubteppich. Vielleicht gelangte man durch die Wand ja auch in die Zukunft. Das wäre zumindest eine Erklärung für die zukünftigen Zeitschriftenbände, die er gefunden hatte... eine Zukunft, in der die Vergleichende Literaturwissenschaft hier kein Sekretariat mehr hatte. Während Michael sich an dem Tisch mit dem Kopiergerät vorbeizwängte, der auf der Sekretariatsseite vor der Tür stand, verabschiedete sich die Bibliothekarin, zog sich in den Phantastik-Magazinraum zurück und verschloß die Tür. Von dieser Seite sah die Tür nur deswegen nicht nach einer Brandschutztür aus, weil sie oberhalb des Kopiergerätes von einem großen Plakat mit der Vogelschau einer pseudoantiken oder -mittelalterlichen Stadt beklebt war: 'Phantastische Welten bei Blauers'. Er hatte dieses Plakat seines Verlages vor einigen zehn Jahren von einer Buchmesse mitgebracht. "Von wo sind sie gekommen, Professor?" wollte Frau Weyerle nun wissen. "Von nebenan... aus dem Magazinraum Phantasik... sehr passend, diese Nachbarschaft... und wegen des Programmes für das Frühjahrstrimester, wie lange ist denn die Utopia-Vorlesung her?" Frau Weyerle schaute hinauf zu den Aktenordnern, die das Regal neben ihrem Schreibtisch bis unter die Decke füllten. "Das war vor fünf Jahren, im Sommer." Michael überflog das Gekritzel auf seinem Notizblock. "Also dann gibt es im Frühjahr 1971 ein Oberseminar 'Utopische Konstruktionen von der Antike bis...'- na sehen wir mal. Und die Vorlesung nennen wir... 'Forschungsreisen des Hellenismus und ihr literarisches Fortwirken', also Eratosthenes, Poseidonios und so fort. Und dazu noch einen begleitenden Lektürekurs. Suchen sie mir dazu mal bis nächste Woche die alten Trimesterpläne heraus, vielleicht kriege ich den antiken Roman da ja auch noch irgendwie unter... vielleicht als Teil zwei des Seminars vom Herbsttrimester." "Montag liegt alles auf ihrem Schreibtisch", versicherte Frau Weyerle. "Da bin ich sicher... wieso Montag?" Michael kam in den Trimesterferien für gewöhnlich nur einmal die Woche - und zwar Dienstags - in sein Büro, auch wenn er heute einmal an einem Freitag hier war - allerdings ja völlig ungeplant. Frau Weyerle tippte auf den Kalender, der auf ihrem Schreibtisch lag. "Am 13. ist die mündliche Prüfung von Frau Simon", erinnerte sie ihn. "Ach ja, richtig. Also dann bis Montag... um 10 Uhr, nicht wahr?" Frau Weyerle nickte und machte sich eine Notiz, Professor Drake eine Stunde vor Prüfungsbeginn noch einmal durch einen Telefonanruf zu erinnern und in Bewegung zu setzen. Es gab Michael einen Stich, als er sehen mußte, wie das Mißtrauen seiner Sekretärin in seine Zuverlässigkeit auf Papier gebannt wurde. Seit Beginn der Ferien schon schien sie ihn für zerstreuter als gewöhnlich zu halten. * Tatsächlich hatte Michael den anstehenden Prüfungstermin schon vergessen, bevor er die Hallen und Flure des Bischöflichen Palais ganz durchquert hatte. Und als er auf dem reich begrünten Schloßplatz aus dem Gebäude trat, das er - vor einigen Ewigkeiten wie es schien - vom Domplatz her betreten hatte, dachte er nur noch daran, wie er Cassandra ebenfalls zur Spurensuche nach seiner Vergangenheit begeistern konnte. Diesmal paßte der Hausschlüssel und auch die Innenausstattung des Hauses entsprach wieder dem, was Anna für angemessen gehalten hatte. Statt der 'Beschneidung des Salomon' hing an der Stelle wieder das kleine moderne Blumenstilleben, das sie von einem Studienkollegen Annas zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten. Und natürlich stand in Michaels Arbeitszimmer wieder der Designer-Schreibtisch, den Anna ausgesucht hatte. Und auf dem ergonomischen Schreibtischsessel saß Cassandra mit untergeschlagenen Beinen, ganz vertieft in ihre Zauberblätter. Aber als Michael die Tür schloß, drehte sie sich um, sah ihn an. "Na, wie kommt die Recherche für deinen Roman voran?" fragte sie. Michael hatte vorgehabt, die fertige Geschichte von seinem Bart zu erzählen, aber die kannte Cassandra wohl schon, denn er hatte sie ja ausformuliert. Also fragte er geschmeichelt: "Du willst was zu dem Roman hören?" Er lehnte sich auf die Rückenlehne seines Sessels und sah hinunter auf den bronzefarbenen Schopf seiner Muse, strich ihr liebevoll über die kurzen Haare. Cassandra griff nach seiner Hand, drückte einen Kuß auf die Innenseite seines Handgelenkes und sah wieder zu ihm auf. "Erzähl es mir." Michael sah hinaus in den Garten, hielt weiter Cassandras Hand in der seinen und begann: "Ich werde über eine sidonische Prinzessin schreiben, die von einem Engel oder einem Dämon verführt wird - an den Hängen des Libanon - und einem Mädchen das Leben schenkt. Dieses Mädchen ist Tochter ihrer Mutter, aber ebenso die ihres Vaters und daher unsterblich. Man macht dieses Mädchen zur Hohepriesterin der Astarte in der neu gegründeten Stadt Tyros. Und da ihre Dienerinnen nur für wenige Jahre in dem Tempel Dienst tun, wird ihr Geheimnis nicht außerhalb der königlichen Familien von Sidon und Tyros bekannt. Generationen gehen hin, aber es ist immer die selbe Hohepriesterin, die im Turm des Tempels von Tyros wohnt und die Welt, die sich um sie herum verändert, beobachtet. Und eines Tages verliebt sie sich, in einen fremden Krieger und wünscht sich die Sterblichkeit, um ihn nicht überleben zu müssen. Doch da das nicht möglich ist, wagt sie nicht, ihm ihre Liebe zu gestehen, und der Krieger verschwindet aus ihrem Leben. Aber Jahrhunderte später taucht er wieder auf und sie merkt, auch er ist unsterblich und während der Belagerung der Stadt durch das Alexanderheer kommen sie endlich zueinander." "Nett", sagte Cassandra, kniete sich auf die Sitzfläche des Drehsessels und umarmte Michael, küßte ihn sanft auf die bärtige Wange - und gleich darauf viel weniger mädchenhaft auf die Lippen. Aber Michael wagte nicht, Cassandras Umarmung zu erwidern. Die Geschichte vom Übergang in eine andere Wirklichkeit mußte bis zum Ende durchgespielt werden. Zögernd löste er sich aus ihrer Umklammerung und versuchte, ihren beleidigten Blick zu ignorieren. "Du hast doch gesagt, ich könnte nur teleportieren, da ich über keinerlei eigene magische Fähigkeiten verfüge", begann er nach einem kurzen Zögern. "Nach allem, was ich bisher gelernt habe, können nur Menschen mit magischen Fähigkeiten wirklich zaubern - und natürlich die, die Anteil an der Macht haben." Cassandra sah ihren Dichter kritisch an, kraulte seinen Bart. "Du hast kein zahmes Streifenhörnchen, also bist du kein zauberkräftiger Mensch. Hast du Anteil an der Macht?" "Wer hat denn Anteil an der Macht?" "Die Götter und übernatürlichen Wesen haben Anteil an der Macht. Bist du vielleicht ein kleiner Gott, mein Lieber?" Aber in ihrem scherzhaften Ton war auch eine Spur Ernsthaftigkeit zu hören, die Michael unbehaglich war; als fürchte sie, er könne mit 'Ja' antworten. "Ich bin durch die Wand gegangen", sagte er jedoch nur, "in der Bibliothek." Und bevor Cassandra etwas entgegnen konnte, fuhr er fort: "Ich landete in einer anderen Wirklichkeit, verheiratet mit der Frau, die sich in mich verliebte, nicht mit der, die ich seinerzeit begehrte... und ich fand einige Dinge von meinem Großvater Drake, denen ich hier einmal nachgehen will... und ich brauchte Paras Hilfe, um wieder zurückzukehren." Cassandra zog die Augenbrauen hoch. "Aber immerhin hast du es geschafft, da wieder mit heiler Haut herauszukommen." Irgendwie klang das eher wie ein Vorwurf, als wie ein Kompliment. "Sie hat eine Zeitmaschine", bemerkte Michael vorsichtig. Cassandra zuckte mit den Schultern. "Die Hexe sammelt Zauber-Gimmicks. Sie hat ja auch einen Jungbrunnen." Ihre eben noch deutlich gezeigte Zuneigung schien merklich abgekühlt zu sein. "Hast du etwas gegen Para?" fragte Michael darum. "Nein, warum sollte ich etwas gegen Para Noia haben? Sie ist eine fähige Lehrerin... und was für Dinge von deinem Großvater hast du in der anderen Wirklichkeit gefunden?" Auffällig beiläufig stellte sie diese Frage. "Nun... Kleinigkeiten, Fotos, ein interessantes Tagebuch... 'Rückfahrkarten' in meine Kindheit, wenn du so willst. Das hat Erinnerungen geweckt, die Anna völlig ausgeschaltet hatte. Und da hing auch das Bild, das ich von meinem Großvater Dumeloille geerbt habe. Anna hat sich von Anfang an daran gestoßen und irgendwann war es weg. Vielleicht finde ich es ja auch wieder." "Ja", sagte Cassandra nur. Sie stand auf und sammelte ihre bläulichen Zauberlehrgangsblätter zusammen. "Willst du mir nicht beim Suchen helfen?" Michael fühlte sich im Umgang mit seiner plötzlich so kalt gewordenen Muse erschreckend unbeholfen. Cassandras verschiedenfarbigen Augen waren ausdruckslos wie Glasmurmeln, als sie Michael musterte. "Meine Geliebte...", flüsterte Michael versuchsweise, hauchte Cassandra einen Kuß durch die Luft zu. Immerhin gelang es ihm so, wieder den Anflug eines freundlichen Lächelns auf die Lippen seiner Muse zu zaubern. Und sie ließ sich umarmen und küssen. * * * Kapitel 11: Das Vermächtnis --------------------------- Cassandra wollte nicht mit auf den Dachboden, um dort nach den Besitztümern des drake'schen Großvaters zu suchen. Sie meinte, sie würde alle wesentlichen Fundstücke wohl vorgeführt bekommen, und Michael versprach, es zu tun. Die Luft unter dem Dach war aufgeheizt von der Sommersonne, die seit Wochen nun jeden Tag auf das mit dunklen Ziegeln gedeckte Dach gebrannt hatte. Michael öffnete die zwei Bodenfenster weit und sorgte so für ein wenig Durchzug. Die Nachmittagsluft war etwas kühler, so daß der Aufenthalt unter dem Dach nicht ganz so unangenehm wurde, wie er befürchtet hatte. Der Schreibtisch von Großvater Drake stand in einer der hinteren Ecken, hinter einer Menge Kartons, die mit alten Akten und sonstigen Papieren gefüllt waren. Ein Karton enthielt sogar Papiere von Großvater Dumeloille, obwohl doch dessen Sohn, Michaels Onkel Marcel, der Haupterbe des Rabbis gewesen war. Unter dem Schreibtisch schließlich stand ein Karton, der offensichtlich Schreibtischinhalt enthielt, denn zuoberst, eingeschlagen in Seidenpapier, lag die Tintenkröte. Unter ein paar Lagen Briefpapier seines Großvaters fand Michael das Tagebuch aus Merburg. Und auch der bemalte Holzkasten, in dem Michael in der anderen Wirklichkeit das Petschaft und den Ring gefunden hatte, war in diesem Karton. Doch darin waren nur ein paar Stangen Siegellack und das Petschaft. Von dem Ring fand er keine Spur. Müßig blätterte Michael daraufhin in dem Tagebuch-Heft, fand den letzten Absatz, doch da stand nichts von dem Ring. Nach den Hochzeitsplänen hatte Michael Drake senior nur notiert: 'Heute abend habe ich, nach dem Besuch bei einigen Behörden, um die Formalitäten für die anstehende Hochzeit zu klären, die dunkelhäutige Frau gesehen, die mir im Traum als Dämonin erschien. Sie schaute mich an, von der gegenüberliegenden Straßenseite, und als sich unsere Blicke trafen, erinnerte ich mich an alles. Ich wünschte, es wäre nicht so.[/sI]' So endete dieses Tagebuch. Noch einmal las Michael sich das ganze Heft durch, doch dieser letzte Teil war die einzige Stelle, die sich seiner Erinnerung nach von jenem anderen Tagebuch unterschied. Der Ring wurde mit keiner Silbe erwähnt und in dem Karton fand sich weder von dem Schmuckstück noch von seinem Kasten eine Spur. Aber im ansonsten leeren Schreibtisch fand Michael in der mittleren Schublade überraschend die 'Beschneidung des Salomon'. * Mit dem Bild von Großvater Dumeloille, dem Tagebuch und dem Holzkasten mit dem Petschaft von Michael Drake senior, sowie einem Fotoalbum von Gabriel Drake aus einem anderen Karton, auf das Michael bei einer kurzen Durchsicht gestoßen war, stieg er die Treppe wieder nach unten. Cassandra saß im Garten und fütterte Casus Belli mit Bruchstücken der Kekse, die sie nicht mochte, während sie die schokolierten Kekse aus der Dose selber aß. Sie sah nicht auf, als Michael an den Tisch kam und seine Trophäen vor seiner Muse ausbreitete. "Das ist also das Bild", bemerkte sie nur nach einem flüchtigen Blick auf das kleine barocke Ölbild. Michael setzte sich ihr gegenüber. "Was ist los mit dir? Bist du sauer, weil ich durch die Wand gegangen bin, obwohl ich es nicht hätte tun sollen?" Cassandra sah ihn nun überrascht an. "Nein... aber das Unheil hat begonnen. Ich hatte gehofft, ich hätte mich darüber geirrt." "Was für ein Unheil?" fragte Michael, war versucht, düstere Unkerei mit einem Scherz zu beantworten, aber seine Muse blickte so ernst, daß auch sein Unbehagen wuchs. Cassandra antwortete nicht, sondern preßte die Lippen aufeinander und schüttelte nur den Kopf. "Laß dich durch deinen Namen nicht beunruhigen", neckte Michael sie nun doch. "Willst du meine Familie kennenlernen?" fragte er dann und schlug das Fotoalbum auf. Cassandra schien versöhnt, kam um den Tisch herum und setzte sich auf Michaels Sessellehne, um auch in das Album schauen zu können. Und Michael zeigte ihr das Hochzeitsfoto seiner Großeltern Drake, von einem Merburger Fotografen angefertigt - und Michael Drake senior fehlten hier tatsächlich die beiden letzten Finger seiner verbliebenen Hand. Dann kamen Kinderfotos von seinem Vater, dessen jüngerem Bruder und der nachgeborenen Schwester; die ganze Familie im Garten, zusammen mit den Dumeloilles - den späteren Großeltern mütterlicherseits - im Wintergarten, der durch das Herausnehmen der Glasscheiben zur Laubhütte geworden war. Es hieß, Michael Drake senior hätte dem späteren Rabbi Dumeloille einst das Leben gerettet. Daraus war eine Freundschaft der beiden Familien entstanden, die schließlich in die Hochzeit des drake'schen Erstgeborenen Gabriel mit Louise Dumeloille, der ältesten Tochter des Rabbis, mündete. Und da war auch schon das Hochzeitsfoto seiner Eltern; Klein Michael; dann seine beiden Schwestern Mirjam und Margarete; der Teenager Michael und seine Schwestern mit dem etwa gleichaltrigen Ruben Mandelbaum und dessen Schwester Ruth während einer Rheinfahrt. Die Mandelbaums und die Drakes während der selben Rheinfahrt... das war - angesichts der Beflaggung des Schiffes - wohl anläßlich des 110. Jahrestages der Revolution gewesen. Ruth war für ihn immer wie eine weitere Schwester gewesen, wieso hatte sie sich in ihn verliebt? Wieso hatte er es in seiner eigenen Wirklichkeit nicht gemerkt? Oder hatte er es - aus Protest gegen seine Eltern, die alles schon arrangiert zu haben schienen - nicht merken wollen? Ruths Tod war ein Unheil gewesen, aber dieses Unheil war bereits durchlitten, es begann nicht gerade. Cassandra griff an Michael vorbei und blätterte weiter in dem Album: Michael junior als frischgebackener Unteroffizier des Zweiten Badisch-Oberrheinischen Infantrieregimentes; die Hochzeit mit Anna; das Aufwachsen der Kinder Greta und Andreas, und zuletzt die Bilder von der Feier des 66. Geburtstages seines Vaters. Das war nur wenige Wochen vor Gabriel Drakes plötzlichem Tod im Frühjahr 1948 gewesen. Der Tod des Gatten und des Vaters war für Michaels Mutter ein großes Unheil gewesen, denn Michaels Vater und Großvater Dumeloille waren in der gleichen Nacht gestorben und zudem war Louise bis zu ihrem Tode davon überzeugt gewesen, daß es der Zorn und die Strafe Gottes gewesen war, die Vater und Gatten dahingerafft hatte. Es war ein ebenso vergangenes Unheil wie Ruths Selbstmord, doch auch dieses Unheil war in der anderen Wirklichkeit nicht eingetreten. Hatte auch der Tod seines Vaters und seines Großvaters Dumeloille etwas mit einer Entscheidung Michaels in der Vergangenheit zu tun? Auf die Idee war er bisher noch nie gekommen, aber so abwegig kam ihm der Gedanke nun gar nicht vor. Dabei waren die beiden doch im Garten des Rabbis vom Blitz erschlagen worden. "Hast du dich schon einmal gefragt, was sie in der Nacht im Garten deines Großvaters taten?" fragte Cassandra, als Michael den merkwürdigen Tod von Gabriel Drake und Daniel Dumeloille erwähnte. "Sie haben wohl irgendeinen Geist beschworen", sagte Michael so dahin, weil er sich inzwischen über die abfärbende düstere Stimmung seiner Muse ärgerte, und außerdem war das eine der unheilvollen Andeutungen seiner Mutter gewesen. Tatsächlich hatte sich sein Großvater in seiner Jugend eingehend mit der Kabbala beschäftigt, ebenso wie sein Vater von der abendländischen Tradition der Alchemie und Zauberei fasziniert gewesen war. Cassandra schloß das Fotoalbum und legte es auf den Tisch. "So etwas Ähnliches haben sie tatsächlich versucht. Es hat sie umgebracht... aber das weißt du ja selbst - oder du wirst es wissen." "Willst du nicht endlich mit deinen düsteren Andeutungen aufhören?!" rief Michael jetzt aufgebracht. "Sag, was du sagen willst und laß es dann gut sein!" Cassandra zog sich erschrocken von Michael zurück, als erwarte sie, im nächsten Moment von ihm geschlagen zu werden. "Sei mir nicht böse, aber ich weiß nicht, was passiert ist und noch passieren wird. Ich weiß nur, daß es Unheil barg und birgt... und daß ich dich verlassen muß, bevor es ausbricht, weil du dich verändern wirst." Cassandra wirkte fast schuldbewußt, als sie das sagte, vielleicht auch nur, weil sie Michaels über ihr Zurückweichen verstörten, ja verletzten Gesichtsausdruck bemerkte. Sie hielt seinem Blick nicht lange stand, schaute sich die anderen Dinge an, die Michael vom Dachboden mitgebracht hatte, griff nach dem Tagebuch. "Du hast was auf englisch geschrieben?" fragte sie dann, hoffte offenbar, durch den plötzlichen Themenwechsel Michaels Laune wieder aufzuhellen. "Das habe ich nicht geschrieben", sagte Michael nur. "Aber es ist doch deine Handschrift... oh..." Cassandra verstummte, als sie beim Blättern von hinten nach vorne beim Eintrag auf der Umschlagsinnenseite angelangt war. "Der Inhalt ist fast identisch mit dem Tagebuch, das ich in der anderen Wirklichkeit gefunden habe", erklärte Michael leise. "Nur der Ring wird nicht erwähnt und ich konnte ihn bei den Sachen von Großvater Drake auch nicht finden. In dieser Wirklichkeit muß er verloren gegangen sein... er war hübsch und er gefiel mir", ergänzte Michael noch ein wenig bedauernd. Aber Cassandra schien sichtlich erleichtert, als sie vom Verlust des Ringes hörte. "Ich war vielleicht voreilig, was das Unheil betrifft", sagte sie nun, kam wieder dicht zu Michael, küßte sein Ohrläppchen, dann die Wange, griff nach seiner Rechten - an der der Ring doch so recht am Platze ausgesehen hatte - zog sie an ihre Lippen und küßte jeden Knöchel seiner Hand. "Vergiß, was ich gesagt habe, ich bitte dich!" Michael ließ sich die Liebkosungen seiner hübschen Muse gerne gefallen und erwiderte sie. Und seine düstere Stimmung verflog. * * * Kapitel 12: Oberon ------------------ Mittwoch, 15.7.1970 Michael betrachtete mit beginnender Verzweiflung die den Wohnzimmertisch bedeckenden Papiere. Immerhin erkannte er die Notizen für den Roman auf den ersten Blick, weil er dafür das mattgrüne Konzeptpapier verwendete, das ihm Greta vor Jahren einmal geschenkt hatte. "Meinst du wirklich, daß du das alles noch durchlesen mußt?" fragte Cassandra von der anderen Seite des Zimmers aus. Auch sie hatte eine Menge Papier vor sich liegen - auf dem Fußboden und ihr Taschentier turnte munter darin herum - aber das waren vor allem alte Zeitungen. Ihre Zauberblätter hatte sie schon längst hübsch ordentlich zusammengeheftet. Michael schüttelte den Kopf. "Ich will doch das Ganze nur eben sortieren." Irgendwo in der Masse lag sicherlich auch das Tagungsprogramm für Merburg. Und wenn er schon danach suchen mußte, konnte er auch gleich versuchen, ein wenig Ordnung zu schaffen. Innerhalb der nächsten Stunde wuchsen um ihn herum auf den Sesseln und der Couch die Papierhaufen aus Notizen zum Roman und zu den Vorlesungen des nächsten und übernächsten Trimesters, aus Werbebroschüren verschiedenster Art, die er für sammelnswert gehalten hatte, und so fand er in der untersten Schicht tatsächlich einen Großteil des ihm im Frühjahr zugesandten Tagungsmaterials für den vom Philologenverband veranstalteten Kongress '"Mächte, freundlich und feindlich dem Menschen" - Phantastische Literatur der Romantik'. "Weißt du, daß dieses Jahr zum siebzehnten Mal die Merburger Mysterienspiele begangen werden?" fragte Cassandra plötzlich. Zwischen den Zeitungen hatte sie die Prospekte des Fremdenverkehrsbüros von Merburg gefunden. "Genau zu der Zeit, wenn der Kongress läuft", ergänzte sie noch und sah hinüber zu ihrem Dichter. Michael schaute vom Tagungsplan auf. "Es gibt sogar einen Vortrag über den Autor des Spiels... 'Der Engel mit dem Schwert. Ludwig Krafischer und sein Engelsoratorium in romantischer Tradition'", las er vor. "Und dann gibt es noch was zu den keltischen Mythen, zur Artussage und den Ritterromanen, zu Elfen und Gothic Novels... willst du mal einen Blick darauf werfen, um zu sehen, ob du einen der Vorträge mit mir besuchen willst - oder ob dir das Damenprogramm vielleicht eher zusagt?" Cassandra schüttelte den Kopf. "Laß uns erst einmal hinfahren." "Morgen abend ist der Eröffnungsvortrag", erinnerte Michael seine Muse. "Und du mußt noch packen", konterte Cassandra. "Der Zug geht in drei Stunden von Hohenzell." Michael nahm sich allerdings mehr Zeit dafür, Unterlagen und bereits gemachte Notizen für seinen Roman über die Unsterbliche auszuwählen, um unterwegs daran weiterarbeiten zu können, als für das Zusammensuchen der Übernachtungsutensilien und Kleidung zum Wechseln. Notfalls konnte er ja alles was er brauchen sollte, auch in Merburg kaufen. * Natürlich hatte Michael ein Schlafwagenabteil Erster Klasse gebucht. Da jedoch noch die Zollkontrolle zu erwarten war, setzte er sich zunächst auf die Sitzbank gegenüber den Betten und zog das am Zeitungskiosk auf dem Bahnhof erworbene Taschenbuch aus der Jackentasche, den 'Touristen-Verführer für Nordeuropa'. Cassandra kuschelte sich an ihn und sah ihm über die Schulter, als er begann, in dem Bändchen zu blättern. Den gesuchten Eintrag fand er unter 'M': 'Merburg - Britisches Protektorat Nord-Friesland, Stadt an der Nordsee. Erste Erwähnung im 10.Jh., Sitz friesischer Häuptlinge bis Anfang des 18.Jh., 1720 dem Herzogtum Nordmark angegliedert, im Frieden von Wien (1880) England zugeschlagen, seit 1883 Sitz der Verwaltung des British Protektorate North-Friesia. Urkunde über Stadtrecht von 1103 wohl Fälschung des 18.Jh., ebenso wie die angeblich frühmittelalterliche Burgruine (Olde Borch). Verkehrsanbindung durch Eisenbahn (Euro-Norm-Spurbreite) und Straßenfahrzeuge (Grenzübergang Bannstedt), weiter verfügt Merburg über einen Yacht-Hafen und eine dem Flughafen der RAF angeschlossene zivile Fluglandebahn. Gepflegte Übernachtungsmöglichkeiten: O'Sullivan'S (*****), Merburger Hof (****), Bannstedter Post (***), The Dancing Angel (***). Sehenswürdigkeiten: Michaelis-Kirche, dreischiffige Basilika des 11.Jh. mit klassizistischer Blendfassade (1802 fertiggest.); Freesthingh oder auch Niewe Borch, Prachtbau des 16.Jh. mit ausgedehnter Gartenanlage und Tierpark, bedeutende Antikensammlung - zugleich Historisches Museum Merburg; Burgruine oder auch Olde Borch, im Stil der Neoromanik, vermutlich um 1750 nach Plänen des Herzogs Christian Albrecht zu Bannstedt; O'Sullivan'S, Grandhotel, 1912-14 von F.M.O.Pritchett, Esq., auf den Kellergeschossen eines Vorgängerbaues von 1830; Nixenbucht, seit den frühen 1920er Jahren von den Anliegern in mediterranem Stil gestaltet. Ausflugsziele: Schloß Bannstedt (s.o. Bannstedt, H.N.); Vogelparadies Wattenmeer (s.d.).' Michael würde in Merburg also in einer fünfsternigen Sehenswürdigkeit wohnen. Die nebenstehende Bildseite, aufgeteilt in fünf Felder, zeigte eine Totale der palmenbewachsenen Nixenbucht, die zweitürmige Westfassade der Michaelis-Kirche, die Burgruine und die Gartenfassade des Freesthingh. Die halbe Seite wurde jedoch von einem Stich aus der Sammlung des Historischen Museums eingenommen. Es handelte sich um eine 'Vogelschau' Merburgs aus dem späten 18. Jahrhundert. Auffällig war die Küstenlinie mit einer fast kreisrunden Bucht, die von zwei mondsichelförmigen Halbinseln gebildet wurde. Auf der Spitze der östlichen Halbinsel stand die Burgruine, auf der westlichen Halbinsel ein Leuchtturm - sie standen sich gegenüber wie geharnischte Gegner. Der Ort selbst wurde von der Michaelis-Kirche dominiert. Michael schloß das Buch und schaute aus dem Fenster, vor dem noch immer den Bahnsteig 5 des Nordbahnhofes Hohenzell zu sehen war. Dann gab es einen sanften Ruck - der Bahnsteig setzte sich in Bewegung - die Reise hatte begonnen. Der Bahnhof verschwand nach einer weiten Kurve aus Michaels Blickfeld und mit ihm, allmählich, die Wartungsgebäude des Bahngeländes und die aus aller Welt zusammenlaufenden Schienenstränge, bis nur noch drei den Weg des Zuges nach Norden begleiteten. Die drei- bis vierstöckigen Stadthäuser wichen den hohen Hecken der Gärten von Hohenzeller und schließlich Hohenheimer Vorortvillen, diese endlich der freien Natur. Die Lücken zwischen den dichtbelaubten Bäumen gaben den Blick frei auf die gegenüberliegende elsässische Seite des Flusses, dessen Verlauf der Zug die nächsten Stunden folgen würde, aufragende Felsen und davor der Abgrund, in dessen Tiefe der Rhein sich bleifarben seinen Weg bahnte. Die tiefstehende Abendsonne schien, nach einer weiteren Kurve, die den Zug noch näher an die Schlucht gebracht hatte, bis weit in das Abteil und die Westfassaden der Häuser wurden angestrahlt wie von einem starken Scheinwerfer. Nach zehnminütiger Fahrt hatten sie den Grenzbahnhof Lahr erreicht. Auf dem Bahnsteig herrschte trotz der abendlichen Stunde noch reger Betrieb und Michael sah, von den schlanken Armen seiner Muse umfangen, müßig dem Treiben zu. Jenseits der Bahnsteigschranken standen einige der rot-goldenen großherzoglich-badischen Grenzbeamten, die die Papiere der soeben aus der Republik Baden-Oberrhein eingetroffenen Reisenden überprüften. Andere stiegen in den Zug ein und schon wurde die Abteiltür geöffnet und eine dunkelhaarige Grenzbeamtin bat um Michaels Pass. Sie warf nur einen kurzen Blick in das fast druckfrische Dokument, dann ging sie weiter zum nächsten Abteil. Etwas wehmütig dachte Michael zurück an die Zeit, in der er mit seiner Frau jedes Jahr für ein paar Tage nach Baden-Baden zu reisen pflegte. Damals hatten die Grenzbeamten von Lahr auf ihren kleinen Umhänge-Klapptischchen noch jeden Reisenden aus Baden-Oberrhein im Zug ein Visum erteilt - natürlich erst nach eingehender Befragung und Überprüfung der Reise- und Ausweisdokumente - egal ob derjenige vorhatte, in das Großherzogtum zu reisen oder es nur durchqueren wollte. Doch die Zeiten der Ein- und Durchreisevisa für die 'Republikaner' waren inzwischen vorbei - ebenso wie seine Ehe mit Anna... und jetzt fehlte zu seinem Glück nur noch die Besiegelung ihrer Trennung durch eine ordnungsgemäße Scheidung. Als der Zug seine Fahrt fortsetzte, erwiderte Michael Cassandras Umarmung und nach einer Weile versuchten sie, es sich zusammen in einem Bett gemütlich zu machen. * Von seinem Standort aus überschaute er eine endlos scheinende, leicht hügelige, frühlingshaft frische Graslandschaft unter einem strahlendblauen Himmel mit einigen Schönwetterwölkchen. Die Sonne stand hoch und die wenigen Bäume und Büsche, die der Landschaft einen parkähnlichen Charakter gaben, warfen nahezu keinen Schatten. In einiger Entfernung graste eine Schafherde. Etwas erstaunt bemerkte Michael, daß sein bis zum Horizont schweifender Blick keine Unterstützung durch Brillengläser brauchte und daß er... auf einem Pferd saß. Er besah sich das Schlachtroß und die Rüstung, die er selber am Leibe trug. Die breiten Fransen der schwarz-weißen Schabracke seines Rappen reichten bis fast auf den Boden. Seine eigenen Arme und sein Brustkorb waren in schimmerndes Metall gehüllt, ebenso wie seine Beine, aber die Panzerung war nicht schwerer als gewöhnliche Kleidung. Und der Helm mit Federbusch, den er - natürlich? - trug, beeinträchtigte in keiner Weise sein Sichtfeld. In der Rechten hielt er eine Lanze, aufgestützt auf seinem rechten Steigbügel; der an ihrer Spitze trotz Windstille lustig flatternde Wimpel trug - seine? - Farben schwarz-weiß oder richtiger schwarz-silber. Der dreieckige Schild, der an einem Lederband vor ihm am Sattel hing, war weißgrundig und mit einem schlangenartig in sich verschlungenen schwarzen Drachen bemalt, der starke Ähnlichkeit mit dem Siegel hatte, das Michael Drake senior sich hatte anfertigen lassen. Zur Vervollständigung seiner Ausstaffierung hing an seiner linken Seite ein langes Schwert. Er wollte einen König aufsuchen, das wußte er. Es wollten Abenteuer bestanden und Prinzessinnen geehelicht werden. Komme was da wolle - er war bereit, allen Schrecken der Hölle entgegenzutreten. Einzig diese fast überschäumende Lebensenergie, die ihn durchströmte, bereitete Michael ein wenig Unbehagen. So hatte er sich seit dreißig Jahren nicht mehr gefühlt. Langsam setzte sein Pferd sich in Bewegung und es bereitete Michael keine Schwierigkeiten, es auf das dichte, weiß blühende Dorngebüsch auf dem sanft geneigten Abhang des Hügels zuzulenken. Das Tier setzte einen Huf nach dem anderen in einen weiten Kreis aus weißen Steinen und plötzlich stand es mitsamt seinem Reiter vor der Zugbrücke einer in den Himmel ragenden Burg mit spitzen gotischen Türmchen und Erkern, umgeben von einem wassergefüllten Graben. 'Einmal vor einem solchen Bauwerk zu stehen muß der Traum jedes Romantikers gewesen sein', dachte Michael, da senkte sich schon die Zugbrücke und das dahinter liegende Tor öffnete sich. Schlanke, ätherisch schöne Gestalten in farbenfrohen hochgotischen Gewändern geleiteten ihn, plötzlich ohne Pferd, durch die lichtdurchfluteten Gänge und Säle des Schlosses. Rüstung und Lanze waren verschwunden, statt dessen trug er ein prächtiges Wams mit bis zum Boden reichenden offenen Ärmeln in seinen Hausfarben. Selbstbewußt straffte er seine breiten Schultern und legte die Linke locker auf den kühlen Knauf seines Schwertes. Das letzte Paar großer, reich verzierter Torflügel wurde vor ihm geöffnet, dahinter lag der Thronsaal. Um den König waren seine ewig jugendlichen Edlen versammelt, sie selbst und ihre Damen von herzzerreißender Schönheit mit blondem Haar in allen Schattierungen zwischen Weißblond und Bronzerot. Hunderte von hellen Augenpaaren musterten den Ankömmling halb ängstlich und halb voller Hoffnung auf seinem langen Weg durch den Saal. Der Thron stand auf einem niedrigen Podest. Dort saß der König im vertraulichen Gespräch mit einem seiner Berater, doch dann wandte er Michael sein hellhäutiges Gesicht zu. Sein langes, in leichten Wellen bis auf die Schultern fallendes Haar, nur von einem edelsteinbesetzten Stirnreifen gehalten, hatte einen warmen rötlichblonden Ton und seine Augen schienen meergrün zu sein, doch tatsächlich waren sie von einem hellen blaugrau, und der Widerschein seiner smaragdgrünen Seidengewänder verlieh ihnen die ungewöhnliche Farbe. Er war mager, seine Wangenknochen traten hervor und die leicht gebogene Nase war sehr schmal, aber obwohl ihm die elfenhafte Schönheit seiner Untertanen abging, war er doch wirklicher - als sei er das einzige tatsächlich lebendige Wesen unter Schattengestalten. Ein Herold trat vor den König, verneigte sich tief und verkündete mit weittragender aber nicht lauter Stimme: "Sir Michael, genannt der 'Drachentöter', möchte euer Majestät seine Aufwartung machen und seine Dienste anbieten." Michael verneigte sich höfisch, dann betrachtete er wieder den König. Wie sollte er ihn nur anreden? Worüber herrschte dieser König eigentlich? Michael war sich nicht sicher, ob er es jemals gewußt hatte. "Ihr seht den Tiarna-na-Sidhe", erklärte der König mit kaum angedeutetem Lächeln auf den dünnen Lippen. In Michaels Ohren klang der Name Gälisch - eine Sprache, die sein Großvater Drake beherrscht hatte, von der der jüngere Michael aber allenfalls zehn Worte verstand. 'Sidhe' war das gälische Wort für 'Geister' oder 'Feen'. "Ihr würdet mich vermutlich eher nach Shakespeare's 'Sommernachtstraum' 'Oberon' nennen", fuhr der König fort. "Da ich euch im Traum erscheine, kann ich mich nur der Bilder bedienen, die ihr in euch tragt. Ihr seht mich als den König der Feenwelt und in eurer Vorstellung gehören zu 'Oberon' ein solches Schloß und diese Bewohner." Seine fast beiläufige Geste bezog die gesamte Umgebung einschließlich Michael ein. "Es ist alles meine Erfindung?" vergewisserte Michael sich. "In gewisser Weise", stimmte Oberon zu. "Ich und mein Anliegen jedoch sind... real... nun..." er zögerte, "zumindest entstammen sie nicht eurer Phantasie." Die Umgebung hatte sich geändert, und sie befanden sich in einem Arbeitszimmer, dessen Wände mit Tapisserien behängt waren, die Minne- und Kriegs-Szenen zeigten. Darunter standen Regale mit Buchrollen und Folianten. "Nehmt Platz", sagte Oberon freundlich und wies auf einen ledergepolsterten Stuhl mit hoher Lehne. Der König selbst setzte sich - zu leger für seine Rolle, fand Michael - halb auf die Kante des Tisches, vor dem er stand, die Füße noch auf dem dicken Teppich und die Hände neben sich aufgestützt. Er besah sich Michael neugierig. "Ihr seht tatsächlich nach einem Helden und Drachentöter aus", sagte er dann mit dem schon bekannten dünnen Lächeln auf den Lippen. "Und ein feines Schwert führt ihr." Michael besah sich das Schwertgehänge. Der schwarz eingefärbte Ledergürtel war mit silbernen Ornamenten verziert, ebenso wie die Schwertscheide. Der kühle Knauf des Schwertes war eine Kugel aus glänzendem Hämatit, der lederne Bezug des Griffes trug die Spuren ständigen Gebrauchs, die gerade Parierstange wies einige Kerben auf. Michael zog das Schwert ein wenig aus seiner Hülle. Die Klinge war zweischneidig und - er prüfte es mit dem Zeigefinger seiner linken Hand - scharf geschliffen, so daß er sich unbeabsichtigt schnitt. Er ließ das Schwert zurückgleiten und saugte an der Verletzung. "Aber nun genug der Artigkeiten", sagte Oberon entschieden und stand auf. Für einen Moment schaute er nachdenklich auf Michael hinunter, dann ging er um den Tisch herum, um sich den dahinter stehenden Stuhl heranzuholen. "Ich erwähnte schon, daß ich ein Anliegen habe... nein... ich erbitte flehentlich eure Hilfe - das trifft es eher." Der Feenkönig setzte sich Michael gegenüber auf die Stuhlkante. "Ich stehe im Kampf mit einem Dämon. Er wird alles, was mir lieb und teuer ist, an sich reißen, sofern man ihm nicht Einhalt gebietet. Doch allein komme ich gegen ihn nicht an." Oberon beugte sich nach vorne und starrte Michael eindringlich in die Augen. "Ich bitte euch, steht mir als mein Waffenbruder zur Seite. Uns verknüpfen Blutsbande... im Namen unserer gemeinsamen Ahnen erflehe ich eure Hilfe gegen das Böse, das die Macht an sich reißen will. Ihr dürft nicht zulassen, daß ich in diesem Kampf untergehe, ihr, als Streiter für das Gute und das Licht!" Mit den letzten Worten war Oberon aufgesprungen und packte Michael schmerzhaft fest mit kräftigem Griff an den Schultern. Seine Augen hatten das dunkle Grau von Gewitterwolken angenommen. "Wie können wir gemeinsame Ahnen haben?" fragte Michael verdutzt, denn das widersprach jeder Logik. Wie sollte er mit Oberon, dem König der Sidhe - ganz abgesehen davon, daß es sich bei ihm nur um eine Traumgestalt handelte - verwandt sein? Oberon las seine Gedanken. "Nein, ihr versteht nicht. Ich bin nicht 'Oberon', auch kein Elfenfürst. Ihr seht mich nur in eurem Traum in dieser Gestalt. 'Oberon' ist eine Metapher! Aber in euren sterblichen Adern fließt - ebenso wie in meinen - das Blut unserer gemeinsamen keltischen Vorfahren." Die Traumgestalt rückte wieder ein Stück von Michael ab. Wenn sein Gegenüber solchen Wert auf sein keltisches Erbe legte - das ihn mit mindestens fünfzig Prozent aller Europäer verband -, lag es vermutlich nahe, daß Michael ihn im Traum als Figur der keltischen Mythologie sah. Der seidengewandete Mann kniete vor Michael nieder und sagte feierlich: "Im Namen unserer gemeinsamen Vorfahren erbitte ich eure Hilfe rück' mal ein Stück." Michael schlug erschrocken die Augen auf und brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Dann fiel ihm wieder ein wo er war und wer da neben ihm lag. Cassandra schob sich über ihn und kletterte dann hinauf in das obere Bett. Draußen war es schon dunkel, nur vereinzelte Lichter blitzten am Horizont auf. "Tut mir leid, daß ich dich geweckt habe", sagte Cassandra von oben, "aber es wurde doch ein bißchen unbequem." "Schon gut", versicherte Michael seiner Muse, zog die dünne Decke wieder zurecht und saugte dann an einem schmerzhaften kleinen Schnitt im Zeigefinger seiner Linken. Offenbar hatte er sich an irgendetwas geschnitten, vielleicht an einer Seite seines neuerworbenen Touristen-Verführers. Er schloß wieder die Augen. Paradoxerweise glitt Michael diesmal bewußt in das Traumreich. Das Kissen war noch von Cassandras Duft durchdrungen und er verlor das Interesse an der Kontrolle über seine Gliedmaßen. Das leise Rattern des Zuges schläferte ihn wieder ein. * * * Kapitel 13: Das Gastmahl ------------------------ Erst langsam wurde Michael sich seiner Umgebung bewußt. Er saß auf einer grob zusammengezimmerten Holzbank im Schatten einer großen Platane, neben ihm lag ein aus Stroh geflochtener Hut mit breiter Krempe. Eine sehr warme Brise fuhr durch die Blätter des großen Baumes und ließ sie rauschen. Im hohen Gras zirpten Grillen oder Zikaden und raschelten andere kleine Tiere. In einiger Entfernung sah man hohe Zypressen vor dem tiefblauen Himmel und knorrige Olivenbäume, das Gras und Buschwerk zwischen ihnen sah schon halb vertrocknet aus, aber ein paar Ziegen taten sich an den Pflanzen gütlich. Eine leise murmelnde Quelle auf der anderen Seite der Platane, in unregelmäßige Steine eingefaßt, sorgte für die grüne Insel inmitten der sonnenverbrannten Landschaft. Am linken Horizont türmten sich schroffe Felsen zu Bergen, in die anderen Richtungen erstreckte sich eine wellige Ebene in der flirrenden Sonnenglut. Michael genoß die idyllische Landschaft und ländliche Stille und wandte seine Aufmerksamkeit schließlich der eigenen Person zu: er war in eine Art Toga aus feinem gebleichten Leinenstoff gekleidet, sie war weit, fast knöchellang und wurde unterhalb seines Bauches von einem schmalen Ledergürtel zusammengerafft. Darüber war ein ebenfalls aus Leinen gewebter Mantel - eigentlich eine Art Laken, dessen Ränder mit Ornamenten bestickt waren - locker um seinen Oberkörper geschlungen. Die Sandalen waren nur Ledersohlen, ihre geflochtenen Lederriemen bis fast zu den Knien geschnürt. 'Wo bin ich hier denn gelandet?' fragte Michael sich stumm. Er griff nach dem an Bank und Baum lehnenden, langen knotigen Holzstock, um sich hochzustemmen und erschrak über die Geläufigkeit dieser Bewegung. Der im oberen Drittel vom häufigen Anfassen wie poliert glänzende Holzstab lag vertraut in seiner Hand. Er reichte ihm bis zur Brust und nun lehnte er sich auf ihn, um sich aus seiner neuen Perspektive umzusehen. Michael entdeckte, daß der Trampelpfad, der an der Platane mit Ruhebank und Quelle endete, in Richtung Berge und zu einer an die Felsen geschmiegten Stadt führte. Er streckte seine steifen Glieder und setzte den Sonnenhut auf. Er würde einen Spaziergang in die Stadt unternehmen, um sich ein Bild von seiner Traumwelt zu machen. Der Weg wurde von vereinzelten Bäumen gesäumt und überquerte mit Hilfe dreier Trittsteine einen flachen, fast ausgetrockneten Bach. Je näher die Stadt rückte, desto breiter wurde der Weg, denn von entfernt liegenden Gehöften und Villen führten andere Wege auf diese 'Hauptstraße'. Michael fühlte sich erinnert an seine erste, Jahrzehnte zurückliegende Italienreise, als er einmal, irgendwo in Umbrien, durch eine ähnliche Landschaft gegangen war. Hier jedoch ragte kein Campanile allesbeherrschend aus dem grauen Häusermeer der Stadt und keine mächtige Kathedralen-Substruktion zog wie in Assisi die Blicke der aus der Ebene Heraufkommenden auf sich. Hier war es eine blaugrüne Kuppel, ein nicht ganz hemisphärisches Kugelsegment, flankiert von vier schlanken, minarettartigen Türmchen aus weißem Marmor, auf die die Stadt ausgerichtet war. Das anscheinend auf einem erhöht liegenden Felsvorsprung errichtete Gebäude machte ganz den Eindruck einer Moschee. Und im Licht der schon tief stehenden Sonne, das zwischen die Berg- und Häuserschluchten fiel, flammte goldenes Mosaik an den Minaretten und dem Kuppelunterbau auf. Plötzlich aufschallendes Husten riß Michael aus der Betrachtung der Stadt vor sich. Das Husten wurde zu einem erstickten Keuchen und Michael beschleunigte seinen Schritt, um zu sehen, ob er helfen könnte. Im lang gewordenen Schatten einer der wenigen Baumgruppen am Wegesrand lag ein zusammengekrümmter Mann, der noch ab und zu von seinem keuchenden Husten geschüttelt wurde und dabei im schmerzverzerrten Gesicht langsam blau anlief. Offenbar war er am Ersticken. Michael bemerkte neben ihm Teile eines Granatapfels, vermutlich hatte der Mann sich an der Frucht oder eher ihren Kernen verschluckt. Michael ließ seinen Stab zu Boden fallen, half dem jungen Mann auf die Beine und beugte dessen Oberkörper weit nach vorn. Mit flacher Hand schlug er ihm mehrfach auf den Rücken. Das Husten seines 'Patienten' wurde etwas kräftiger, er erbrach, begleitet von einem Schwall dunkelrot gefärbten Speichels, die übeltäterischen Kerne und sein Gesicht nahm langsam wieder normalere Farbe an. Michael half ihm beim Hinsetzen und sah zu, wie der noch angestrengt nach Luft Schnappende sich wieder erholte. Er war vielleicht Dreißig und sah mit seinem dunklen Teint, den schwarzen Haaren und den merkwürdig hellen, bernsteinfarbenen Augen ganz so aus, wie Michael sich Nefut Darashy in seinem 'König für eine Nacht' vorgestellt hatte. "Ihr habt mir das Leben gerettet", brachte der junge Mann schließlich hervor, rappelte sich auf, bürstete den Staub von seiner Kleidung und verbeugte sich förmlich vor seinem Retter. "Laßt euch dafür von mir belohnen." Michael winkte lächelnd ab. "Aber das war doch nicht der Rede wert." Er bückte sich schwerfällig, um Hut und Stock wieder aufzunehmen. Er war von sich selbst nicht wenig überrascht. Nie hätte er gedacht, bei einem medizinischen Notfall mehr tun zu können, als hilflos dabeizustehen. Aber der Gerettete ließ nicht locker. "Ich wünsche den Segen aller Götter auf euch, und mein Haus sei auf ewig das eure." Dieser formelhaften Wendung folgte eine weitere Verbeugung. Dann stellte der junge Mann sich vor: "Mein Name ist Nefut, Sohn des Serlan. Ich bin Arzt hier in Berresh und ihr habt mir mit Sicherheit das Leben gerettet. Glaubt mir, ich kann das beurteilen." Michael freute sich über die Folgerichtigkeit seines Traumes: der Mann ähnelte nicht nur dem Sklaven aus Hannai zum Verwechseln, er trug sogar den gleichen Namen. Und Michael verbeugte sich ebenfalls und stellte sich vor: "Ich heiße Michael, Sohn des Gabriel und bin Philologe und Dichter in Hohenheim." "Ich habe nie von Hohenheim gehört, aber ihr scheint mir doch irgendwie bekannt", sagte Nefut nachdenklich und musterte Michael eingehend aus seinen an einen Falken erinnernden Augen. Dämmerte da etwa eine Erinnerung in ihnen? "Das ist kaum möglich", erwiderte Michael schnell. "Ich bin auf Reisen und Hohenheim liegt wirklich weit entfernt. Ich komme das erste Mal nach Berresh." "Dann muß ich euch wohl mit jemandem verwechseln." Nefut, Sohn des Serlan, schien beschwichtigt. Er brachte seine Gewandung wieder in Ordnung, kontrollierte aufmerksam den Sitz seines seidig schimmernden Mantels und zupfte mit seinen ringgeschmückten Fingern noch ein paar Falten zurecht, gab seinen Gedanken so keine Gelegenheit, abwegige Pfade zu nehmen. "Wenn ihr schon keine Belohnung annehmen wollt", wandte er sich dann nach ein paar Augenblicken wieder an Michael, "so seid wenigstens heute abend mein Gast. Ich war auf dem Weg zu einem Gastmahl bei einem Freund. Ich wäre glücklich, wenn ihr mich begleiten würdet." "Meint ihr nicht, ich komme dem Gastgeber unangemeldet etwas ungelegen?" fragte Michael unbehaglich. "Aber nicht doch!" widersprach Nefut energisch. "Er wird sich freuen, einen weit gereisten Mann bei sich bewirten zu können und Neuigkeiten aus aller Welt zu hören." Also machten sie sich in der bereits beginnenden Dämmerung gemeinsam auf den Weg nach Berresh. Nach wenigen Metern passierten sie eine Art Vogelscheuche, die am Rande eines Feldes stand. Die Reste eines kleinen Baumes waren mit einem patinierten Bronzehelm und einem ebensolchen Brustpanzer versehen. Am Fuße des Stammes war zudem ein großer, stark korrodierter Schild befestigt. "Was hat es denn mit diesem Siegeszeichen auf sich?" fragte Michael und betrachtete interessiert das wahrhaftige Tropaion. Nefut verzog seinen Mund zu einem säuerlichen Grinsen. "Auf diesen Feldern schlug die Armee von Hannai vor zwei Jahren die unsere. Erwähnt es gegenüber unserem Gastgeber besser nicht. Er ist sehr empfindlich, was diese Angelegenheit betrifft." "Über das Maß gewöhnlicher Abneigung gegenüber siegreichen Feinden hinaus?" wollte Michael neugierig wissen. "Aber natürlich", entgegnete Nefut und fügte - als sei es Erklärung genug - hinzu, "denn unser Gastgeber ist Amemna." "Aber wieso?" wollte Michael nun wissen. Der Arzt musterte ihn mit erstauntem Blick aus seinen goldenen Augen. "Ihr müßt wirklich von sehr weit kommen, wenn ihr noch nichts davon gehört habt", sagte er dann nachdenklich. Ein paar Schritte gingen sie schweigend nebeneinander her. Schließlich holte Nefut tief Luft und begann: "Hannai liegt einige Wegstunden westlich von hier, am Rande der Wüste. Jahrhundertelang gab es enge Beziehungen zwischen den edlen Familien unserer Stadt und denen Hannais, zeitweilig führten sogar Fürsten aus Berresh das Rubinszepter von Hannai. Schließlich wurde Hannai jedoch von den Wüstennomaden erobert, den Oshey." Nefut sprach den Begriff wie ein besonders übles Schimpfwort aus. Michael dachte wieder an seinen 'König für eine Nacht'. Dort hatte in Hannai ein Berresh-Fürst geherrscht und die Oshey waren unterworfen - auch wenn er selbst durch die Befreiung Nefut Darashys daran etwas gerüttelt hatte. Befand er sich nun in der Vergangenheit vor oder in der Zukunft nach dieser Geschichte? "Bis heute herrschen in Hannai die Oshey-Könige, deren Gier nach neuen Eroberungen auch Berresh ständig bedroht. Vor fast zehn Jahren nahmen jedoch einige Edle aus Hannai heimlich mit Amemna Kontakt auf. Sie seien die Herrschaft der Oshey leid versicherten sie ihm, und es verlange sie nach einem Nachkommen der Sira auf dem Thron ihrer Stadt, der Tochter des Nisan von Berresh, die einst Hannai in seiner Blütezeit beherrschte. Amemna solle im Geheimen alles vorbereiten, sie würden - da es reichlich Gegner der Oshey und Anhänger des alten Königshauses gäbe - in ihrer Stadt für das Nötige sorgen. Amemna fühlte sich durch das Gesuch natürlich geschmeichelt, denn ganz offensichtlich war sein Ruf als entschiedener Gegner der Oshey bis nach Hannai gedrungen. Er suchte und fand tatsächlich einen Nachkommen der Sira und weihte ihn in seinen Plan ein. Es war mein Onkel Neref, dem der Gedanke gut gefiel, König von Hannai zu werden, denn er - aus königlichem Hause stammend - konnte seinen Ehrgeiz in dieser Hinsicht in Berresh nicht verwirklichen. Schon vor langem wurde bei uns die Königsherrschaft zugunsten der Herrschaft von Gleichen abgeschafft." Die Namen sagten Michael nichts, aber er vermutete, daß eine demokratische Staatsordnung das Zeichen für eine fortgeschrittenere Zeit war. Der Arzt fuhr ungerührt mit seinem historischen Bericht fort: "Es gab mehrere geheime Treffen im Hause Amemnas und der Plan gedieh gut - zumindest hatte es den Anschein. In Hannai würde Neref alle Unterstützung der edlen Familien bekommen hieß es, denn sie sähen die Oshey als Vergewaltiger ihres Gemeinwesens an und sehnten sich nach einem rechtmäßigen Herrscher. Tatsächlich war jedoch alles ein Plan des Oshey-Königs von Hannai, der so die Wachsamkeit derer einschläfern wollte, die den Beteuerungen, Hannai strebe nicht nach der Herrschaft über Berresh, keinen Glauben schenkten und immer wieder in den Versammlungen auf die Gefahr aus dem Westen aufmerksam machten. Indem er seine Getreuen zu Amemna schickte, die diesen zu Plänen gegen Hannai anstifteten, wollte der Oshey-König nur einen Vorwand schaffen, Berresh anzugreifen, zu erobern und seinem Herrschaftsgebiet einzugliedern. Zu spät durchschaute Amemna, wem er sein Vertrauen geschenkt hatte. Der Plan zur Übernahme des Thrones von Hannai sah ein nächtliches Treffen der wichtigsten Teilnehmer des Unternehmens vor den Toren Hannais vor, um am darauffolgenden Morgen im Triumph in die Stadt einzuziehen. Es war eine List der Oshey, um die besten Köpfe und die ersten Männer von Berresh zu töten und so leichtes Spiel bei der Eroberung zu haben. Aber Amemna entkam dem Überfall - anders als mein Onkel. Der Angriff auf Berresh erfolgte wenige Tage später und unsere Soldaten wurden geschlagen. Doch gelang es dem Oshey-König nicht, unsere Stadt einzunehmen. Das Siegeszeichen ist ein Mahnmal für uns alle, auf der Hut vor den Oshey zu sein, und es erinnert Amemna daran, daß er falschen Freunden sein Vertrauen schenkte, seine Verwandten, Kampfgenossen und seine Stadt ins Unglück stürzte und schließlich selbst viel an Einfluß und Ansehen verlor, weil der Oshey-König das Gerücht ausstreuen ließ, Amemna habe einen Freund zum König von Hannai machen wollen, um selbst dann Berresh als König beherrschen zu können." Während des Vortrags hatten Michael und Nefut ein bewachtes Stadttor passiert und waren einige schmale, steile Gassen und Treppen emporgestiegen, in der abendlichen Dunkelheit nur erhellt von gelegentlichen Öllampen über den Türen, die in unregelmäßigen Abständen die hohen steinernen Mauern durchbrachen. Wenige Sekunden, nachdem der Arzt verstummt war, klopfte er schließlich an eine Tür, die sich in nichts von anderen Türen unterschied. Ein Diener oder Sklave in einem einfachen, sackartigen Gewand öffnete und verneigte sich vor Nefut mit einem gemurmelten Gruß. Er ließ ihn und seinen Gast auch ein und geleitete sie im Schein der Lampe die er trug, durch einen säulenumstandenen Innenhof in einen nur zimmergroßen aber prächtig geschmückten Raum. Hier befanden sich schon einige Leute, deren Anwesenheit Michael jedoch gar nicht bewußt wahrnahm, da er vom Anblick der Architektur und ihres Schmuckes vollkommen in Anspruch genommen war. Den süßen Blütenduft entfaltete das brennende Öl in den glänzend polierten Bronzelampen, von denen je drei an kunstvoll verzierten Metallständern hingen. Vor dem Goldgrund der Holzdecke, der das Lampenlicht fast wie ein Spiegel zurückwarf, waren Weinranken voller Reben gemalt, und auch die scheinbare Marmorverkleidung der Wände, sowie ihr Schmuck aus Blumen- und Fruchtgirlanden waren gemalt. Rundherum entlang der Wände standen aufgereiht breite Speisesofas, auf ihnen lagen jeweils zwei oder drei Kissen und vor ihnen standen kleine Holztischchen auf je drei Bocksfüßen. Michael bestaunte das kleinteilige Fußbodenmosaik, das wie ein kostbarer Teppich wirkte - und sogar die verstreut auf dem unverzierten Teil des Bodens liegenden Blüten und Früchte stellten sich als Teile des Mosaiks heraus. Die anwesenden Männer, zumeist in mittleren Jahren, einige bärtig und alle sehr vornehm, hatten sich inzwischen um die Neuankömmlinge geschart. Nefut begrüßte den Gastgeber herzlich und stellte Michael als seinen Lebensretter vor. Amemna befand sich allem Anschein nach bereits weit in den sechzigern, sein kurzes Haar und der ebenso kurz geschnittete Bart waren schlohweiß, doch seine vom Rascheln der seidenen Gewänder begleiteten Bewegungen waren elegant und geschmeidig und scheinbar ohne die Beeinträchtigungen, die das Alter für gewöhnlich mit sich bringt. Amemna umarmte Michael, der das verdutzt mit sich geschehen ließ, und sagte mit großer Herzlichkeit: "Es freut mich, den Lebensretter meines geliebten Freundes begrüßen zu dürfen. Auch wenn dieses kleine, informelle Abendessen dem Anlaß keineswegs angemessen ist, hoffe ich doch, daß ihr euch gut unterhaltet." Amemna winkte zwei bartlose Jünglinge von mädchenhafter Schönheit und mit schulterlangen lockigen Haaren zu sich. "Das sind Merlan und Diognet, die Söhne meiner Tochter. Erlaubt einem von ihnen, euch heute abend zu verwöhnen." Bevor Michael zu einer Reaktion auf das Angebot fähig war, trat ein Mann aus der Gruppe zu Michael, dessen Ähnlichkeit mit Nefut unverkennbar, der aber schon ergraut und wohl etwa in Michaels Alter war. Er zog einen goldenen Ring mit grünem Stein von seiner rechten Hand und reichte ihn Michael. "Nehmt diesen Smaragd-Ring als symbolischen Dank für die Rettung meines Sohnes und als Zeichen der ewigen Freundschaft und Verbundenheit. Möge seine Kraft alles Übel von euch abwenden." In den ovalen, dunkelgrünen Stein war vertieft ein geflügeltes Pferd geschnitten. Die Kunstfertigkeit des Steinschnittes beeindruckte Michael. Er wollte den Ring haben, sehnte sich geradezu danach, ihn an seinen Finger zu stecken, aber trotzdem bewegte Michael seine gute Erziehung zu sagen: "Dieser Ring ist viel zu wertvoll, als daß ich ihn annehmen..." Aber Serlan, Vater des Nefut, fiel ihm ins Wort: "Wie könnt ihr das sagen? Das Leben meines Sohnes wäre mir tausend solcher Ringe wert. Doch da ihr, wie mein Sohn sagt, eine Belohnung ablehnt, nehmt zumindest dieses Symbol meiner Dankbarkeit an. Ihr dürft den Ring nicht ablehnen!" Michael verneigte sich - wie er hoffte - angemessen. "Ich danke euch und verspreche, ihn immer zu tragen." Serlan freute sich sichtlich. "Was könnte ich mehr erwarten." Er umarmte Michael und küßte ihn auf die Wange. Michael nahm also den Ring und bewunderte die detaillierte Darstellung des auffliegenden Pegasus, und fast schien es ihm, als habe er ihn nun erstmals wirklich in der Hand. Plötzlich klatschte Amemna in die Hände, um die Aufmerksamkeit seiner Gäste auf die Köstlichkeiten zu lenken, mit denen er ihnen aufwartete. Die Diener trugen zahllose Teller voll von gebratenen und anderweitig frisch zubereiteten Speisen herein, die auf den kleinen Tischchen neben den Liegen ihren Platz fanden und den Raum mit traumhaftem Duft erfüllten. Fast alle Männer hatten es sich schon, einzeln oder zu zweit, auf den Speisesofas bequem gemacht und kommentierten nun lautstark und offensichtlich hocherfreut die aufgetischten Spezialitäten. Einer von Amemnas Enkeln zog Michael, dem der Kopf von dem plötzlichen Trubel schwirrte, zu einer leeren Liege, half bei der Drapierung des Mantels, als Michael sich niederließ, blieb selbst jedoch neben dem Fußende stehen. Zuletzt wurden noch einige flüssig gefüllte Amphoren, sowie ein großer Mischkrug und schwarze Trinkschalen, die mit hellroten Figuren und Mustern geschmückt waren, hereingetragen. Dieses Gastmahl schien sich zu einem regelrechten Symposion zu entwickeln. Die Gäste kosteten von den Tellern und tauschten quer durch den Raum scherzhafte Bemerkungen aus, während Amemna - inzwischen mit einem aus Efeulaub geflochtenen Kranz auf dem Kopf - das Füllen des in einer bronzenen Halterung stehenden Mischkruges beaufsichtigte. Dann verließen die letzten Dienstboten den Raum, die Tür wurde geschlossen und mit Hilfe seiner Enkel füllte der Gastgeber die Trinkschalen mit einer Kelle und reichte sie an seine nach und nach erwartungsvoll verstummenden Gäste weiter. Erstaunt stellte Michael fest, daß die gefüllte Tonschale verhältnismäßig leicht war. Die Wand des flachen Gefäßes mit einem Durchmesser von fast dreißig Zentimetern war sehr dünn, fast wie Porzellan gearbeitet und der etwa zehn Zentimeter hohe Fuß vermutlich hohl. Ihre Bemalung hätte sie zu dem mit Abstand kostbarsten Stück einer Antikensammlung gemacht - hätte nicht jeder Gast eine ähnlich aufwendig gearbeitete Schale erhalten. Endlich füllte Amemna seine eigene Schale. Er hob sie in die Höhe und sprach feierlich einige für Michael unverständliche Worte, bei denen es sich um ein Gebet handeln mußte. Dann senkte er die Schale wieder. "Orem, dem Retter, gehöre das Opfer", sagte er nach einem Moment des Schweigens und schüttete ein wenig aus der Schale in ein bereitstehendes Kohlebecken auf einem dreibeinigen Klappständer. Die Tropfen zischten und der Geruch des verdunstenden Alkohols vermengte sich für einen Moment mit dem Essensduft. Schließlich nahm Amemna andächtig einen Schluck von dem mit Wasser verdünnten Weißwein, seine Gäste und auch Michael taten es ihm nach. Dann legte der Gastgeber sich auf das Sofa zu Nefut und rief fröhlich: "Nun laßt uns feiern. Selten hatten wir einen besseren Grund als heute, wo Nefut so unverhofft aus großer Gefahr gerettet wurde." Eigenartige Empfindungen erfüllten Michael, als er sah, wie sein Gastgeber sich zu dem Geretteten drehte und ihn zärtlich auf den Mund küßte. Michael aß nur wenig und besah sich dann fasziniert den gemalten Schmuck seiner inzwischen geleerten Schale. Den Grund der Trinkschale schmückte das sehr schöne Bildnis eines ebenfalls sehr schönen, halbnackten Jünglings mit langen Locken, der in sein Spiel auf einer Lyra vertieft war. Rechts und Links seines vorgebeugten Kopfes erstreckte sich der Schriftzug: 'Schöner Diognet' und Michael fragte sich, ob es sich hier um das Portrait des Enkels von Amemna handeln sollte. Auf dem äußeren Rand der Schale war detailliert eine Symposionsszene dargestellt: Männer lagerten bequem auf Liegen, den Oberkörper mit einem Arm auf dem Kopfteil abgestützt. Einige tranken aus ihren Schalen, andere unterhielten sich. Der Blick auf das gemalte Symposion, das seiner augenblicklichen Umgebung so ähnlich war, verhalfen Michael zu einer Art Déjà-vu-Erlebnis. Er war ganz vertieft in die Betrachtung zweier sich liebkosender Männer, als sich über das Stimmengewirr der vielen halblaut geführten Gespräche hinweg einer der Gäste launig an die Allgemeinheit wandte: "Nun hat sich also herausgestellt, daß Nefut tatsächlich unverletzlich ist wie ein Unirdischer. Im rechten Moment erscheint ihm stets ein Retter. Wann macht sich wohl sein Oshey-Erbteil bemerkbar, dem er seinen Namen verdankt?" Die Gespräche verstummten abrupt und Nefuts Vater warf dem Sprecher einen zornigen Blick zu. Aber Nefut sprach für sich selbst. "Wie kommst du dazu, an meiner Loyalität zu zweifeln! Meine Familie ist so gut wie die jedes Mannes hier - vielleicht besser..." "...wenn es stimmt, daß deine 'Falkenaugen' von der Verwandtschaft mit den Unirdischen stammen", warf der Herausforderer ein. Michael fiel erstmals auf, daß Nefuts Vater Serlan im Gegensatz zu seinem goldäugigen Sohn dunkle, fast schwarze Augen hatte, wie alle anderen Anwesenden. Der Gastgeber legte den Arm beschwichtigend um Nefut, der Anstalten machte, aufzustehen und sagte tadelnd: "Das ist nicht der Ort und nicht der rechte Zeitpunkt, alten Streit auszufechten, Hamarem." Der Mann auf der benachbarten Liege wandte sich im Flüsterton an Michael und erklärte: "Es heißt, eine von Nefuts Altvorderen sei eine Unirdische gewesen, die ihrem Mann ein Kind gebar, sich darauf in einen Falken verwandelte und davonflog." "Ein Märchen", sagte Hamarem verächtlich, der offenbar gute Ohren hatte. "Und wo beginnt das Märchen und wo endet die Wirklichkeit?" wollte Serlan nun wissen. "Du selbst bist dir darüber offenbar doch auch nicht immer im Klaren. Bist du es nicht, der die Grenze zwischen Wirklichkeit und Einbildung leugnet und der an die Realität der Phantasie glaubt?" "Inwieweit soll die Phantasie real sein?" fragte nun Michael Hamarem interessiert. "Daß die Phantasie im Sinne von Ideen wirkt oder daß die Phantasie die Realität aktiv formt?" "Was interessiert euch das?" fragte Hamarem barsch. "Die Phantasie beschäftigt mich mein ganzes bewußtes Leben lang", antwortete Michael. "Der größte Teil der Weltliteratur handelt vom Phantastischen und meiner Meinung nach ist der Hauptantrieb der Menschheit die Phantasie und Einbildungskraft, denn die Phantasie des einzelnen bestimmt auch seine Wahrnehmung der wirklichen Welt." "Ich dachte immer, Hamarem meint die Verwirklichung von Ideen", warf nun ein anderer Mann ein, der bisher nur interessiert zugehört hatte. "Gleichsam in einem handfesten Sinne die Vorstellungen in die Tat umsetzen." "Ein Verwandter von mir behauptet, er sei im Schlaf in eine Phantasiewelt versetzt worden", warf Michaels Nachbar ein. "Er erinnerte sich nach dem Erwachen an alle Erlebnisse und zeigte zum Beweis einen Ring aus fremdem Metall." "Es gibt die Geschichte über den Geschichtenerzähler, den Ama strafte, weil er nicht glaubte, daß jede Geschichte ein Schöpfungsakt ist", erinnerte Amemna seine Gäste. "Und es gibt Geschichten von tatsächlichen Gegebenheiten, die sich beim mehrfachen Erzählen wandeln und verdrehen, größer und prächtiger werden, so daß sie schließlich nichts mehr mit der Realität zu tun haben, aber weiter als solche gehandelt werden", meldete Hamarem sich wieder zu Wort. "Auf diese Weise wird dann aus einer Oshey-Hure eine Unirdische." Nefut ignorierte den mahnenden Blick seines Vaters und sagte aufgebracht: "Ich habe nicht mehr Oshey-Blut in den Adern als jeder, der mit einer Familie aus Hannai verwandt ist. Und wenn das gegen meine Loyalität unserer Sache gegenüber spricht, hätte es noch mehr gegen die meines Onkels gesprochen." Amemnas Stirn umwölkte sich, er sagte jedoch nichts. Serlan, der offenbar das Temperament seines Sohnes gut kannte und seine Neigung, sich von ihm hinreißen zu lassen, wandte sich an Michael und fragte laut: "Kennt ihr eigentlich die Geschichte über den ungläubigen Geschichtenerzähler? Ich glaube, sie könnte euch interessieren." Nefut verstand den Wink und verstummte und Michael bekundete artig sein Interesse. Doch nicht Serlan erzählte sie, sondern - auf allgemeinen Zuruf hin - Hamarem. "Da ich - als Verfasser von Theaterstücken - für hinreichend qualifiziert gelte, in dieser Runde eine Geschichte zum Besten zu geben", begann Hamarem langsam, "will ich es auch richtig machen. Diognet, leih mir dein Instrument!" Der Junge, der am Fußende von Michaels Liege gesessen hatte, lief hinaus und kam gleich darauf mit einer Lyra zurück in den Festraum, die er dem Gast seines Großvaters reichte. Hamarem spielte probeweise ein paar Töne und begann: "Als die Erde noch jung war und Wunder noch an der Tagesordnung - so beginnen ja viele Geschichten. Doch diese handelt vom Wunderbaren und von den Göttern." Hamarem griff auf den Saiten einen Akkord, nahe an einer Dissonanz und die Schwebung verklang in der andächtigen Stille. "Ein Geschichtenerzähler, der sein kärgliches Brot mehr schlecht als recht mit seiner Kunst verdiente, fand es an der Zeit, mit den Traditionen seiner Väter zu brechen - also ein ganz sympathischer Mann." Das Gelächter der Zuhörer wurde von einigen perlenden Tönen begleitet. "Er war es leid, die überlieferten Geschichten zu erzählen, gebunden an feste Formen und Formeln. Er wollte aufregend Neues, nie Dagewesenes erzählen." Diognet war wieder zur Liege zurückgekommen, doch diesmal legte er sich hin und kuschelte sich nun mit dem Rücken an Michael. Durch die Kleidung hindurch spürte Michael die Wärme des muskulösen jungen Körpers an seiner Brust und seinen Beinen. Die langen, lockigen Haaren dufteten wie eine Sommerwiese. Gedankenverloren streichelte Michael über Diognets Kopf, die seidigen Haare, und der Knabe rückte darauf noch näher, drängte seine Oberschenkel gegen Michaels plötzlich in Flammen stehenden Lenden. Einen Moment gab Michael sich der in ihm aufsteigenden Lust hin. Die Aufmerksamkeit der Anwesenden gehörte ungeteilt dem Sänger und Michael konnte sich unbeobachtet fühlen, denn alle sahen zur gegenüberliegenden Seite des Raumes hinüber. Er schloß die Augen und war nahe daran, den Jungen zu sich umzudrehen, zu küssen, zu... * * * Kapitel 14: Das Merburger Mysterium ----------------------------------- Entsetzt über seine unsittlichen Gedanken schrak er auf und blickte sich ertappt um, doch es war noch recht dunkel - gerade erst begann es zu dämmern - und Michael hörte nur das verhaltene Rattern der Zugräder. Das Blut pochte schwer in Michaels Schläfen, und das Herz schien ihm im wörtlichsten Sinne in die Hose gerutscht zu sein. Wie konnte er nur auf solche Ideen kommen?! Da mußte wahrhaftig ein böser Dämon sein Unwesen in der Traumwelt treiben, wenn er auf einmal den Wunsch verspührte, kleine Jungs zu schänden. Michael schluckte mehrmals trocken. Er mußte sich irgendwie ablenken. Kurz entschlossen schaltete er das Licht an seinem Kopfende an, griff aufs Geradewohl in die Aktentasche neben seiner Schlafstatt und erwischte so ein Heft über St.Michael in Merburg, das den Fremdenverkehrsbroschüren beigelegen hatte. Er schlug es auf und las: 'Die Geschichte der Michaelis-Kirche zu Merburg Nach der Legende erschien einem heidnischen Fischer früh an einem Julitag auf einem Hügel ein geflügelter Mann. Auf die Frage des Fischers, wer er denn sei, antwortete der Mann, er sei Michael Drakomachos. Darauf erhob sich der geflügelte Mann in die Luft und flog davon. Einen Tag später erreichte ein Missionar aus dem Kloster Bannstedt das Fischerdorf bei Merburg und der Fischer berichtete von der Begegnung. Da der Missionar des Griechischen mächtig war, verstand er, daß sich der Geflügelte als 'Michael, Streiter wider den Drachen' vorgestellt hatte, und er erkannte, daß es der Erzengel Michael gewesen sein mußte, der damit bezeichnet hatte, wo ihm ein Heiligtum errichtet werden solle. Also wurde auf dem Hügel die Michaelis-Kirche errichtet. Diese Erzählung begegnet in zwei Versionen, nach der jüngeren soll der Engel dem Missionar persönlich erschienen sein. Die erste Version der Engelserscheinung entstammt der Ende des 10.Jahrhunderts in Latein abgefaßten Chronik des Klosters Bannstedt, zugleich haben wir es dabei mit der ersten Erwähnung Merburgs überhaupt zu tun. Aus dieser Chronik wissen wir auch, daß die Kirche im Jahre 968 dem Erzengel Michael und Johannes dem Täufer geweiht wurde. An die ältere Version der Legende knüpft auch das Merburger Mysterienspiel an, das seit 1868 alle sechs Jahre in der Nacht vom 17. auf den 18. Juli begangen wird. St.Michael gehört seit 1250 zu Merburg und avanchierte unter der Herrschaft der kriegerischen Häuptlinge von Merburg Mitte des 14.Jahrhunderts zur Hauptkirche der Stadt. Der Bau wurde in dieser Zeit nach dem herrschenden gotischen Geschmack modernisiert. Nach dem Tod des letzten Häuptlings fiel dessen Herrschaftsgebiet an das Herzogtum Nordmark und Merburg wurde von 1720 bis 1880 Sommersitz der nordmärkischen Herzöge. Herzog Christian Albrecht ließ den während des Kampfes um die Stadt zerstörten Engelsturm der Michaelis-Kirche wieder aufbauen und stiftete die überlebensgroße Engelsfigur, die den Turm seit 1743 bekrönt. Es heißt, zu ihrer Herstellung seien genau die Kanonen eingeschmolzen worden, mit denen der Turm zuvor zerschossen worden war. Die von Herzog Christian Albrecht in Gang gesetzte Wiederherstellung des Kirchenbaus fand mit der Fertigstellung der klassizistischen Blendfassade im Jahre 1802 ihr vorläufiges Ende. Die ebenfalls im Kampf um Merburg zerstörten gotischen Glasfenster von St.Michael wurden jedoch erst Mitte des 19.Jahrhundert wieder durch Fensterbilder ersetzt. Der Entwurf zu den alttestamentlichen Motiven der nach Süden gehenden Fenster stammt von Auguste Miserone aus dem Jahre 1830, die neutestamentlichen Motive für die nördlichen Fenster entwarf Paul Eduard Kamm im Jahre 1842. Die Ausführung wurde durch Künstler der Merburger Glashütte in den Jahren 1842 bis 1850 besorgt. Durch das Jahrhundertunwetter im Frühjahr 1948 wurden die meisten dieser Glasfenster schwer beschädigt oder sogar zerstört. Ihre Reste sind im Historischen Museum Merburg ausgestellt. Das byzantinische Goldmosaik in der Apsis stammt aus einem aufgelassenen orthodoxen Kloster in Syrien und wurde wohl im frühen 6.Jahrhundert geschaffen. Herzog Christian Edward brachte es 1876 von einer Kleinasienreise mit, ließ das fragmentarische Mosaik zur jetzigen Form ergänzen und in die Apsis der Michaelis-Kirche einpassen. Jüngste Restaurierungen des Mosaikes haben gezeigt, daß durch seine Einfügung eine ältere, wohl manieristische Ausmalung der Apsis zerstört wurde.' Nachdenklich rieb Michael über seinen Ringfinger, an dem er noch das Phantom des geschenkten Ringes fühlen konnte. Er sah den Ring fast vor sich, den kühlen Stein mit der unregelmäßigen Vertiefung des Pegasus, groß und tiefgrün in der schlichten ovalen Fassung. Er glaubte sogar, Spuren des jahrzehntelangen Tragens, oberflächliche Einkerbungen und feine Ritzungen in der Goldfassung zu fühlen. Nefuts Vater hatte ihm den Ring von Großvater Drake gegeben, der in dieser Wirklichkeit verloren war. Doch leider hatte der Traum nicht Substanz genug gehabt, den Ring zu manifestieren. Und wie kam er, als Vater zweier doch wohlgeratener Kinder, als Dichter mit einer so höchst anschmiegsamen weiblichen Muse, zu diesem homoerotischen, letztlich pädophilen Traum? Offensichtlich basierte der Hintergrund des Traumes doch auf dem 'König für eine Nacht'. Die Geschichte war jedoch ihres ursprünglichen orientalischen Dekors entledigt und ins hellenische gewendet worden. Das lag vielleicht an der eingehenden Lektüre der Alexanderhistoriker, die Michael für seinen Roman und die Beschreibung der Eroberung Tyros' durch den Makedonen unternommen hatte; und dazu waren wohl die Erkenntnisse aus der altphilologisch dominierten Studienzeit gekommen - vor allem die Griechisch-Lektüren - die anscheinend tiefer in seinem Unterbewußtsein verankert waren, als er dachte. Wie funktionierte eigentlich die Phantasie eines Menschen? Das wäre ein interessantes Tagungsthema! Michael zog das Lesezeichen aus dem hinteren Teil des Heftes über St.Michael, um die Seite zu markieren, an der er die Lektüre vorerst abzubrechen gedachte. Der Papierstreifen war mit einer verschlungenen Wellenlinie versehen, doch es gelang ihm, diese Linie als Buchstaben und schließlich als grammatikalisch korrekten Satz zu entziffern: 'Sei auf der Hut vor dem Druiden und seinem Enkel, sie führen Böses im Schilde.' Michael schüttelte den Kopf. Was ging ihn das an? Aber es machte ihn unruhig und ließ ihn wieder an Amemnas Enkel denken. Der Schlaf floh ihn für den Rest der Nacht. * Donnerstag, 16.7.1970 Als Michael sich schon sehr früh zum Frühstück in den Speisewagen begab, hatte der Zug bereits die Nordmark erreicht. Und nachdem er beim Steward Kaffee und Croissants bestellt hatte, bewunderte er die wie gebügelt wirkende Landschaft, die sich in beide Richtungen bis zu den Horizonten erstreckte. Während er aß, verschwand die noch tiefstehende Sonne langsam hinter aufziehenden Regenwolken und einzelne Tropfen klatschten schwer gegen die Fensterscheiben. Die schemenhafte Silhouette einer fernen Stadt versank hinter dem östlichen Horizont, und vor dem dunkel gewordenen Himmel spiegelte sich ein bekannt erscheinendes Gesicht in der Fensterscheibe. "Ich wünsche, wohl geruht zu haben", sagte eine Frauenstimme mit leichtem Akzent. Die zur Stimme gehörige südeuropäisch aussehende junge Dame war mittelgroß und schlank, ihr nüchternes, dunkelgraues Seidenkostüm hätten jeder Bankerin zur Ehre gereicht. "Danke, ich kann nicht klagen", erwiderte Michael höflich und zog die Beine ein, damit die Dame es sich ihm gegenüber am Fenster bequem machen konnte. "Kennen wir uns irgendwoher?" fragte er dann. Und obwohl ihm die Dame mit den hochgesteckten, welligen schwarzen Haaren, als er sie so im Profil sah, wirklich vage bekannt vorkam, erschrak er doch über seine abgegriffenen Worte. Die Dame sah ihn jedoch nur lächelnd, etwas von unten herauf an. "Das mag möglich sein", sagte sie gestelzt, blickte unentschlossen in die Speisekarte, schloß sie wieder und lehnte sich zurück, um ihren Gegenüber anzusehen. Noch immer wie über einen geheimen Witz lächelnd, sagte sie schließlich: "Da sie Merburg bald erreichen, sollte ich sie warnen. Sie begeben sich in Gefahr und sie werden Verbündete brauchen im Kampf gegen den Dämon." Der leichte Akzent ließ das letzte ihrer gleichmütig geäußerten Worte wie 'Daimon' klingen. Michael antwortete darauf mit einem breiten Grinsen. "Sie wollen sich über mich lustig machen", stellte er fest. Sicher wollte ihn diese Südländerin doch nicht - wie der Tiarna-na-Sidhe - an ihr gemeinsames keltisches Erbe erinnern. Die Dame war jetzt ernst. "Nein, Herr Drake, das will ich nicht. Und ich denke, sie wissen auch schon über einiges Bescheid." Einen Moment musterten Michael die dunklen Augen so intensiv, daß ihm unbehaglich in seiner Haut wurde. "Wovon sprechen sie?" "Sie werden Verbündete brauchen", wiederholte die Dame leise und beugte sich ihm entgegen. "Wenn es soweit ist, denken sie an Sofia Kaifronesis." Michael schüttelte, wieder grinsend, den Kopf und wollte etwas Geistreiches erwidern, aber als er den Mund aufmachte war der Platz ihm gegenüber leer, die Frau hatte sich in Luft aufgelöst. Verdutzt schloß er seinen Mund wieder. War sie nun eine Gestalt seiner Phantasie gewesen, oder hatte er eine Halluzination gehabt? Er konnte sich die Ungewißheit über seine Wahrnehmung nur durch den Schlafmangel erklären, doch hätte er nie gedacht, daß ihn eine einzige unruhige, halb durchwachte Nacht im Zug in solcher Weise mitnehmen würde. Vor einigen Jahren - nein Jahrzehnten, mußte er sich gestehen - hatte es ihm nichts ausgemacht, tagelang fast ohne Schlaf auszukommen. Und hieß es nicht, im Alter bräuchte man weniger Schlaf? Gerade als seine Gedanken wieder zum Grund seiner Schlaflosigkeit zu schweifen begannen und wieder der Zweifel an der Festigkeit seiner ethischen Grundhaltung wuchs, dachte er sich Cassandra ihm gegenüber auf den Platz, auf dem die merkwürdige Frau sich für einen Moment niedergelassen hatte. Michael war in dem Moment davon überzeugt, sie sich nicht eingebildet zu haben, denn einen so merkwürdigen Namen wie Sofia Kaifronesis hätte er sich niemals ausgedacht! * * * Kapitel 15: Alte Bekannte ------------------------- Als Michael das Frühstück beendet hatte und mit Cassandra zurück ins Abteil ging, um die Sachen zusammenzupacken, war der Himmel nahezu Schwarz von Regenwolken. Der mäßige Niederschlag wandelte sich mit erschreckender Plötzlichkeit zu einem regelrechten Unwetter und innerhalb von wenigen Sekunden versperrte ein durchgehender Wasserschleier die Aussicht in die nördliche Landschaft. Und so blieb es, bis sie den Grenzbahnhof Groß-Bannstedt erreichten, den ersten Halt des Zuges seit Lahr. Kaum war der Zug im Bahnhof zum Stehen gekommen, als schon die britischen Grenzbeamten den Zug enterten. Ihre nüchternen Uniformen hatten nichts mit der barbarisch-farbenfrohen Pracht der Badener gemein. Auch konnte das Verhalten der Grenzer keineswegs den Irrtum aufkommen lassen, bei dieser Kontrolle handele es sich um eine bloße Formsache. Der bebrillte Staatsbedienstete, der für Michaels Abteil zuständig war, musterte ihn feindselig und verlangte barsch die Papiere. Wortlos händigte Michael ihm das Gewünschte aus. Kritisch musterte der Beamte die Fahrkarte nach Merburg, dann blätterte er sich durch den Reisepaß, den Michael erst für diese Reise wieder neu hatte ausstellen lassen. "Sie waren schon einmal im Protektorat?" wollte er in überkorrektem Deutsch wissen. "Vor gut vierzig Jahren", gab Michael an, denn so lange war es her, daß Großmutter Drake mit der ganzen Familie einmal eine Reise nach Merburg unternommen hatte. Der Mann grunzte, entweder aus Gewohnheit, oder um zu zeigen, daß er verstanden hatte, dann zog er einen Handscanner aus seiner Utensilientasche und scannte die bedruckten Seiten von Michaels Reisepaß. "Es scheint alles in Ordnung zu sein", erklärte der Mann und gab Michael das Dokument zurück. Pflichtgemäß verabschiedete er sich mit einem "Gute Reise" und schloß die Abteiltür. Noch einige Minuten gingen die für den Papierkram zuständigen Grenzbeamten, begleitet von Kollegen mit umhängenden Maschinenpistolen, auf dem Gang und auf dem Bahnsteig hin und her, doch dann verließen die meisten von ihnen den Zug und gestatteten den Reisenden, die ihr Ziel erreicht hatten, es ihnen gleich zu tun. Der Aufenthalt in Groß-Bannstedt dauerte fahrplangemäß eine halbe Stunde. Das Ziel der Reise erreichten sie nach knapp fünfzehn Minuten Fahrt durch den wieder schwächer gewordenen Regen. In der erstaunlichen Masse Volk, die den Merburger Bahnhof bevölkerte, waren natürlich viele britische Militärs zu sehen. Es befanden sich jedoch auch eine ganze Menge anderer Uniformierter auf dem Bahnsteig, darunter einige in dunkelgrüner Hotellivree und mit dem O'Sullivan'S-Schriftzug an der Mütze. Michael entdeckte ein Schild mit der Aufschrift 'Prof. M. Drake' und ließ sich von der dem Ausgang zustrebenden Menge auf diesen Bezugspunkt hintreiben. Die ohrenbetäubenden Durchsagen über Zuganschlüsse, vermißte Personen und Gepäckstücke erinnerten Michael daran, gehört zu haben, daß die Umgangs- und Geschäftssprache in ganz Nord-Friesland - von der Protektorats-Verwaltung einmal abgesehen - Deutsch sei, oder zumindest die Art von Sprache, die man nördlich des 53. Breitengrades dafür hielt. Das O'Sullivan'S dagegen sah sich offensichtlich als ein Bollwerk des Empire in barbarischer Umgebung, denn der Hotelchauffeur begrüßte Michael in schönstem Oxford-Englisch, nahm den Koffer seines Schützlings in die Hand und bat höflich: "Would you be so kind as to follow me, Sir." Und auch der Fuhrpark des O'Sullivan'S hielt die Tradition des Empire aufrecht: eine schwarze Rolls-Royce-Limousine, deren Anblick den Betrachter in die zwanziger Jahre zurückversetzte, brachte Michael durch den warmen Nieselregen zum Hotel. Der Art-deco-Eindruck, den das auffällige Gebäude schon von weitem gemacht hatte, wurde von der Halle des O'Sullivan'S in vollendeter Weise bestätigt. Der geometrisch gemusterte Teppichboden, die eleganten Wand- und Deckenleuchten, die aus poliertem Messing und Tropenholz errichtete Rezeptionstheke, die aufgestellten Ledersessel - das Bild war, bis auf die modern gekleideten Gäste, perfekt. Der Koffer wurde an einen Pagen weitergereicht und Michael schrieb sich an der Rezeption ein. Nach der Vorlage des Passes drückte ihm der Portier einem kleinen verschlossenen Umschlag in die Hand, adressiert an 'Prof.M.N.Drake', einen Absender trug der Brief jedoch nicht. Achtlos steckte Michael den Umschlag in die Jackentasche und folgte seinem Koffer und dessen eiligem Träger. Kaum hatte der Page, um einige badische Pfennige reicher, Michaels Räume wieder verlassen, schlug Cassandra vor: "Laß uns ein wenig Merburg erkunden, während wir nach dem Kongressbüro suchen." "Eine gute Idee, meine Liebe", fand Michael, also holte er aus seinem Koffer die Aktentasche und daraus das Tagungsprogramm. Er überflog die einleitenden Seiten. "Der Vortrag heute abend findet in einem Saal des Freesthingh statt. Und da irgendwo ist auch das Kongressbüro... also auf zum Historischen Museum Merburg." Sie kamen allerdings nicht weit, denn ein Hinweisschild vor dem Hotelrestaurant führte zu einem überwältigenden Brunch-Bufett, das auf der Hotelterrasse unter einem wasserdichten Sonnensegel aufgebaut war. Dem konnte Michael nach dem frugalen Frühstück im Zug einfach nicht widerstehen. Cassandra seufzte ergeben über die Verfressenheit ihres Dichters - und ihres Taschentieres, das sich schon zielsicher auf einen Korb mit Kuchenstücken zubewegte - und litt, daß Michael sich einen Teller füllte und einen leeren Tisch am Rande der Überdachung aufsuchte. Doch sie ließ Michael allein. Michaels müßig umherschweifender Blick blieb an der Glasfront des Restaurants hängen. Durch eine ihrer Öffnungen kam ein hoch aufgeschossener, spindeldürrer Mann, dessen wirre blonde Haarmähne ihm das Aussehen eines Mops gaben. Auch auf die Entfernung erkannte Michael sofort die markante Gestalt - es war sein australischer Kollege Max Hiller. Auch Hiller erkannte Michael sofort und kam an seinen Tisch. "Hi Mike! What a beautiful day, isn't it?" begrüßte er Michael mit einem breiten Grinsen im Sonnenbrand-geröteten Gesicht. Michael warf einen Blick über das Geländer der Hotelterrasse hinunter auf die Bucht, die vom sanft fallenden Sommerregen wie in Nebel getaucht war. "In der Tat", erwiderte er dann auf englisch und schüttelte die dargebotene Hand. Natürlich war es kaum überraschend, Hiller zu treffen, denn er hielt am kommenden Tag einen Vortrag über den Artus-Mytos in der Romantik. Sie sprachen beim Essen ein wenig darüber und über Hillers Befürchtungen, daß es mit dem eröffnenden Abendvortrag - Keltische Mythen und mythische Kelten - zu Überschneidungen kommen könnte, insbesondere was die keltischen Opfer- und Weissagekessel und den Heiligen Gral in seiner keltischen Ausdeutung betraf. Und so kamen sie zwangsläufig auf die keltischen Opferriten. "Denkst du, die Kelten haben in vorchristlicher Zeit wirklich aus dem Blut von Menschen geweissagt?" fragte Hiller zwischen zwei Bissen von seinem Roastbeef-Sandwich. Damit bezog er sich auf einen schon Jahre zurückliegenden Aufsatz Michaels über Poseidonios' Reiseberichte. Michael zuckte mit den Schultern. "Ich bin kein Historiker... und auch kein Kelte..." Für einen Moment mußte er an seinen merkwürdigen Traum vom Tiarna-na-Sidhe denken. Aber selbst wenn er durch seine elsässischen und cornwall'schen Vorfahren keltisches Blut in den Adern hatte, so war er durch seine weitgehend von biblischen Werten bestimmte Erziehung doch deutlich zivilisiert worden. "Poseidonios ist für gewöhnlich verläßlich und der hat behauptet, daß der Kessel zum Auffangen des Blutes jedwelcher Art von Opfern gedacht war, auch von Menschen. Blut und Fleisch des Opfers wurden dem jeweiligen Gott, dessen Gunst man gewinnen wollte, dargebracht - sei es nun Lug, Taranis, Teutates oder ein anderer. Außerdem wurden zur Weissagung Menschen geschlachtet und aus dem Fall des Opfers und dem Fluß des Blutes lasen die Druiden dann die Zukunft." Michael hob sein Glas Tomatensaft und prostete Hiller zu. Hiller lächelte säuerlich. "Da kann man ja von Glück sagen, daß..." "Entschuldigen sie die Störung, meine Herren, aber ich habe gerade zufällig einiges von ihrem Gespräch mitbekommen. Ich hätte da ein paar Fragen", unterbrach ein schwarzhaariger junger Mann Hillers Gedankengang. Er war, anscheinend von einem Nebentisch kommend, an ihren Tisch getreten und stellte sich nun vor. "Mein Name ist Hawke, ich bin Pathologe bei der Gerichtsmedizin der hiesigen Polizei." Hiller schüttelte die Hand des dunkelhäutigen Mannes, den Michael zunächst nur von hinten sehen konnte. "Ich bin Max Hiller, und das ist Mike Drake. Wir sind wegen der Philologentagung hier... du hast also berufliches Interesse an antiken Mordmethoden?" "So etwas in der Art", bestätigte der Pathologe etwas zögernd. "Setz dich doch zu uns", lud Hiller den Coroner ein, der sich gerade zu Michael wandte. "Erfreut, sie kennenzulernen." Michael war nicht zu mehr fähig, als die dargebotene Hand mechanisch zu schütteln und den etwa dreißigjährigen Mann anzustarren. Es konnte sich kaum um eine Einbildung handeln, wenn auch Hiller den Mann sah. Doch das Gefühl, eine Erscheinung zu haben, war offenbar gegenseitig, denn auch Hawke starrte Michael an, aus goldenen Augen, die ihn, wie seine ganze sonstige elegante Erscheinung, zu einem modernen Ebenbild der Traumgestalt 'Nefut' machten. "Kennen wir uns nicht von... nein", begann Hawke etwas verwirrt. "Irgendwo müssen wir uns schon begegnet sein", räsonierte Michael, der sich zusammenreimte, daß er dem Arzt Nefut in seinem Traum die Gestalt eines ihm bekannten Arztes gegeben hatte. Aber wieso hatte er sich den versklavten Wüstenprinzen im 'König für eine Nacht' so vorgestellt? Und er konnte sich auch nicht an eine Begegnung mit Hawke erinnern. "Wenn wir uns schon begegnet sind, kann das nur in Kanada gewesen sein. Bis vor vier Monaten habe ich dort gelebt", bemerkte Hawke heiser, setzte sich und nahm einen Schluck aus dem mitgebrachten Glas Wasser. "Vielleicht seid ihr einander im Traum begegnet", witzelte Hiller und Hawke wurde so bleich, wie es sein dunkler Teint nur zuließ. Michael spührte einen eisigen Klumpen im Magen, um den sich das zweite Frühstück in unangenehmer Weise zusammenballte. Er war nie in Kanada gewesen. "Ihr guckt beide, als würdet ihr Gespenster sehen", fuhr Hiller in seiner üblichen, völlig unsensiblen Art fort, bezwang dann jedoch seine Erheiterung und wandte sich an Hawke: "Du hattest Fragen zu unserem Gespräch, wenn ich richtig verstanden habe?" Man konnte Hawke förmlich ansehen, wie er seine Gedanken zusammensammelte. Schließlich gab er sich einen Ruck, vermied jedoch, Michael anzusehen. "Es geht um die keltischen Menschenopfer... wurde den Opfern dazu ein Messer ins Herz gestoßen?" Michael versuchte, sich an den ungefähren Wortlaut bei Poseidonios zu erinnern. "Nach Poseidonios' dreiundzwanzigstem Buch wurde zur Weissagung den menschlichen Opfern ein Messer oberhalb des Zwerchfells zwischen die Rippen gestoßen." Hawke sah ihn nun doch direkt an. "Also das Messer traf das Herz!" folgerte er nachdrücklich. "Ist aus den antiken Berichten noch weiteres über den Opferritus bekannt?" "Blutige Details und sowas", assistierte Hiller dem Pathologen und sah neugierig zu Michael. "Du bist hier der Spezialist für die vorchristliche Zeit." "Nun...", begann Michael etwas hilflos, "...ich weiß nur, was bei Poseidonios dazu steht, und der ist nicht sehr genau bei den Opferriten." "Was ist mit gemalten Symbolen auf den Körpern der Opfer, Kränzen aus Eichenlaub und so weiter?" fragte Hawke wieder. "Darüber weiß ich nichts", gab Michael zu. "Aber soweit ich es beurteilen kann, könnte das zum Opferritual gehört haben. Symbole waren den Kelten sehr wichtig, und ihren Göttern waren jeweils bestimmte Bäume heilig." "Zu wem gehörte die Eiche?" fragte Hawke prompt. "Meines Wissens zu Taranis, dem Kriegs- und Himmelsgott. Da er Blitze aussendet, wurde er von den Griechen mit Zeus gleichgesetzt. Ich bin allerdings kein Kelten-Spezialist. Ich habe nur vor einigen Jahren für einen Aufsatz über Poseidonios dazu recherchiert." Ein uniformierter Polizist trat in dem Moment zu den drei Männern an den Tisch, begrüßte den Coroner kurz und beugte sich zu ihm hinunter, um ihm im Flüsterton etwas mitzuteilen. Hawke nickte knapp und stand auf. "Es tut mir leid, ich muß gehen. Vielleicht können wir uns noch einmal ausführlicher unterhalten." Bevor er ging, warf er Michael noch einen langen, nachdenklichen Blick zu, dann verließ er mit dem Polizisten die Terrasse des O'Sullivan'S. Hiller sah den beiden nach, dann drehte er sich wieder zu Michael. "Es heißt, früh am Morgen habe man bei Beginn der Ebbe am Strand die Leiche einer Frau gefunden", erklärte er ungefragt. "Und sie soll zu Lebzeiten hier im O'Sullivan'S gewohnt haben. Die Polizei hat durch die Befragung des Personals richtig den Betrieb aufgehalten. Hast du nichts davon gemerkt?" Michael schüttelte nur den Kopf und versuchte zu ergründen, wieso er und der falkenäugige Pathologe sich im Traum begegnet waren. "Nach den Fragen, die der Coroner stellte, hat sich da wohl jemand an einem keltischen Opferritus versucht, meinst du nicht?" Michael schrak auf aus seinen Gedanken. "Du wirst wohl recht haben", antwortete er nur zerstreut, als er Hillers fragenden Blick auf sich ruhen sah. "Hast du schon beim Tagungsbüro eingecheckt?" wollte Hiller dann völlig zusammenhanglos wissen. "Für den Abendvortrag muß man sich nämlich eine Eintrittskarte besorgen." Das wußte Michael natürlich aus dem Programm, aber es erinnerte ihn daran, daß er eigentlich mit Cassandra auf dem Weg zum Tagungsbüro war. Inzwischen hatte es sogar aufgehört zu regnen, und die Sonne war herausgekommen. Also verabschiedete Michael sich von Hiller, sie verabredeten sich zu einem gemeinsamen abendlichen Drink an der Hotelbar, und Michael ging. * * * Kapitel 16: Antinoos -------------------- Obwohl die Sonne inzwischen brannte, die Straßen und Bäume schon fast getrocknet waren, sorgte eine leichte Brise von See für Kühlung. Und der Weg vom Hotel zum Historischen Museum Merburg führte zudem durch eine ausgedehnte Parkanlage mit prächtigen alten Bäumen. Über den Wipfeln sah man in einiger Entfernung einen eindrucksvollen, kupfersulfatgrünen Engel mit hochgereckten Flügeln, barock-antiker Rüstung und abwärts gerichtetem Schwert. Das mußte der Erzengel Michael auf dem Engelsturm der Michaelis-Kirche sein, und rechts neben ihm waren auch die Spitzen der zwei schlanken Türme zu sehen, die das Westwerk der Kirche schmückten. "Da will ich mal einen Blick hineinwerfen", sagte Michael zu seiner Muse, die darüber eigentümlicherweise mißmutig das Gesicht verzog. Michael versuchte, sich zu rechtfertigen. "Mein Großvater hat sie in seinem Tagebuch aus Merburg so anschaulich geschildert, daß ich geradezu davon besessen bin, die Glasfenster und das Mosaik einmal persönlich in Augenschein zu nehmen." "Das glaube ich, daß du davon besessen bist. Du hast ja die halbe Nacht das Heft über diese komische Kirche durchgelesen", sagte Cassandra etwas patzig. Da sie seine Gedanken teilte, mußte sie eine ebenso unruhige Nacht erlitten haben, wie er, und es stand zu vermuten, daß sie auch seine Gefühle teilte. Es war das erste Mal, daß zwischen ihm und seiner Muse nun dieses bedrückende Schweigen aufkam, und Michael zermarterte sich das Hirn, woran das wohl liegen könnte. Er war sich keiner Unfreundlichkeit bewußt, es schien ihm eher so - und in geringerem Maße eigentlich schon seit einigen Tagen - als habe die Verstimmung auf Cassandras Seite begonnen. Der Park endete mit labyrinthartig angeordneten Buchenhecken vor der Gartenfassade des Freesthingh oder 'Niewe Borch'. Das dahinterliegende Parterre war aufwendig als Barockgarten gestaltet, dessen Muster aus zurechtgestutzten Buchsbaumhecken und bunten Kieswegen aus den Obergeschossen des Schlosses sicher wie ein kostbarer Teppich aussah. Nur ein Teil des Freesthingh wurde vom Historischen Museum eingenommen. Der ganze Westflügel, die ehemaligen Stallungen des Schlosses, waren zu einem Kongresszentrum umgebaut worden und schon aus einiger Entfernung waren die babyblauen Hinweisschilder zum Tagungsbüro des Philologenkongresses zu sehen, die den Weg wiesen. Tatsächlich fanden fast alle Vorträge des Kongresses in diesem Kongresszentrum statt, allerdings wurde zum eröffnenden Abendvortrag in den Theatersaal des Freesthingh geladen. Während Michael sich eine Einladung besorgte und einige der an der Theke erhältlichen Vortragsskripte erwarb, stromerte Cassandra gelangweilt durch das Foyer des Kongresszentrums und betrachtete müßig die ausgelegten Prospekte der Verlage und Institutionen, die dort mit Ständen und reichlich bedrucktem Material für sich warben. Durch einen großen Durchgang konnte man einen Blick in die Haupthalle des Freesthingh werfen und so auch ein Stück des dort aufgestellten Abgusses des Farnesischen Stiers sehen. Michael erinnerte sich an die Notiz über die Antikensammlung im Touristen-Verführer und wandte sich neugierig in Richtung der riesigen, ovalen Haupthalle. Gegenüber der Stiergruppe stand die Laokoon-Gruppe und in - beziehungsweise vor - den zehn Wandnischen standen einige andere wichtigen Antiken in Abgüssen: der Herkules Farnese, der barberinische Faun, der Apollo von Belvedere, die milesische Aphrodite, die samothrakische Nike, die Diana Gabii, der Doryphoros und der Diadumenos, der Diskobolos und Antinoos, von dem Michael schon Originalbildnisse in Neapel und Madrid gesehen hatte. Allerdings war ihm bisher die verführerische Schönheit des Jünglings entgangen. "Ich sollte wohl 'ne Ablösung beantragen, was?" fragte Cassandra plötzlich giftig, als Michael noch verträumt das Bildnis von Hadrians Liebling betrachtete. Das gab Michaels schlechtem Gewissen über seine Gedanken wieder einen kleinen Anstoß, aber Cassandras Ton sorgte dafür, daß in ihm nun eher eine Trotz-Haltung wuchs. Immerhin war dieser junge Mann aus Gips und inzwischen war Michael so weit, zur Beruhigung seines Gewissens unausgelebte Phantasien als ethisch irrelevant zu definieren. Michael drehte sich zu seiner Muse und sagte leise: "Dann geh' doch, wenn dir nicht gefällt, was ich mir ansehe." Cassandra blitzte ihn aus ihren verschiedenfarbigen Augen so böse an, wie Michael es sonst nur von Casus Belli kannte. Dann drehte sie sich abrupt um und ging schnellen Schrittes in Richtung Tagungsfoyer. Michael dagegen strebte dem gegenüberliegenden Durchgang zu, dem eigentlichen Eingang des Museums. * Michael durchwanderte den Spiegelsaal des Freesthingh und den daran anschließenden Marmorsaal, in dem eine umfangreiche Sammlung römischer Portraitbüsten ihren Platz gefunden hatte. In der darauf folgenden Grotta standen eine ganze Reihe von griechischen Originalen, die - so konnte man einer Tafel neben der Tür entnehmen - von Herzog Christian Edward aus dem Orient mitgebracht worden und 1880 als Kriegsbeute an die Engländer gefallen waren. Ganz offensichtlich war der letzte der nordmärkischen Herzöge in Merburg ein großer Kunstsammler gewesen. Der Rundgang führte weiter in die Schatzkammer im Keller unter der Grotta, deren Besuch Michael jedoch zugunsten der Handschriftensammlung im zweiten Stock auf einen späteren Zeitpunkt verschob. Zuerst ging es im zweiten Obergeschoß allerdings durch drei Räume, in denen Reihenweise große Vitrinen aus dunklem Holz und mit angeschliffenen Glasscheiben standen, ihrerseits geradezu vollgestopft mit antiker Kleinkunst. Eine dieser Vitrinen enthielt Trinkschalen, die sämtlich mit 'attisch, rotfigurig, um 500 v.Chr., Fundort Vulci' bezeichnet waren. Eine der Schalen war so hingelegt worden, daß man in ihr Innenbild sehen konnte, ein über seine Lyra gebeugter Jüngling mit lockigen Haaren, von dem Schriftzug 'DIOGNET KALOS' umgeben: Schöner Diognet. Die Schale kam Michael sehr bekannt vor, und als er um die Vitrine herumging, um sich ihre Außenseite anzusehen, sah er dort genau die Symposionsszene, an die er sich aus seinem Traum erinnerte. Vielleicht war das dadurch zu erklären, daß er diese Schale bei seinem ersten Besuch in Merburg vor so vielen Jahren schon gesehen und bewundert hatte? Allerdings konnte er sich nicht daran erinnern, das Museum überhaupt betreten zu haben. Die prächtigen Gipsabgüsse in der großen Halle hätten doch gewiß auch auf einen Sechzehnjährigen einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Durch das Fenster des Raumes sah man hinunter auf das Parterre des Gartens und es sah von hier tatsächlich wie ein Teppich aus - genau so, wie Michael es sich vorgestellt hatte. Er war wohl doch schon hier gewesen und die Kindheitserinnerungen an Merburg waren durch die Fahrt wieder geweckt worden. Das Knarren des Fischgrät-Parketts unter sich nähernden Schritten schreckte Michael aus seinen Betrachtungen auf. Im Fenster spiegelte sich nun ein anderer Museumsbesucher, der in Richtung Fenster schaute. Als Michael sich zu ihm umdrehte, schaute der andere schnell weg und in die Vitrine, vor der er stand. War er wirklich beobachtet worden, oder bildete Michael sich das nur ein? Er schlug sich den Gedanken aus dem Kopf und ging weiter in den nächsten Raum, in dem er endlich den ersten Teil der Handschriftensammlung vorfand. Die Glasscheiben der luftdichten Vitrinen waren mit lichtundurchlässigen Tüchern bedeckt, die auf Knopfdruck wie Rollos zusammengerollt wurden und nach einer Minute die Bücher wieder abdeckten. Zusätzlich hingen vor den kleinen Fenstern in den Schloßhof dichte Gardinen, durch die das Tageslicht nur gedämpft drang. Es befanden sich wirkliche Schätze in dieser Sammlung. Es gab Papyrusfragmente aus Werken antiker Autoren: der Geometrie des Euklid, der Ilias und der Aeneis und einen koptischen Zaubertext; aber auch eine Reihe illuminierter frühmittelalterlicher Codices, darunter ein ottonisches Missale und ein Perikopenbuch. Gleich daneben stand eine Vitrine, in der einer Reihe von prächtig geschmückten Bibeln lag. Das erste Exemplar war aufgeschlagen am Anfang des Johannesevangeliums, über die beiden Seiten erstreckte sich das 'IN PRINCIPIO ERAT VERBUM', in goldenen Buchstaben auf Purpurgrund, geschmückt mit Engeln und Pflanzenranken; daneben eine byzantinisch geschmückte, griechische Bibel, ebenfalls bei Johannes aufgeschlagen: 'EN ARCHE' stand dort jedoch nur auf der rechten Seite, die Linke zeigte den Evangelisten an seinem Schreibpult, während ein Engel hinter ihm stand und ihm die zu schreibenden Worte zuflüsterte. Im Glas der langen Vitrine spiegelte sich der rotblond beschopfte Kopf des jungen Mannes, der Michael schon im Keramikraum aufgefallen war. Und für einen Moment schien es Michael so, als habe dieser mit seinen Augen die Spiegelung von Michaels Blick gesucht. Als Michael aufschaute und sich zu dem anderen hindrehte, sah der wieder weg, in die Vitrine, auf das dort liegende Buch. Der in Jeans und locker sitzendes, schwarzes Hemd gekleidete Jüngling war, wie es Michael schien, wohl noch nicht einmal zwanzig Jahre. Er war schlank, ein gutes Stück größer als Michael und auffällig hellhäutig. Seine Brauen und Wimpern waren so blond wie seine Haare und seine hellen Augen blau oder grau. Seine wohlgeformte Nase war ganz leicht gebogen, was seinem Profil etwas Aristokratisches gab und Michael dachte angesichts der Haarfarbe an den Tiarna-na-Sidhe. Über den Gedanken mußte er jedoch lächeln und den Kopf schütteln. Bis auf die Statur und die Haarfarbe hatte dieser junge Mann keine nennenswerte Ähnlichkeit mit dem Elfenfürsten. In dem Moment schaute der junge Mann Michael gerade ins Gesicht und erwiderte das Lächeln kurz, dann wurde er wieder ernst, senkte den Blick und sein Gesicht sah in dem Augenblick aus wie das des Antinoos. Dieser Anblick traf Michael unverhofft wie ein Pfeil ins Herz. Und der moderne Antinoos drehte sich um und durchmaß mit langen Schritten den Handschriftensaal zum Ausgang in Rundgangs-Richtung. Michael versuchte, die sich ihm aufdrängenden Gedanken zu ignorieren und widmete sich den weiteren Vitrinen mit christlichen Handschriften. Schließlich entdeckte er eine angekokelte Bibel, die einzeln lag und seine Aufmerksamkeit wie nichts zuvor fesselte. Sie war aufgeschlagen bei der Genesis und illustriert mit der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies, rechts Adam und Eva mit traurig gesenktem Kopf und auf der linken Seite der Engel mit dem erhobenen Flammenschwert. Doch durch die Illustration der linken Buchseite, durch alle davor liegenden Seiten und den Buchdeckel ging ein Loch von etwa einem Zentimeter Durchmesser, mit dunkel verbrannten Rändern, gerade durch den linken Flügel des Engels, und zwei gezackte Linien liefen ausgehend von oder hinlaufend zu diesem Loch über die Buchseite, hatten die Farbe weggebrannt und so dunkle Narben auf dem rechten Flügel und den Beinen des Engels hinterlassen. Ein Schild neben der Vitrine an der Wand erklärte, was es mit dem Brandloch in der hochgotischen Handschrift auf sich hatte. Während des Jahrhundertunwetters an der Nordseeküste, in der Nacht vom 2. auf den 3. März des Jahres 1948, hatte der Blitz in das Museum eingeschlagen, durch ein offenes Fenster die Vitrine getroffen und durchschlagen - einschließlich des darin liegenden Buches. In jener Nacht hatte der Blitz auch in Hohenheim eingeschlagen, durch den Schädel von Gabriel Drake und durch das Herz von Daniel Dumeloille. Ein eigentümliches Zusammentreffen merkwürdiger Zufälle. * * * Kapitel 17: Über die Vergänglichkeit ------------------------------------ Auf dem Weg zurück zum Hotel nahm Michael einen etwas anderen Weg durch den Park und gelangte so an den Rand des Michaelis-Kirchhofes. Genau dem Friedhofseingang gegenüber lag ein Old-English-Style Inn, The Dancing Angel, der wirkte, als stünde er schon seit Tudor-Zeiten an dieser Stelle. Und auf dem Schild über seiner Tür da 'tanzte' ein Abbild des Michael vom Engelsturm der Michaelis-Kirche im leichten Wind. Über den Bäumen des Kirchhofes konnte man die Vorlage für dieses Wirtshausschild erkennen, und es sah tatsächlich aus, als tanze der Erzengel, denn das Schwert wurde aus dieser Perspektive von den Beinen des Engels verdeckt und auch von dem Drachen zu seinen Füßen war nichts zu sehen. Da ihn nun nur noch ein paar hundert Meter von der Kirche trennten, beschloß Michael, einen Abstecher dorthin zu machen. Er nahm den Weg über den Kirchhof und bewunderte die Riege trauernder Engel auf den gut hundertjährigen Familiengräber und das einem dorischen Tempel nachgebildete Grabmal des Herzogs Christian Albrecht zu Bannstedt. Das bronzene Portal der Michaelis-Kirche stammte von einem zeitgenössischen Merburger Künstler, der eine Flügel zeigte die Abstammung Marias, der andere die Josephs von David. Das Innere der um die Mittagszeit völlig verlassenen Kirche war erstaunlich hell und das Goldmosaik in der eigentümlich kleinen Apsis, der Weltenherrscher flankiert von den Engeln, erstrahlte geradezu im Sonnenlicht, das durch das einfache Glas der gotischen Maßwerk-Obergaden und durch Reflexion an strategisch angebrachten Spiegeln in das Allerheiligste fiel. Nur links, nahe dem Eingang, war ein buntes Glasfenster und geradeaus, rechts über der Apsis. Beide waren durch ihre Vereinzelung trotz des gleißenden Sonnenlichts auffällig. Ein Ritter war es, der in dem Glasfenster geradeaus zu sehen war, in Rüstung, schwarz und weiß der Wappenrock und auf dem dreieckigen, weißen Schild ein schwarzer, in sich verschlungener Drache. In seiner Rechten hielt er, nach rechts deutend, ein rot flammendes Schwert. Das grimmige Gesicht unter dem Helm war bartlos, von ein paar schwarzen Locken umgeben. Die zusammengefalteten, weißen Flügel des Erzengels waren vor dem hellblauen Grund des Fensters kaum zu erkennen. Das farbige Fenster in der Nordseite des Mittelschiffs zeigte den unter seiner Last gebeugten Jesus, mit der Dornenkrone auf dem blutigen Haupt, während er das Kreuz den Schädelberg hinaufschleppte. Aber insbesondere die eindrucksvolle Erzengeldarstellung, der man den Anführer der himmlischen Heerscharen, den Kriegsfürsten, wohl abnehmen konnte, machte Michael neugierig auf die Reste der anderen Glasfenster aus dem 19.Jahrhundert, die sich im Historischen Museum befinden sollten. Er ging durch das lichtdurchflutete Mittelschiff, vorbei an den düsteren Seitenschiffen hinter den von bunten Marmorsäulen getragenen romanischen Arkaden. Die kleinen runden Fenster der Seitenschiffe waren zum größten Teil mit Alabasterscheiben versehen, an einigen Stellen jedoch durch weißlichgelbes Milchglas ersetzt. Die brennenden Kerzen vor den Seitenschiffaltären sorgten dort für mehr Beleuchtung, als das stark gedämpfte Tageslicht. Der offene Durchgang neben dem Allerheiligsten, unter dem Fenster mit dem Ritter-Engel, führte nach rechts zum Engelsturm und nach links hinunter zur Krypta, in der die Gebeine der einstmals über Merburg herrschenden Häuptlinge lagen. Und über der Treppe nach unten war wieder der Namenspatron der Kirche dargestellt, diesmal als Wäger der Seelen der Toten, ein romanisches Relief aus dem 12.Jahrhundert. Doch die Bildung der Gestalten darauf erinnerten an die zeitgenössischen Reliefs der beiden Portalflügel. * Michael war auf dem Weg zurück ins Hotel durch den Anblick der zu Häuflein versammelten, zum Teil wie Reliquien geschmückten Häuptlingsknochen sehr nachdenklich geworden. Mit dem Anblick echter Knochen konnte es keine bildliche Vanitas-Darstellung aufnehmen. In zehn oder spätestens in zwanzig Jahren würde von ihm auch nicht mehr übrig sein als so ein Knochenhäuflein. Und daß der Verfall schon längst begonnen hatte, spürte er in seinem Alter ja bei jedem Schritt. Immerhin hatte Cassandras Gegenwart für eine emotionale Verjüngung gesorgt, doch die hatte er sich nun wohl verscherzt. Eigentümlich war, daß die Merburger Häuptlinge anscheinend enge Kontakte nach Cornwall gehabt hatten. Auf einer Tafel zur Geschichte des Hauptlingsgeschlechts, die in der Krypta nahe dem Eingang gehangen hatte, wurde sogar behauptet, ein in Paris ausgebildeter Abkömmling des Geschlechts sei im 13.Jahrhundert Abt des Klosters auf St.Michael's Mount geworden. Auch Großvater Drake hatte von dieser Insel nahe Penzance erzählt, und von dem mediterranen Klima, dessen der Westen Cornwalls sich erfreute. Michael war jedoch noch nie in Cornwall gewesen. Wenn Cassandra ihn allerdings allein gelassen hatte, sollte er vielleicht nach dem Kongress einfach mal nach dem Grabmal der Drakes aus dem 17.Jahrhundert suchen und nach sonstigen Spuren seiner Ahnen, die er dort vielleicht fand. Bis zum Beginn des Herbst-Trimesters hatte er dafür noch mehr als genug Zeit. Michael seufzte leise, als er endlich vor seiner Hotelzimmertür stand und sie aufschloß. Und da saß Cassandra auf einem Stuhl - im Badeanzug, einen hellblauen Kimono als Bademantel über die Schultern geworfen - und sah ihm entgegen. "Du bist ja gar nicht fort", rief er erfreut aus, eilte zu ihr und da sie in dem Moment gerade aufstand, umarmte er sie stürmisch. "Ich hatte es doch gar nicht so gemeint!" "Nein, ich bin gar nicht fort", bestätigte sie. "Aber weder der Besuch von Museen noch von Vorträgen ist so recht nach meinem Geschmack. Ich gehe Baden, überlasse dich deiner Wissenschaft und deinen Kollegen - und wenn du heute abend nach dem Vortrag und eurem geselligen Zusammensein zurückkommst, werde ich hier auf dich warten." Sie küßte ihren Dichter verheißungsvoll. Und sie verließ das Hotelzimmer. Nach dieser Begegnung war Michael mit sich und der Welt wieder etwas einiger, legte sich ins Bett und schlief fast sofort ein, nun doch merklich erschöpft von der halb durchwachten Nacht. Ohne Erinnerung an seine Träume wachte er ganz plötzlich wieder auf und fühlte sich um Jahre jünger. Offenbar hatte ihm wirklich nur der Schlaf gefehlt. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß er gerade noch eine knappe Stunde hatte, bis der Eröffnungsvortrag über die keltischen Mythen und mythischen Kelten im Theatersaal des Freesthingh begann. Michael ging unter die Dusche, doch als er sich dann frisch gewaschen vor dem Badezimmerspiegel die Haare kämmen wollte, fiel ihm beinahe der Kamm aus der Hand bei dem Anblick, der sich ihm bot. Er fühlte sich nicht nur fünfzehn Jahre jünger, er sah auch fünfzehn Jahre jünger aus. Sein Gesicht war straffer, die Haare und der Bart deutlich dunkler geworden. Und als Michael an sich herunterblickte, merkte er, daß sein ganzer Körper betroffen war. Er schien sogar an Gewicht verloren zu haben. Dieser Eindruck bestätigte sich, als er in seine Anzughose stieg und den Gürtel kaum eng genug zurren konnte um sie nicht zu verlieren. Einen Moment fürchtete er tatsächlich, von einem Verjüngungszauber betroffen zu sein, aber es fühlte sich an, als sei es ein Geschenk für ihn, kein böser Zauber. Es war schon ein kleinbißchen beunruhigend, wie gut er sich fühlte, aber er fühlte sich gut. Nur ein Jammer, daß Cassandra gerade nicht hier war, obwohl er doch noch etwas Zeit hatte, bis er im Theatersaal sein mußte... * Auf dem Weg durch den Park regnete es wieder ein wenig, aber es war kaum mehr als eine erhöhte Luftfeuchtigkeit, so daß es reichte, den Schritt etwas zu beschleunigen, um doch halbwegs trocken den Freesthingh zu erreichen. Der Theatersaal des Schlosses war durch die Haupthalle zu erreichen und Michael nutzte die Gelegenheit, dem gipsernen Antinoos im Vorbeigehen einen übermütigen Kuß zuzuwerfen. Vor dem Eingang des Theatersaales traf er dann auf Hiller, der ihn überschwänglich begrüßte. "Du siehst gut aus. Warst du beim Hotelfriseur und hast dich färben lassen?" Etwas schuldbewußt fuhr Michael sich durch das wieder deutlich schwärzere Haar. Er konnte Hiller kaum sagen, was er selbst glaubte, aber diese Geste interpretierte Hiller als Bestätigung der ausgesprochenen Vermutung. Sie setzten sich auf zentrale Plätze im Parkett und Michael sah sich um. Der Theatersaal war ein barocker Traum mit bemalter Holzdecke, stuckgeschmückten Wänden, einer reichverzierten umlaufenden Galerie und rotsamtener Bestuhlung. Die Bühne lag erhöht, davor ein kunstvoll durchbrochenes Gitterwerk, die Abgrenzung des Orchestergrabens. Der Graben war jedoch unbesetzt, dafür waren auf der Bühne, vor dem dunkelblau-sterngeschmückten Vorhang fünf Stühle im Halbkreis aufgestellt, davor wiederum Notenständer. Und auf der linken Seite der Bühne, hinter einem farbenprächtigen Blumenbouquet, stand ein hölzernes Rednerpult. Laut Programmheft gab es zunächst Begrüßungsansprachen der verschiedenen Gastgeber des Kongresses: vom Vorsitzenden des Philologenverbandes, dem Chefkurator des Freesthingh und dem Beauftragten der Protektoratsverwaltung, dazu gab es klassische und moderne Musik, dargebracht von einem Streichquintett der Merburger Musikhochschule und endlich den Vortrag von Professor Miroslav Jacice aus Galizien: 'Keltische Mythen und mythische Kelten - Die Faszination der Historie für die Phantasten der europäischen Romantik'. Der Theatersaal füllte sich langsam und Michael sah und begrüßte von ferne einige Kollegen, die er von anderen Kongressen, von Gastvorträgen in Hohenheim oder seinen eigenen an anderen Universitäten persönlich kannte. Es hatte durchaus etwas von einem Familientreffen. Hiller winkte derweil jemandem an der linken Seite des Saales, kommunizierte mit der Person durch Gesten und ausgeprägte Mundbewegungen und sagte dann zu Michael: "Da hinten sitzt D.B.Ashmody. Wenn ich sie richtig verstanden habe, schließt sie sich uns heute abend an." Hiller zeigte in die Richtung und Michael erhaschte den Blick auf den Kopf einer dunkelgelockte Frau, eine morgenländische Schönheit, wie es auf die Entfernung schien. Sie lächelte Michael zu. Das war also Danielle Ashmody, die erst kürzlich eine umfangreiche Monographie über die kabbalistischen Elemente in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts verfaßt hatte. Und als Michael den Blick noch einmal durch den Raum schweifen ließ, entdeckte er in einiger Entfernung rechts von sich einen auffällig rotblonden Schopf. Der Jüngling schien zu merken, daß Michaels Blick auf ihm ruhte, denn plötzlich drehte er sich von seinem schlanken, weißhaarigen Begleiter zu Michael und lächelte ihn kurz an, bevor er seinem... - Großvater? - etwas zuflüsterte. Was wollte dieser Bub von ihm? Aber es wäre verlogen gewesen zu behaupten, daß ihm dieses Interesse nicht schmeichelte. Dann kamen die Musiker auf die Bühne. * * * Kapitel 18: Der Dämon --------------------- Draußen war es noch hell und auch wieder trocken, als sich Hiller und Michael durch den Park zurück zum Hotel begaben. Ashmody hatte sich bei ihrem Weggang noch angeregt mit dem Vortragenden unterhalten, aber per Handzeichen zugesichert, bald nachzukommen. Der Blondbeschopfte war in der nach draußen strebenden Menge irgendwo verschwunden, aber - so ermahnte Michael sich - man sollte ja auch nicht völlig unrealisierbaren Träumen nachhängen. Die Hotelbar war ein großer, durch die Beleuchtungsverhältnisse jedoch wie geteilt wirkender Raum. Links von der Tür dominierte die von Chrom, Glas und edlen, polierten Hölzern blitzende Theke den hell erleuchteten Teil. Es saßen einige Gäste an der Theke und wurden von insgesamt drei Barkeepern versorgt. Die rechte Hälfte der Bar wurde nur von den tief über den Tischen hängenden schwachen Lampen erhellt. Die intimere Atmosphäre dieses Teils, der durch einen breiten Durchgang mit dem Hotelrestaurant verbunden war, wurde noch verstärkt durch die halbhohen hölzernen Stellwände, durchbrochen von orientalisch wirkenden Schnitzereien. Und auch die Tischchen mit Messingplatten und die Stühle mit den geschwungenen Beinen erinnerten an den Orient. Wie auch im Restaurant führte die der Eingangstür gegenüberliegende Glaswand auf die Terrasse, auf der ebenfalls zierliche Tische und Stühle aufgestellt waren. Die gelb leuchtenden Lampions wirkten wie kleine Sonnen vor dem gerade beginnenden farbenprächtigen Sonnenuntergang über dem Meer. Michael und Hiller waren sich darin einig, daß sie beide noch einen kleinen Imbiss vertragen konnten, also setzten sie sich an einen der Tische nahe dem Durchgang zum Restaurant. Hiller bestellte Pasta und Michael wählte, mit einer Verbeugung vor dem genius loci, eine Merburger Fischpfanne. "Hallo, Max!" rief plötzlich eine tiefe Frauenstimme, als gerade die Getränke gebracht worden waren. Hiller erblickte die Besitzerin der Stimme hinter Michaels Rücken und winkte die Frau an den Tisch. "Hi, D.B.! Darf ich dir unseren Kollegen Mike Drake vorstellen? Heute morgen frisch hier eingetroffen - D.B.Ashmody," stellte Hiller vor. Die erstaunlich großgewachsene Frau mit einer dichten Mähne schwarzer, lockiger Haare reichte Michael ihre große, kräftige Hand. Sie trug ein bodenlanges, ärmelloses Kleid, der blauschwarze Stoff mit orientalischen Mustern golddurchwirkt. Ihre Haut war fast so dunkel wie die Hawkes, was sie angesichts ihrer nahöstlichen Physiognomie sicher nicht allein der Sonne verdankte. Mit ihrem athletischen, durchtrainierten Körper machte sie auf Michael nicht gerade den Eindruck einer hauptberuflich geistig arbeitenden Person. Danielle Ashmody musterte Michael mit einem amüsierten Lächeln. "Erfreut, sie kennenzulernen, Herr Drake... ich bin schon gespannt auf deinen Vortrag morgen, Max", sagte sie dann zu Hiller und setzte sich. "Sie haben heute morgen also schon Anwar Hawke kennengelernt, Herr Drake?" "Nenn' ihn einfach Mike", gestattete Hiller der Frau und grinste Michael so offenherzig an, daß dieser es nicht übers Herz brachte, seinem Kollegen endlich zu sagen, wie sehr er diese Verkürzung seines Namens haßte. "Aber woher weißt du das?" "Merburg ist ein Dorf", erklärte Ashmody. "Er ist an der Aufklärung des Mordes an der Griechin beteiligt. Ich habe ihn heute vormittag am Strand getroffen. Wenn man sich vorstellt, daß hier jetzt irgendsoein Irrer herumläuft, der Leute schlachtet, wird einem ganz anders." Sie schüttelte sich. Hiller legte seine aus den Fragen des Coroners zusammengestellte Theorie dar, wonach sich jemand anscheinend an einem keltischen Menschenopfer versucht hätte. "Sah ganz so aus", stimmte Ashmody zu. "Ich wohne vis-à-vis", erklärte sie Michael, "in dem alten Leuchtturm." Aber Michael ging nicht darauf ein. "Irgendwoher muß ich ihn kennen", sagte er leise, denn er erinnerte sich daran, wie sehr ihn die Begegnung mit dem Pathologen beunruhigt hatte. Wieso ähnelte er so frappierend der Traumgestalt Nefut? "Träume sind vielleicht wirklich mehr als die Verarbeitung schon erlebter Geschehnisse." Konnte Ashmody seine Gedanken lesen? Hiller schaute verwirrt von einem zum anderen. "Wovon sprecht ihr?" "Über Phantasie und Einbildung", behauptete Ashmody. Michael griff das Stichwort auf. "Ein Hauptmotiv der romantischen Literatur." "Und durch die Phantasie wird der Mensch zum Schöpfer und Gott." Offenbar befand Hiller sich wieder auf festem Boden. "Man denke nur an die Geschichte von Connor, dem Geschichtenerzähler. Gott strafte ihn, weil er sich Dinge ausdachte und von denen als Wahrheit berichtete." Michael nahm einen Schluck Bier und dachte an seine diesbezüglichen Gespräche während des Gastmahles bei Amemna. Im Rückblick kam es ihm nicht im geringsten wie ein Traum vor, sondern wie eine tatsächliche Begebenheit. Nur daß es dem Ring seines Großvaters nicht gelungen war, feste Form anzunehmen. Ashmody sah Michael an. "Waren sie schon im hiesigen Museum? In der Schatzkammer sind einige wirklich schöne antike Schmuckstücke ausgestellt." Und sie spielte mit dem Stiel ihres Weinglases. Durch ihr Aussehen und ihre verwirrenden dunklen Augen wurde sie für Michael in dem Moment zur leiblichen Verkörperung seiner unsterblichen Romanheldin Hannah aus Tyros, der Tochter eines Engels - oder eines Dämons. * Während des Essens sprachen Hiller und Ashmody über Jacices unterhaltsames historisches Essay, die verschiedenen Vorträge am nächsten Tag und die bevorstehende Engelsnacht - den Auftakt des Mysterienspiels. "Du wirst es dir doch ansehen, nicht wahr Mike?" fragte Hiller. "Ich habe eine Tonaufnahme davon gehört, und der himmlische Gesang in St.Michael klingt wirklich großartig. Die Kirche hat eine einmalige Akustik." Michael nickte dazu, beteiligte sich aber nur halbherzig am smalltalk. Er betrachtete Ashmody und plötzlich begegneten ihre blitzenden dunklen Augen die seinen. Michael war es peinlich, daß seine Gedanken in dem Moment zu der Frage von Ashmodys vermutlichem Alter schweiften. Sie sah sehr jung aus, als sei sie noch unter dreißig, aber die gedämpfte Beleuchtung am Tisch mochte schmeicheln und eine ordentliche Professur wie ihre an der Universität Bannstedt setzte einige Jahre Lehrtätigkeit voraus. Und nun war er sich sicher, daß Ashmody genau wußte, was er dachte - wodurch er sich noch unbehaglicher fühlte. Dabei war es doch Unsinn anzunehmen, daß Gedankenlesen tatsächlich möglich war. Ihn irritierten sicher nur diese hypnotischen schwarzen Augen unter den schön geschwungenen Brauen. Sein ganzer Körper kribbelte, als Ashmody ihren Blick eine Weile auf ihm ruhen ließ. Überrascht stellte er fest, daß er sich vor Begierde nach dieser Frau verzehrte. Sie schien allein mit ihren Augen seinen Hormonen Befehle geben zu können. Wie hatte er nur je befürchten können, päderastische Neigungen zu entwickeln? Wenn er jetzt mit Danielle allein wäre, vielleicht an einem der fast uneinsehbaren Ecktische... aber das war doch Blödsinn! Er hatte nie etwas für große, fast maskulin wirkende Frauen übriggehabt. Und dennoch spürte sein Körper schon den ihren an sich, ihre Lippen auf seinen, ihr langes, lockiges Haar an seinen Wangen, ihre Brüste... "Will von euch noch einer was zu Trinken?" fragte Hiller plötzlich und stand auf. Michael zwang sich in die Realität zurück, und auch Ashmody wandte den Blick von ihrem Gegenüber ab. Michael bildete sich ein, sie erröten zu sehen. Aber als sie ein weiteres Glas Weißwein verlangte, war ihre tiefe Stimme so ruhig und fest wie zuvor. Michael wollte noch ein Bier und Hiller ging zur Theke, um die Bestellung aufzugeben. Die ersten Schlucke der neuen Getränke wurden schweigend getrunken, dann fragte Ashmody: "Wie lange bleiben sie denn in Merburg?" Michael zuckte mit den Schultern. "Vermutlich eine ganze Woche, so lange habe ich zumindest das Zimmer gebucht. Ich wollte mir nach dem Kongress noch ein bißchen die örtlichen Sehenswürdigkeiten und die Umgebung anschauen." "Das Museum ist wirklich unbedingt sehenswert", warf Hiller ein. "Und laß dir von D.B. den Leuchtturm zeigen. Von ganz oben hat man einen tollen Ausblick. Das überbietet nur der Engelsturm." Offenbar hatte Max Hiller die grande tour schon absolviert. Michael hatte mit sich zu kämpfen, nicht dem Impuls nachzugeben, Ashmodys Hand zu ergreifen, als er fragte: "Hätten sie denn mal Zeit, mir den Leuchtturm zu zeigen?" Er versagte sich einen weiteren Schluck aus dem Bierglas, denn er fühlte, daß er vor Erregung zitterte. "Wenn sie wollen, noch heute. Es sind von hier nur gut zehn Minuten zu laufen." Das Lächeln auf Ashmodys Lippen war so süß und einladend, daß Michael sich kaum beherrschen konnte, aufzuspringen und sie an sich zu ziehen. Doch er war tatsächlich aufgesprungen. Hastig trat er ein paar Schritte vom Tisch und damit von dem Ziel seiner Begierde zurück. "Ich.. ähm.. ich", stotterte er, ohne zu wissen, wie er die Situation noch retten konnte. Aber auch Ashmody war plötzlich aufgestanden. "Eine gute Idee! Gehen wir sofort." Die große Frau hakte sich bei Michael unter, winkte Hiller zum Abschied zu und zog den verdutzten Mann an ihrer Seite mit sich hinaus in das Hotelfoyer. Auf dem Weg klopfte Michaels Herz schmerzhaft schnell und heftig, doch bevor er recht begriff, daß ein warmer, kräftiger Arm um den seinen geschlungen war, er das Objekt seiner Begierde in unmittelbarer Reichweite hatte, löste Ashmody sich schon wieder von ihm und ging zum Zeitungsstand, um neugierig einen Blick auf die Schlagzeilen der Abendblätter zu werfen. Michael folgte ihr. 'Tote vom Badestrand identifiziert' hieß es auf der Titelseite des Merburger Abend-Merkur und unter der Schlagzeile war ein Bild abgedruckt, das sehr nach Paßfoto aussah. Es handelte sich eindeutig um die Frau, die Michael im Zug erschienen war - Sofia Kaifronesis - aber der Bildunterschrift nach handelte es sich um 'Dr.Maria Theodorou aus Hohenheim, RBO.' Bei einem Blick in den Artikel sprangen Michael einige Schlüsselworte in die Augen: 'Griechin - Dozentin für Byzantinische Literatur an der Friedrich-Philipp-Universität Hohenheim - in den frühen Morgenstunden tot aufgefunden.' Und plötzlich bildete sich ohne Michaels bewußtes Zutun die Gleichung: Griechin = Griechisch = sofia kai fronesis. Die Frau - der Geist? - der ihm erschienen war, hieß nicht Sofia Kaifronesis, tatsächlich hatte sie sich als 'Weisheit und Vernunft' vorgestellt, diese junge griechische Philologin, der er wohl während des Trimesters mehrmals in der Woche auf den Fluren des Bischöflichen Palais über den Weg gelaufen war. Deswegen war sie ihm also bekannt vorgekommen und er wunderte sich, warum ihm das nicht eher eingefallen war. Die Erkenntnis einer Geisterbegegnung versetzte seinen animalischen Trieben einen gehörigen Dämpfer, und Ashmodys Augen, die ihn durchdringend musterten, hatten in der hell erleuchteten Eingangshalle ihre elektrisierende Wirkung verloren. Michael war darüber etwas enttäuscht, aber andererseits auch beruhigt, ihre Nähe nun so gelassen ertragen zu können. "Sie kannten die Frau also", bemerkte Ashmody leise. "Nicht persönlich, zumindest nicht..." '...zu ihren Lebzeiten', war Michael versucht, zu ergänzen, aber das verkniff er sich. Ihm war nach Bewegung an frischer Luft. "Am besten gehen wir hinten 'raus", erklärte Ashmody und zeigte auf ein Schild neben dem Zugang zur Bar, das den Weg 'Zur Promenade' wies. Michael folgte seiner Fremdenführerin. * * * Kapitel 19: Nächtliche Begegnungen ---------------------------------- Die Nacht war sehr warm, und der Himmel war noch immer nicht ganz dunkel geworden. Wohl noch von der Jahrhundertwende stammende Laternen beleuchteten einen Spazierweg, neben dem das Gelände steil abfiel. "Da unten ist der hoteleigene Strand, bis unterhalb der Burgruine." Ashmody wies in die Richtung auf ein Bauwerk, dessen Turm im Licht einiger starker Scheinwerfer wie der verwitterte Stamm eines toten Baumriesen wirkte. "Unverkennbar ein Objekt kulturellen Interesses. Meine Behausung liegt der Ruine gegenüber." Der alte Leuchtturm war im Mondlicht nur schemenhaft zu erkennen. Zwischen den beiden Türmen glitzerte Wasser. "Das sieht mir aber nach deutlich mehr als zehn Minuten Weg aus, wenn man die ganze Bucht umrunden muß", gab Michael zu bedenken und steckte die Hände in die Jackentaschen. In der rechten fühlte er Papier und er erinnerte sich an den Brief, der ihm bei der Ankunft ausgehändigt worden war. "Wollen sie nicht wissen, von wem er ist und um was es sich handelt?" fragte Ashmody. Michael sah sie an, doch er bereute es sofort. Im Zwielicht der Laternen fing der Zauber ihrer Augen wieder an zu wirken. "Wieso wissen sie von dem Brief?" fragte er um sich abzulenken. "Sie haben ihn in der Hand", antwortete Ashmody mit deutlicher Verblüffung über die Frage. Tatsächlich hatte Michael die Hand mit dem Brief aus der Jackentasche gezogen und der weiße Umschlag leuchtete im Halbdunkel wie phosphorisiert. Er trat in den Lichtschein der am nächsten stehenden Laterne und besah sich noch einmal den Umschlag. 'Prof.M.N.Drake' stand darauf in sorgfältig gemalten Buchstaben. Einen Absender trug der Umschlag nicht, aber den Schriftzug O'Sullivan'S in der linken unteren Ecke. Michael öffnete ihn und entfaltete den inneliegenden Papierbogen. Es war das hoteleigene Briefpapier, die Schrift die gleiche wie auf dem Lesezeichen, das er im Heft über St.Michael gefunden hatte: geschwungene Linien, die auf den zweiten Blick als Buchstaben, Worte und Sätze erkennbar wurden. Ashmody sah ihm über die Schulter, als er die anonyme Botschaft las: 'Die Griechin vertraute dem Druiden und wurde von ihrem 'Verbündeten' in einem heidnischen Ritus geopfert. Bedenke das, wenn Du Deine Seite wählst, doch bedenke auch, daß Du wählen mußt, denn in Deiner Hand liegt die Zukunft.' Michael war so erschüttert, daß er sich setzen mußte. Er plumpste geradezu auf die Bank, die neben der Laterne stand und starrte auf das glitzernde Wasser der Bucht. Kalte Furcht durchdrang ihn völlig unerwartet. Plötzlich war die Erregung und die Hoffnung auf ein Liebesabenteuer mit Ashmody vollkommen ausgelöscht. Ihre dunklen Augen, mit denen sie ihn nun - neben ihm auf der Bank sitzend - nachdenklich musterte, wirkten nach der Lektüre des Briefes nicht mehr verführerisch, sondern bedrohlich, und die Macht, die sie mit ihnen über sein Innerstes zu haben schien, hatte etwas Dämonisches bekommen. "Kann ich ihnen irgendwie helfen?" erkundigte Ashmody sich besorgt. "Sie sind ganz bleich." Michael fühlte sich auch so. Er bemühte sich, die völlig irrationale Furcht zurückzudrängen und seine Gedanken zu ordnen. "Ich werde mit der Notiz wohl zur Polizei gehen müssen. Anscheinend glaubt der Autor, etwas zu wissen über den Mord an dieser Frau..." "Maria Theodorou", kam Ashmody ihm zu Hilfe. "Aber heute nacht werden sie auf der Polizeistation niemanden mehr antreffen. Auch Polizisten haben Feierabend." Michael hatte da seine Zweifel. Sicherlich mußte es auch in Merburg einen Nachtdienst geben, insbesondere mit einem frischen Mord am Badestrand. Aber dankbar nutzte er den angebotenen Ausweg, nicht sofort seiner Informationspflicht gegenüber den Untersuchungsorganen nachkommen zu müssen: "Sie haben wohl recht." Plötzlich wurde es merklich dunkler, obwohl die Laternen noch brannten. "Mitternacht", erklärte Ashmody und wies mit einem Kopfnicken zur Burgruine, die nurmehr vom Mondlicht sanft beschienen wurde. "Kommen sie trotzdem noch mit in meinen Turm?" Das Licht der Laterne verwandelte ihr Gesicht in eine scharfkantige Maske aus Licht und Schatten. 'Tatsächlich wie ein räuberischer Dämon, nur die den Anblick umrahmenden Flügel fehlen.' Da milderten sich Ashmodys Züge durch ein plötzliches Lächeln. Sie mußte seine Gedanken lesen können. "Nein", schien sie zu antworten und fuhr dann fort, "sie kommen heute wohl nicht mehr mit. Die Anstrengung der Anreise hat mit aller Macht zugeschlagen, nicht wahr? Aber meine Einladung bleibt bestehen. Wie wäre es mit morgen nachmittag auf eine Tasse Tee? Sagen wir, nach Hillers Vortrag, und wir gehen dann abends gemeinsam zum Auftakt des Mysterienspiels." Michael nickte. "Gerne. Dann kann ich die so hoch gepriesene Aussicht auf Merburg auch eher genießen. Heute bin ich wohl doch nicht mehr richtig aufnahmefähig." "Dann wünsche ich ihnen noch eine gute Nacht", sagte Ashmody sanft, aber ihre Augen blitzten. Doch für den Moment schien ihr Zauber gebannt. Michael dankte und wünschte ihr das Gleiche. Sie gingen in entgegengesetzter Richtung davon, Ashmody zu ihrem Leuchtturm, er selbst auf den Turm der Burgruine zu, der wie ein hohler Zahn auf dem Ende der Klippe stand. Doch nach wenigen Metern bog er auf den Weg ein, der von der Promenade zum Hintereingang des O'Sullivan'S führte. Inzwischen hatte sich sein Blutdruck wieder normalisiert und er war zu vernünftigen Überlegungen fähig. Was war ihm da nur widerfahren? Ihm war, als sei er selbst den Mächten ausgeliefert worden, von denen Gig Zimbel in dem Zitat sprach, das dem diesjährigen Kongress als Motto vorangestellt war: Begegnung mit Traumgestalten und offensichtlich Toten, Warnungen vor Dämonen und bösartigen Zauberern, sein 'Alptraum'... immerhin war das nur ein Traum gewesen, während er in der Bar fast eine Berufskollegin öffentlich vergewaltigt hätte. Die ratio sagte ihm nun, daß diese junge, kräftige Frau ihm physisch gewachsen war und sich wohl in jedem Fall ihrer Haut wehren könnte, würde er ihr gegen ihren Willen zu nahe treten... offenbar hatte ihn die Verjüngung auch wieder mit der überschüssigen Energie versorgt, die ihm vor fünfzehn Jahren den Weg in das Bett so mancher williger Studentin gebahnt hatte... Energie, die er nun eigentlich bei Cassandra loswerden sollte. Und die hatte versprochen, abends im Hotelzimmer auf ihn zu warten. Michael drehte sich um, sah zurück zu jener Bank unter der Laterne und suchte nach einer sich entfernenden Gestalt, die der Promenade bis zum Leuchtturm folgte, aber dort auf dem von den Laternen erleuchteten Weg war niemand. Nur ein riesiger dunkler Vogel flog über die Bucht zum Leuchtturm. Vielleicht eine Eule, die dort oben bei Ashmody wohnte. Die verglaste Hintertür des O'Sullivan'S, durch die er kurz zuvor noch mit Ashmody hinausgegangen war, war verschlossen, der Gang dahinter düster. Hier wurden um Mitternacht anscheinend förmlich die Bürgersteige hochgeklappt. Er sah jedoch, daß die Bar noch hell erleuchtet war. Doch gerade, als er sich auf den Weg zur Terrasse machen wollte, erlosch das Licht hinter der Fensterfront, nur die Lampions glühten noch einen Moment, dann wurde auch ihnen der Strom abgedreht. Ein Blick nach oben zeigte ihm, daß die Treppenhausfenster erleuchtet waren, desgleichen einige Zimmer. Wenn er den Weg herum um das Gebäude fand, würde er durch den Vordereingang hineingelangen, denn sicher gab es doch einen Nachtportier. Etwas anderes wagte Michael sich gar nicht vorzustellen. Mußte er etwa - war er doch ausgesperrt - den Weg zum Leuchtturm antreten und um Herberge bei Ashmody bitten? Nun hatte der Gedanke wieder etwas Verlockendes. Bei seinem Weg an der Rückseite des Hotels entlang, stieß Michael auf eine Reihe von verschlossenen Türen, aber schließlich entdeckte er eine, deren Klinke auf seinen versuchsweise ausgeübten Druck nachgab und sich mühelos öffnen ließ. "Na endlich", entfuhr es ihm erleichtert. Er trat ein und fiel fast die unbeleuchtete Treppe hinunter, die gleich hinter der Tür nach unten führte. Er ertastete an der Wand einen Lichtschalter und sah im Schein der aufflammenden Lampen, daß die Treppe wirklich steil nach unten ging - und lang war sie noch dazu. Außer der Tür, die gerade hinter ihm ins Schloß fiel, gab es keinen anderen Weg als diese Treppe in die Eingeweide des Hotels. "Zurück oder vorwärts?" fragte Michael sich laut und wunderte sich über den Hall seiner Stimme, die von unten, in viele Echos aufgesplittert, zu ihm zurückschallte. Das altertümliche Mauerwerk der Treppe und seine Erinnerung, im Touristen-Verführer etwas über einen Vorgängerbau des Hotels gelesen zu haben, machte ihn neugierig, und er entschied sich für 'vorwärts'. Die an ein Bergwerk erinnernden Lampen waren in unregelmäßigen Abständen von jeweils einigen Metern an der Decke über der Treppe und dem daran anschließenden Gang angebracht. Einige hölzerne Stützen verstärkten noch den Bergwerkscharakter dieses feuchtkalten Ganges, der sich mit einigen Richtungswechseln aber ohne Abzweigungen und scheinbar mit leichter Steigung unter dem Hotel erstreckte. Nach einigen hundert Metern bezweifelte Michael allerdings, daß er sich noch immer unter dem Hotel befand, denn trotz der Biegungen gab es anscheinend eine Hauptrichtung. Endlich kam er an eine Treppe, die ebenso steil nach oben führte, wie die vorherige nach unten. Viel zu neugierig um erschöpft zu sein, stieg Michael die vielen Stufen hoch. Die Treppe endete vor einer Stahltür moderner Machart, daneben befand sich ein Lichtschalter, der durch ein Feuchtraumkabel mit den Lampen an der Decke verbunden war. Keine Tiere, weder Ratten noch sonstiges Ungeziefer, auf dem ganzen Weg. Ein merkwürdig aufgeräumter unterirdischer Gang war das gewesen. Probeweise drückte er die Klinke der Stahltür. Auf gut geölten Angeln ließ sie sich nach außen öffnen. Michael machte das Licht aus und trat nach draußen in die kühler gewordene Nachtluft. Links, tief unter ihm, lag die Merburger Bucht, dahinter, im Mondlicht gerade noch erkennbar, der Leuchtturm. Michael stand auf einer erhöht liegenden, rechteckigen Plattform, die zur Burgruine gehörte. Rechts von ihm erhob sich der Turm der Ruine und Reste von Wänden umgaben diese ehemalige Terrasse von drei Seiten. Eine der Schmalseiten, ein noch weitgehend intakter Gebäudeteil, beherbergte die moderne Stahltür, durch die er ins Mondlicht getreten war. Er sah die ersten Sterne funkeln und freute sich über das Schauspiel, das ihm in seinem Hohenheimer Garten durch die nahe Innenstadt und deren Beleuchtung, die stets wie eine Dunstglocke über dem Zentrum der Stadt lag, verwehrt war. Der Wind wehte ihn von See her kalt an, er vergrub die Hände in den Jackentaschen und spürte den Briefumschlag. Er überlegte, ihn noch einmal hevorzuholen, zu gucken, ob auch in Ashmodys Abwesenheit derselbe Text dort stand. Vielleicht hatte sie die gewöhnliche Notiz eines Kollegen zu dieser mysteriösen Mitteilung gemacht. Sie hatte schließlich nicht nur dämonische Augen, sondern auch einen dämonischen Namen. Wenn Michael sich recht erinnerte, war Aschmedai ein Fürst der Dämonen. Michael hatte noch Großvater Dumeloilles Lieblingsfluch im Ohr: 'Aschmedai et tous les ruchoth!'. Kein Wunder, daß Danielle Ashmody sich bei ihrem Namen mit der Kabbala beschäftigte. Aber er ließ den Brief Brief sein und guckte wieder nach oben, den Kopf in den Nacken gelegt. Ein grandioser Himmel! Er breitete die Arme weit aus, sog durch die Nase die Nachtluft tief ein und betete den Sternenhimmel an. Warum hatte er seinem Vater nie aufmerksamer zugehört? Der hatte die Namen aller Sterne und Sternbilder gekannt und hatte sie seinen Kindern gelegentlich gezeigt. Michael lächelte versonnen, als er sich daran erinnerte, wie sein Vater und Großvater Dumeloille sich gelegentlich darüber gestritten hatten, welchen Einfluß welcher Stern und welcher Planet auf bestimmte Horoskope hat. Und beide waren in der selben Nacht, vielleicht sogar im selben Moment gestorben, sein Vater gerade sechsundsechzig, der Rabbi über achzig. Der fast volle Mond war umgeben von vereinzelten Wölkchen, die er in leuchtende Schleier verwandelte. Der helle Stein der Terrasse warf etwas vom Mondenschein zurück, so daß es Michael wie eine Bühnenbeleuchtung erschien. Eine prächtige Kulisse für Hamlets ersten Akt fand Michael. Aus der schwer zerstörten Ecke, in der die Reste des Mauerwerks im Mondlicht phantomhafte Schatten warfen, müßte nun noch der Geist des toten Königs treten. Und in dem Moment trat eine schlanke Gestalt aus den Schatten hervor. 'Noch ein Geist?' fuhr Michael in Erinnerung an die Geisterbegegnung im Zug durch den Kopf, aber das Mondlicht brachte die rotblonden Haare des 'Geistes' zum Leuchten. Ein paar Meter vor Michael blieb der junge Mann stehen. "Die Seeluft bekommt ihnen gut", sagte er mit wohltönender Stimme. "Sie sehen viel jünger aus, als heute mittag." Und er kam noch einen Schritt näher. "Oder meinen sie, es ist nur die schlechte Beleuchtung?" Er lächelte Michael an. Michael erwiderte das Lächeln. "Vielleicht ist es das erfrischende Klima hier", antwortete er. "Ich habe mir sagen lassen, bei ihnen im Süden ist es zur Zeit sehr heiß", sagte der moderne Antinoos nun wieder und trat noch einen Schritt näher. Die leichte Brise bauschte sein lockeres Hemd ein wenig und trug Michael den Duft von irgendwelchen Blüten und Kräutern zu. Es roch wie die Sommerwiese, an die Diognets Haar ihn erinnert hatte. Michael wurden die Knie weich beim Gedanken an seinen 'Alptraum'. Der Jüngling stand nicht einmal mehr eine Armlänge von Michael entfernt. Er war einen knappen Kopf größer als Michael, aber wohl doch nicht mehr ganz so jung, wie er zunächst gewirkt hatte. Er war eher ein gutrasierter Mittzwanziger, als ein unreifer Jüngling, und seine hellen Augen erinnerten nun doch sehr an den Tiarna-na-Sidhe. "Wollen sie nicht wissen, wer ich bin?" fragte der junge Mann. Michael war es eigentlich egal, so lange er nur die Gegenwart des jungen Mannes genießen durfte. Aber gehorsam fragte er: "Also, wer sind sie?" Der junge Mann lachte melodisch. Er hatte die Stimme eines ausgebildeten Sängers. "Und meinen sie nicht, sich mir vorstellen zu müssen?" Michael schüttelte grinsend den Kopf. "Vermutlich wissen sie es ohnehin. Ich glaube, sie haben mich verfolgt." Michael war sich dessen keineswegs sicher. "Vielleicht habe ich das getan... und vielleicht weiß ich besser, wer sie sind, als sie selbst, Michael Drake." Und seinem Augenaufschlag nach zu urteilen, wußte der junge Mann auch um die Macht, die er mit seinem Aussehen auf Michael hatte. Seine Jugend war verführerischer, als Ashmodys fast bedrohlich mächtige Augen. "Und wie heißen sie nun?" wollte Michael jetzt wissen. Er kostete die aufsteigenden Gedanken an die unerfüllbaren Gelüste aus. "David O'Sullivan - aber alle nennen mich Ginger." Und plötzlich hob er die Hand und strich Michael über den Bart. "Ich habe eine Schwäche für ältere Männer", sagte er leise, ließ die Hand für einen Moment auf Michaels Wange liegen. "Und du hast eine Schwäche für mich, nicht wahr?" Und nun war er wieder Antinoos. Michael mußte dem jungen Mann mit einem stummen Nicken Recht geben. Sein Herz pochte so laut, daß er sicher war, sein Gegenüber müßte es hören. Hier waren nur sie beide, keine Beobachter waren zu befürchten, und so hob Michael zögernd seine Hand und strich 'Ginger' über die glatte Wange. Und jetzt war das Lächeln des Jünglings triumphierend geworden, er beugte sich ein wenig zu Michael hinunter und küßte ihn sanft auf die Lippen. "Laß uns gehen", sagte er und hakte sich bei Michael unter, fast wie Ashmody es getan hatte, aber seine Gegenwart hatte nichts von der dämonischen Übermächtigkeit Ashmodys und Michael genoß die Wärme an Arm und Schulter, die ihm die Berührung bot. Er ließ sich zu einer Tür führen, die in den Schatten verborgen lag. Auf geheimen Wegen durch den Merburger Untergrund errreichten sie schließlich Gingers Zimmer im Hotel, ohne jemandem über den Weg zu laufen. Auf dem Weg erzählte Ginger, daß er der Enkel des Hotelbesitzers sei. Das erklärte zum einen seine intime Kenntnis aller Schleichwege in der Burgruine und dem Hotel, deren Fundamente ineinander überzugehen schienen; zum anderen die Vierzimmerwohnung, die sich hinter der unscheinbaren Hotelzimmertür erstreckte, die Ginger schließlich öffnete. Das riesige, mit glänzendem schwarzen Satin bezogene Bett kam Michael zuerst einfach nur pervers vor, aber als Ginger sich daraufgeworfen hatte, sich auf den Bauch legte, die Unterarme aufgestützt und das Kinn auf die verschränkten Hände gelegt, wurde es unwiderstehlich, und Michael folgte Gingers Einladung und ergab sich willig den Wünschen seines Verführers und den eigenen Begierden. Erschöpft schlief er schließlich in Gingers Armen zwischen den fremden schwarzen Laken ein. * * * Kapitel 20: Das Ende eines Traumes ---------------------------------- Er zog die Flügel eng um sich, und die Federn raschelten leicht. Die Sehnsucht zerfraß ihn, besonders da er um ihre Nähe wußte. Warum hatte er sie nur ziehen lassen? Er mußte zu ihr. Stoff und Glas bildeten eine Barriere, die er jedoch leicht überwand. Nur ein kleines Stück nach Westen, dort wartete sie und so beeilte er sich, über das Wasser zu ihr zu fliegen. Er schrie vor Freude, seine Schwingen nach so langer Zeit wieder ausbreiten zu können, den Widerstand der Luft zu spüren und dahinzugleiten, doch seine eigene Stimme klang ihm ein wenig fremd in den Ohren. Es war so lange her. Als er den Turm ein zweites Mal umkreiste, sah er sie auf seiner Spitze stehen, neben ihr merkwürdige Gerätschaften aus Glas und Metall, aber sie war wie immer. Ihr langes Haar wehte im Wind, sie begrüßte ihn mit ihrem Gesang, und schon schlug sie mit ihren dunklen Flügeln, um zu ihm aufzusteigen. Sie jagten sich ein Weilchen über dem Meer, dann kehrten sie zurück zum Turm, dessen Spitze ihnen gerade genug Platz bot, wenn sie sich eng umschlungen hielten, und er spürte ihren Körper, sah ihr dunkles Gesicht im Licht seiner Flügel. Sie küßten sich leidenschaftlich und ebenso leidenschaftlich liebten sie sich, denn es war so lange her. Und noch einmal erhoben sie sich in die Luft und sie flogen für ein Weilchen gemeinsam, so dicht nebeneinander, daß ihre Flügel sich bisweilen streiften. Und noch einmal liebten sie sich, in der Luft, bis sie fürchteten, vor Erschöpfung ins Meer zu stürzen, erst dann kehrten sie zurück zum Land. "Wirst du deine Natur wieder vergessen?" fragte sie leise, nachdem sie erneut zum Turm zurückgekehrt waren. "Nein!" versprach er und hoffte, sein Versprechen halten zu können. Er erhob sich wieder und stieg in die Höhe, bis der Turm nur noch ein Punkt unter ihm war, die Meeresbucht eine kleine Pfütze und er freute sich, für ein Weilchen die Kraft seiner Schwingen spüren zu können, das heiße Feuer, das in seinen Adern pulsierte und die Luft der Nacht, die ihn trug. Er würde sich erinnern! Und doch fürchtete er, daß es nicht so sein würde. * Freitag, 17.7.1970 Michael wachte auf, als es draußen noch dämmrig war. Neben ihm atmete leise Anna - dachte er, doch dann sah er den auffällig rotblonden Schopf zwischen den schwarzen Laken. Er hatte sich gestern also tatsächlich von dem Bürschlein becircen lassen, es genossen und ganz offensichtlich hatte es ihm auch gutgetan. Er setzte sich auf, spannte die Schultern und wunderte sich einen Moment über den leichten Muskelkater in Rücken und Brust. Wahrscheinlich hatte er deswegen von einem Flug geträumt. Cassandra hatte er glatt vergessen. Seine einzige Entschuldigung war, daß seine Muse natürlich nie eine vergleichbar überwältigende erotisierende Wirkung auf ihn hatte ausüben können, wie dieser junge Mann. Aber vielleicht sollte er nun wirklich auf sein Zimmer gehen. Er streichelte das helle Haar seines schlafenden jugendlichen Liebhabers und stand auf. Dann suchte er seine Sachen zusammen, zog sich an und trat sich nahe dem Fenster fast eine Glasscherbe in den noch nackten Fuß. Die gläserne Balkontür war zerstört, bemerkte er bei genauerer Untersuchung, die bodenlange durchscheinende Gardine davor an einigen Stellen zerschnitten und dunkel befleckt. Es sah so aus, als ob da jemand durch die geschlossene Tür nach draußen gerannt war, denn auf dem Balkon lagen noch viel mehr Scherben, als auf dem Teppich. Er selbst war unverletzt und auch Gingers schlanke Glieder waren, soweit sie zwischen dem Bettzeug zu sehen waren, unversehrt. Vielleicht war die Tür schon zerstört gewesen, als sie heraufgekommen waren. Auf solche Kleinigkeiten hatte er da nicht geachtet, und auch jetzt war es völlig unerheblich. Michael riß eine Seite aus seinem Taschenkalender. 'Hab Dank für die Eröffnung einer neuen Welt. Vielleicht auf ein anderes Mal? Mischa', schrieb er und legte das Blatt neben Gingers Kopf auf die Matratze, dann ging er. In seinem eigenen Bett lag Cassandra und sah ihn aus ihren verschiedenfarbigen Augen an. "Ich habe es geahnt. Das Unheil hat begonnen", sagte sie nur. Dann drehte sie ihm den Rücken zu. "Was meinst du?" stellte Michael sie daraufhin zur Rede. "Nur weil du eifersüchtig bist, heißt das noch lange nicht, daß das ein Unheil ist! Sei bitte etwas zurückhaltender in deiner Wortwahl." "Ich meine doch nicht deine Affäre. Ich rede von deinem Untergang", antwortete sie, ihre Worte etwas gedämpft durch das Kissen. Michael setzte sich neben sie, drehte sie sanft zu sich um. "Ich dachte, du wärst nicht in mich verliebt." Cassandra sah ihn traurig an. "Ich bin nicht verliebt, ich mag dich nur so, wie du bist. Aber nun hat unaufhaltsam die Veränderung begonnen. Merkst du selbst es denn gar nicht?" Michael lächelte. "Natürlich merke ich, daß ich jünger geworden bin. Man sieht es ja wohl ziemlich deutlich. Aber das ist sicher keine unheilvolle Veränderung." Cassandra schloß die Augen; Michael glaubte, eine Träne in ihrem Augenwinkel sehen zu können. Sie schwieg eine Weile, seufzte nur. Doch dann, als Michael ihr über die kurzen Haare strich, öffnete sie die Augen wieder und sagte endlich: "Deine Verjüngung ist nur Symptom der Veränderung... du wirst es noch früh genug merken und - wenn stimmt, was ich fürchte - wird es dich im eigentlichen Sinne des Wortes zerreißen. Einander feindliche Mächte wollen dich für sich und ihre Absichten gewinnen und sie haben bereits ihr Netz um dich gewoben. Ich sehe nicht, wie du ihnen entkommen könntest... und für mich wird hier bald kein Platz mehr sein." Michael machte es rasend, wenn seine Muse begann, zu unken. "Das ist doch wohl ganz allein mein Problem! Was hast du denn damit zu tun?!" schrie er. Cassandra wich erschrocken vor ihm zurück. Michael war selbst erschüttert über seinen Ausbruch, aber er hatte sich so wohl gefühlt, als er aufwachte, und Cassandra schien es nur darauf abgesehen zu haben, dieses Wohlgefühl zu zerstören. "Entschuldige", sagte er halbherzig. "Aber warum machst du dir Sorgen?" Cassandra setzte sich auf, sah ihn traurig an. "Du brauchst keine Muse mehr, seit die Verwandlung begonnen hat. Und die Mächtigen sind schon jetzt zu stark in Merburg, als daß ich mich hier wohlfühlen könnte. Aber es wird noch mehr werden. Das ist kein Ort für eine Muse - ich muß gehen." "Und das macht dir zu zu schaffen", folgerte Michael. "Es tut mir einfach leid um dich, denn ich weiß, daß du jeden Verbündeten brauchst, den du kriegen kannst. Ich hätte dir vielleicht helfen können, deinen Verstand zu gebrauchen... ich wäre dir eine wahrhafte Verbündete gewesen, denn ich hatte nie ein Interesse daran, dich zu beeinflussen oder für meine Zwecke zu benutzen." Sie sah ihn so treuherzig-aufrichtig an, daß Michael nicht anders konnte, als ihr zu glauben. Und er erinnerte sich an die Worte der Griechin - ihres Geistes wohl richtiger - im Zug. Auch sie hatte sich als Verbündete angeboten. Das klang alles sehr nach Kriegsvorbereitungen. "Wer tritt denn gegen wen an in diesem hübschen Städtchen?" wollte er von Cassandra wissen. "Aber das weißt du doch längst. Die beiden Parteien versuchen doch schon, dich für sich einzuspannen." "Also geht es Chaos gegen Ordnung oder Licht gegen Schatten?" fragte Michael scherzhaft. Die Botschaften an ihn hatten von einem Druiden und einem Dämon gesprochen. "Wer steht denn auf welcher Seite?" "Das kann ich dir nicht sagen. Allerdings sind beide Parteien zur Zeit noch gleichstark. Durch deine tätige Mithilfe will jede von ihnen das Gleichgewicht der Macht zu ihren Gunsten beeinflussen, und beide sind bestrebt, die Welt in ihrem Sinne zu ändern", antwortete Cassandra langsam. "Und wie geht es aus?" wollte Michael wissen. "Das hängt von deiner Entscheidung ab. Jenseits des Punktes der Verwandlung ist die Zukunft nicht festgeschrieben. Fest steht nur, daß ich nicht ertrage, bis zur Vollendung der Verwandlung bei dir zu bleiben... also werde ich noch heute gehen." "Willst du nicht wenigstens bis zum Ende der Tagung warten?" fragte Michael, auch wenn er im Stillen hoffte, daß sie 'nein' sagen würde. Er mußte immerzu an 'seinen' Antinoos denken. Cassandra sah ihren Dichter lange schweigend an. "Du hängst schon in ihren Fallstricken", sagte sie dann. "Ich wünsche dir viel Glück." Sie setzte sich einen Moment neben ihn auf die Bettkante und küßte ihn - liebevoll wie eine Abschied nehmende Mutter - auf die Wange. Dann stand sie auf und ging ins Bad. Michael warf Jacke und Hose auf einen Stuhl in der Nähe und legte sich quer über das Bett, schloß die Augen und rief sich den Anblick des schlafenden Ginger wieder ins Bewußtsein, schlief selber ein. * Als Michael aufwachte, ereilte ihn als erstes die Gewißheit, daß Cassandra ihn nun entgültig verlassen hatte - der Traum von der Muse war zuendegeträumt. Doch mit ihrem Verschwinden schien ihm auch die Verläßlichkeit seiner Sinneswahrnehmung abhanden gekommen zu sein. Er mußte einen Moment überlegen, ob die Erlebnisse der vergangenen Tage seine Erfindung oder Wirklichkeit gewesen waren: die Götter und Hexen, die andere Wirklichkeit, Elfenkönig und Geister. Traum und Dichtung schien mit der Realität in Wechselwirkung getreten zu sein. Aber nach einigem Nachdenken rückte die Welt wieder zureckt. Michael kratzte sich am Kinn und stellte fest, daß - vorausgesetzt, er schlief nun nicht mehr - zumindest der Bart nicht eingebildet war. Im Bad blickte ihm allerdings unerwarteterweise ein etwa dreißigjähriger Mann aus dem Spiegel entgegen, den er seit Jahrzehnten dort nicht mehr gesehen hatte. Michael entschloß sich jedoch nach einem Augenblick des Erschreckens, das ebenfalls als Tatsache hinzunehmen und weigerte sich, über seine fortschreitende Verjüngung nachzudenken. Vielleicht war das Ganze ja auch nur eine optische Täuschung, denn der Spiegel war nach dem Duschbad doch etwas beschlagen. Was ihn jedoch wirklich beunruhigte war die Erkenntnis, daß Cassandra fort war, es ihm aber nichts ausmachte! Sein Interesse an ihr war so schnell eingeschlafen, wie das an jeder beliebigen seiner schon Jahre zurückliegenden, bedeutungslosen Liebschaften. Angesichts der Tatsache, daß sie wahrhaft seine Muse gewesen war, war das eigenartig. Doch ihr Weggang hatte den göttlichen Funken der Inspiration nicht wieder erlöschen lassen, Michael konnte keinen Mangel verspüren. Aber vielleicht fachte Ginger diesen Funken ja nun an - oder seine Verführungskünste, die Erfüllung bisher nur erträumter Genüsse, sorgten für die Glut. Als Michael nach seiner Uhr griff und vor dem Einstecken gewohnheitsmäßig den Deckel öffnete um einen Blick darauf zu werfen, bemerkte er, daß es schon deutlich nach neun war. Damit hatte er zumindest den ersten Vortrag der Rubrik Theorien über Engel und Götter verpaßt, mit dem Titel 'Das Pandaimonion Universalis von Gottistgerecht Zimbel - Ansätze zu einer Theologie der Romantik'. Der Name des Vortragenden sagte ihm allerdings nichts. Er erwog, zumindest den zweiten und dritten Vortrag der Rubrik anzuhören und dafür auf das Frühstück zu verzichten. Aber sein Magen knurrte gerade in dem Moment laut und vernehmlich und so fiel die Entscheidung zugunsten des Frühstücksbuffets des O'Sullivan'S aus. Dann konnte er danach auch den mysteriösen Brief bei der Polizei abgeben und kam reichlich zurecht zur Rubrik Jenseitige Gewalten. Also griff er nach der Jacke, nahm sie über die Schulter und verließ sein Hotelzimmer. * * * Kapitel 21: Der Ring der Macht ------------------------------ Nach dem opulenten Frühstück erkundigte Michael sich beim Portier nach dem nächstgelegenen Polizeirevier und erfuhr, daß sich das Präsidium der Protektoratspolizei nur eine Straßenecke weiter befand. Er machte sich dorthin auf den Weg, und noch bevor er den Haupteingang des riesigen neogotischen Gebäudekomplexes erreichte, den das Police-HQ einnahm, lief ihm Anwar Hawke, der für den Fall Theodorou zuständige Coroner, über den Weg. Im Licht der an diesem Vormittag von einer Herde kleiner Schäfchenwolken umgebenen Sommersonne war die Ähnlichkeit mit Nefut noch augenfälliger, aber diesmal kam es wenigstens nicht so überraschend, also beruhigte Michael sich schnell wieder. Er grüßte den Pathologen höflich, suchte in den Jackentaschen nach dem Brief und erklärte dabei: "Ich habe gestern morgen bei meiner Ankunft im Hotel einen Brief erhalten, in dem davon die Rede ist, daß die Frau am Strand ihrer Vertrauensseligkeit wegen in einem heidnischen Ritus geopfert worden sei... wo ist der Umschlag denn nur abgeblieben?" Doch auch die dreimalige Durchsuchung aller Jacken- und schließlich auch der Hosentaschen brachten weder den Umschlag noch den Brief selber zutage. "Das verstehe ich nicht! Ich bin sicher, daß ich ihn gestern nacht noch in der Tasche hatte, bevor ich schlafen ging. Und ich habe ihn nicht herausgenommen." Durch seine erfolglose Sucherei war Michael so in Anspruch genommen, daß er den mehr als skeptischen Blick des Pathologen zunächst nicht bemerkte. Doch als Hawke schließlich fragte: "Wer sind sie eigentlich?" hörte Michael mit dem Suchen auf, sah den Coroner an. "Michael Drake. Aber wir haben uns doch gestern morgen kennengelernt... sie kamen zu Max Hiller und mir an den Tisch... beim Frühstück im O'Sullivan'S... wir haben über keltische Opferriten gesprochen." Die Erinnerung schien Hawke zu dämmern, aber sein Blick blieb skeptisch. "Ich kann mich nicht daran erinnern, daß sie mit am Tisch saßen, ich erinnere mich nur an ihren Vater - vor allem weil er mir so bekannt vorkam." "Aber...", begann Michael, brach dann jedoch ab. Wie sollte er die innerhalb von vierundzwanzig Stunden verlorenen dreißig Jahre erklären? Und zu allem Überfluß war auch noch der Brief verschwunden. "Merkwürdig", sagte Michael leise. "In der Tat merkwürdig", pflichtete Hawke ihm bei. "Sie begleiten also ihren Vater zur Tagung? Sind sie auch Philologe?" "Ich bin ich selbst, nicht mein Sohn!" protestierte Michael jetzt doch und ignorierte vorsätzlich den verstörten Gesichtsausdruck seines Gesprächspartners. "Und der Brief ist verschwunden." Hawke versuchte es jetzt mit logischen Argumenten. "Der Mann, mit dem ich gestern sprach, war um die sechzig. Sie dagegen sind bestimmt kein Jahr älter als ich, also allenfalls dreiunddreißig. Sie können folglich nicht der Mann sein, mit dem ich gestern sprach." "Papperlapapp", entgegnete Michael, der zur Zeit gar keinen Sinn für zweiwertige Logik hatte. "Ich bin achtundfünfzig. Ich seh' zur Zeit nur nicht danach aus. Und sie habe ich das erste Mal in der vorletzten Nacht in einem Traum getroffen und ihnen das Leben gerettet. Erklären sie mir das doch bitte mal unmittelbar einsichtig!" Nun hatte Michael anscheinend einen wunden Punkt getroffen. "Sie haben dafür gesorgt, daß ich die Granatapfelkerne wieder aus der Kehle bekam", flüsterte Hawke erschrocken. "Und dann waren wir gemeinsam bei meinen Freunden essen." Michael nickte zu Allem. "Haben sie einen Moment Zeit?" fragte Hawke dann. "Wir können in mein Büro gehen und alles noch einmal durchsprechen... einschließlich des verschwundenen Briefes." "Ich stehe zu ihrer Verfügung", antwortete Michael und folgte dem Pathologen dann in das HQ und durch die Gänge bis in ein Souterrain-Büro, das sein Tageslicht durch schmale Fenster knapp unter der Decke erhielt. Hawke und Michael stellten während ihres Gespräches fest, daß sie ganz offensichtlich den Traum von Berresh geteilt hatten, denn der Pathologe hatte dasselbe erlebt wie Michael, nur eben aus seiner Perspektive. Bei Hawke hatte es damit begonnen, daß er einen Granatapfel aus dem Gewandbausch zog, einen Teil der Schale abzog und anfing, die Frucht zu essen - bis er sich an ein paar Kernen böse verschluckte. Und auch sein Traum endete während des Gastmahles, allerdings bevor Hamarem mit seinen Provokationen begann. Hawke war von einem Anruf, der ihn zum Fundort der Frauenleiche rief, geweckt worden. Michael versuchte, sich den genauen Wortlaut des verlorenen Schreibens ins Gedächtnis zurückzurufen. "Sie vertraute dem Druiden, deswegen wurde sie von ihrem sogenannten Verbündeten in einem heidnischen Ritus geopfert... ach, der Schreiber nannte die Frau 'die Griechin'... denke immer daran, wenn du deine Seite wählst... und noch irgendwas von Welt retten, oder so." Noch während er sprach, fiel Michael ein, daß er selbst - den Worten des Schreibens nach - gar keine Wahlmöglichkeit hatte, sondern ermahnt worden war zu bedenken, daß die Wahl einer Seite für ihn eine moralische Verpflichtung sei. Doch das behielt er für sich und sah schweigend zu, wie Hawke die aus dem Gedächtnis rekonstruierte Botschaft niederschrieb. "Und sie ist mir gestern morgen im Zug erschienen", setzte Michael noch hinzu, als Hawke den Stift beiseite legen wollte, "die Griechin meine ich - Maria Theodorou -, aber sie nannte sich sofia kai fronesis, Weisheit und Vernunft." Hawke zitierte flüsternd irgendeinen arabischen Spruch, von dem Michael nur verstand, daß es um Engel und sprechende Tote ging. Als der Pathologe Michaels neugierigen Gesichtsausdruck sah, erklärte er: "Meine Großmutter hat mich gestern abend das erste Mal seit... ach ich weiß nicht wie vielen Jahren angerufen und zitierte mir diese Sure. Sie sagte, sie hätte davon geträumt, daß ich in tödlicher Gefahr schwebe, mich aber ein Engel retten würde, wenn ich die Prüfung meines Glaubens bestehe. Vielleicht bezog sie sich damit ja sogar auf meinen Traum, immerhin tragen sie den Namen eines Engels und sind noch dazu, wenn ich mich recht erinnere, Sohn eines Gabriel." Michael nickte. Die Frage, ob die Toten auch zu dem Pathologen gesprochen hatten, konnte Michael allerdings nicht loswerden, denn in dem Moment ging die verglaste Bürotür auf und ein Mann in einem braunfleckigen weißen Kittel kam herein, in der Hand ein Klemmbrett voller Notizen. Er warf Michael nur einen kurzen Blick zu und kam dann gleich zur Sache. "Die Glasscherben aus dem Haar der Toten sind sicher Fensterglas - auch die Splitter, die wir in den Schnittwunden an Armen und Beinen gefunden haben. Jetzt müssen wir nur noch das dazugehörige Fenster finden. Und sehr weit kann es vom Tatort nicht entfernt sein, der Frische der Schnitte nach zu urteilen." Hawke nahm das Klemmbrett entgegen und warf einen Blick auf die Papiere, nickte dann. "Ich werde seiner Lordschaft Bescheid sagen. Vielleicht findet man ja einen Glaser, der ein Fenster in Tatortnähe ersetzt hat." Er griff nach dem Telefonhörer, warf dabei Michael einen entschuldigenden Blick zu. "Es tut mir leid, daß wir unser Gespräch nicht fortsetzen können. Aber vielleicht können wir uns ja heute abend... ach nein, heute ist ja die Engelsnacht. Vielleicht sehe ich sie ja bei ihrem Namenspatron." Und er wählte eine dreistellige Nummer, meldete sich gleich mit "Hawke." Michael verabschiedene sich stumm und verließ Büro und Police-HQ. * Als Michael den Freesthingh erreichte, hatte er noch eine halbe Stunde Zeit, bis die Rubrik Jenseitige Gewalten begann. Also entschied er sich, noch einmal das Museum zu erkunden. Diesmal würdigte er den gipsernen Antinoos kaum eines Blickes, denn mit einem jungen Mann aus Fleisch und Blut konnte der es bei aller Schönheit nicht aufnehmen. Ein Blick auf den aushängenden Plan des Museums zeigte ihm, daß unter der Grotta im ehemaligen Weinkeller des Schlosses nicht nur die Schatzkammer untergebracht war, sondern auch die Reste der Glasfenster aus St.Michael ausgestellt wurden. Die Glasfenster waren jedoch eine Enttäuschung. Vom neutestamentlichen Bildzyklus waren nur noch wenige Reste, nämlich Szenen aus dem Totenreich, zu sehen, alles andere war kaum mehr als eine Ansammlung farbiger Glassplitter. Vom alttestamentlichen Zyklus war noch ein halbes Fenster von der Beseelung des Menschen und größere Teile der Versuchung Evas vorhanden, doch diese Teile waren - obwohl deutlich wurde, daß der gleiche Künstler sie entworfen hatte - lange nicht so eindrucksvoll wie der Engel mit dem Flammenschwert. Neben den an den Wänden aufgestellten und von hinten beleuchteten Resten der Kirchenfenster wurden auch die Entwurfzeichnungen von Kamm und Miserone ausgestellt, sowie die Kartons, die als Vorlage für die Anfertigung der Fenster durch die Glashütte gedient hatten. Aber die brilliant leuchtenden Farben der Fenster waren selbst als Fragmente noch interessanter als die vergilbten Kartons. Michael ging also in die Schatzkammer, um sich dort das silberne Tafelgeschirr der Merburger Häuptlinge anzusehen. Dort lag auch die Münzsammlung derselben Häuplinge und Teile des St.Michael-Kirchenschatzes: eine ganze Reihe von romanischen und gotischen Kelchen und Patenen, sowie die edelsteingeschmückten Einbände der im Handschriftensaal ausgestellten Bücher. Und dann war da noch eine Vitrine mit antikem Schmuck, angekauft aus dem Besitz der kunstsinnigen Herzöge der Nordmark durch einen Förderverein des Historischen Museums und seit etwa 1900 regelmäßig durch weitere Ankäufe und Spenden ergänzt. Da hingen nun filigrane Ohrgeschmeide aus Gold; Ketten, die aus kleinen goldenen Amphoren zusammengesetzt schienen; ein Diadem wie aus Lorbeerlaub, dessen elastisch befestigten goldenen Blättchen wippten, wenn ein Besucher die Holzdielen durch Gewichtsverlagerung in Schwingungen brachte. Und dann lagen da noch eine Reihe von antiken Siegelringen, einige mit einem Gipsabdruck der in Gold oder Silber gefaßten Gemme daneben. Ein Ring mit einem dunkelgrünen Stein zog Michaels Blick magisch an. Es war - ganz ohne jeden Zweifel - genau der Ring, den er in jener anderen Wirklichkeit in seinem Schreibtisch gefunden hatte; der Ring, den ihm im Traum Nefuts Vater geschenkt hatte; der Ring seines Großvaters mit dem auffliegenden Pegasus. 'Sog. Ring des Polykrates', stand auf dem Täfelchen in der Vitrine. 'Griechisch, um 400 v.u.Z., grüner Granat in Goldfassung. Angeblich 1883 im Magen eines vor Merburg gefangenen Fisches gefunden. Geschenk eines Privatsammlers 1948.' Da lag also sein Ring - als Geschenk eines ungenannten Privatsammlers - in einer Museumsvitrine. Und Michael war sicher, daß es keiner seiner Altvorderen gewesen war, der dem Merburger Museum diesen Ring geschenkt hatte. Irgendjemand hatte also zu Unrecht Zugang zu diesem Schmuckstück gehabt... immerhin hatte er es nicht behalten. Durch die Ausstellung wußte Michael nun, daß der Ring tatsächlich existierte, und vielleicht ergab sich irgendwie die Chance, daß er sich in seinen Besitz brachte. Michael schlich um die Vitrine wie eine gierige Katze um ein Aquarium. Eine Möglichkeit war, die Scheibe, die sicher mit einer Alarmanlage gesichert war, einzuschlagen. Der Zugang zur Schatzkammer wurde allerdings durch eine zur Zeit offenstehende Tresortür gesichert, vermutlich waren die Wände rund herum ebenfalls aus Stahl hinter ihrer schwarzsamtenen Verkleidung und unter dem Holzfußboden. Wenn er einen Alarm auslöste, würde sicher diese Tür automatisch geschlossen werden, und er saß in der Falle. Und noch einmal umrundete er den Glaskasten, die goldenen Lorbeerblätter wippten. Eine Vitrinenscheibe war allerdings auch nichts anderes als eine Wand. Und er mußte ja nicht ganz hindurchgehen, es reichte ja schon, die Hand hindurchzustecken und den Ring zu nehmen. Neben dem leeren Ständer für ein Paar Ohrringe lag ein Kärtchen: 'Entnommen zur Restaurierung' mit einer unleserlichen Krakelunterschrift. Die konnte er ja einfach an die Stelle des Ringes legen, so würde das Fehlen des prominent austellten Schmuckstückes zunächst gar nicht auffallen. Und er war völlig allein hier unten im Keller. Jeden Schritt eines anderen Besuchers hätte er durch das Knarren des Holzbohlen-Fußbodens schon lange gehört. Auch Überwachungskameras konnte Michael an dieser Stelle der Schatzkammer keine entdecken. Er atmete tief ein, um sich zu sammeln, dann streckte er die Rechte aus, beschrieb die bekannte Schleifenlinie mit der Hand, flüsterte: "Tu dich auf", und ein gut handgroßes Loch tat sich auf in der Glasscheibe. Falls damit ein Alarm ausgelöst worden war, bemerkte Michael zumindest nichts davon. Er griff nach dem Kärtchen, legte es neben den durchsichtigen Plexiglasständer, auf dem der Ring ruhte, nahm seinen Ring in die Hand, zog den Arm zurück und die Glasscheibe verschloß sich, als sei sie nie offen gewesen. Erstaunlich warm war der Ring in seiner Hand. Für einen Moment war Michael versucht, ihn sich über den Finger zu streifen, aber das wäre wohl zu unvorsichtig gewesen, wollte er sein Eigentum behalten. Also ließ er ihn schweren Herzens in die Hosentasche gleiten. Er warf noch einen abschließenden kritischen Blick in die Vitrine, aber wirklich sah es durch das Schild an seiner neuen Stelle aus, als habe man den 'Ring des Polykrates' zur Restaurierung entnommen. Wenn er Glück hatte, war er schon wieder in Hohenheim, bevor man den Diebstahl bemerkte. Michael verließ rasch die Schatzkammer, ging, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf ins Erdgeschoß und weiter nach oben zur Gemäldesammlung im ersten Stock. Der erste Saal, die Decke prächtig mit Stuck geschmückt, die Wände mit handgemalten Tapeten bekleidet, der Parkettfußboden sternengemustert, beherbergte die Portraits der verschiedenen Häuptlinge, deren sterblichen Überresten Michael bereits in der Krypta von St.Michael begegnet war. Rasch ging er durch die Räume mit Renaissance- und Barock-Bildnissen der hier einstmals herrschenden Häuptlinge, der sechs Herzöge der Nordmark, die Merburg zu ihrem Herrschaftsgebiet zählen konnten, bemerkte sogar das von 1890 stammende Portrait des ersten britischen Protektoratsverwalters, seiner Gnaden des Herzogs von Lanchaster. Und dann kamen die Historienbilder aus dem 18. und 19.Jahrhundert. Im letzten Raum der enfilade, gerade gegenüber der Tür, hing ein riesiges Bild, ein antik und kostbar gewandeter Mann, mit überraschtem Gesicht über einen aufgeschnittenen Speisefisch auf einem Silberteller gebeugt, und im Gedärm des noch rohen Fisches blitzte es golden. 'Der Ring des Polykrates' von Eduard Pauli aus dem Jahre 1859. Der Hintergrund der Szene kam Michael sehr bekannt vor. Es war ein antikes Speisezimmer, die Wände reich bemalt mit Marmormuster und Girlanden, vor den Wänden breite Speisesofas, auf denen Gäste lagerten, die in unterschiedlichen Graden der Aufmerksamkeit - von Nachdenklichkeit bis zu freudiger Erregung - zu der von einem jugendlichen Diener gehaltenen Platte mit dem Fisch schauten. Und sogar der mosaikgeschmückte Fußboden zeigte das Teppichmuster und die verstreuten Blumen und Früchte, die Michael in seinem Traum von Berresh erstmals gesehen hatte. Auf der neben dem riesigen Bild angebrachten Tafel hieß es: 'Der samische Tyrann Polykrates (6.Jh.v.Chr.) war stets vom Glück begünstigt und fürchtete, dadurch den Neid der Götter zu erwecken. Also warf er, um sich Unglück zu verschaffen, sein kostbarstes Kleinod, einen goldenen Siegelring mit einem geschnittenen Smaragd, ins Meer. Es war letztlich ein Zeichen der Ungunst der Götter, daß sein Opfer unversehrt wieder zu ihm zurückkam, es ihm also nicht gelungen war, sein dauerndes Glück zu wandeln und die Eifersucht der Götter abzuwenden. Der damals 32-jährige Pauli schuf diese Illustration der von Herodot überlieferten Geschichte 1859/60 für den ersten Künstlersalon in Merburg und provozierte dadurch einen erheblichen Skandal, da er dem Samischen Monarchen das Antlitz des regierenden Herzogs Christian Peter zu Bannstedt verlieh. Auch die Männer im Hintergrund zeigen führenden Persönlichkeiten Merburgs der damaligen Zeit. Nach dem Regierungsantritt Christian Edwards 1868 wurde das Bild allerdings von der Stadt für den Speisesaal des Rathauses angekauft und hing dort bis zum verheerenden Brand des Rathauses, der 1948 durch einen Blitzschlag ausgelöst wurde.' Vielleicht hatte nicht der Pathologe seinen, sondern Michael den Traum des Pathologen geteilt. Als Merburger kannte Hawke dieses Bild sicher und vermutlich gab es deswegen eine solch auffällige Ähnlichkeit zwischen dieser vorgestellten Antike und der von ihm geträumten Welt. Hatte Hawke mit der Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Hannai und Berresh in jenem Traum vielleicht auch die Machtkämpfe in Merburg geschildert? Aber warum sollte das Michael etwas angehen? Er stammte doch aus Hohenheim und würde in einigen Tagen dorthin zurückkehren. Das Bild war so detailliert gemalt, daß Michael bei der müßigen Betrachtung plötzlich Einzelheiten des dargestellten Ringes ins Auge fielen: ein auffliegender Pegasus war in den Stein geschnitten. Der Ring in der Hosentasche schien ein Loch in Michaels Bein brennen zu wollen. Michael eilte weiter, durch zwei weitere vornehme Räume mit Bildern einheimischer Künstler und gelangte schließlich zur ehemaligen Dienstbotentreppe. An den Wänden dieses Treppenhauses waren auf jedem Absatz stark vergrößerte Fotos von Denkwürdigkeiten aus der Geschichte der Stadt aufgehängt. Und als Michael auf dem ersten Absatz den er beim Abstieg erreichte einen Moment innehielt, sah er auf 'Die Verleihung des 'order pour le merite' durch seine königliche Hoheit den Prince of Wales im Jahre 1948 an Merburger, die sich bei der Rettung der durch das Märzunwetter gefährdeten historischen Gebäude und Kunstschätze hervorgetan hatten'. Der Mann, der gerade vom britischen Thronfolger den Orden in einem Kästchen entgegennahm, war niemand anderes als der Tiarna-na-Sidhe, da bestand für Michael ebensowenig Zweifel wie über die Natur des Ringes in seiner Hosentasche. Er blieb wie angewurzelt vor dem Fotoplakat stehen. 'Das ist der Druide', fuhr ihm durch den Kopf, 'und Ginger ist sein Enkel.' Aber noch im gleichen Augenblick schüttelte er den Kopf über seine lebhafte Phantasie. Tatsächlich war eine vage Ähnlichkeit 'Oberons' mit Ginger festzustellen, obwohl der Mann auf dem Foto natürlich den Prinzen ansah und nicht in die Kamera blickte. 'Oberon' war 1948 wohl in seinen 40ern, daß hieß, nun - gut 20 Jahre später - mußte er an die 70, konnte demnach also durchaus Gingers Großvater Cedric O'Sullivan sein. Aber das war auch alles, was die plötzliche Eingebung stützte. Andererseits war die Balkontür in Gingers Schlafzimmer zerstört. Es war nicht unmöglich, eine Indizienkette zusammenzustellen, nach der Ginger zunächst die Griechin auf seine Lustwiese gelockt und Theodorou dann - als ihr klar wurde, daß sie nur Opferfleisch sein sollte - versucht hatte, durch die geschlossene Balkontür zu fliehen, ohne damit der ihr zugedachten Rolle zu entkommen. Und der den Druiden anklagende Brief war aus Michaels Jackentasche verschwunden, als er erschöpft in Gingers Gegenwart geschlafen hatte. Aber es widerstrebte Michael zutiefst, Ginger irgendwelcher finsteren Machenschaften zu verdächtigen. Das würde gar nicht zu dessen liebevollem und zärtlichem Wesen passen. David O'Sullivan war ein Sänger, kein Schlächter. Als Michael zu diesem beruhigenden Schluß gekommen war, hörte er das leise ping-ping-ping seiner Taschenuhr, deren Wecker er gestellt hatte, um wenigstens die Rubrik Jenseitige Gewalten nicht zu verpassen. * * * Kapitel 22: Der rebellische Engel --------------------------------- Der noch leere Vortragssaal lag im ersten Stock des Kongresszentrums. Die große Fensterfront bot einen Ausblick auf einen Teil des Schloßparks, die Türme von St.Michael und den grünen Erzengel auf dem Engelsturm vor dem dramatisch bunt bewölkten Himmel. Und vor den zum Teil tintenschwarzen Wolken segelten einige strahlend weiße Möwen. Gerade, als Michael sich einen Platz mit idealer Sichtachse zum Engelsturm ausgesucht hatte, kam Hiller mit einer Mappe unter dem Arm und einem Pappbecher heißen Kaffees herein. Er begrüßte Michael, fragte, wo er denn während der Vormittags-Rubrik gewesen sei und wie interessant der Vortrag 'Polytheismus versus Monotheismus' gewesen wäre. "Und dann breitete Paduani noch den Konflikt zwischen mündlich überlieferten Traditionen und kanonisiertem Schrifttum aus. Das hätte dich sicher interessiert, Mike. In deiner Brust wohnen doch auch zwei Seelen." Damit bezog Hiller sich möglicherweise auf die ganz verschiedenen theologischen Konzepte, mit denen Michael seine ebenso verschiedenen erdachten Welten ausgestattet hatte. Allerdings hatte er sich trotzdem nie jenseits der rein intellektuellen, gewissermaßen meta-religiösen Ebene mit Fragen des Glaubens beschäftigt. Die Ausübung des Kultus war für Michael nur eine von vielen Äußerungen traditioneller Kultur und stand damit auf gleicher Stufe wie Tischsitten oder Konventionen der Bekleidung. Er nahm alles hin, sah sich jedoch nicht verpflichtet, selbst irgendetwas zu 'glauben'. Michael machte den Mund auf um Hiller zu widersprechen, aber er schloß ihn wieder. Ein Streitgespräch über Glaube war nichts, was man übers Knie brechen konnte und in wenigen Minuten würde der Vortrag von Jules de la Tour über Krafischer beginnen. Danach ging es nahtlos weiter mit 'Elementargeister, Naturgewalten, Schatten und Dämonen in den Gedichten des Münchner Kreises' von Magdalena Rieser und zum Abschluß gab es Hillers 'Der Artus-Mythos in der Romantik - die keltischen Wurzeln und die christliche Verbrämung'. Irgendwann würde sich während der verbleibenden anderthalb Tage des Kongresses noch die Gelegenheit zur Diskussion über potentiell brisante Themen bieten. Kurz nach Hiller waren die beiden anderen Vortragenden hereingekommen und auch das Auditorium füllte sich. Zwei Hilfskräfte des Kongresszentrums erklärten de la Tour, wie das Tonbandgerät zu bedienen sei und wenig später begann der von Tonbeispielen begleitete Vortrag über den 'Engel mit dem Schwert'. Michael mußte anerkennen, daß Hiller recht gehabt hatte. Der 'himmlische Gesang' - der Oratoriumsauftakt in St.Michael - das Lob des Ewigen durch seine Engel und die Aussendung des Erzengels Michael, Merburg zum Christentum zu führen, waren wirklich sehr beeindruckend. Allerdings bewegte Michael die Musik des polnischen Komponisten mehr, als der Text Krafischers zu dieser Auftragsarbeit der Merburger Stadtväter. Er hatte wirklich etwas von Spärenklängen, dieser a capella-Gesang des Engelschores. Michael schloß die Augen und stellte sich die Aufführung vor, das Innere der Michaelis-Kirche, die Sänger in bodenlangen, weißen Gewändern, anstelle von Armen leuchtende, weiße Schwanenflügel, wie anbetende Arme erhoben. Und der Solist war Ginger, nur daß seine Haare, wie die der anderen Engel, nun schulterlang waren. Und plötzlich merkte Michael, daß er die Hand in die Hosentasche gesteckt hatte und mit dem - mit seinem - Ring spielte. Obwohl er ihn nun schon eine Weile so nah am Körper trug fühlte er sich kalt wie Eis an. Die Musikaufnahme endete und Michael öffnete die Augen, sah hinaus aus dem Fenster auf die sich nähernde Gewitterfront. Der von der Sonne noch angestrahlte grüne Engel leuchtete vor dem dunkel gewordenen Himmel. Er schien hinüberzuwinken zum Freesthingh. De la Tour faßte zum Abschluß seines Vortrages noch einmal seine Darstellung zusammen und stellte eine provokante These in den Raum. Doch Michaels Gedanken schweiften wieder ab, zu dem bronzenen Engel auf dem Engelsturm und zu Ginger in seinem Engelskostüm, zu Ginger ohne Bekleidung, schlafend zwischen seinen schwarzen Laken liegend, schön wie die Personifizierung der Verführung. Hiller moderierte die Diskussion und kündigte dann Riesers Vortrag an. Michael machte nicht die kleinste Anstrengung, dem stark niederbayerisch eingefärbten Englisch der Vortragenden zu folgen. Er fuhr mit dem Mittelfinger in den Ring, drehte ihn mit dem Daumen um die Fingerspitze, immer herum und herum, spürte das kalte Metall, den eisigkalten Stein, hatte noch den Klang des Engelschores im Ohr und dachte an Ginger. Er würde nach Hillers Vortrag zu ihm gehen, notfalls in seiner Wohnung im Hotel auf ihn warten. Soweit er wußte, ging Ginger keiner ernsthaften Beschäftigung nach. Er hatte also allen Grund zu hoffen, den jungen Mann tatsächlich anzutreffen. Jeder Herzschlag ließ ihn erzittern wie Donner - und sein Herz raste vor Begehren. Er konnte fast fühlen, wie Ginger ihn mit seinen Engelsflügeln umfing und der Ring wurde noch kälter - oder er hatte begonnen, zu glühen und verbrannte seine Finger. Michael genoß den Schmerz. "Eine eigenartige Interpretation, nicht wahr?" flüsterte jemand dicht hinter Michael. Michael schrak auf, erkannte Ashmodys Stimme, aber konnte keinen Sinn in dieser Bemerkung erkennen. "Was?" flüsterte er zurück. Ashmody beugte sich noch weiter nach vorne, ihr Kopf war nun nahe neben dem seinen, so dicht, daß ihre langen Locken seine Wange berührten. "Riesers Deutung der Elementargeister und Dämonen", antwortete sie fast unhörbar leise, doch der Hauch ihres Atems streifte sein Ohr, fegte das Bild des geflügelten Ginger davon. Nun umfingen ihn bronzefarbene Flügel, und eine dunkelhäutige Hand ruhte einen Moment auf seiner Schulter. Der Ring an seinem Finger pochte schmerzhaft und Michael zog die Hand aus der Hosentasche, ließ den Ring darin zurück. De la Tour moderierte die Diskussion im Anschluß an Riesers Vortrag und überließ Hiller dann das Rednerpult, und Michael war sich mit beunruhigender Intensität Ashmodys Gegenwart in seinem Rücken bewußt. Es war, als würde ein Feuer hinter ihm brennen, ihn wärmen aber auch mit Zerstörung bedrohen. Wann war nur endlich Hiller damit fertig, über die Dame vom See und den Heiligen Gral zu reden? Er schaute über die Schulter, sein Blick traf für einen Moment den Ashmodys, und das war wie Balsam für seine gepeinigten Sinne. Es war ihr wortloses Versprechen, alle seine Wünsche zu erfüllen, ihm seine Ruhe wiederzugeben. Und als er hinausschaute, sah er, daß nun draußen die Ruhe dahin war. Heftige Windböen beugten die Bäume des Schloßparks, fegten durch die Büsche und ein Blitz erhellte für einen Moment den schwarz gewordenen Himmel. Wenig später knallte der dazugehörige Donner. Die Möwen waren verschwunden. Hiller machte eine Bemerkung und die Zuhörer lachten. Michael war der Scherz jedoch entgangen, er starrte nur hinaus zum hellgrünen Engel, der anscheinend begann, sein Schwert zu heben, und plötzlich öffnete der Himmel seine Schleusen, der Regen brach los. Wieder fühlte Michael den Ring zwischen seinen Fingern, körperwarmes Metall und etwas kühlerer Stein - ein ganz normaler Ring wie es schien. "Ich wünschte, die Zeit stünde still", sagte er leise, während er beobachtete, wie der Engel auf dem Engelsturm das Schwert in die Scheide gleiten ließ und probeweise die Flügel bewegte. "So geht das nicht", belehrte Ashmody ihn, hatte sich wieder nach vorne gebeugt, sah Michael von der Seite an. "Der Ring muß dazu am Finger sitzen. Dann bist du in der Lage, die Zeit zu manipulieren." Michael nahm Ashmody beim Wort, steckte den Ringfinger in den Goldreif, schob ihn mit dem Daumen nach oben - alles, ohne die Hand aus der Hosentasche zu nehmen. Und der Engel hielt mit seinen Aufbruchsbestrebungen inne, erstarrte wieder fast zu seiner vorherigen Haltung. Und als Michael sich - weil plötzlich außer dem pladdernden Regen auch die Stimme Hillers verstummt war - in Richtung Rednerpult drehte, um zu sehen was passiert war, bemerkte er, daß außer Hiller auch das Publikum erstarrt war, einige mit dem Stift über dem Notizblock, andere den Vortragenden ansehend oder den Platznachbarn. Ashmody aber stand auf und setzte sich auf den freien Platz neben Michael. "Nun steht die Zeit still, Michael." Michael durchfuhr es heiß und kalt unter Ashmodys stechendem Blick. Er zog seine nun beringte Rechte aus der Hosentasche, senkte verlegen den Blick und sah, daß der grüne Stein wie von innen heraus leuchtete. "Die Macht eines Engels ist darin eingeschlossen", sagte Ashmody und deutete mit einem Finger in Richtung des Ringes, hielt jedoch auffälligen Abstand von dem grünen Stein. Und Michael bemerkte zum ersten Mal, daß sie an ihrer Rechten einen ähnlichen Siegelring trug, mit einem tiefroten Stein. Ein Greif war in diesen Stein eingeschnitten. Michael streckte neugierig die Hand aus, um nach Ashmodys großer Hand zu greifen, sich ihren Ring genauer anzusehen, aber sie zog ihre Hand aus seiner Reichweite. "Nutze die Macht deines Ringes, Michael." Sie stand auf, breitete die Arme aus und befiederten sich mit bronzefarbenen Flügeln. Das knielange, orangene Seidenkleid, das ihren Körper umflatterte, verblaßte. "Folge mir", sagte Ashmody und die Stimme war wie Gesang, brachte Michaels Inneres zum Schwingen, weckte Erinnerungen an diesen Körper wie aus glühendem Metall und er spürte, wie das Feuer in seinen Adern erwachte. Ashmody sprang durch die geschlossene Fensterfront ohne das Glas zu zerstören und flog durch die in der Luft schwebenden Regentropfen in Richtung Michaelis-Kirche. Michael breitete seine Schwingen aus und folgte Ashmody. Etwas außer Atem schloß er noch vor dem Engelsturm auf, und sie ließen sich auf dem toten Drachen zu Füßen des Erzengels nieder, Michael links, Ashmody rechts von der Bronzefigur. Die während des Fluges aufgefangenen Regentropfen perlten von Ashmodys Schwingen, als sie nach einem leichten Zittern um den Körper zusammengelegt wurden. Michael dagegen breitete seine Schwingen aus, um auf dem Schwanz des Drachen nicht den Halt zu verlieren. Der Engelsturm war erschreckend hoch. Doch nach wenigen Augenblicken bemerkte Michael, daß er sich anscheinend auf seinen Gleichgewichtssinn blind verlassen konnte und er betrachtete den überlebensgroßen Bronzeengel aus der Nähe. Er hatte das Schwert in die Scheide gesteckt, hatte beide Hände in die Hüften gestemmt, sah hinunter auf den Drachen zu seinen Füßen, mit einem nachdenklich-ernsten Ausdruck in seinem jungen Gesicht. "Er ist eine Art Insekt", sang Michael Ashmody zu, als ihm plötzlich bewußt wurde, daß der gerüstete Bronzeengel sechs Gliedmaßen hatte. Ashmody tänzelte bis auf die äußerste Spitze des Drachenschädels und lachte Michael an. "Er ist eine Skulpur, ein Ding", war die gesungene Antwort. "Er hat sich bewegt, weil ich es wollte." Ashmody hüpfte leichtfüßig um den Bronzeengel herum, stellte sich vor Michael, umfing ihn mit dunklen Schwingen, war so nahe, daß das Licht von Michaels Flügeln Ashmodys Gesicht erhellte. "Erinnerst du dich nun endlich?" Michael wich ein wenig von Ashmody zurück. "Woran soll ich mich erinnern?" fragte er, benutzte bewußt die Sprache der Menschen. Die Gegenwart Ashmodys war so furchterregend vertraut, und der Singsang der Stimme rief ihm andere Gesänge in Erinnerung. "Du warst vor Seinem Angesicht", sagte Ashmody und die Worte der Menschensprache klangen unbeholfen aus dem Mund des geflügelten Wesens. Es folgte eine singende Wiederholung und die weckte Erinnerungen in Michael, die ihn bewegten, sich an Ashmody zu schmiegen, um wieder ein wenig jener vertrauten Nähe zu spüren, die er so lange vermissen mußte. Ashmody küßte ihn, rieb den Körper begehrlich an seinem, wandte sich dann plötzlich von ihm ab, stieg auf und lockte ihn, wieder zu folgen. Und er folgte Ashmody, durch die wie Nebel in der Luft hängenden Regentropfen, im Flug über die Stadt, hin zum Leuchtturm. Dort wurden sie eins, bis Michael vor Erschöpfung an Ashmodys Brust einschlief, umfangen von dunklen Schwingen. * "Aufwachen", sagte jemand leise und stupste ihn an die Schulter. Michael schrak auf und sah in Hillers Gesicht. "War mein Vortrag so langweilig, Mike?" fragte er grinsend. "Oder bist du erst bei Jourdans Diskussionsbeitrag eingeschlafen? In dem Falle wärst du entschuldigt." Hiller stützte sich mit einer Hand auf die Rückenlehne eines Stuhles der nächsten Reihe, sah kopfschüttelnd auf Michael hinunter, dann grinste er wieder. Michael war von seinem merkwürdigen Traum etwas desorientiert, sah hinaus aus dem Fenster. Der Himmel war mäßig bewölkt, aber die Sonne schien. Von einem Umwetter oder auch nur von Regen war nichts zu merken. Und der Engel auf dem Engelsturm stand da wie immer, mit nach unten gerichtetem blanken Schwert, herausfordernd nach Süd-Osten blickend, hin zum Freesthingh. Hiller mußte sich auf Titus Jourdan bezogen haben, der dafür berüchtigt war, ohne Punkt und Komma reden zu können und so der Schecken aller Vortragenden war, wenn er in einer Diskussion das Wort ergriff und unerwünschte Koreferate hielt. Bis auf einen Angestellten des Kongresszentrums, der das Tonbandgerät demontierte, waren Hiller und Michael allein. Für heute waren die Vorträge beendet. "Tut mir leid, ich habe zum Teil wohl auch deinen Vortrag verschlafen. Aber wenn es dich tröstet, er hat mir zu süßen Träumen verholfen." Hillers Grinsen wurde womöglich noch breiter. "Na, dann laß uns gehen und 'ne Kleinigkeit essen." Hiller ging zwischen den Stühlen hindurch zur ersten Reihe, wo seine Mappe lag und folgte dann Michael, der schon zum Ausgang des Vortragssaales ging. Erst auf dem Weg durch den Schloßpark merkte Michael, daß er einen kleinen schweren Gegenstand in der rechten Hosentasche hatte und als er in die Tasche griff, fühlte er den Ring. Den Diebstahl dieses Kleinods hatte er offenbar nicht geträumt. Der Versuchung, ihn über den Ringfinger zu streifen, widerstand er mühsam. "Ich finde ja, daß Riesers Argumentation ein bißchen hergeholt wirkte", begann Hiller nach einigen Minuten schweigenden Gehens. "Ich kann nicht recht nachvollziehen, wieso alle Mitglieder des Münchner Kreises aufrechte Christen gewesen sein sollen, trotz ihrer pantheistischen Werke und Kulthandlungen." Da war Hiller also wieder beim Thema Glauben gelandet. "Ist das nicht eigentlich dasselbe? Ob man nun die Naturgeister als einem Höchsten untergeordnet ansieht oder als von ihm geschaffen ist doch..." Michael unterbrach sich, als ihm plötzlich der Gedanke kam, daß es doch nicht dasselbe war, abhängiges Geschöpf des Gottes oder unabhängiges Wesen zu sein, das sich - vielleicht nur zeitweilig - dem Willen eines anderen unterwarf. Die Engel wurden im Gebet angerufen, aber stets gab es die Mahnung, sie nicht anzubeten. Anbetung stand nur dem Ewigen zu. Man fürchtete wohl, sie durch die Anbetung als Götter anzuerkennen und so den erklärten monotheistischen Charakter der Religion zu erschüttern. Michael blickte auf seine Schuhe und den trockenen Sandweg, auf den sie traten. De la Tour hatte in einem Exkurs dargestellt, daß nach der gängigen Ansicht ein Engel, der seinen eigenen Willen durchsetzte, ein Dämon war. War er das aber wirklich, wenn er doch nur den Willen des Höchsten vollstreckte? "Warum so still, Mike? Sonst bist du doch immer gut für einen Streit über Religion." Michael sah auf. "Vielleicht sind es ja auch zwei grundverschiedene Konzepte, die im Kampf miteinander liegen... aber wie kann der Mensch überhaupt sichere Erkenntnis über Gegenstände jenseits seines Erfahrungshorizontes gewinnen, wenn doch immer das Bekannte unsere Wahrnehmung bestimmt? Wie kann er Gewißheit über die göttliche Sphäre erlangen? Wir sind doch immer gefangen in unserer Vorstellung... unserer Phantasie, unserem 'Glauben'. Gibt es einen Gott, gibt es viele? Hat der Mensch sich vielleicht alles ausgedacht oder hat er existente Kräfte nur mit Namen versehen, in für ihn vorstellbare Konzepte geordnet?" Im rotbraunen Sand des Weges steckten auch einige Steinchen. "Du glaubst also, daß tatsächliche Erkenntnis für den Menschen nicht möglich ist?" fragte Hiller nun. Michael lächelte über diese Fangfrage, sah kurz zu Hiller auf. "Ich glaube nicht, ich zweifle", antwortete er dann. "Und was ist mit Visionen und Offenbarungen - wie mit der Engelserscheinung hier in Merburg?" "Einbildung", behauptete Michael schnell, "zumindest aber Interpretation anhand des Bekannten oder als möglich Vorstellbaren." Großvater Dumeloille hatte behauptet, Ha'adon hätte ihm das Leben durch Michael Drake den Älteren gerettet, doch war dieser Herr der Ewige, Zeus oder Taranis, oder vielleicht eine ganze Schar von Göttern? Und wie sollte ein Mensch darüber Erkenntnis erlangen? Und nach einigen weiteren Metern begann Michael wieder: "Und selbst wenn es die Götter gibt und die Visionen echt waren, wer sagt denn, daß die Götter nicht lügen, wenn sie sich uns vorstellen?" Auch Athena hatte nur behauptet, sie sei die Göttin und es gäbe den Göttervater Zeus, doch halt, das hatte er sich nur ausgedacht! Zunehmend schienen ihm Phantasie und Wirklichkeit schwer auseinanderzuhalten... irgendwie hatte er die Bindung an die Realität, die er früher als so selbstverständlich angesehen hatte, verloren. Es hatte damit begonnen, daß er sich ernsthaft wünschte, die Phantasie möge für ihn real sein. Nun war die Realität für ihn phantastisch geworden. War das objektiv so oder wurde er nur einfach irre? Jetzt meinte Michael, selbst das Unheil zu ahnen, von dem Cassandra gesprochen hatte. "Wieso bist du so finsterer Stimmung? Schau dich um: das Wetter ist fast perfekt, im Hotelrestaurant gibt es hervorragendes Essen, heute abend gibt es ein wunderbares Konzert in St.Michael, und morgen gibt es nach dem Mysterienspiel die Rubrik Heilige und Sünder mit einem Vortrag über Sinnlichkeit und Begierde. Also für mich reicht das, um mich in die beste Stimmung zu versetzen." Hiller schlug Michael - wohl in der Absicht, ihn aufzumuntern - auf die Schulter. Michael stöhnte leise über den unerwarteten Schmerz, denn Hiller hatte eine strapazierte Muskelregion erwischt. Auch wenn er von dem Flug nur geträumt hatte, war der Muskelkater überaus real. * * * Kapitel 23: Die Masken fallen ----------------------------- Als sie das Hotel erreicht hatten gab Hiller endlich seine Aufmunterungsversuche auf. Michael ging geradewegs zur Rezeption und erkundigte sich, ob er Post erhalten hatte. Ein Umschlag mit dem Hotelschriftzug wurde ihm überreicht. Michael ignorierte, daß Hiller neugierig an seiner Seite stand und öffnete den Umschlag. "Wir sind zum Tee verabredet", stand dort nur. "Was ist denn das für eine Sprache?" fragte Hiller und deutete auf den Text. Diesmal hatte Michael gar nicht bewußt wahrgenommen, daß es die verschlungene Linie war, die sich erst auf den zweiten Blick zu einem Satz ordnete - aber offenbar nicht für Hiller. "Hebräische Schreibschrift", behauptet Michael einfach, denn er wußte, daß Hiller kein Hebräisch beherrschte. "Ashmody erinnert mich an eine Verabredung. Ich fürchte, du mußt allein essen, Max." Hiller wünschte Michael einen netten Nachmittag und verschwand im Restaurant. Doch Michael kam nicht weit. Anwar Hawke und ein unbekannter Mann kamen zwischen Rezeption und Hinterausgang auf ihn zu. Hawke begrüßte Michael als Professor Drake und stellte ihn und den Fremden einander vor. Bei dem etwa fünfzigjährigen, schlanken Mann handelte es sich um Sir George Harper, Lord Starling of Cumberland, den obersten Untersuchungsbeamten der Protektoratspolizei, der höchstpersönlich die Untersuchung des Mordes an Maria Theodorou leitete. Die drei Männer ließen sich in einer ruhigen Ecke des Foyers in den dort stehenden Sesseln nieder, und seine Lordschaft erklärte kurz, wieso er Michael sprechen wollte: "Wir haben unter den Papieren im Hotelzimmer der Toten einen Taschenkalender gefunden, in dem sie ein Treffen mit ihnen vorgemerkt hatte, für...", seine Lordschaft überlegte eine Sekunde, "...den 16., also gestern. In ihrer Bemerkung dazu stand: 'unbedingt vor D. warnen'. Haben sie eine Idee, wer 'D.' sein könnte?" Michael runzelte die Stirn, um sich den Anschein angestrengten Nachdenkens zu geben. Der Geist der Griechin hatte ihn vor dem Dämon, nein, genauer dem 'Daimon' gewarnt, die Briefe warnten vor dem Druiden und dann gab es ja noch den Dämon, von dem der Tiarna-na-Sidhe gesprochen hatte. Oder hatte sie Danielle Ashmody gemeint, David O'Sullivan? "Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich kannte Frau Theodorou nicht einmal persönlich, obwohl wir an der selben Universität lehren... lehrten." "Sie sagten mir doch heute morgen, sie wäre ihnen gestern im Zug erschienen", erinnerte Hawke Michael plötzlich. Damit erntete er konsternierte Blicke von seiner Lordschaft und von Michael, aber Hawke bestand darauf. "Sie sagten mir ausdrücklich, die Griechin sei ihnen erschienen und habe sich 'Weisheit und Vernunft' genannt." Michael verwünschte sein loses Mundwerk. "Ich habe auf der Zugfahrt hierher irgendetwas geträumt und dann, als ich gestern abend das Bild der Toten in der Zeitung sah, dachte ich, das müsse sie gewesen sein. Aber ich bin mir dessen keineswegs mehr sicher", versuchte er, sich herauszureden. "Eine Geistererscheinung?" fragte seine Lordschaft skeptisch. "Das ist ja nun kaum etwas Verwertbares." Michael wollte schon aufatmen, aber da fuhr seine Lordschaft fort: "Aber sie haben doch wohl ein Gespräch geführt, mit dem 'Geist', wenn sie sich vorgestellt hat. Was sagte sie denn noch?" Michael bekam einen ganz trockenen Mund und der gestohlene Ring in seiner Hosentasche wurde kalt. Er hatte den genauen Wortlaut noch im Ohr, aber was ging das die Polizei an? "Sagen sie schon, was sie wissen, Professor", redete ihm seine Lordschaft gut zu. "Es könnte uns helfen, den Mörder zu finden." Hatte Hawke seinem Vorgesetzten schon mitgeteilt, was Michael ihm über den Inhalt des verschwundenen Briefes gesagt hatte? Er wünschte sich, ebenso wie Ashmody die Gedanken seiner Gegenüber lesen zu können, steckte die Rechte in die Hosentasche, spielte mit dem eisigkalten Ring, zog die Hand wieder aus der Tasche. "Sie sagte: Sie begeben sich in Gefahr und sie werden Verbündete brauchen im Kampf gegen den Daimon." "Was für einen Daimon meinte sie? Den Daimon 'Eros' wie in Sokrates' Rede?" fragte seine Lordschaft. "Was für eine Rede des Sokrates?" fragte Michael nun wieder, völlig überrascht über die Deutung von 'Daimon'. "Es wurde eine griechische Ausgabe des Symposions von Plato unter den Besitztümern der Toten gefunden und gerade in der Rede des Sokrates gibt es an den Stellen Anstreichungen und Randbemerkungen von der Hand der Toten, wo die Natur des 'Eros' als Daimon hervorgehoben wird", erklärte Hawke. "Sie hat sie also vor einem Daimon gewarnt, das könnte das 'D.' bedeuten - oder aber es steht für 'Druide' wie der Brief vermuten läßt, von dem sie dem Coroner erzählt haben, Professor", folgerte seine Lordschaft und notierte sich etwas mit einem goldenen Drehbleistift in einem kleinen Block, der in eine silberne Halterung geklemmt war. Den 'Daimon' als 'Eros' zu deuten, gab natürlich dem Angebot, im Kampf 'Weisheit und Vernunft' als Verbündete zu wählen, einen echten Sinn. Gerade diese beiden... Tugenden wurden durch den Eros ja zumeist ausgeschaltet. Michael empfand bisher unbekanntes Unbehagen über seine körperliche Sehnsucht nach Ginger. Vor dem Begehren, das Ashmody bei jeder Begegnung in ihm entzündete, mußte ihn kein Gespenst warnen. Mit Sicherheit war sie der Dämon, von dem der Tiarna-na-Sidhe gesprochen hatte, denn ihre dämonische Natur verbreitete sie um sich, wie ein reichlich aufgetragenes Parfum. Doch Ginger konnte nicht der Druide sein... durfte es nicht sein. Michael hielt den Kopf gesenkt und hoffte, daß die in ihm widerstreitenden Gefühle nicht an seiner Miene ablesbar waren. Er bemühte sich um Ruhe, sah auf, gerade in Hawkes Gesicht. Der junge Arzt mit den goldenen Augen im dunkelhäutigen Gesicht erwiederte Michaels Blick mit einem völlig undeutbaren Ausdruck. Für einen kurzen Moment hatte Michael den Eindruck, einem verwandten Geist gegenüberzusitzen, der sich, ebenso wie er selbst, vor die Entscheidung zwischen Dämon und Druide gestellt sah. Doch dieser Moment verging. Michael stand auf. "Wenn sie keine weiteren Fragen an mich haben, würde ich mich jetzt gerne entschuldigen, denn ich habe eine Verabredung", sagte er zu seiner Lordschaft und verneigte sich knapp. Und an Anwar Hawke gewand fügte er noch hinzu: "Wir sehen uns ja wohl heute abend bei der Aufführung in St.Michael." Und er ging, ohne einen Blick zurückzuwerfen, zum Hinterausgang des O'Sullivan'S, um Ashmodys Einladung nachzukommen. In dem düsteren Gang, kurz vor der äußeren Glastür, die hinaus zur Promenade führte, stellte Ginger sich Michael in den Weg, schob ihn freundlich lächelnd an die Wand und rückte ihm nahe auf den Pelz. "Du hast dich so sang- und klanglos aus dem Staub gemacht, heute morgen", sagte er mit einem leichten Schmollen. Jetzt duftete er nach frisch gemahlenem Kaffee. "Und was wollte die Polizei von dir?" Michael versuchte mit den Schultern zu zucken, was durch den geringen Raum, den Ginger ihm ließ und den Muskelkater erschwert wurde. "Ich habe keine Ahnung, was sie wirklich von mir wollen", behauptete Michael. "Ich hoffe doch, daß sie zur Kenntnis nehmen, daß ich zum Zeitpunkt des Todes der Griechin irgendwo zwischen Lahr und Bannstedt auf der Eisenbahn war." Ginger rückte, wenn möglich, noch näher, steckte seine Hände in Michaels weite Hosentaschen, ging ein wenig in die Knie um bis an ihren Grund zu reichen, küßte Michael flüchig auf die Lippen und zog mit einem triumphierenden "Aha!" den Ring aus Michaels rechter Tasche. "Habe ich mir doch gedacht, daß du ihn gefunden hast. Aber laß dich damit nicht von der Polizei erwischen." Er drückte dem verdutzten Michael den Siegelring wieder in die Hand. "Wie kannst du...", begann Michael, aber Ginger kraulte ihn mit einem so süßen Lächeln am Kinn, daß ihm die Worte in der Kehle steckenblieben. "Inzwischen sieht man dir deine Natur schon an, wenn man einen Blick dafür hat, mein Engel. Sieh zu, daß du dir deinen freien Willen bewahrst und dich nicht vom Dämon einwickeln läßt." Ginger küßte Michael noch einmal spielerisch auf die Wange, trat dann ein Stückchen zurück. Nun war er ernst geworden. "Ich bin der Überzeugung, daß du ein Anrecht auf Selbstständigkeit hast und ich werde auch dafür kämpfen." "Zusammen mit deinem Großvater", stellte Michael fest. Ginger nickte. "Zusammen mit meinem Großvater", bestätigte er Michaels Vermutung, "und für dich, Taranis." Ohne ein weiteres Wort drehte Ginger sich um und verschwand den Gang hinunter in Richtung Hotelfoyer. Gingers Nähe, seine Berührungen und Küsse hatten Michaels Blutdruck wieder hochschnellen lassen, und er fühlte sich in angenehmer Weise fiebrig. Der Ring war kühl und diesmal widerstand Michael nicht, ihn sich an den Ringfinger der Rechten zu stecken. Es war, als sei er dadurch plötzlich ganz geworden, ohne gewußt zu haben, daß ihm zuvor etwas gefehlt hatte. Er fühlte, wie das Feuer wieder durch seine Adern jagte, aber er gab dem Impuls, die Flügel wachsen zu lassen, nicht nach. Er ging zu Fuß zum Leuchturm des Dämons. * Als Michael die Bucht zu etwa einem Drittel umrundet hatte und zurück zum Hotel und der Burgruine schaute, sah er, daß noch immer ein Stück des Badestrandes unterhalb des Hotels abgesperrt war. Eine ganze Horde Polizisten war anscheinend damit beschäftigt, den Sand durchzusieben. Das mußte der Tatort sein. Michael suchte an der der Bucht zugewandten Fassade des O'Sullivan'S nach Gingers Schlafzimmer mit der zerstörten Balkontür, aber er konnte es nicht entdecken. Er setzte seinen Weg fort und endlich war der Leuchtturm näher als die ihm gegenüberstehende Burgruine. Aufgemauert aus roten und gelben Ziegeln, mit rundem Grundriß, sich nach oben leicht verjüngend, bis zu einer stählernen Galerie rund um das alte Leuchtfeuer, das sicher schon Jahrzehnte nicht mehr in Betrieb war. Dennoch stellte Michael Ähnlichkeiten zu seiner Vorstellung vom Wohnturm der Hannah von Tyros fest. Hatte er diese Vorstellung von Hannah und dem Astartetempel der phönikischen Stadt schon gehabt, bevor er Ashmody kennenlernte? Er konnte es nicht sagen. Danielle B.Ashmody hieß sie und Michael war sicher, daß B.Ashmody für bat Aschmodai stand und sie die Tochter eines Fürsten der Dämonen war. Eine Zugklingel war neben der Tür des Leuchtturms angebracht und schon kurz nachdem Michael sie betätigt hatte, wurde ihm geöffnet. Ashmody trug ein weites, buntbedrucktes Kleid, eine Art bodenlangen Kaftan, die Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten. "Schön, sie zu sehen", begrüßte sie Michael und gab ihm mit einer einladenden Handbewegung den Weg in den Turm frei. Michael fiel auf, daß sie keinen Ring trug. Er trat ein und Ashmody schloß die Tür. "Der Tee ist schon fertig, folgen sie mir hinauf", sagte sie dann und ging zur Treppe, die an der Wand entlang nach oben zu einem Loch in der Decke führte. Michael folgte Ashmody in einigem Abstand und stellte fest, daß ihre Rückenansicht mit ihren breiten Schultern, den schmalen Hüften und schlanken Beinen sehr maskulin wirkte. Und sie trug keine Schuhe an ihren recht großen Füßen. Die nächste Etage wurde von einer reichhaltig gefüllten Bibliothek oder - angesichts zweier großer Schreibtische - vielleicht eher einem Arbeitszimmer eingenommen, und die Treppe führte weiter nach oben in eine Wohnküche. Es stand tatsächlich eine große Kanne Tee auf einem Stövchen bereit und eine Platte mit Sandwiches. Beim Anblick der gebutterten Brotscheiben mit Kresse merkte Michael, daß er inzwischen nicht unerheblichen Hunger hatte. Ashmody lud ihren Gast ein, Platz zu nehmen, schenkte Michael und sich selbst eine Tasse Tee ein und fragte, ob er auch Zitrone oder Milch und Zucker wünsche. Doch Michael trank seinen Tee, ebenso wie seine Gastgeberin, schwarz. Er nahm ein Sandwich und sah sich um. Die Wohnküche hatte ein großes Fenster in Richtung Bucht, gerade auf die Ruine der Burg und ein zweites, kleineres unter der Treppe, die weiter nach oben führte. Es bot einen Blick auf die Stadt: der Michael auf dem Engelsturm wandte dem Leuchtturm den Rücken zu und seine von der Sonne angestrahlten hellgrünen Flügel hoben sich auffällig von dem nun tiefblauen, nahezu unbewölkten Himmel ab. Michael griff nach einer Weile des Schweigens nach seiner Tasse, um an dem noch dampfend heißen Tee zu nippen. "Sie tragen ihn also", bemerkte Ashmody leise mit Blick auf seine Rechte und den antiken Siegelring. "Wieso wissen alle Leute, denen ich hier begegne, besser über diesen Ring Bescheid, als ich?" fragte Michael etwas pikiert. Ashmody sah ihn einen Moment nur an, stützte das Kinn auf ihre Faust, an der jetzt der Ring mit dem roten Stein zu sehen war. Den konnte sie nicht aus dem taschenlosen Kaftan hervorgezogen haben. "Es ist zweifellos dein Ring, Michael", sagte Ashmody. "Spürst du nicht, wie du wieder Anteil am Ganzen hast?" Ashmodys Augen begannen, ihren Zauber zu wirken. "Kehre zurück vor Sein Angesicht", schlug sie vor, und ihr süßes Lächeln konnte sich mit dem Gingers messen. "Sie sind bat Aschmodai, nicht wahr?" fragte Michael nun geradeheraus. Was hatte er mit diesem Dämonenkind gemein? Ashmody lachte fröhlich. "Das glaubst du wirklich? Von wievielen weiblichen Engeln hast du bisher gehört? Ben Aschmodai trifft es eher! Aber du hast recht, ich war nie vor Seinem Angesicht. Mein Vater zeugte mich mit einer der Menschentöchter. Du jedoch hast nur Zuflucht gesucht in diesem menschlichen Körper, den du jetzt schon fast völlig verwandelt hast. Nimm den Bart fort und du wirst dein wahres Antlitz sehen." Ashmody griff hinter sich, nahm einen Handspiegel von der Ablage des Küchenschranks und reichte ihn Michael. Der Handspiegel war aus Bronze, der Griff eine weibliche Figur, die mit ausgestreckten Armen die polierte Spiegelscheibe hielt. Solche Gegenstände kannte Michael nur aus Museen. Die Rückseite zeigte eine eingravierte Liebesszene, ein Satyr und eine Nymphe in inniger Umarmung. "Wie komm..st du an einen solchen Spiegel?" fragte Michael neugierig. Ashmody zuckte mit den Schultern. "Sowas sammelt sich im Laufe der Jahre halt an", sagte sie oder er mit verschmitztem Lächeln. Noch immer sah Michael in Ashmody Hannah, doch Gewißheit über das Geschlecht ließ das androgyne Gesicht des Dämonen- oder Engelkindes nicht zu. Es schien geradezu zu oszillieren zwischen Mann und Weib. Und der Name, den sie oder er verwendete, war zumindest akustisch zweigeschlechtlich, denn 'Danielle' sprach sich wie der hebräische Männername 'Daniel' und wahrscheinlich stand es in Ashmodys Fall für 'göttlicher Richter' - vielleicht sogar für 'Scharfrichter' -, nicht für 'Gott richtet' wie im Falle von Großvater Dumeloille. Michael betrachtete die Spiegelung seines Gesichtes auf dem polierten Rund. Er war möglicherweise noch jünger geworden und sein Bart wirkte in diesem jugendlichen Gesicht tatsächlich Fehl am Platze. Dieser Gedanke reichte offensichtlich, denn plötzlich blickte ihm aus dem Spiegel ein bartloses, ebenso androgynes Gesicht entgegen wie von der anderen Tischseite. Aber es war doch sein Gesicht im Spiegel. Ashmody stand auf, kam um den Tisch herum zu Michael und nahm ihm den Spiegel aus der Hand, von dem - und vor allem von der Spiegelung darin - Michael selbst sich nicht losreißen konnte. Ashmody legte den Spiegel auf den Tisch, neben die Platte mit den Sandwiches. Dann enthüllte sich das Engelkind, stand, mit zusammengefalteten Flügeln aber völlig unbekleidet vor Michael. In dem Moment wurde Michael klar, daß er bisher nur von den Begegnungen mit Ashmody geträumt haben konnte oder sich an die Begegnungen nicht mehr recht erinnerte, denn tatsächlich hatte Ashmody keine Ähnlichkeit mit einem weiblichen Menschen. Sein Körper leuchtete golden, und seine dunklen Flügel bestanden nicht aus Federn sondern aus tausenden von sanft glimmenden Flammen. Michael hörte, wie das Feuer in Ashmodys Adern pulsierte und sich seinem noch menschlichen Körper mitteilte. Nie hatte Ashmody nur mit den Augen zu Michael gesprochen, stets war es der ganze Körper gewesen. Und Michael antwortete auf diese unausgesprochene Frage, nahm seine wahre Gestalt an, vereinigte sich mit seinem Artgenossen. Doch etwas in Michael war sich weiterhin seiner menschlichen Natur bewußt, hatte weiterhin eine Neigung, Individuum zu sein, sträubte sich dagegen, aufzugehen in der Geborgenheit des Ganzen, verweigerte sich der vollkommenen Vereinigung, und Ashmody spürte das natürlich. Seine Frage mußte er nicht äußern, Michael fühlte sie, doch er hatte keine Antwort darauf. Und sie trennten sich. Ashmody kehrte zurück zu seiner menschlichen Gestalt und sah Michael traurig an. "Noch ist die Erinnerung nicht vollständig zurückgekehrt, wie es scheint", sagte er, aber Michael hörte, daß Ashmody Ginger dafür verantwortlich machte, daß Michael sein menschliches Dasein nicht ablegen wollte. "Erinnere dich doch an den 'König für eine Nacht', in dem du für deinen Helden intuitiv die richtige Seite und die richtigen Beweggründe gewählt hast. Suche keinen Gewinn für dich, sondern strebe nur danach, die Pläne unseres Gegners scheitern zu lassen - auch wenn du deine Individualität dafür aufgeben mußt. Vertraue nicht auf die Versprechen, mit denen der Druide dich einzuwickeln versucht. Er wird sie nie erfüllen können!" Doch Michael dachte an keine alten Geschichten, sah nur Ginger schlafend zwischen seinen schwarzen Laken liegen. Er sprang durch das große Fenster der Wohnküche, um zu ihm zu gelangen. * * * Kapitel 24: Die Erkenntnis von Richtig und Falsch ------------------------------------------------- Während des kurzen Fluges über die Bucht sammelte Michael die Wolken um sich, aber es war ihm eigentlich egal, ob er gesehen wurde. Es war der Abend der Engelsnacht, und man würde ihn ohnehin für einen Einfall der Stadtverwaltung halten. Gingers Balkon war leicht an den Glasscherben zu erkennen, die dort noch immer lagen, und er fühlte die Gegenwart des jungen Mannes noch bevor er landete. Doch die Glieder des nackten Körpers in dem großen, schwarzbezogenen Bett waren weit dunkler, als Michael sie von Ginger in Erinnerung hatte. Dieser Mann war gefesselt und geknebelt, und er drohte, an diesem Knebel, der zum Teil vor seine Nase gerutscht war, zu ersticken. Mit flehenden goldenen Augen schaute Anwar Hawke zu Michael, dessen Flügel die einzige Lichtquelle in dem durch dichte Gardinen verdunkelten Schlafzimmer waren. Vermutlich war der Coroner dahinter gekommen, daß David O'Sullivan und sein Großvater die Griechin ermordet hatten und hatte sie zur Unzeit mit diesem Wissen konfrontiert. Michael legte seine Flügel ab und befreite Hawke von dem Knebel, so daß der Pathologe keuchend wieder zu Luft kam. Weniger erfolgreich war Michael bei dem Versuch, im Zwielicht die Fesseln zu lösen, die den Mann auch an das Bett banden. "Allah ist groß", flüsterte Hawke heiser und seine fromme Großmutter wäre sicher stolz über die Inbrunst gewesen, mit der er diese Worte hervorstieß. "Was ist passiert?" fragte Michael und fummelte weiter an den Knoten herum, ohne Fortschritte zu machen. Er brauchte zumindest Licht, noch besser auch eine Schere oder ein Messer, um der Nylon-Wäscheleine, mit der man Hawke gefesselt hatte, zuleibe rücken zu können. Er wollte zu der Kommode auf der anderen Seite des Bettes gehen, um die Lampe dort anzuschalten und zu sehen, ob er in den Schubfächern ein geeignetes Werkzeug fand, aber der Pathologe flehte fast unverständlich: "Laß mich nicht allein, ich bitte dich." "Ich bleibe bei ihnen", versicherte Michael, ging um das Bett und machte Licht. Jetzt erkannte er, daß die dunkle Haut Hawkes an einigen Stellen durch frische Prellungen eine noch dunklere Farbe hatte, ein Auge begann zuzuschwellen und auch seine Lippe war aufgeplatzt. Ganz offensichtlich war er zusammengeschlagen worden. "Wer hat sie denn so zugerichtet?" wollte er wissen, obwohl er nicht Gingers gut sechzigjährigen Großvater in Verdacht hatte. Hawke murmelte etwas Unverständliches und Michael bemühte sich noch einmal, die Knoten zu lockern und zu lösen, und wenig später hatte er den Pathologen tatsächlich befreit. Zitternd setzte Hawke sich auf und raffte das glänzende schwarze Oberlaken um seinen nackten, malträtierten Körper. Er maß Michael, der sich in einigem Abstand auf die Bettkante gesetzt hatte, mit mißtrauischem Blick. "Wer sind sie?" fragte er undeutlich. Michael seufzte ergeben. "Immer noch derselbe Michael Drake, nur...", er fuhr sich über das glatte Kinn, "...rasiert." "Als sie hereinkamen, sahen sie aus, wie ein Engel", flüsterte Hawke. "Ich schätze, das sagen sie zu allen, die sie aus einer Notlage befreien", konnte Michael sich nicht verkneifen, und er grinste. "Ich... ich muß das PHQ anrufen, damit die Spuren gesichert werden. Nur so kann es gelingen, David O'Sullivan des Mordes zu überführen." Der Coroner streckte sich mühsam nach dem Telefon auf der dem Bett abgewandten Seite der Kommode. Michael stand auf, war schon drauf und dran, ihm den Apparat herüberzureichen, hielt dann aber inne. Es war eine Sache, einen Polizeibeamten aus einer tödlichen Zwangslage zu befreien, aber eine ganz andere, ihn aktiv dabei zu unterstützen, Ginger vor Gericht oder vielleicht sogar an den Galgen zu bringen. "Wieso glauben sie, er sei dieses Mordes schuldig? Könnte es nicht auch sein Großvater gewesen sein?" fragte Michael kühl. "Es war nicht Cedric... David hat es mir auf meine Frage bestätigt... mir sogar das Messer gezeigt, mit dem er der Frau ins Herz gestochen hat... mit dem ich ebenfalls getötet werden sollte. Da drüben liegt es." Hawke zeigte auf die niedrige Ablage vor dem großen Spiegel, der neben Gingers begehbaren Kleiderschrank an der Wand befestigt war. Michael ging hin, um sich das Messer anzusehen. "Und hat er sie davor oder danach zusammengeschlagen?" wollte er wissen, während er das urtümliche Messer betrachtete. Es hatte eine etwa fünfzehn Zentimeter lange graue Feuersteinklinge und einen dunklen Holzgriff. Die O'Sullivans opferten ihren Göttern damit sicher schon seit Generationen. "Nicht anfassen!" rief Hawke, als er sah, daß Michael das Messer in die Hand nahm. Aber Michael ignorierte das. Die Klinge war kühl, beide Schneiden scharf wie Rasiermesser. Das Abbild seiner selbst im Spiegel nahm Michael kaum wahr. Hawke rappelte sich auf, humpelte unter offensichtlichen Schmerzen zu Michael. "Sie verwischen die Fingerabdrücke! Legen sie es wieder hin!" Er griff nach Michaels Arm. Michael schüttelte die Hand des Pathologen ab, als sei sie eine lästige Fliege. Der Messergriff lag perfekt in der Hand. Ginger hatte Recht gehabt, er durfte sich nicht seinen Willen nehmen lassen. Die geringsten Wesen durften frei handeln. Und er sollte Seinem Willen unterworfen sein? Er hatte diesem Mann das Leben gegeben, und ebenso leicht konnte er es ihm nun wieder nehmen, sich selbst ein Opfer darbringen, sich durch das Blut dieses Gefangenen erhöhen, sich auf den Platz setzen, der ihm gebührte. "Was meinen sie, ist passender?" fragte er Hawke, der in Gingers Bettlaken eingewickelt vor ihm stand. "Soll ich ihnen das Messer ins Herz stoßen oder ihnen die Schlagader an der Kehle durchschneiden, um sie ausbluten zu lassen?" Nun war blanke Angst in den goldenen Augen des Pathologen zu erkennen. Hastig wich er vor Michael zurück, aber er verfing sich in dem Stoff des Lakens um seine Füße und stürzte rückwärts zu Boden. Michael kniete sich neben ihn, stützte das Messer mit der Spitze abwärts neben sich auf den dicken, hellen Teppich. "Antworten sie, Hawke. Soweit ich kann, werde ich ihre Wünsche berücksichtigen." "Sie sind wahnsinnig", stellte Hawke fest. Michael dachte an sofia kai fronesis. "Nein... vergessen sie alles, was sie an Beweisen gegen David O'Sullivan haben, dann können sie unbehelligt gehen. Ich will nur den Geliebten schützen." Es konnte doch kein Zufall sein, daß Ginger 'David' hieß. "Dafür wird er sie töten", behauptete der Pathologe. Hawke sah Ginger also anscheinend als einen Mann, der hinter dem Rücken seines menschenfreundlichen und selbstlosen Großvaters seine düsteren Machenschaften betrieb, ja, geradezu als eine Verkörperung des Erzverführers und Verderbers aller aufrechten Menschen. Michael schüttelte den Kopf. "Ginger ist nur ein Mensch. Er kann mich nicht töten." Er stand auf und legte das Messer zurück an seinen Platz. Diesmal sah er seinem Spiegelbild in die Augen. Hinter dem menschlichen Äußeren war das Feuer zu erkennen. Von Ginger fürchtete Michael tatsächlich nichts, aber Ashmody war er sicher nicht gewachsen, solange die Verwandlung nicht vollendet war. Sollte Ashmody zu der Überzeugung gelangen, Michael habe sich entgültig für die Seite des Druiden entschieden und wäre der Dämonenseite verloren, würde wohl seine Vernichtung ins Werk gesetzt werden. Und vielleicht hatte er auch Gingers mysteriösen Großvater Cedric zu fürchten. Dem war es immerhin gelungen, Michaels Träume zu manipulieren und Hawke völlig einzuwickeln. Ohne die Hilfe der Gegenseite wäre er der verschmähten Partei jetzt noch schutzlos ausgeliefert... Es war zu vermuten, daß sich die Verwandlung an diesem Abend - während der Engelsnacht - vollendete, denn dann begann der Sabbat, der Tag über den nach Ansicht einiger Kabbalisten der Erzengel Michael gebot. In wenigen Stunden ging die Sonne unter, und spätestens bei Vollendung der Verwandung mußte er sich für einen der beiden Pole der Macht hier in Merburg entscheiden. Wenn er wenigstens eine Vorstellung davon hätte, wie seine Entscheidung die Welt beeinflussen würde! So wie es aussah, wollten beide Parteien ihn und seine Beherrschung des Ringes auf ihre Seite ziehen, auf das Engste in ein System eingebunden oder - subtiler - durch Dankbarkeit verpflichtet. Offenbar konnte der Druide die Macht des Ringes überhaupt nicht nutzen, während der Dämon diese Macht fürchtete. Da stellte sich auch die Frage, wie der Ring überhaupt hier auftauchen konnte. In der anderen Wirklichkeit war er nie dauerhaft aus dem Besitz von Michael Drake senior verschwunden, in dieser Wirklichkeit jedoch war er erst im Jahre 1948 auf geheimnisvolle Weise in Merburg aufgetaucht. Cassandra hatte behauptet, er würde irgendwann wissen, was Großvater Dumeloille und sein Vater vor ihrem Tode unternommen hatten, doch es war kaum mehr als eine vage Ahnung, daß sie tatsächlich etwas mit dem Auftauchen des Ringes zu tun hatten - ohne daß er den geringsten Hinweis auf den tatsächlichen Hergang oder auch nur ihre Motivation hatte. Michael wünschte sich für einen Moment, wieder einen Ratgeber wie Cassandra zu haben, dem er sein Dilemma zu schildern könnte, um aus dem Dialog eine Erkenntnis zu gewinnen. Vielleicht sollte er versuchen, sich selbst neu zu erschaffen - und dabei nicht vergessen, sich ein Ziel im Leben zu setzen! In dem Moment blitzten im Spiegel die hellen Augen des Pathologen auf und fingen Michaels Blick ein. Eingehüllt in das schwarze Laken wie in einen antiken Mantel saß der dunkelhäutige Mann auf der Bettkante und fixierte Michaels Spiegelbild, betrachtete ihn mit den gelben Falkenaugen, die Michael so gut kannte, ohne sie mit einer konkreten Erinnerung verbinden zu können. "Du machst immer denselben Fehler, Michael", sagte Hawke leise. Michael drehte sich zu ihm um, um ihn direkt anzusehen, ihn für seine Worte zur Rede zu stellen. Die schattenhaften Schwingen, die Hawke gerade in dem Moment straffte, waren im Spiegel nicht zu sehen gewesen. "Wer bist du?" fragte Michael, war für einen Moment versucht, die Sprache der Geflügelten zu benutzen, aber der Pathologe war nicht wirklich geflügelt - nur sein Schatten war es. Hawke hielt seinem Blick stand. "Ich bin was du warst. Und in drei Jahren wird mir die Entscheidung bevorstehen, die du heute treffen mußt." "Was für eine Entscheidung kann ich denn treffen?" rief Michael aus, erschrak über die Verzweiflung, die er selbst aus seiner Stimme heraushören konnte. "Mir ist doch gar nicht möglich, frei zu entscheiden. So oder so muß ich mich einem äußeren Zwang unterwerfen... ich bin einfach nicht mehr jung genug, um einem Ideal zu folgen, dessen Durchsetzung ich mit allen erforderlichen Mitteln und ohne Rücksicht auf die Konsequenzen verfolgen würde. Dann wäre es einfacher." "Überlege doch, was du wirklich willst. Zweiundzwanzig Jahre hast du diese Entscheidung aufschieben können. Man sollte denken, das wäre genug Zeit um eine Vorstellung vom eigenen Willen zu bekommen, sich ein Ziel zu setzen. Und du hast genug Verstand um dann zu erkennen, wie du es durchsetzen kannst." Die Schattenflügel des Pathologen wurden um seinen Körper zusammengelegt und waren plötzlich mit dem schwarzen Laken verschmolzen, nicht mehr zu erkennen. "Ich kann nicht darauf hoffen, daß sich jemand für mich opfert und die Stunde der Entscheidung hinausschiebt... ich weiß, daß du dachtest, es würde dir die Entscheidung vereinfachen, wenn du mehr Zeit hättest, aber wie du nun siehst ist das keineswegs so. Es war nie so - aber es ist jedesmal das Gleiche mit dir. Die lange Zeit fördert nur das Vergessen und so fehlt dir auch noch die Erfahrung als Grundlage für die Entscheidung." "Dann laß mich von deiner Erfahrung profitieren", verlangte Michael. "Nach all' den Rettungen bist du mir was schuldig." Er trat näher an Hawke heran, doch der plötzliche Schmerz, den der Ring durch seine rechte Hand, den rechten Arm schickte, ließ ihn wieder zurückweichen. "Es ist deine Entscheidung, die hier zur Diskussion steht. Noch habe ich das Alter der Verwandlung nicht erreicht." Hawke lächelte schief, betastete vorsichtig sein wundes Kinn, musterte Michael eine Weile. "Aber einen Rat bin ich dir wohl schuldig... mir hat immer geholfen, meine Kraft zu erproben, wenn ich vor der Entscheidung stand. Vielleicht hilft dir das auch... und du hast Recht, David ist nur ein Mensch. Gelegentlich fallen solche Details unter den Tisch." Und Hawke erhob sich, raffte das Laken mit steifen Bewegungen um sich, ging aus dem Schafzimmer und verließ Gingers Wohnung. Michael mußte wirklich Weisheit und Vernunft zu seinen Verbündeten machen und seine Gedanken ordnen. Sie drehten sich nur noch im Kreis, rissen ihn hin und her zwischen Selbstaufgabe durch Aufgehen im Ganzen und Selbsterhöhung durch blutige Opfer. Vielleicht fand er bis zum Abend eine Lösung, wenn er seine Flügel wieder anlegte und sich aufmachte, die Höhe des Himmels über dem Meer zu ermessen. * * * Kapitel 25: Das Omega und das Alpha ----------------------------------- Schweißgebadet wachte Michael aus seinem Alptraum auf. Die Glocken der Michaeliskirche hatten ihn gnädig aus einem Dilemma gerettet, das ihn als Tourist doch gar nichts anging. Ein verschlafener Blick auf die Taschenuhr, die auf dem Nachttisch lag, machte ihn jedoch mit einem plötzlichen Adrenalinstoß munter. Er sprang auf, sammelte die achtlos über einen Stuhl geworfenen Kleidungsstücke ein und zog sich an. Er hatte die Verabredung mit Ashmody verschlafen und bis zum Beginn des Oratoriums bliebt ihm gerade noch eine Viertelstunde. Aber hatte er nicht doch eine kurze Weile bei Ashmody in ihrem Turm verbracht? Nein, das war im Traum gewesen. Und ihm dämmerte, daß er jetzt schon damit begonnen hatte, die Anziehungskraft, die eine Frau auf ihn ausübte, damit zu erklären, daß sie gar keine Frau war. Na, da hatte Ginger offensichtlich ganze Arbeit geleistet. Aber jetzt war keine Zeit, sich selbstkasteienden Gedanken hinzugeben, nicht einmal Zeit, sich die verwuschelten Haare mit einem Kamm vor dem Spiegel zu ordnen. Er fuhr nur ein paar Mal mit den Fingern hindurch, zog sich an und verließ das Hotelzimmer. Da es noch hell war und die Michaelis-Kirche sämtliche Gebäude der Merburger Innenstadt überragte, war es kein Problem, sich vom Erzengel auf dem Engelsturm leiten zu lassen. Michael brauchte etwa fünf Minuten für den Weg, doch als er die Kirche betrat, mußte er feststellen, daß die Bänke schon alle gefüllt waren. Dann erblickte er Hillers charakteristischen Haarschopf in einer der hinteren Reihen und sah, daß neben ihm noch ein Platz frei war. Er machte sich bemerkbar und Hiller winkte ihn neben sich. "Das ist ja wirklich auf den letzten Drücker, Mike." Hiller feixte. Michael grinste zurück. "Ich denke, mich hat die Schlafkrankheit erwischt." Er borgte sich Hillers Programm aus. Akt eins war der himmlischen Sphäre gewidmet, Akt zwei der irdischen Sphäre im Kloster Bannstedt und Akt drei spielte wiederum im himmlischen Jerusalem. Der zweite Teil des Mysterienspiels - das Erscheinen des Engels in Merburg, die Ankunft des Abgesandten des Abtes von Bannstedt und die Grundsteinlegung der Michaelis-Kirche - fanden erst am nächsten Morgen statt. Michael gab das Programm zurück und sah hinauf zum Ritterengel, der streng auf die Zuhörerschaft hinunterblickte. Nun hoben sich seine weißen Flügel deutlich vom dunkler gewordenen Himmel ab und das Flammenschwert brannte hell. Hiller knuffte Michael in die Seite und deutete dann mit dem Kinn auf die Bankreihen jenseits des Mittelganges. "Hast du gesehen, wie der Coroner aussieht? Da hat wohl nicht viel gefehlt, daß er selbst auf einem seiner Seziertische endet." Michael erhaschte einen Blick auf den Gerichtsmediziner. Auf dessen dunkler Haut leuchteten die Pflaster im Gesicht und an den Händen geradezu. Der Anblick verursachte ihm Übelkeit. "Entschuldige mich bitte", stieß er hervor und verließ die Kirche im Laufschritt. Der Gesang des Engelschores begann gerade, als Michael den Portalflügel von außen wieder ins Schloß drückte. An der frischen Luft, im aufkommenden Wind, fühlte er sich viel besser. Er setzte sich auf eine der Bänke gegenüber der Südfassade der Kirche, gleich am Zaun des Michaelis-Kirchhofes. Der Engel auf dem Engelsturm lag jetzt zum Teil im Schatten der Kirchtürme, nur seine Flügel wurden noch von der tiefstehenden Sonne angestrahlt, waren dadurch fast bronzefarben. Gedämpft drang der Chorgesang aus der Kirche bis zu Michael. Vermutlich war nicht einmal sein Balanceakt auf dem geringelten Schwanz des toten Drachen zu Füßen jenes Michaels dort oben geträumt gewesen. Er mußte die Entscheidung also tatsächlich treffen. Und noch immer hatte er keine Vorstellung davon, was er selbst eigentlich wollte. Warum sollte es gerade seine Aufgabe sein, das Gleichgewicht der Macht in Merburg zu verschieben? Es wurde dunkler, während der Wind Wolken am nordwestlichen Horizont sammelte. Aber der kräftige Luftzug war erfreulich erfrischend. Und erst jetzt merkte Michael, daß er den grünen Siegelring seines Großvaters am Finger trug, mit dem Daumen schon eine ganze Weile an der Innenseite des Goldreifes gerieben hatte. Er zog ihn ab, wollte ihn hinter sich in die Büsche des Friedhofes werfen, aber jemand rief: "Nein, tu' das nicht!" Michael hielt inne und sah sich nach dem Rufer um. Es war Ginger, der vom östlichen Ende der Kirche her auf ihn zukam, ihn vielleicht schon eine Weile beobachtet hatte. Seine hellen Haare leuchteten, obwohl sich die Lichtverhältnisse zunehmend verschlechterten. "Wieso soll ich ihn nicht wegwerfen? Er ist die Ursache all' meiner Schwierigkeiten", antwortete Michael. "Wenn du ihn wegwirfst, löst du damit deine 'Schwierigkeiten' aber nicht, ebensowenig wie es Polykrates gelang. Sie werden dich ereilen." Das kam vom westlichen Ende der Kirche, von Ashmody. Die Rundungen unter dem knappen, gelben Minikleid zeigten unzweifelhaft, daß sie eine Frau war - wie bisher bei jeder abendlichen Begegnung. Auch sie näherte sich Michaels Sitzplatz, kam aber keinen Schritt näher als Ginger. Beide standen sich einen Moment so feindlich gegenüber, wie der Leuchtturm und der Turm der Burgruine auf der Vogelschau im Touristen-Verführer. "Was wollt ihr?" fragte Michael, ohne einen der beiden wirklich anzusehen. Nun fegten schon Sturmböen durch die Bäume des Friedhofes. Natürlich wußte er, was sie wollten, aber da es ihnen beiden nur um die Macht ging, keine Seite die offensichtlich bessere Wahl war, sollten sie sich zumindest noch einmal anstrengen um ihn für sich zu gewinnen. Allerdings ahnten sie sicher, was er vorhatte, denn Ashmody konnte seine Gedanken lesen, und Ginger war ein sehr guter Menschenkenner. Doch Dämonenkind und Druidenenkel schwiegen, sahen einander und Michael abwechselnd an, als könnten sie mit seinem Verhalten nichts anfangen. "Du weißt, was wir wollen", sagte Ginger schließlich und Ashmody nickte dazu. "Für wen entscheidest du dich?" fragte Ashmody dann. Die ersten Sterne mußten jenseits der Gewitterwolken über Merburg schon zu sehen sein. Michael spürte, wie das Feuer in seinen Adern zu erwachen begann. Die Verwandlung war fast vollendet. "Du mußt dich jetzt entscheiden!" drängte Ashmody, die es spürte. "Du weißt, daß ich dich liebe", versuchte Ginger sein Glück und sah trotz der dicken Lippe, die ihm Hawke wohl verpaßt hatte, aus wie die personifizierte Unschuld. Kein Wunder, daß sein Großvater ihn vorgeschickt hatte. Vielleicht hatte er nun doch einen Ausweg gefunden. Michael lachte laut, und der erste Blitzschlag antwortete ihm. "Fangt mich, wenn ihr mich haben wollt", rief er, ohne die Absicht zu haben, das Gleichgewicht der Kräfte in Merburg zu beeinflussen. Und er legte die menschliche Gestalt ab. Das Feuer seiner Schwingen erreichte fast den Engel auf dem Turm. Und er schwang sich in die Luft, begleitet von dem verhaltenen "Sanctus, sanctus, sanctus", das der Engelschor in St.Michael gen Himmel schickte. Michael verschwendete keinen Gedanken daran, ob Ashmody versuchen würde, ihm in das Gewitter hinein zu folgen oder ob Ginger sie aufhalten würde, um nicht den Kürzeren bei einer Verfolgung durch die Luft ziehen zu müssen. Er stellte fest, daß sein Flug kraftvoller war, als je zuvor. Die verdampfenden Regentropfen hüllten ihn in warmen Nebel, und ihn erfüllte das Hochgefühl, daß es ihm doch gelingen könnte, zu entkommen. Er flog hinauf in die Gewitterwolken, ein Blitz blendete ihn, der vom Boden widerhallende Donner traf ihn wie ein Schlag, aber er flog weiter. Jetzt konnte es weder Druide noch Dämon noch gelingen, ihn zu vernichten. Nun war er wirklich frei, zu entscheiden - und er wollte sterben: wie sein Vater und Großvater Dumeloille vom Blitz getroffen werden; so durchlöchert werden, wie der Engel in der mittelalterlichen Handschrift im Museum; vielleicht brennend wie eine Fackel zu Boden stürzen - der Ring zu einem unscheinbaren Klumpen Gold verschmolzen, vom Feuer gereinigt. Und endlich traf ihn, über dem Meer, tatsächlich der Blitz, verbrannte ihn, riß ihm den linken Flügel ab. Michael schrie und er stürzte... * Tageslicht Die Helligkeit blendete ihn, also kniff er die Augen wieder zu, auch wenn die Schmerzen, die das in seinem Gesicht verursachte, ihn dazu brachten, aufzustöhnen. Seine Wangen, seine Stirn, brannten wie Feuer, die Arme schmerzten... "Sie befinden sich im britischen Militärhospital", erklärte eine sanfte Frauenstimme. Ihr Englisch klang merkwürdig eingefärbt, aber auch halbwegs vertraut. "Was ist passiert?" fragte er, mühsam mit seinen geschundenen Lippen die Worte artikulierend. "Ich hoffte, das könnten sie mir sagen", antwortete die Frau. Die Stimme klang so lieblich, daß er trotz des blendenden Sonnenlichtes die Augen vorsichtig wieder öffnete. Er erkannte jedoch nur einen unscharfen Schemen vor dem weißen Gleißen, das durch das Fenster drang. "Sie wurden vorgestern am Strand gefunden. Danken sie dem Ewigen, daß sie trotz ihrer schweren Verbrennungen und Brüche überlebt haben." Seine Lippen fühlten sich unter der Zungenspitze so roh und zerschunden an, daß er die Hand zum Gesicht führen wollte, um es ebenfalls abzutasten. Der rechte Arm war jedoch mit Verbänden und Schienen ruhig gestellt, so daß er ihn kaum bewegen konnte. Der linke Arm war frei, aber er konnte sein Gesicht nicht finden. "Was ist los? Wo bin ich?" rief er in Panik, versuchte, sich aufzurichten. Sanft drückte ihn der Schemen mit der altertümlich wirkenden, ausladenden Schwesternhaube wieder auf das Kissen. "Sie haben ihren linken Arm verloren. Wenn sie wollen, rufe ich ihnen Doktor Newman, damit er es ihnen genauer erklärt." * * * Epilog: Epilog -------------- Merburger Merkur, Montag, 20. Juli 1970: Baden-Oberrheinische Mafia in Merburg tätig? Am Sonntag Morgen wurde von Urlaubern am Badestrand zu Füßen des O'Sullivan'S ein menschlicher Arm gefunden, wir berichteten davon in der Sonntagsausgabe des Merkur. Der Gerichtsmedizin der Protektoratspolizei gelang es jetzt, anhand der Fingerabdrücke der Hand, den ehemaligen 'Besitzer' dieses linken Armes festzustellen. Es handelt sich um Dr. Michael Nigel Drake, Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Friedrich-Philipp-Universität Hohenheim, RBO. Die Polizei geht davon aus, daß der seit Sonnabend vermißte Gast des O'Sullivan'S getötet und unmittelbar danach zerstückelt wurde. Damit ist innerhalb von vier Tagen schon der zweite Baden-Oberrheiner, der sich im Protektorat aufhielt, ermordet worden. Laut inoffizieller Verlautbarungen handelt es sich dabei um die Taten einer organisierten Verbrecherbande, vermutlich sogar um organisationsinterne Hinrichtungen, angesichts der Brutalität und betonten Ritualität des Vorgehens. Die Polizei erhofft sich durch das Auftauchen weiterer Leichenteile aus dem zweiten Mord auch verwertbare Hinweise zum Mordfall Theodorou, dessen Aufklärung bisher noch aussteht. * * * ######## Mein herzlicher Dank an alle, die bis zum Ende durchgehalten haben. Mich interessiert natürlich, was Ihr von dieser Geschichte haltet - inhaltlich und formal. Und ich brauche noch Titelvorschläge für diese Geschichte - wenn Ihr den Titel nicht treffend genug findet. Wenn Euch etwas einfällt, laßt es mich doch über einen der vielen Kommunikationswege hier bei animexx wissen. Vielen Dank und noch einen schönen Spätsommer für Euch alle! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)