Juli 1970 von Erzsebet (Pathologie eines Philologen) ================================================================================ Kapitel 15: Alte Bekannte ------------------------- Als Michael das Frühstück beendet hatte und mit Cassandra zurück ins Abteil ging, um die Sachen zusammenzupacken, war der Himmel nahezu Schwarz von Regenwolken. Der mäßige Niederschlag wandelte sich mit erschreckender Plötzlichkeit zu einem regelrechten Unwetter und innerhalb von wenigen Sekunden versperrte ein durchgehender Wasserschleier die Aussicht in die nördliche Landschaft. Und so blieb es, bis sie den Grenzbahnhof Groß-Bannstedt erreichten, den ersten Halt des Zuges seit Lahr. Kaum war der Zug im Bahnhof zum Stehen gekommen, als schon die britischen Grenzbeamten den Zug enterten. Ihre nüchternen Uniformen hatten nichts mit der barbarisch-farbenfrohen Pracht der Badener gemein. Auch konnte das Verhalten der Grenzer keineswegs den Irrtum aufkommen lassen, bei dieser Kontrolle handele es sich um eine bloße Formsache. Der bebrillte Staatsbedienstete, der für Michaels Abteil zuständig war, musterte ihn feindselig und verlangte barsch die Papiere. Wortlos händigte Michael ihm das Gewünschte aus. Kritisch musterte der Beamte die Fahrkarte nach Merburg, dann blätterte er sich durch den Reisepaß, den Michael erst für diese Reise wieder neu hatte ausstellen lassen. "Sie waren schon einmal im Protektorat?" wollte er in überkorrektem Deutsch wissen. "Vor gut vierzig Jahren", gab Michael an, denn so lange war es her, daß Großmutter Drake mit der ganzen Familie einmal eine Reise nach Merburg unternommen hatte. Der Mann grunzte, entweder aus Gewohnheit, oder um zu zeigen, daß er verstanden hatte, dann zog er einen Handscanner aus seiner Utensilientasche und scannte die bedruckten Seiten von Michaels Reisepaß. "Es scheint alles in Ordnung zu sein", erklärte der Mann und gab Michael das Dokument zurück. Pflichtgemäß verabschiedete er sich mit einem "Gute Reise" und schloß die Abteiltür. Noch einige Minuten gingen die für den Papierkram zuständigen Grenzbeamten, begleitet von Kollegen mit umhängenden Maschinenpistolen, auf dem Gang und auf dem Bahnsteig hin und her, doch dann verließen die meisten von ihnen den Zug und gestatteten den Reisenden, die ihr Ziel erreicht hatten, es ihnen gleich zu tun. Der Aufenthalt in Groß-Bannstedt dauerte fahrplangemäß eine halbe Stunde. Das Ziel der Reise erreichten sie nach knapp fünfzehn Minuten Fahrt durch den wieder schwächer gewordenen Regen. In der erstaunlichen Masse Volk, die den Merburger Bahnhof bevölkerte, waren natürlich viele britische Militärs zu sehen. Es befanden sich jedoch auch eine ganze Menge anderer Uniformierter auf dem Bahnsteig, darunter einige in dunkelgrüner Hotellivree und mit dem O'Sullivan'S-Schriftzug an der Mütze. Michael entdeckte ein Schild mit der Aufschrift 'Prof. M. Drake' und ließ sich von der dem Ausgang zustrebenden Menge auf diesen Bezugspunkt hintreiben. Die ohrenbetäubenden Durchsagen über Zuganschlüsse, vermißte Personen und Gepäckstücke erinnerten Michael daran, gehört zu haben, daß die Umgangs- und Geschäftssprache in ganz Nord-Friesland - von der Protektorats-Verwaltung einmal abgesehen - Deutsch sei, oder zumindest die Art von Sprache, die man nördlich des 53. Breitengrades dafür hielt. Das O'Sullivan'S dagegen sah sich offensichtlich als ein Bollwerk des Empire in barbarischer Umgebung, denn der Hotelchauffeur begrüßte Michael in schönstem Oxford-Englisch, nahm den Koffer seines Schützlings in die Hand und bat höflich: "Would you be so kind as to follow me, Sir." Und auch der Fuhrpark des O'Sullivan'S hielt die Tradition des Empire aufrecht: eine schwarze Rolls-Royce-Limousine, deren Anblick den Betrachter in die zwanziger Jahre zurückversetzte, brachte Michael durch den warmen Nieselregen zum Hotel. Der Art-deco-Eindruck, den das auffällige Gebäude schon von weitem gemacht hatte, wurde von der Halle des O'Sullivan'S in vollendeter Weise bestätigt. Der geometrisch gemusterte Teppichboden, die eleganten Wand- und Deckenleuchten, die aus poliertem Messing und Tropenholz errichtete Rezeptionstheke, die aufgestellten Ledersessel - das Bild war, bis auf die modern gekleideten Gäste, perfekt. Der Koffer wurde an einen Pagen weitergereicht und Michael schrieb sich an der Rezeption ein. Nach der Vorlage des Passes drückte ihm der Portier einem kleinen verschlossenen Umschlag in die Hand, adressiert an 'Prof.M.N.Drake', einen Absender trug der Brief jedoch nicht. Achtlos steckte Michael den Umschlag in die Jackentasche und folgte seinem Koffer und dessen eiligem Träger. Kaum hatte der Page, um einige badische Pfennige reicher, Michaels Räume wieder verlassen, schlug Cassandra vor: "Laß uns ein wenig Merburg erkunden, während wir nach dem Kongressbüro suchen." "Eine gute Idee, meine Liebe", fand Michael, also holte er aus seinem Koffer die Aktentasche und daraus das Tagungsprogramm. Er überflog die einleitenden Seiten. "Der Vortrag heute abend findet in einem Saal des Freesthingh statt. Und da irgendwo ist auch das Kongressbüro... also auf zum Historischen Museum Merburg." Sie kamen allerdings nicht weit, denn ein Hinweisschild vor dem Hotelrestaurant führte zu einem überwältigenden Brunch-Bufett, das auf der Hotelterrasse unter einem wasserdichten Sonnensegel aufgebaut war. Dem konnte Michael nach dem frugalen Frühstück im Zug einfach nicht widerstehen. Cassandra seufzte ergeben über die Verfressenheit ihres Dichters - und ihres Taschentieres, das sich schon zielsicher auf einen Korb mit Kuchenstücken zubewegte - und litt, daß Michael sich einen Teller füllte und einen leeren Tisch am Rande der Überdachung aufsuchte. Doch sie ließ Michael allein. Michaels müßig umherschweifender Blick blieb an der Glasfront des Restaurants hängen. Durch eine ihrer Öffnungen kam ein hoch aufgeschossener, spindeldürrer Mann, dessen wirre blonde Haarmähne ihm das Aussehen eines Mops gaben. Auch auf die Entfernung erkannte Michael sofort die markante Gestalt - es war sein australischer Kollege Max Hiller. Auch Hiller erkannte Michael sofort und kam an seinen Tisch. "Hi Mike! What a beautiful day, isn't it?" begrüßte er Michael mit einem breiten Grinsen im Sonnenbrand-geröteten Gesicht. Michael warf einen Blick über das Geländer der Hotelterrasse hinunter auf die Bucht, die vom sanft fallenden Sommerregen wie in Nebel getaucht war. "In der Tat", erwiderte er dann auf englisch und schüttelte die dargebotene Hand. Natürlich war es kaum überraschend, Hiller zu treffen, denn er hielt am kommenden Tag einen Vortrag über den Artus-Mytos in der Romantik. Sie sprachen beim Essen ein wenig darüber und über Hillers Befürchtungen, daß es mit dem eröffnenden Abendvortrag - Keltische Mythen und mythische Kelten - zu Überschneidungen kommen könnte, insbesondere was die keltischen Opfer- und Weissagekessel und den Heiligen Gral in seiner keltischen Ausdeutung betraf. Und so kamen sie zwangsläufig auf die keltischen Opferriten. "Denkst du, die Kelten haben in vorchristlicher Zeit wirklich aus dem Blut von Menschen geweissagt?" fragte Hiller zwischen zwei Bissen von seinem Roastbeef-Sandwich. Damit bezog er sich auf einen schon Jahre zurückliegenden Aufsatz Michaels über Poseidonios' Reiseberichte. Michael zuckte mit den Schultern. "Ich bin kein Historiker... und auch kein Kelte..." Für einen Moment mußte er an seinen merkwürdigen Traum vom Tiarna-na-Sidhe denken. Aber selbst wenn er durch seine elsässischen und cornwall'schen Vorfahren keltisches Blut in den Adern hatte, so war er durch seine weitgehend von biblischen Werten bestimmte Erziehung doch deutlich zivilisiert worden. "Poseidonios ist für gewöhnlich verläßlich und der hat behauptet, daß der Kessel zum Auffangen des Blutes jedwelcher Art von Opfern gedacht war, auch von Menschen. Blut und Fleisch des Opfers wurden dem jeweiligen Gott, dessen Gunst man gewinnen wollte, dargebracht - sei es nun Lug, Taranis, Teutates oder ein anderer. Außerdem wurden zur Weissagung Menschen geschlachtet und aus dem Fall des Opfers und dem Fluß des Blutes lasen die Druiden dann die Zukunft." Michael hob sein Glas Tomatensaft und prostete Hiller zu. Hiller lächelte säuerlich. "Da kann man ja von Glück sagen, daß..." "Entschuldigen sie die Störung, meine Herren, aber ich habe gerade zufällig einiges von ihrem Gespräch mitbekommen. Ich hätte da ein paar Fragen", unterbrach ein schwarzhaariger junger Mann Hillers Gedankengang. Er war, anscheinend von einem Nebentisch kommend, an ihren Tisch getreten und stellte sich nun vor. "Mein Name ist Hawke, ich bin Pathologe bei der Gerichtsmedizin der hiesigen Polizei." Hiller schüttelte die Hand des dunkelhäutigen Mannes, den Michael zunächst nur von hinten sehen konnte. "Ich bin Max Hiller, und das ist Mike Drake. Wir sind wegen der Philologentagung hier... du hast also berufliches Interesse an antiken Mordmethoden?" "So etwas in der Art", bestätigte der Pathologe etwas zögernd. "Setz dich doch zu uns", lud Hiller den Coroner ein, der sich gerade zu Michael wandte. "Erfreut, sie kennenzulernen." Michael war nicht zu mehr fähig, als die dargebotene Hand mechanisch zu schütteln und den etwa dreißigjährigen Mann anzustarren. Es konnte sich kaum um eine Einbildung handeln, wenn auch Hiller den Mann sah. Doch das Gefühl, eine Erscheinung zu haben, war offenbar gegenseitig, denn auch Hawke starrte Michael an, aus goldenen Augen, die ihn, wie seine ganze sonstige elegante Erscheinung, zu einem modernen Ebenbild der Traumgestalt 'Nefut' machten. "Kennen wir uns nicht von... nein", begann Hawke etwas verwirrt. "Irgendwo müssen wir uns schon begegnet sein", räsonierte Michael, der sich zusammenreimte, daß er dem Arzt Nefut in seinem Traum die Gestalt eines ihm bekannten Arztes gegeben hatte. Aber wieso hatte er sich den versklavten Wüstenprinzen im 'König für eine Nacht' so vorgestellt? Und er konnte sich auch nicht an eine Begegnung mit Hawke erinnern. "Wenn wir uns schon begegnet sind, kann das nur in Kanada gewesen sein. Bis vor vier Monaten habe ich dort gelebt", bemerkte Hawke heiser, setzte sich und nahm einen Schluck aus dem mitgebrachten Glas Wasser. "Vielleicht seid ihr einander im Traum begegnet", witzelte Hiller und Hawke wurde so bleich, wie es sein dunkler Teint nur zuließ. Michael spührte einen eisigen Klumpen im Magen, um den sich das zweite Frühstück in unangenehmer Weise zusammenballte. Er war nie in Kanada gewesen. "Ihr guckt beide, als würdet ihr Gespenster sehen", fuhr Hiller in seiner üblichen, völlig unsensiblen Art fort, bezwang dann jedoch seine Erheiterung und wandte sich an Hawke: "Du hattest Fragen zu unserem Gespräch, wenn ich richtig verstanden habe?" Man konnte Hawke förmlich ansehen, wie er seine Gedanken zusammensammelte. Schließlich gab er sich einen Ruck, vermied jedoch, Michael anzusehen. "Es geht um die keltischen Menschenopfer... wurde den Opfern dazu ein Messer ins Herz gestoßen?" Michael versuchte, sich an den ungefähren Wortlaut bei Poseidonios zu erinnern. "Nach Poseidonios' dreiundzwanzigstem Buch wurde zur Weissagung den menschlichen Opfern ein Messer oberhalb des Zwerchfells zwischen die Rippen gestoßen." Hawke sah ihn nun doch direkt an. "Also das Messer traf das Herz!" folgerte er nachdrücklich. "Ist aus den antiken Berichten noch weiteres über den Opferritus bekannt?" "Blutige Details und sowas", assistierte Hiller dem Pathologen und sah neugierig zu Michael. "Du bist hier der Spezialist für die vorchristliche Zeit." "Nun...", begann Michael etwas hilflos, "...ich weiß nur, was bei Poseidonios dazu steht, und der ist nicht sehr genau bei den Opferriten." "Was ist mit gemalten Symbolen auf den Körpern der Opfer, Kränzen aus Eichenlaub und so weiter?" fragte Hawke wieder. "Darüber weiß ich nichts", gab Michael zu. "Aber soweit ich es beurteilen kann, könnte das zum Opferritual gehört haben. Symbole waren den Kelten sehr wichtig, und ihren Göttern waren jeweils bestimmte Bäume heilig." "Zu wem gehörte die Eiche?" fragte Hawke prompt. "Meines Wissens zu Taranis, dem Kriegs- und Himmelsgott. Da er Blitze aussendet, wurde er von den Griechen mit Zeus gleichgesetzt. Ich bin allerdings kein Kelten-Spezialist. Ich habe nur vor einigen Jahren für einen Aufsatz über Poseidonios dazu recherchiert." Ein uniformierter Polizist trat in dem Moment zu den drei Männern an den Tisch, begrüßte den Coroner kurz und beugte sich zu ihm hinunter, um ihm im Flüsterton etwas mitzuteilen. Hawke nickte knapp und stand auf. "Es tut mir leid, ich muß gehen. Vielleicht können wir uns noch einmal ausführlicher unterhalten." Bevor er ging, warf er Michael noch einen langen, nachdenklichen Blick zu, dann verließ er mit dem Polizisten die Terrasse des O'Sullivan'S. Hiller sah den beiden nach, dann drehte er sich wieder zu Michael. "Es heißt, früh am Morgen habe man bei Beginn der Ebbe am Strand die Leiche einer Frau gefunden", erklärte er ungefragt. "Und sie soll zu Lebzeiten hier im O'Sullivan'S gewohnt haben. Die Polizei hat durch die Befragung des Personals richtig den Betrieb aufgehalten. Hast du nichts davon gemerkt?" Michael schüttelte nur den Kopf und versuchte zu ergründen, wieso er und der falkenäugige Pathologe sich im Traum begegnet waren. "Nach den Fragen, die der Coroner stellte, hat sich da wohl jemand an einem keltischen Opferritus versucht, meinst du nicht?" Michael schrak auf aus seinen Gedanken. "Du wirst wohl recht haben", antwortete er nur zerstreut, als er Hillers fragenden Blick auf sich ruhen sah. "Hast du schon beim Tagungsbüro eingecheckt?" wollte Hiller dann völlig zusammenhanglos wissen. "Für den Abendvortrag muß man sich nämlich eine Eintrittskarte besorgen." Das wußte Michael natürlich aus dem Programm, aber es erinnerte ihn daran, daß er eigentlich mit Cassandra auf dem Weg zum Tagungsbüro war. Inzwischen hatte es sogar aufgehört zu regnen, und die Sonne war herausgekommen. Also verabschiedete Michael sich von Hiller, sie verabredeten sich zu einem gemeinsamen abendlichen Drink an der Hotelbar, und Michael ging. * * * Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)