Eren von tears-girl (Geheimnisse der Turanos) ================================================================================ Kapitel 1: Das neue Experiment ------------------------------ Draußen vor dem Fenster regnet es in Strömen. Immer wieder erhellt ein Blitz den wolkenverhangenen Himmel und lauter Donnerknall durchbricht das stetige Trommeln der Wassertropfen gegen die Glasscheibe. Wegen den dichten, dunklen Wolken ist es für den Mann unmöglich zu sagen, welche Tageszeit gerade ist. Er steht in einem gut fünfundzwanzig Quadratmeter großen Raum mit einer Fensterfront an der Außenmauer des Gebäudes, das so hoch ist, dass der Mann über die anderen Dächer der Stadt blicken kann. Das Büro liegt in Finsternis gehüllt, lediglich die zuckenden Blitze tauchen es für den Bruchteil einer Sekunde in ein bedrohliches Spiel aus Licht und Schatten. Der Strom ist ausgefallen. Zumindest in den überirdischen Stockwerken des Wolkenkratzers. Das Gewitter und seine Blitze sind nicht Schuld daran, sondern die Menge an benötigter Energie für das Geschehen in den geheimen, unterirdischen Bereichen. Den Vorgängen im Bunker. Der Sturm ist nur Tarnung, damit niemand Verdacht schöpft, weshalb eines der größten Gebäude der Stadt plötzlich ohne Strom dasteht. Das Sakko seines feinen dunkelgrauen Anzugs hängt über seiner Stuhllehne und den Knoten der Krawatte hat er gelockert. Seine dunkelblonden Haare hat er zu einem kurzen Pferdeschwanz am Hinterkopf frisiert und der Bart ist frisch gestutzt. Der Mann sieht durch den Regen auf die Stadt hinaus. Ernst. Überlegend. Planend. Ungeduldig. Er wartet auf den Bericht der geheimen Etagen und geht bereits jetzt die nächsten Schritte seines Plans durch. Falls der Bericht zu seiner Zufriedenheit ausfällt. Dabei umklammert er dieTasse seines Kaffees so fest, als könne er die Antworten aus ihr herausquetschen. Entlang der Wände links und rechts reihen sich deckenhohe Regale aneinander, überfüllt mit Ordnern, Büchern und Akten. Vor dem großen Schreibtisch mit Laptop und Papierstapeln stehen vier gemütliche Stühle für Kunden und Meetings bereit. Doch heute wird keiner kommen. Heute hat er keinen Kopf für die nervenaufreibenden Gespräche über Verkaufszahlen und Marketingideen. Nein. Schon seit Stunden kann er an nichts anderes mehr denken, als an das, was im Bunker geschieht. Seufzend stellt er seinen mittlerweile kalten Kaffee auf den Untersetzer am Schreibtischab. Gegenüber der Fensterfront führt eine dunkle Doppeltür auf den Gang zu den anderen hochrangigen Büros hinaus. Doch die wissen nichts über das, was unter ihren Füßen vor sich geht. Das geht nur den Mann und die von ihm persönlich auserwählten Mitarbeiter etwas an. Alle anderen kümmern sich um die Scheingeschäfte der Firma. Die Finger hinter dem Rücken ineinander verschränkt hängt er seinen Gedanken nach, ohne das Klopfen an der Tür zu bemerken. Erst als diese geöffnet wird und eine junge Frau den Kopf hereinstreckt, kehrt er in die Gegenwart zurück. „Verzeihen Sie die Störung, Herr Turano, aber ich habe Neuigkeiten", berichtet sie. Der Mann dreht sich vollständig um und winkt sie ungeduldig herein. Die Frau schließt die Tür hinter sich und bleibt vor dem Schreibtisch stehen. Ein paar rote Strähnen haben sich aus ihrem Dutt gelöst, die ihr jetzt ins Gesicht fallen. „War das Experiment erfolgreich?", möchte er sogleich erfahren. Die Frau schiebt ihre Brille hoch und holt ein kleines Tablet hervor, das sie unter ihrem langen Laborkittel versteckt hatte. Sie tippt kurz darauf herum, bis sie die richtige Stelle gefunden hat und sieht dann wieder ihren Chef an. Ihr Gesicht verrät nichts. „Experiment HHM-562, Kennung DEM, hat sowohl das unverdünnte DS0- als auch das ES0-Serum eingesetzt bekommen. Momentan ist es noch nicht einsatzbereit, aber bald. Somit ist es das erste Exemplar, das beide Seren angenommen hat", berichtet sie. Ein erschöpftes, aber strahlendes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. „Herr Turano, es war ein Erfolg." Die Abkürzungen und Codierungen sind Absicht, damit mögliche Lauscher nichts mit den Informationen anfangen können. Der Geschäftsleiter braucht einen Moment ehe er die Bedeutung ihrer Worte versteht. Langsam blinzelt er vor sich hin. „Sind Sie sicher?" Sie nickt, geht einen Schritt vor und legt das Tablet vor ihm auf den Tisch. „Wir haben es geschafft." Turano nimmt das Tablet in die Hand, um sich die Notizen und Ergebnisse darauf durchzulesen. Nach jeder Zeile verschwindet die Sorge über einen weiteren Fehlschlag mehr und mehr. Seit fast zwei Jahrzehnten versuchen die Firmenwissenschaftler schon diese Versuchsreihe erfolgreich abzuschließen. Bisher ist jedes Experiment gescheitert. Kein Ausgangsmaterial war stark genug beide Serumvarianten zugleich zu ertragen. Bis jetzt. „Endlich. Gute Arbeit." Turano legt das Tablet zurück auf den Tisch, legt die Hände wieder hinter den Rücken und atmet einmal mit geschlossenen Augen tief durch. „Haben wir schon Daten über die Fähigkeiten?" Die Wissenschaftlerin schüttelt bedauernd den Kopf. „Wir wollten abwarten bis wir sicher sein können, dass DEM mit den Seren klarkommt, bevor wir mit den Untersuchungen beginnen." Der Mann nickt verstehend. „Gut. Bring es in eine Kammer und hol mich sobald es bereit ist. Ich will mir meine neue Errungenschaft ansehen. Und lass es von zwei Leuten bewachen." „Natürlich, Herr Turano." Die Frau nimmt das Tablet wieder an sich, deutet eine leichte Verbeugung an und verlässt den Raum. Sobald die Tür ins Schloss gefallen ist, dreht sich Herr Turano wieder zur Fensterscheibe um. Ein zufriedenes Lächeln hebt seine Mundwinkel an. Endlich hat es geklappt. Endlich haben sie jemanden gefunden, der stark genug ist, um beide Seren verkraften zukönnen. Es hat so lange gedauert, so viele Fehlversuche gekostet, so viele unkalkulierbare Probleme ergeben ... Aber das ist jetzt Vergangenheit. Jetzt beginnt endlich die nächste Stufe der Experimentreihe. Er ist nur der Anfang seines großen Traums. Dann flackern die eingelassenen Lampen in der Zimmerdecke und erhellen das Büro. Der Strom ist wieder da und verleiht dem Mann eine unheimliche Maske aus Schatten. Ja, wenn HHM-562 soweit ist, kann Turano mit Projekt Apex Life beginnen. Auf diesen Moment wartet er schon eine gefühlte Ewigkeit. Tief unter der Erde des Turano Industries Wolkenkratzers, dem TuranoTower, liegt der Bunker. Die Ebenen der geheimen Forschungen und Experimente. Der Aufzug, der dorthin fährt, ist mit einer nicht hackbaren Schlüsselkarte und einigen Sicherheitsschleusen und Scanns gesichert, sodass auf alle Fälle nur diejenigen Zutritt bekommen, die dort auch was zu suchen haben. Außerdem sind die Knöpfe für diese Etagen erst sichtbar, wenn alle Sicherheitsvorkehrungen bestanden wurden. Und selbst dann gibt es noch Einschränkungen. Nicht jeder der dort arbeitet darf in jedem Stock herumspazieren. Die einzige Ausnahme ist Herr Benedikt Turano selbst und eine kleine erlesene Gruppe aus den treuesten Mitarbeitern. Das Stockwerk -01 beherbergt die verschiedenen Labore, Untersuchungs-, Missions- und Lagerräume für verschiedenste Geräte, Substanzen, Materialien und was sonst noch irgendwo Verwendung findet. In -02 sind eine große Sporthalle, etliche Fitnessgeräte und zwei Schwimmbecken zu finden. Hier werden die Experimente nach physischen und psychischen Fähigkeiten untersucht, getestet und gefördert. In dem wie ein Wagenrad aufgebautem Stockwerk -03 sind die überlebenden Experimente untergebracht, sortiert nach ihren Experimentnummern und Kennungen. Jede Speiche des Rads ist ein Gang, der mit einer Liste versehen ist, damit man auf einem Blick weiß, welche Experimente wo zu finden sind. Bis zu zehn Experimente können pro Speiche leben, fünf Zellen auf jeder Seite. Außerdem ist im Zentrum der verzweigten Gänge ein Aufenthaltsraum zu finden, einer der wenigen Orte, an denen sich die Experimente frei bewegen dürfen. Dennoch werden sie immer von Kameras und wachsamen Männern und Frauen in Uniformen beobachtet. Die einzelnen Zellen sehen alle identisch aus. Ein neun Quadratmeter großer Raum in Weiß mit einer dicken Spezialglasscheibe als Zugang zum Flur. Ein paar kleine Löcher darin ermöglichen den Luftaustausch. Die Lampen sind hinter milchigen Plexiglasplatten in der Decke versteckt. Bis auf einem einfachen Bett und einer Toilette in der Ecke ist der Raum leer. Von außen sind die Insassen durch ihre Experimentnummern und Kennungen mit Klebefolie an der Scheibe gekennzeichnet. Während in den meisten Gängen mindestens vier, fünf Insassen leben, ist in dem kurzen Flur mit der Beschriftung HHM-Reihe lediglich eine Zelle belegt. Vor dieser stehen zwei Wachen in dunklen Uniformen mit metallischen Schutzplatten an Armen, Beinen, Brust und Rücken und einer dicken Schutzweste offen darüber. Turano ist ein vorsichtiger Mann. Jeder trägt einen eingestickten Namen mit Mitarbeiternummer an der Schutzweste. Im Bunker sind nicht nur die Experimente ordentlich nummeriert. In den Händen halten sie längliche, schwarze Kästchen: ein Notfallgerät, um die Experimente unter Kontrolle zu behalten, ohne ihnen zu schaden. Zumindest nicht zu sehr. Dafür sind sie zu wertvoll und zu teuer in der Herstellung gewesen. Draußen ist die Sonne schon zur Hälfte aufgegangen, die Gewitterwolken haben sich vollständig verzogen und es verspricht ein schöner Tag zu werden. Doch das interessiert die Menschen im Bunker kein bisschen. Es gibt nicht einmal Fenster, durch die sie schöne Tage hätten bewundern können. Alles was sie hier sehen ist steril, weiß, kalt. Die einzige Abwechslung bieten die Experimente, die sie beobachten, trainieren und erforschen. Das Experiment, dass die beiden bewachen, ist der neueste Erfolg der Firma: HHM-562, Kennung DEM. Kein lebloses Objekt, sondern ein echter, lebender Mensch. Der Junge ist etwa vier Jahre alt. Er liegt friedlich auf dem Rücken, die Arme links und rechts neben sich auf einer dünnen Baumwolldecke. Seine Haut ist blass, was nach all den Jahren hier unten kein Wunder ist. Bis vergangene Nacht hat er sein Leben im künstlichen Koma in einem Glaszylinder verbracht. So wie alle Probanden bis sie für ein Experiment ausgewählt werden. Seit einigen Stunden liegt er ohnmächtig im Bett. Seine Brust hebt und senkt sich gleichmäßig. Wann er erwacht, lässt sich nicht vorhersehen. Deshalb sollen die beiden Männer ihn auch im Auge behalten. Deswegen und weil er nun mal der erste Überlebende der HHM-Reihe ist. Niemand kann sagen, wie er reagieren wird, wenn er erwacht. Von seinen Kräften einmal ganz abgesehen. Die sind von Experiment zu Experiment und Versuchsreihe zu Versuchsreihe unterschiedlich. Es ist immer eine Überraschung was dabei herauskommt. Allmählich wird die Atmung des Jungen schneller, hektischer und der friedliche Ausdruck auf seinem kindlichen Gesicht verschwindet. Er wirkt jetzt verkrampft, so als hätte er Schmerzen. Die Augen fest zusammengekniffen, den Kiefer angespannt. Durch das leise Winseln werden auch die Wachen auf das veränderte Verhalten des Experimentjungen aufmerksam. Der Mann mit den dunkelbraunen, kurzen Haaren und dem Schnauzbart mustert unsicher den Jungen durch die Scheibe. „Meinst ... Meinst du wir sollten jemandem Bescheid geben?" Sein Kollege zuckt genauso unwissend mit den Schultern. „Keine Ahnung. Falls wir Turano umsonst nerven, feuert er uns doch, oder?" „Ich weiß es nicht. Und wenn es genau das ist, was wir melden sollen?", grübelt der Erste weiter. Keiner der beiden hat je zuvor diesen Wachdienst übernommen, dementsprechend verunsichert sind sie, was jetzt zu tunist. Als DEM plötzlich kurz aufschreit zucken die Männer erschrocken zusammen und umklammern überfordert ihre Kästchen. „Ich ruf jetzt Turano an. Wenn er jetzt aufwacht und wir dran schuld sind, dass er es verpasst, dann ..." Ein Schauder unterbricht ihn. „Ich will mir das gar nicht vorstellen." Er löst sein Funkgerät vom Gürtel und drückt auf den Knopf, es gibt nur eine Frequenz, sodass ihm erspart bleibt die richtige zu suchen. „Turano, Sir, Wache 1245 hier, können Sie mich hören?" Es rauscht zunächst, dann meldet sich am anderen Ende eine verschlafen klingende Stimme: „Turano hier. Was ist?" „Experiment HHM-562 zeigt Anzeichen dafür aufzuwachen." Die Stimme des Mannes zittert leicht. Er weiß, was ihn und seinen Kollegen erwartet, sollte es ein einfacher Fehlalarm sein. Turano ist nicht der Typ, der zweite Chancen verteilt. Sofort scheint der Firmenchef, der wohl in seinem Büro eingeschlafen ist, hellwach zu sein. „Bin schon unterwegs." Damit ist die Verbindung unterbrochen. Wache 1245 wartet noch einen Moment überrumpelt auf weitere Befehle oder Anweisungen oder Irgendwas. Aber es bleibt still. Er schluckt einmal und sieht dann zu seinem Partner. „Turano ist auf dem Weg." Der Braunhaarige nickt, dann drehen beide ihre Köpfe zur Zelle und beobachten mit gemischten Gefühlen den Jungen, der seinen Kopf immer unruhiger von links nach rechts und wieder zurückwirft. Falten zerfurchen seine junge Stirn und seine Finger bohren sich verkrampft in die Decke. Es ist, als würde ein kleines Männchen mit einem Presslufthammer von Innen gegen seinen Schädel donnern. Es wird schlimmer und schlimmer bis es sich anfühlt, als würde sein Kopf jeden Moment wie ein Wasserballon platzen. Er hält es nicht mehr aus. Von einer Sekunde auf die andere sitzt er aufrecht auf der Matratze, beide Hände krampfhaft an die Schläfen gepresst und schreit gegen den Schmerz an. Seine Stimme wird von den Wänden der Zelle zurückgeworfen, bringt die Glasscheibe zum Vibrieren und das Licht zum Flackern. Die Augen, die nicht mehr ganz menschlich wirken, hat er weit aufgerissen, die roten Adern darin treten deutlich hervor. Während das linke Auge eine goldene Iris besitzt, ist die des rechten rot, umrahmt von einer schwarzen Sklera. Immer mehr seiner braunen Haare färben sich, ohne einem bestimmten Muster zu folgen, schwarz oder weiß. „Was ist denn jetzt los?!" Wache 1245 richtet abwehrend seine kleine Waffe auf die Zelle und tritt zwei Schritte zurück. Der Braunhaarige drückt sich bereits an die Scheibe der gegenüberliegenden Zelle. „I-Ich habe keine Ahnung. Ist das normal? Passiert das bei allen Experimenten?" „Glaubst du etwa, ich wüsste das?!", fragt der Wachmann überfordert. Für ihren ersten Wachdienst, ist das einfach zu viel. Weshalb gerade zwei Neulinge dafür ausgewählt wurden wissen sie nicht. Das Schutzglas bekommt Risse. Ganz zart, klein zunächst, aber mit jeder Sekunde werden sie größer, länger bis die ganze Fläche wie ein Spinnennetz aussieht. Das Vibrieren erzittert die einzelnen Scherben so stark, dass bereits die ersten herausfallen, wodurch auch der Rest der instabil gewordenen Schutzscheibe in sich zusammenbricht. Ein Meer aus Glassplittern verteilt sich über den gefliesten Boden. Die Wachen weichen zitternd zurück. Der Junge hat mittlerweile aufgehört zu schreien. Er sitzt mit geschlossenen Augen noch immer aufrecht im Bett, die Hände an den Schläfen. Nachdem er ein paar Mal tief ein- und ausgeatmet hat, um sein rasendes Herz zu beruhigen und die Kopfschmerzen zu mildern, öffnet er seine Lider. Nur um sie sofort wieder zuzukneifen. Das grelle Weiß überall blendet seine empfindlich gewordenen Augen. Nach wenigen Sekunden versucht er es erneut. Diesmal ist er auf die Helligkeit vorbereitet, sodass es zwar noch immer brennt, jedoch mit jedem Blinzeln erträglicher wird. Seine Haare sind plötzlich wieder einfarbig braun, auch seine Augen sehen wieder wie die jedes blauäugigen Menschen aus. Das steigert die Panik der Wachen noch weiter. Ihnen wurde nämlich nicht einmal erklärt, wen oder was sie da genau bewachen. Langsam lässt der Junge die Arme auf die Decke sinken und sieht sich in dem kleinen Raum um. Sonderlich viel zu sehen gibt es ja nicht, dennoch wird sein Blick immer verwirrter, immer verängstigter. Besonders als er das Scherbenmeer entdeckt und die beiden Männer in Schutzausrüstung, die sich noch panischer als er selbst soweit wie möglich an die Wand drücken und ihn mit ängstlichen Gesichtern beobachten. Dabei umklammern sie verkrampft die kleinen Kästchen, die Daumen schweben bereit über dem Fire-Knopf. Verwirrt senkt der Experimentjunge die Augen, sieht sich erneut nach der Quelle der Angst der Beiden um und mustert schließlich sich selbst, als er sonst niemanden entdeckt. Er kann jedoch nichts Bedrohliches an sich feststellen. Er sitzt doch nur im Bett, trägt ein hässliches, einfarbiges T-Shirt, das ihm viel zu groß ist und eine dazu passende genauso hässliche Hose, die ihm etwas übers Knie reicht. Die Füße sind nackt. An seinen Handgelenken entdeckt er seltsame Ringe, wie Armreife. Sie sehen wie aufgemalt oder eintätowiert aus. Feine einfarbige Linien, nur einen Millimeter breit. Während der rechte Ring schwarz ist, ist der linke weiß. Dann fällt ihm noch etwas Merkwürdiges ins Auge. Er dreht die linke Handfläche nach oben, sodass er die Unterseite seines Unterarmes besser sehen kann. Dort wurde etwas eintätowiert. Zwei Zeilen mit einer seltsamen Buchstaben- und Zahlenkombi, die er nicht lesen kann. Vorsichtig fährt er mit den Fingern darüber und fragt sich, was das bedeutet. Eigentlich, jetzt wo er so darüber nachdenkt, findet er überhaupt keine Informationen in seinem Kopf. Alles ist weg. Wie leergefegt. Wieso kann er sich an nichts erinnern? Und wo er schon dabei ist auszuflippen ... Wo ist er eigentlich? Dieser Ort kommt ihm alles andere als bekannt vor. Was macht er hier? Sein Herzschlag wird wieder schneller, gleichzeitig nimmt der Kreisel in seinem Kopf an Schwung zu und etwas, das wie Säure brennt, rast durch seine Adern. Sein Blickfeld dreht sich bis er das Gefühl hat auf einem Schiff zu sein. Als auch noch sein Magen auf das Karussell aufspringt, wird er gezwungen die Augen zuschließen und eine Hand auf den Mund, die andere auf den Bauch zu drücken. So verharrt er ein paar Minuten, wartet darauf, dass die Karussellfahrt eine Pause einlegt. Die Wachen wagen es nicht sich zu bewegen. Sie brauchen schon ihre gesamte Willenskraft, um überhaupt im Flur stehen zu bleiben und nicht pausenlos den Knopf zu drücken. Es ist schließlich nur ein Kind, zwar ein nicht ganz normales Kind, aber immer noch ein Kind. Turano würde sie umbringen, wenn sie seine kostbaren Experimente grundlos schädigen. Sie sind schließlich um ein vielfaches mehr wert als jeder gewöhnliche Mitarbeiter in diesem Gebäude. Das wurde ihnen auch sofort am ersten Arbeitstag klargemacht. Keine fünf Minuten ist es her seit der Mann seinen Boss angerufen hat, als auch schon das Echo von eiligen Schritten durch die Gänge hallt. Den beiden Männern ist die Erleichterung und Anspannung deutlich vom Gesicht abzulesen. Sie wissen nicht was sie als nächstes erwartet. Vermutlich sollen sie die Scherben wegräumen und den Jungen verlegen. Genau davor graust es sie. Was die Leute im Labor mit ihm angestellt haben ist topsecret. Nur Turano und die Wissenschaftler wissen es. Gewöhnliche Wachen, die nur dafür sorgen sollen, dass alles ruhig bleibt, sind nicht befugt so etwas zuerfahren. Natürlich hat auch das Kind die sich nähernden Schritte bemerkt. Es dreht den Kopf etwas, um mit einem Auge den Neuankömmling ansehen zu können. Die Übelkeit ist noch immerpräsent. Turano bleibt für wenige Sekunden fassungslos vor dem Flur stehen. Seine Augen weiten sich beim Anblick der Scherben. Nicht vor Sorge oder Panik, nein, vor Begeisterung und Zufriedenheit. Mit jedem knirschenden Schritt steigt seine Vorfreude. Wie bei einem kleinen Kind an Weihnachten. Den zitternden Wachen wirft er einen strengen Blick zu, doch schon im nächsten Wimpernschlag liegt seine volle Aufmerksamkeit auf seiner neuesten Errungenschaft. DEM senkt die Hand zurück auf die Decke. Wachsam beobachtet er die langsamen, vorsichtigen Bewegungen des fremden Mannes, der sich seinen Weg über den Glashaufen bahnt. Dabei bleiben die Augen ständig auf dem Kind haften. Dieses weiß nicht, was es von dem Mann halten soll, was er von ihm will. Ein mulmiges Gefühl breitet sich in seiner Magengrube aus, wodurch sein Bauch noch mehr verkrampft. Der fremde Mann geht neben dem Bett in die Hocke, lässt seine Augen noch einmal über den Raum und das Experiment schweifen, ehe er an den blauen Augen hängen bleibt. „Hallo,Kleiner. Wie geht's dir?" Der Junge ist sich nicht sicher, ob er antworten soll. Ob er überhaupt antworten kann. Sein Hals fühlst sich nämlich genauso geschunden an, wie der Rest seines Körpers. „Du brauchst keine Angst zu haben. Du bist hier in Sicherheit." Turano bemerkt den inneren Aufruhr des Vierjährigen. Es ist nichts Unerwartetes. Bei vielen anderen war es genauso. Noch dazu ist dieser hier jünger als die durchschnittlichen Experimente, wenn sie erwachen. Das könnte schwieriger werden. Oder leichter. Er setzt zwar ein freundliches Lächeln auf, doch seine Augen kneift Turano forschend zusammen. „Weißt du wer ich bin? ... Und wer du bist?" Frusttränen sammeln sich in den Kinderaugen und seine Finger graben sich in die Bettdecke. Was ist nur mit ihm geschehen? Hatte er einen Unfall? Eine starke Amnesie? Warum ist er dann nicht in einem Krankenhaus? Oder ist das hier eine Art Spezialklinik? Fragen über Fragen, die ihn nur noch mehr in Panik versetzen. Eine warme Hand auf der rechten Schulter lässt den Experimentjungen erschrocken zusammenzucken und instinktiv zurückweichen. Aber das Bett ist nicht breit und steht direkt an der Wand, sodass er sich nur die Schulter stößt. „Keine Sorge. Dein Gedächtnisverlust ist völlig normal", beginnt der Mann beruhigend, dabei setzt er sich auf die Bettkante. „Ich werde dir alles erklären, versprochen, aber zuerst bringen wir dich in dein Zimmer, damit du dich gründlich ausruhen kannst." Das Kind schüttelt die Hände des Fremden ab, der ihm gerade aus dem Bett helfen wollte. Er schluckt einmal, um seine trockene Kehle zu befeuchten und wagt dann einen Sprechversuch. Seine Stimme klingt sehr heiser, sehr kratzig und jedes zweite Wort erstickt bevor es seinen Mund verlässt. „Wer ... du? ... ich?" „Ich heiße Benedikt Turano, bin der Chef dieser Firma und der Einrichtung, in der du gerade bist. Und dein Name ist Eren." Turano stockt, scheint zu überlegen. Er wirft einen kurzen Blick zu seinen Wachen, die sich wieder etwas näher herangewagt haben. Dann sieht er mit einem warmen Ausdruck in den sonst so kalten Augen zu dem Jungen. „Ich bin dein Vater." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)