Das Auge des Phönix' von lady_j (Fernandez' und Alsters erster Fall) ================================================================================ Kapitel 2: Kapitel 2 -------------------- Kapitel 2 Wenig später saß Julia erneut neben Mathilda im Auto. Sie hatten Kuznetsov und Tachibana ins Präsidium geschickt, um die Vermisstenanzeige aufzugeben, und das Haus versiegelt, damit die Spurensicherung ihre Runde machen konnte. Nun machten sie sich auf den Weg zu Hiwatari Enterprises. „Was denkst du?”, fragte Julia in die ungewohnte Stille hinein (Mariam hatte immer sofort, wenn sie alleine waren, ihre Vermutungen geäußert). Mathilda betrachtete die Fotos, die sie mit ihrem Tablet gemacht hatte. „Schwer zu sagen”, meinte sie. „Wenn wirklich etwas gestohlen wurde, war es vielleicht ein Einbruch. Vielleicht hat Hiwatari die Einbrecher erwischt. Aber das überzeugt mich nicht.” „Ja”, bestätigte Julia, den Blick auf die Straße gerichtet. „Man sollte meinen, dass jemand, der in Kai Hiwataris Villa einsteigen will, alles minutiös geplant hat. Und mehr zusammenrafft, als ein paar Steine und Vasen.” „Vielleicht hat Hiwatari wirklich nur die Nase voll gehabt. Oder er taucht von allein wieder auf. Ich meine, er ist bei weitem nicht der erste, der sich etwas gönnen will, ein bisschen Acid schmeißt und nach zwölf Stunden irgendwo wieder zu sich kommt, ohne zu wissen, was er gemacht hat…” Julia schmunzelte. In einer Stadt wie Bakuten war das eher unüblich, aber sie hatte gelernt, dass bei reichen Menschen vieles möglich war. „Meinst du, er liegt irgendwo in der Gosse, in der Hand irgendeinen goldenen Becher und ein paar protzige Ketten um den Hals?”, fragte sie. Es gab ja nicht einmal Edelpuffs in Bakuten, die diesen Namen verdienten. Dafür musste man schon nach Tokio fahren. Bakuten war eine Stadt der Fabriken, der Werften, der günstigen Absteigen auf der einen und der gepflegten Vororte auf der anderen Seite. Und im Stadtzentrum standen die sauberen Bürotürme, in denen vermutlich einiges passierte, aber nichts, das an „Wolf of Wallstreet” herankam. Klar, Hiwatari Enterprises spielte wirtschaftlich in der oberen Liga, hatte aber einen astreinen Ruf als Familienunternehmen. Es gab nicht einmal die Andeutung irgendwelcher Eskapaden, nicht über Soichiro, und erst recht nicht über Kai, von dem die Welt so gut wie nichts zu wissen schien. Die Familie Hiwatari war wie Old Money, sie standen kaum in der Öffentlichkeit und waren peinlich darauf bedacht, nicht mit ihrem Besitz zu prahlen. Die größte Skandalnudel war wahrscheinlich Soichiros Sohn Suzumu. Aber der war nach dem Aufruhr darum, dass er das Erbe der Firma ausgeschlagen hatte, von der Bildfläche verschwunden. „Das sieht mir alles zu gestellt aus”, fuhr Mathilda in diesem Moment fort und wedelte mit ihrem Tablet. „Ich glaube Tachibana, aber sie und Kuznetsov müssen natürlich auch überprüft werden. Irgendwas ist hier faul.” Julia hob eine Augenbraue. Mit „Irgendwas” kamen sie nicht weiter. Aber Mathilda hatte recht. Auch ihr kam die ganze Sache seltsam vor. Vor allem, weil es keine Vorgeschichte gab. Normalerweise fand man immer Anzeichen, Umstände, Gründe für ein Verschwinden. Wenn dem nicht so war, wurde es wahrscheinlicher, dass wirklich ein Verbrechen geschehen war. Und dieser Fall hier… Dieser Fall sah gleichzeitig zu sehr und zu wenig nach Verbrechen aus. „Lass uns erstmal eine Bestandsaufnahme machen”, schlug Julia vor. „Wir können jemanden wie Kai Hiwatari nicht beurteilen, ohne sein Unternehmen zu kennen.” „Ich mag es nicht, in der Corporate World zu ermitteln”, murmelte Mathilda. „So etwas kann sehr schnell sehr hässlich werden.” Julia grinste süffisant. „Ich mag es, wenn’s hässlich wird.” Die Zentrale von Hiwatari Enterprises war ein Wolkenkratzer im Zentrum Bakutens, etwa zwanzig Minuten von Hiwataris Haus entfernt. Der Tag war genauso klar, wie es der Morgen versprochen hatte, und so spiegelte sich die Sonne im oberen Drittel der gläsernen Fassade. Im Gebäude selbst war es ruhig. Ein paar Menschen saßen wartend auf Stühlen, ein junger Rezeptionist lächelte sie freundlich an, als sie an seinen Tresen traten. „Fernandez und Alster”, sagte Julia. „Wir haben einen Termin mit Yuriy Ivanov.” Der Rezeptionist überprüfte ihre Polizeimarken, reichte ihnen Besucherausweise und führte ein kurzes Telefonat, sicherlich, um sie anzukündigen. Kurz darauf tauchte ein etwas hektisch wirkender Assistent auf, um sie in Empfang zu nehmen. „Wyatt Smith”, stellte er sich vor, „Ich bringe Sie zu Mr. Ivanov. Es geht um Mr. Hiwatari, nehme ich an?” „Wir sind nicht befugt, über Details zu sprechen”, erwiderte Mathilda schroff, woraufhin Smith den Kopf zwischen die Schultern zog. Er tat Julia beinahe leid. Sie stellte sich innerlich darauf ein, in Zukunft öfter die Rolle des Good Cop zu übernehmen. Mathilda jedenfalls schien keinerlei Interesse daran zu haben, über ihre Wortwahl oder ihren Ton nachzudenken. Mit Mariam hatte Julia die Rollen öfter gewechselt, sie konnte auch den Bad Cop spielen, wenn es nötig war. Hatte sogar einen gewissen Spaß daran. Allerdings bevorzugte sie es, sich vorher abzustimmen. Nun ja, sie waren beide in diesen Fall gestoßen worden, bevor sie auch nur einen Kaffee gemeinsam hatten trinken können. Das würde sich schon alles einpegeln. Hoffentlich. Sie fuhren in den fünfunddreißigsten Stock, dann führte Smith sie einen langen Gang hinunter. Der Teppichboden schluckte das Geräusch von Julias Hackenschuhen. Am Ende des Ganges befand sich eine unbeschriftete Tür, an die Smith leise klopfte, bevor er sie für Mathilda und Julia öffnete. Sie traten in ein Büro, dessen Außenwände genauso verglast waren wie die Villa am Morgen. Julia fragte sich, wie um alles in der Welt reiche Leute so leben konnten. Sie mussten sich doch ständig beobachtet fühlen. Oder erfreuten sich an dem Gedanken, dass, wäre nicht die Verspiegelung, alle ungeniert ihren Reichtum betrachten könnten. Ihre Gedankenspiele kamen zu einem abrupten Ende, als ihr Blick von der grandiosen Aussicht zum Schreibtisch wanderte, der einen nicht unbeachtlichen Teil des Raumes einnahm. An diesem Schreibtisch lehnte ein Mann: groß, schlank, teurer Anzug, silberne Uhr, rotes Haar. Stechende, blaue Augen, die ihren Blick hielten. Die Aussicht war soeben noch grandioser geworden. Mathilda trat einen Schritt vor, um ihm die Hand zu schütteln. „Mr. Ivanov, richtig? Ist das hier Ihr Büro?” „Nein, es ist Kais.” Ivanovs Hand wanderte von Mathilda zu Julia, sie war groß, sehnig und kräftig. Ohne es zu wollen starrte sie einen Moment zu lang auf das Stückchen Haut, das aus dem offenstehenden Kragen von Ivanovs Hemd hervorlugte. Sie erhaschte den Blick auf eine silberne Kette, doch bevor sie zu sehr über den Hauch Parfum, der ihr entgegenwehte, nachdenken konnte, brachte sie wieder etwas Abstand zwischen sich und ihr Gegenüber. „Sie wissen, warum wir hier sind?”, fragte sie. „Teilweise.” Ivanov wies einladend auf die Besucherstühle und ließ sich selbst in den Drehstuhl hinter dem Schreibtisch fallen. „Ich habe gehört, Kai sei … nicht zu Hause? Kuznetsov hat behauptet, er wäre verschwunden, aber Kuznetsov behauptet viel, wenn er verkatert ist…” Er lehnte sich zurück. „Als ich Kai heute Morgen versucht habe zu erreichen, ist er jedenfalls nicht ans Telefon gegangen.” „Und da haben Sie sich keine Sorgen gemacht?”, fragte Julia. „Passiert so etwas öfter?” „Nein, ich habe mir keine Sorgen gemacht”, sagte Ivanov. „Ich habe gedacht, vielleicht hat er sich etwas länger mit seiner Freundin vergnügt. Bei seinem Arbeitspensum in letzter Zeit gönne ich es ihm von Herzen. Ich war mir sicher, dass ich früher oder später von ihm hören würde.” „Hiromi Tachibana hat ihn als vermisst gemeldet”, sagte Mathilda. „Oh. Shit.” Zum ersten Mal fiel Ivanovs joviale Art von ihm ab. Für einen Augenblick wirkte es, als würde er sich ernsthaft Sorgen machen. Dann lehnte er sich räuspernd zurück. „Das ändert die Sache natürlich. Was brauchen Sie von mir?” „Fangen wir erstmal mit Ihnen an”, sagte Mathilda, die schon wieder ihr Tablet in der Hand hielt. „Sie sind…?” „Ich bin der COO von Hiwatari Enterprises. Chief Operating Officer. Kai ist das Gesicht des Unternehmens, er gibt die Richtung vor und agiert mit den Shareholdern. Ich kümmere mich um, naja, das operative Geschäft. Und ich bin Kais Stellvertreter.” „Das heißt, Sie schmeißen den Laden, wenn er nicht da ist”, vergewisserte Julia sich. „Jepp.” Ivanovs Lippen machten ein ploppendes Geräusch, als er das Wort aussprach. „Sie können von Glück reden, dass ich unseren Termin heute in den Plan quetschen konnte. Hier steht einiges Kopf, wie Sie sicher verstehen werden.” „Natürlich. Wir ziehen momentan mehrere Möglichkeiten…” „Wie lange kennen Sie und Hiwatari sich schon?”, ging Mathilda dazwischen. Julia warf ihr einen Seitenblick zu. Sie war es nicht gewöhnt, unterbrochen zu werden, und schon gar nicht von einer Kollegin. Doch Mathilda reagierte nicht auf ihre Verwirrung. Ivanovs Augenbrauen zuckten nach oben. „Wir haben uns kurz nach dem Studium kennengelernt”, sagte er. „Damals haben wir bei derselben Consultingagentur gearbeitet. Als Kai dann bei Hiwatari Enterprises eingestiegen ist, hat er mich abgeworben.” „Das heißt, Ihr Verhältnis ist nicht rein geschäftlich?” Dieses Mal ließ Ivanov sich Zeit mit seiner Antwort. Julia meinte, einen Hauch von Traurigkeit in seinen Mundwinkeln auszumachen, aber vielleicht sah sie auch einfach zu genau hin. „Ich würde gerne behaupten, wir wären befreundet”, sagte Ivanov schließlich. „Die Wahrheit ist, dass Kai recht zurückgezogen lebt und nur wenige Menschen an seinem Privatleben teilhaben lässt. Mehr als hier und da ein Drink nach der Arbeit war bei ihm nicht drin. Ich bin sicher, sein Bodyguard kennt ihn besser als ich.” Mathilda öffnete den Mund, doch dieses Mal beeilte Julia sich, ihr zuvorzukommen. „Haben Sie in letzter Zeit irgendetwas hier bemerkt?”, fragte sie. „War Hiwatari anders als sonst? Gab es Konflikte mit jemandem?” „Nichts Außergewöhnliches.” Ivanov hob die Schultern. „In einem Unternehmen wie diesem gibt es immer irgendwelche Konflikte. In letzter Zeit hat Kai sich ein paarmal über Wladimir Volkov beschwert. Die beiden haben wohl ein gemeinsames Investment geplant. Volkov ist ein ziemlich unangenehmer Kerl, wenn Sie mich fragen. Aber Kai scheint das im Griff zu haben.” „Wissen Sie, worum es bei dem Geschäft geht?”, sagte Julia. „Nein, da bin ich überfragt. Ich denke, Kai will das erst in trockenen Tüchern haben, bevor er bekannt macht, worum es sich handelt. Wäre nicht das erste Mal. Er hat die Angewohnheit, Dinge im Alleingang zu machen und mich vor vollendete Tatsachen zu stellen.” Wieder einmal sah er Julia direkt in die Augen und lächelte sie an. „Sollte ich etwas in Erfahrung bringen, kann ich mich gerne bei Ihnen melden. Für heute muss ich Sie leider schon verabschieden, der nächste Termin wartet.” Julia erwiderte sein Lächeln. Sie zog eine Visitenkarte hervor und legte sie auf den Tisch. „Falls Ihnen noch etwas einfällt“, sagte sie, „rufen Sie mich an.“ Ivanov beugte sich vor, um nach der Karte zu greifen. Dabei warf er ihr einen verschmitzten Blick zu. „Sehr gern.“ Er zwinkerte ihr zu, bevor er sich schwungvoll von seinem Stuhl erhob und Anstalten machte, sie zur Tür zu geleiten. „Also dann. Ich möchte nicht unhöflich sein, aber die Pflicht ruft.“ „Das verstehen wir.“ Julia spürte, wie seine Hand sehr leicht ihren Rücken streifte, als sie bei der Tür angekommen waren. Sie warf ihm ein weiteres Lächeln zu. „Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben, Mr. Ivanov.“ Als ihre Blicke sich ein letztes Mal trafen, hielt sie den seinen für einen Herzschlag länger, als es nötig wäre. Nicht nur, weil dieser Mann wirklich die blauesten Augen besaß, die sie jemals gesehen hatte. Sondern auch, weil, wenn er die Spannung zwischen ihnen in ähnlicher Intensität spürte wie Julia, er ihr in kürzester Zeit aus der Hand fressen würde. Julia war sich nicht zu schade, so etwas auszunutzen, um an Antworten zu kommen. Auf der anderen Seite der Tür wartete Wyatt Smith auf sie. Vermutlich traute man ihnen hier nicht zu, selbst den Weg nach draußen zu finden. Oder, was wahrscheinlicher war: sie sollten nirgends herumschnüffeln. „Wir sollten mehr über diesen Volkov in Erfahrung bringen”, sagte Mathilda. Sie klang etwas gereizt. Smith, der vor ihnen herlief, zuckte sichtlich zusammen und wandte sich zu ihnen um. „Wladimir Volkov? Der hatte Streit mit Mr. Hiwatari.” Julia und Mathilda blieben gleichzeitig stehen. „Tatsächlich?” „Ja.” Smith schien sich bewusst zu werden, dass er gerade zu viel sagte, hatte anscheinend aber auch das Bedürfnis, zu erzählen, was er erlebt hatte. „Ich musste gestern noch mal zurück ins Büro, weil ich ein paar Unterlagen vergessen hatte. Mein Büro liegt hinter Mr. Hiwataris, ich muss also an seiner Tür vorbei… und da habe ich gehört, wie sie gestritten haben. Mr. Hiwatari und Mr. Volkov, meine ich. Es war ziemlich laut.” „Und das hat niemand sonst bemerkt?” „Es war schon recht spät”, meinte Smith. „Die meisten anderen waren schon nach Hause gegangen.” Interessant, dachte Julia. Vielleicht steckte ja doch mehr hinter der Sache, als es den Anschein hatte. Sie wollte ihre Gedanken mit Mathilda teilen, doch diese hüllte sich in eisiges Schweigen, bis sie wieder einmal im Auto saßen. „Ist das deine Masche?”, fragte sie dann. „Du flirtest mit potentiellen Zeugen – mit potentiellen Verdächtigen! – um an Informationen zu kommen?” „Ach, deswegen bist du wütend?!“ „Beantworte bitte meine Frage.“ „Wenn jemand geflirtet hat, dann war das Ivanov“, meine Julia. „Was ist so falsch daran, das Spiel ein wenig mitzuspielen, wenn es seine Zunge löst? Keine Sorge, ich werde schon nicht gleich mit ihm ins Bett gehen. Meine Interessen liegen eher auf der anderen Uferseite.” Das war zu neunzig Prozent die Wahrheit. Ab und an gab es auch Männer, die Julia den Atem verschlungen – und ja, Ivanov gehörte definitiv dazu – aber das musste sie ihrer neuen Partnerin ja nicht sofort unter die Nase reiben. „Oh“, machte Mathilda und schien zum ersten Mal um eine Erwiderung verlegen. „Verstehe.” „Abgesehen davon“, fing Julia wieder an, erpicht darauf, das Gespräch wieder auf die professionelle Ebene zu heben. „Was hältst du von Ivanov? Zu glatt, oder?“ Mathilda schüttelte leicht den Kopf. Sie wischte auf dem Tablet herum, vielleicht googelte sie Ivanov gerade. „Der Kerl hat nichts Besseres zu tun, als sich sofort das Büro des CEOs unter den Nagel zu reißen, sobald der nicht da ist“, sagte sie. „Schien auch nicht sonderlich besorgt um Hiwatari zu sein.“ Sie schien einen Moment nachzudenken. „In solchen Firmen wird der CEO vom Verwaltungsrat bestimmt. Die Chancen stehen gar nicht mal so schlecht, dass Ivanov den Posten bekommt, wenn Hiwatari nicht wieder auftaucht.“ Julia nickte und biss sich auf die Unterlippe. Ivanov hatte ein astreines Motiv. „Lass uns abwarten, was die Spurensicherung findet“, meinte sie. „Verdächtige gibt es genug. Wenn es sich hier tatsächlich um ein Verbrechen handelt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)