Wetten, dass ...? von yamimaru ================================================================================ Kapitel 19: #19 --------------- Schon seit einer ganzen Weile saß Kaoru regungslos auf dem Sofa und sah aus dem Fenster. Draußen war es noch hell gewesen, als Die gefahren war, nun war die Sonne längst untergegangen und noch immer fielen vereinzelte Flocken vom Himmel. Er sollte langsam das Licht einschalten, aber ihm gefiel das unaufdringliche Leuchten des Weihnachtsbaums. Außerdem ließ es sich so besser nachdenken und nachdenken musste er unbedingt. Er wollte in seinen Erinnerungen versinken, in ihnen baden, sich ihnen ganz und gar hingeben, denn zum ersten Mal seit sechsundzwanzig Jahren besaß er Erinnerungen an seinen Freund, die ganz und gar ungetrübt waren.   ~*~   Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als er endlich wieder ausreichend denken konnte, um sich aus ihrem Kuss zu lösen. „Die, wir sollten nicht …“ „Kaoru, bitte, gib dem hier … gib mir eine Chance. Ich bin nicht mehr der verunsicherte Junge, der sich nicht anders zu helfen wusste, als sich selbst zu verleugnen. Ich bin auch nicht mehr der Mann, der dachte, nur mit einer Frau an seiner Seite sich und seine Familie glücklich machen zu können. Es tut mir so leid, dass ich damals nicht den Mut hatte, anders zu reagieren, dass ich dir nicht sagen konnte, wie ich wirklich empfinde. Bitte, geh nicht wieder auf Abstand, lass mich dir beweisen, dass ich mich geändert habe.“ „Die.“ „Ja?“ „Ich hab nicht vor, auf Abstand zu gehen.“ „Nicht?“ „Nein. Ich habe mehr als mein halbes Leben auf diese Chance gewartet, ich lasse sie jetzt sicher nicht ziehen.“ „Aber du sagtest doch …“ „Hättest du mich nicht unterbrochen, wüsstest du, was ich sagen wollte.“ „Tschuldige, verrätst du es mir?“ „Natürlich. Ich wollte sagen, dass wir nichts überstürzen sollen, mehr nicht.“ „Oh, aber wir überstürzen doch gar nichts.“ „Ach nein? Und was machen dann deine Hände unter meinem Shirt?“ „Ehm, ja das …“ „Du bist unmöglich.“ Ihr zweiter Kuss war herrlich unkoordiniert, als er das Lachen von Dies Lippen trank und dabei ganz vergaß, dass noch immer Hände über die nackte Haut seines Rückens streichelten. * Er hatte Die den roten Schal zurückgegeben. Es war ihm schwerer gefallen, als er gedacht hätte, und gleichzeitig war da ein Gewicht, das sich nach sechsundzwanzig Jahren endlich von seinem Herzen gehoben hatte.  „Den hast du noch?“ „Er gehört dir, natürlich habe ich den noch.“ Ihr dritter Kuss war nicht mit den ersten beiden vergleichbar, denn diesmal hatte Die die Initiative ergriffen. Er war alles, was seinen Freund ausmachte. Feurig, leidenschaftlich, unüberlegt und, nach einem Moment des Innehaltens, liebevoll, beinahe zurückhaltend. * Er hatte darauf bestanden, dass Die zu seinen Eltern fuhr, obwohl die Worte wie Asche auf seiner Zunge geschmeckt hatten und der Gedanke, seinen Freund gehen zu lassen, kaum zu ertragen war. „Ich kann bleiben, wenn du magst. Der Schnee bietet mir die perfekte Ausrede, ohne dass mir jemand böse wäre.“ „Fahr zu ihnen, du hast es ihnen versprochen.“ „Aber, sollten wir nicht erst über alles reden?“ „Doch, unbedingt, aber nicht jetzt. Nun sieh mich nicht so an. Wir haben so lange gewartet, jetzt läuft uns die Zeit auch nicht davon, außerdem … Ich muss das alles erst verarbeiten, verstehst du? Bevor ich darüber reden kann, meine ich.“ „Ich …“ „Was ist?“ „Ich hab Angst, dass du es dir anders überlegst, sobald ich weg bin.“ „Warum sollte ich das tun? Die letzten beiden Tage waren die Hölle für mich, weil ich mich mit jeder Minute in deiner Gegenwart mehr zu dir hingezogen gefühlt habe. Denkst du wirklich, ich mache jetzt einen Rückzieher und lebe den Rest meines Lebens so weiter?“ „Kaoru, es tut mir so leid. Alles, auch die letzten beiden Tage. Ich wollte doch nur Zeit mit dir verbringen und nicht, dass du dich quälen musst.“ „Pscht, alles gut, hörst du? Das war nicht als Vorwurf gemeint. Ich bin froh, dass du hier warst. Dank unserer Wette und deines Sturkopfs habe ich endlich den Punkt erreicht, an dem ich nicht mehr zurückkann. Natürlich gibt es Dutzende Gründe, weshalb es eine dumme Idee ist, etwas mit meinem Freund und Arbeitskollegen anzufangen, aber weißt du was? Fuck it! Ich will einmal in meinem Leben unvernünftig sein.“ „Gott, Kaoru, ich auch.“ Ihr vierter Kuss war wie eine Kollision zweier Planeten – versengend, zerstörerisch und dennoch das spektakulärste Gefühl, das Kaoru je verspürt hatte. * Er hatte Die zur Tür gebracht. „Fahr vorsichtig, hörst du.“ „Ich kann bleiben.“ „Die, mach es dir und mir nicht noch schwerer. Du weißt, dass es so am besten ist.“ „Kannst du nicht einmal die Logik vergessen? Was ist damit, dass du unvernünftig sein wolltest.“ „Vermutlich habe ich meine Portion an Unvernunft bereits aufgebraucht. Es tut mir leid.“ „Schon gut, komm her.“ Ihr fünfter Kuss war bittersüß, weil sie beide wussten, dass sie Zeit brauchten und doch nicht voneinander lassen wollten. Er war in Dies Arme gesunken, die sich so einladend für ihn geöffnet hatten, hatte sich gegen den größeren Körper gelehnt und sich halten lassen. Er, der Leader, der Mann, dem seine emotionale Unabhängigkeit über alles ging, hatte sich für einen kurzen Moment erlaubt, schwach zu sein, und es hatte sich richtig angefühlt.   ~*~   Vor einer halben Stunde hatte Kaoru die Nachricht erhalten, dass sein Freund gut bei seinen Eltern angekommen war und er hatte sich sehr zurückhalten müssen, nicht etwas Dummes zu tun und ihm doch zu folgen. Alles zog und zerrte an ihm, als wäre Die plötzlich zum Zentrum seines Universums geworden. Jede Distanz zwischen ihnen war zu viel und dennoch war er froh, nicht nachgegeben zu haben. Es stimmte, er brauchte Zeit, um zu begreifen, dass alles, was er sich je gewünscht hatte, plötzlich in seiner Reichweite lag. Er lachte, fuhr sich durchs Haar und starrte nach oben an die Zimmerdecke, als stünden dort die Geheimnisse des Lebens geschrieben.   „Ich fasse es nicht. Ich fasse es einfach nicht.“   Und genau da lag sein Problem. Es fühlte sich nicht real an, als hätte er alles nur geträumt, als wären die vergangenen Stunden nicht passiert. Wie sollte er sein Herz nur dazu bringen, einzusehen, dass es plötzlich all das fühlen durfte, was er ihm bislang verboten hatte? Dass Die zu lieben, nicht mehr sein kleines, schmutziges Geheimnis war, welches das Potenzial hatte, alles zu vernichten, was ihm jemals etwas bedeutet hatte, sondern dass es sich genauso gut und richtig anfühlen durfte, wie es das bereits seit ihrem ersten Kuss tat? Die hatte ein Feuer in ihm entfacht, das sein Innerstes mit Licht und Wärme flutete, selbst bis in den letzten Winkel, genau dort, wo sich all seine Gefühle für ihn versteckten. Es war so ungewohnt, seine Selbstbeherrschung loslassen zu dürfen. Er fühlte sich orientierungslos wie ein Vogel, der sein Leben in Gefangenschaft verbracht hatte und nun plötzlich freigelassen wurde.   Das Klingeln seines Handys riss ihn aus seiner Gedankenspirale und ließ ihn gleichzeitig erschrocken nach Luft schnappen.   „Ja?   „Na, schiebt dein armer Kopf bereits Überstunden?“   „Die.“ Kaoru seufzte unhörbar, ließ sich gegen die Rückenlehne des Sofas sinken und schloss die Augen. „Du kennst mich einfach zu gut.“   „So schlimm?“   „Schlimmer, aber das ist okay. Da muss mein Kopf jetzt durch.“   „Ein Wort und ich fahr wieder zurück.“   „Nein, schon gut.“   „Sicher?“   „Die~. Du sollst Zeit mit deiner Familie verbringen, statt mit mir zu telefonieren oder mir unmoralische Angebote zu machen.“   „Uh, ich bin gern unmoralisch. Soll ich weitermachen?“   „Nein, sollst du nicht. Gibt es einen Grund, weshalb du anrufst?“   „Anders als den, dass ich deine Stimme hören wollte? Nein.“ Kaoru biss sich auf die Unterlippe, um das kleine, verliebte Seufzen zu unterdrücken, das mit aller Macht freigelassen werden wollte. „Ich hab die erste große Begrüßungsrunde hinter mich gebracht und bin gerade in meinem Zimmer. Es ist wirklich immer wie eine Zeitreise, hier zu sein. Habe ich dir schon einmal erzählt, dass meine Eltern mein Jugendzimmer nie verändert haben?“   „Nein, hast du nicht.“   „Sogar das Foto von uns beiden steht noch auf meinem Schreibtisch.“   „Von welchem genau redest du?“   „Das nach unserem letzten Auftritt mit La:Sadie’s. Weißt du, welches ich meine?“   „Ja, ich denke schon.“ Kaoru erhob sich, ging zum gegenüberliegenden Wandschrank hinüber und öffnete eine der unteren Türen. Ein gezielter Handgriff förderte ein gerahmtes Bild zutage, welches er leicht lächelnd musterte. Er war nie mutig genug gewesen, es für alle sichtbar aufzustellen – selbst in seiner eigenen Wohnung nicht. Noch etwas, das sich jetzt ändern würde. „Ich habe meines gerade in der Hand.“   „Wirklich?“   „Ja.“ Kaoru streichelte über das Gesicht seines jugendlichen Freunds auf dem Bild. Er erinnerte sich noch, wie ekelhaft nasskalt es an diesem Abend gewesen war, aber sowohl er als auch Die hatten nach der Show eine Zigarette gebraucht. Das Foto war in der schäbigen Gasse aufgenommen worden, in der sich der Lieferanteneingang des Klubs befunden hatte. Graffiti und andere Schmierereien zierten die graue Betonwand im Hintergrund und ein schmaler Streifen der ebenso grauen Feuerschutztür war hinter seiner rechten Schulter zu erkennen. Auch damals waren Dies Haare in diesem schönen Herbstrot gefärbt gewesen und waren der einzige richtige Farbklecks auf dem gesamten Foto. Aber sein strahlendes Lächeln war es, das Kaorus Herz jedes Mal berührte, wenn er es ansah. Er selbst hingegen hatte viel zu ernst in die Kamera gesehen, weil er all seine Konzentration hatte aufbringen müssen, damit ihm seine Gefühle für seinen Freund nicht anzusehen waren. Kaoru wusste noch wie heute, wie unendlich schwer ihm das gefallen und wie groß die Verlockung gewesen war, endlich alle Zurückhaltung fahren zu lassen und sich gegen den größeren Körper zu lehnen. Seine langen Haare waren zu einem Zopf geflochten gewesen, nur der Pony stand in wilden Strähnen von seinem Kopf ab. Auf dem Foto wirkten sie schwarz, obwohl sie auch damals in einem dunklen Lila gefärbt gewesen waren. „Und? Hattest du schon Gelegenheit, das Bild mit dem von heute zu vergleichen und festzustellen, dass wir wie gealterte Cosplayer unserer selbst aussehen?“   „Ich weiß gar nicht, was du willst. Für mich sehen wir jetzt sogar besser aus.“   „Nimm lieber die rosarote Brille ab.“   „Alter Pessimist.“   „Realist.“   „Ist doch fast das Gleiche.“   „Aber nur fast.“   Dies leises Lachen rann wie zärtliche Finger über seinen Rücken und ließen eine dicke Gänsehaut zurück.   „Du, Kaoru? Weißt du noch, wer uns damals fotografiert hat?“   „Ich glaube, das war Kyo.“   „Natürlich.“   „Mh?“   „Nichts, nichts.“   „Leg auf, Die, ich geh jetzt duschen.“   „Mann, sag doch so etwas nicht.“ Kaoru blinzelte, was bitte war an seiner Aussage so schlimm gewesen? Keinen Moment später ging ihm ein Licht auf und ein schiefes, durchaus als selbstzufrieden zu bezeichnendes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Soll ich nicht doch zurückfahren? Oder du könntest herkommen.“   „Nein. Ich wünsch dir später schöne Träume.“   „Das sollte verboten werden.“   „Was denn?“   „Das Grinsen, das ich nur zu genau aus deiner Stimme heraushören und mir perfekt vorstellen kann.“   „Gute Nacht, Die.“   „Ich ruf morgen wieder an, wenn das für dich in Ordnung ist.“   „Das ist mehr als in Ordnung … und, Die?“   „Mh?“   „Frohe Weihnachten.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)