Wetten, dass ...? von yamimaru ================================================================================ Kapitel 5: #5 ------------- Natürlich hatte Die ihm nichts verraten, wie sollte es auch anders sein? Kaoru stand im Schlafzimmer vor dem geöffneten Kleiderschrank und starrte unentschlossen auf den kleinen Stapel Pullover im Fach auf Augenhöhe.  Er genoss zwar die Ruhe, die sich seit Dies Weggang über die Wohnung gelegt hatte, aber gleichzeitig machte sich eine gewisse Unruhe in ihm breit. Ihm wäre es lieber gewesen, zu wissen, worauf er sich einließ, statt mit einem schnöden „Zieh dir etwas Warmes an“ abgespeist zu werden. Wie lange der andere wohl brauchen würde, um seine Sachen zu packen und wieder hierher zu fahren? Eine halbe Stunde? Länger? Wie lange würde sein Refugium noch ihm gehören, bevor er es für die nächsten achtundvierzig Stunden teilen musste?   Über sich und seine Gedankenspiralen genervt, die ihn ohnehin noch nie weitergebracht hatten, nahm er augenrollend einen dicken, cremefarbenen Wollpullover vom Stapel und zog ihn sich über. Er war ihm zu weit und zu lang, wie die meisten seiner gestrickten Oberteile, aber in seinem alter ging Gemütlichkeit über alles. Eine warme Hose und ein zweites Paar Socken folgten, dann wusste er erneut nichts mehr mit sich anzufangen. Langsam schloss er den Kleiderschrank, doch auf halbem Wege überlegte er es sich anders und zog die Türen noch einmal auf. Er musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um hinter alten Tourshirts und einem Sammelsurium an Mützen und Kappen das Gesuchte zu finden.   Für einen endlosen Augenblick hielt er den roten Stoff nur in beiden Händen. Er war so lang, dass sich die Enden über seine besockten Füße legten und er erinnerte sich daran, Die früher damit aufgezogen zu haben, dass sein Schal lang genug wäre, um ihn damit zu mumifizieren.   Ein seltsamer Laut entkam ihm, als er das Gesicht im weichen Stoff vergrub und tief einatmete. Nach all den Jahren roch der Schal nur noch nach seinem Schrank, keine Spur mehr von dem Parfüm, das Die zu jener Zeit getragen und Kaoru so sehr an ihm gemocht hatte. Ob es die Marke heute überhaupt noch gab? Ruckartig hob Kaoru den Kopf, legte den Stoff unordentlich zusammen und stopfte ihn zurück ins hinterste Eck, wo er ihn wieder vergessen konnte. Am besten für weitere sechsundzwanzig Jahre.   „Kaoru, Kaoru, du bist so ein Idiot.“ Ohne einen Blick zurück verließ er den Raum, schloss die Tür und ging ins Wohnzimmer. Schwer ließ er sich auf seinen Sessel fallen, lehnte sich gegen die weiche Polsterung und schloss die Augen. Der Tag war anstrengend gewesen und dabei hatte er das Schlimmste noch vor sich.   Über diese und andere lebensverändernde Erkenntnisse musste er eingeschlafen sein, denn ein angenehmer Druck gegen seine Schläfen holte ihn langsam wieder ins Hier und Jetzt zurück. Er seufzte, ließ die Augen jedoch noch geschlossen und genoss stumm, wie der Rest seiner Katerkopfschmerzen von sanften Fingern wegmassiert wurde. Halt mal. Ruckartig hoben sich seine Lider und er hätte am liebsten seinen Körper verlassen, nur um nun nicht direkt in Dies Augen sehen zu müssen. Die Züge des anderen wirkten tiefenentspannt und seine Lippen zierte ein feines Lächeln, in dem mehr zu liegen schien, als Kaoru auf den ersten Blick erkennen konnte.   „Was genau tust du da?“ Als er seine Stimme und die Fähigkeit, zu sprechen, nach Sekunden, die sich wie eine halbe Ewigkeit angefühlt hatten, wiedergefunden hatte, war sie rau und viel zu dünn.   „Du hast selbst im Schlaf noch so ausgesehen, als würde es hinter deiner Stirn hochhergehen. Ich wollte dir nur etwas Linderung verschaffen.“   Linderung. Aha. Das Gefühl, welches Kaorus Inneres gerade in Aufruhr versetzte, hatte absolut nichts mit Linderung zu tun. „Das hast du schon sehr lange nicht mehr gemacht.“   „Ich weiß, aber das kann sich ändern, wenn du willst.“   „Mh …“, brummte er unverbindlich und alles andere als überzeugt davon, dass das eine gute Idee war. Gestern noch hätte er dazu aus vollem Herzen nein sagen können, jetzt jedoch machte es ihm der ehrliche Blick aus dunklen Augen unmöglich, dieses gut gemeinte Angebot so harsch zurückzuweisen. Außerdem wurde er das Gefühl nicht los, dass die Ruhe, welche Die so unbedingt auszustrahlen versuchte, nur die vor dem Sturm war und ihm gar nicht gefallen würde, was er für ihre Nachmittagsunterhaltung geplant hatte. Sein Freund war und blieb ein zu großes Kind, das viel zu viele Flausen im Kopf hatte. Ob er ihn noch einmal daran erinnern sollte, dass ihre Wette darin bestand, ihm das schönste Weihnachten aller Zeiten zu bescheren?   „Hat es denn geholfen?“   „Was denn?“   „Na, das Massieren.“   Kaoru richtete sich auf, als Dies warme Finger verschwanden, und rieb sich kurz über die Stirn. „Ja, ich denke schon. Mal sehen, wie lange es anhält.“ Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie verdammt gut diese kleine Massage wirklich getan und welches Durcheinander sie in ihm ausgelöst hatte. Wie oft in der Vergangenheit hatte Die genau auf diese Weise seine Kopfschmerzen vertrieben? Sogar noch nach dem Desaster auf dem Hochhausdach, bis Kaoru es irgendwann nicht mehr zugelassen hatte. Er hatte diese Vertrautheit, diese Nähe nicht mehr ertragen und seinen Freund immer weiter von sich gestoßen. Die letzten Jahre war er prima damit gefahren und Die schien es akzeptiert zu haben … Was also war heute anders?   Mit neutraler Miene, das Chaos in seinem Inneren wieder fest hinter dicken, mentalen Türen verschlossen, stand er auf und ging in den Flur, um seine Sachen zusammenzupacken. „Verrätst du mir wenigstens, wohin es geht, oder machst du heute aus allem ein Geheimnis.“   „Letzteres. Du kannst schon einmal anfangen, dich daran zu gewöhnen, dass ich in den nächsten Tagen die Zügel in der Hand haben werde.“ Was hatte Die heute nur mit diesen komischen Formulierungen? Kaoru hatte seine liebe Mühe damit, jede Reaktion auf diese Aussage zu unterdrücken, als sein dämliches Gehirn in Gefilde abgleiten wollte, wo es nichts zu suchen hatte. Vor allem nicht in der Gegenwart des anderen und nicht, wenn er eine Wette zu gewinnen hatte! „Du sagst gar nichts? Ich hatte mit heftigen Protesten gerechnet.“   „Wieso?“ Er zuckte äußerlich unbeeindruckt mit den Schultern, obwohl es in ihm ganz anders aussah. „Ich sagte doch, ich gebe dir eine faire Chance.“   „Du bist … ich bin überrascht, positiv überrascht.“   Kaoru drehte den Kopf weg, weil er wusste, dass er die offenkundige Freude in Dies Gesicht gerade nicht ertragen konnte. Machte der andere das mit Absicht? Aber nein, das würde voraussetzen, dass er seine Gedanken lesen konnte. Kaoru traute ihm zwar vieles zu, aber das nun wirklich nicht.   „Wollen wir los?“   „Klar, ich parke neben dir in der Tiefgarage.“   „Du bist mit dem Wagen wieder hergekommen?“   „Ja. Unser Ziel liegt etwas außerhalb, da wäre es zu umständlich gewesen, mit den Öffentlichen hinzufahren.“   „Verstehe.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)