Beautiful Behavior von Varlet ================================================================================ Kapitel 6: Erster Anhaltspunkt ------------------------------ Shuichi warf einen Blick auf die Uhr auf seinem Handy. Langsam setzte die Dunkelheit ein. Doch damit hatte er nur einen weiteren Vorteil auf seiner Seite. Die Wahrscheinlich, dass Jodie das Grab ihrer Eltern besuchte, war groß. Abends, wenn sie in der Dunkelheit keiner erkennen würde oder sie wusste, dass James im Büro war, sogar noch größer. Aber wenn sie tatsächlich nicht gefunden werden wollte, konnte es auch gut sein, dass sie das Grab Tage vorher aufsuchte oder Tage später aufsuchen würde. Jetzt musste er sich nur überlegen, wie er die nächsten Tage den Friedhof im Blick behalten konnte. Aber auch hierfür würde er eine Lösung finden. Und wenn er Glück hatte, würde er ihr vielleicht tatsächlich begegnen – auch wenn es die anderen Agenten nicht konnten. Akai ahnte was in der jungen Frau vorging, er wusste was sie fühlte und was sie sich wünschte. Manchmal war die Welt einfach nur ungerecht. Menschen starben, wurden getötet und grundlos aus dem Leben gerissen. Als Hinterbliebener fühlte man sich allein und manchmal auch schuldig. Es gab kaum einen Trost. Schmerz konnte man nicht vergessen, nur unterdrücken oder lernen damit umzugehen. Doch scheinbar war das Jodie nicht vergönnt gewesen. Stattdessen reihte sich ein Unglück an das nächste. Shuichi stand vor den Toren des Friedhofs. Er war schon öfters zu Beerdigung von Kollegen zum Friedhof gefahren und wusste, dass es mehrere Ein- und Ausgänge gab. Dadurch wurde es nur noch schwerer, Jodie irgendwo aufzulauern. Selbst wenn sie den Haupteingang nahm, konnte sie ihm noch entwischen. Obwohl es schon spät war, kamen noch immer zahlreiche Besucher und er tat es ihnen nun gleich. Akai trat durch das Eingangstor und sah sich um. Direkt vor ihm war eine kleine Wiese mit Blumen, die diesen trostlosen Ort etwas freundlicher erscheinen lassen sollte. Rechts und links gab es Fahrradständer und Bänke zum Ausruhen. Der Weg führte zunächst geradeaus bis die erste Abzweigung kam. Eine Beschilderung wies den Leuten den Weg, zudem gab ein Schild den Überblick über den Friedhof. Shuichi sah kurz darauf und erfasste alle wichtigen Informationen. Anschließend machte er sich auf den Weg zum Häuschen des Friedhofswärters. Zu dessen Aufgaben gehörte nicht nur das Ausheben von Gräbern oder dem Vorbereiten der Bestattungen. Er war auch für die Pflege der Grünflächen sowie die Sicherheit zu jeder Tages- und Nachtzeit zuständig. Außerdem unterstützte er Trauernde bei der Auswahl des richtigen Platzes und stellte den Kontakt zu weiteren Parteien, wie Steinmetze, her. Durch die Verwaltungsangelegenheiten wusste der Wärter welches Grab durch welche Person belegt war. Und auch wenn die Tätigkeiten von mehreren Personen erledigt wurden, hoffte Shuichi, dass man ihm sagen konnte, ob Jodie irgendwann an diesem Ort gesichtet wurde. Akai klopfte an die große Fensterscheibe, die einen Moment später zur Seite geschoben wurde. Augenblicklich musterte er den älteren Mann – eine Angewohnheit um immer auf der Hut zu sein. Außerdem konnte es nie schaden, wenn man seinen Gegenüber immer beschreiben konnte. „Was kann ich für Sie tun?“ „Ich suche ein Grab.“ Noch ehe der Agent weiterreden konnte, kicherte der Wärter. „Da sind Sie hier richtig. Wir haben auch noch unbesetzte Stellen.“ Akai verdrehte die Augen. Wenn das ein Scherz sein sollte, war es kein besonders Guter. „Ich suche das Grab der Familie Starling.“ Der Mann beäugte ihn einen Moment und nickte dann. Sofort tippte er den Familiennamen in den Computer und erhielt auch einen Treffer. „Das Familiengrab liegt im östlichen Flügel des Friedhofs. Bereich 41. Sie müssen hier am Häuschen rechts vorbei, dann geradeaus bis Sie zur zweiten Abzweigung kommen. Dort gehen Sie dann nach links und einfach geradeaus weiter. An jedem Abschnitt befindet sich ein Schild, Sie können Bereich 41 gar nicht verfehlen“, erklärte er. Shuichi nickte. „Danke. Erinnern Sie sich auch an die Beerdigung?“ „Jungchen“, fing der Alte an. „Auch wenn ich alt bin, das war alles noch vor meiner Zeit.“ „Verstehe“, gab Akai von sich. Er holte sein Handy heraus und rief das Bild von Jodie auf, welches er im Büro schnell gemacht hatte. Dieses hielt er an die Scheibe. „Haben Sie diese Frau hier schon einmal gesehen?“ Der Wärter stand auf, richtete seine Brille und blickte auf das Foto. „Mhm…süßes Ding“, murmelte er nachdenklich. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein, tut mir leid. Hier ist so viel Durchgangsverkehr und meistens bin ich mit anderen Sachen beschäftigt. Und selbst wenn ich sie gesehen hätte, so ein Allerweltsgesicht hätte ich wieder vergessen.“ Shuichi hatte sich etwas Ähnliches bereits gedacht. Trotzdem wollte er nichts unversucht lassen. Schließlich hatte ihm auch Agent Decker klar gemacht, dass er Fehler nicht verzieh. „Danke.“ Er steckte das Handy weg und entfernte sich von dem Häuschen. Weitere Fragen konnten zu Misstrauen führen. Und falls Jodie noch kommen und vom Wärter beobachtet werden würde, konnte sie gewarnt sein. Der FBI Agent folgte den Anweisungen des Friedhofswärters. Als er im Bereich 41 ankam, ließ er seinen Blick über die Gräber schweifen und beobachtete erneut die Menschen. Körpersprache sagte viel aus. Ein Blick, eine Geste, das Verhalten…all das halfen dabei um Menschen wie offene Bücher lesen zu können. Er musste eine Weile suchen, ehe er das Familiengrab fand. Die Stelle würde zur Tageszeit ausreichend Sonne abbekommen und war dennoch durch mehrere Bäume geschützt. Außerdem waren die Gräber viel gründlicher gepflegt als an anderen Stellen. Sie lagen nicht dicht beieinander, sondern hatten ausreichend Abstand. Auch Starlings Eltern lagen in Bereich 41. Anhand der Kerzen und frischen Blumen konnte er erkennen, dass das Grab heute zahlreich besucht worden war. Es gab viele Möglichkeiten; Freunde, Kollegen, Agenten, aber auch Menschen, die nach Jodie suchten. Shuichi stand eine Weile vor dem Grab. Er wartete und beobachtete. Zwei Stunden später entschied er, es für heute sein zu lassen, weswegen er sich auf den Weg zurück zu seinem Wagen machte. Akai stieg ein, schnallte sich an und startete den Motor. Auch wenn es dunkel war, fuhr er zum Haus der Familie Starling. Mittlerweile war das Haus komplett saniert worden. Nichts erinnerte mehr an den Brand vor 20 Jahren. Zwei Wagen und zwei Kinderfahrräder standen in der Einfahrt. Eine neue Familie war eingezogen, die hoffentlich mehr Glück haben würde, als Jodie. Akai blieb im Wagen sitzen und beobachtete das Haus und die Straße. Doch ein weiteres Mal führte ihn nichts zu Jodie, sodass er zwei Stunden später nach Hause fuhr. Am frühen Morgen des nächsten Tages machte sich der Agent erneut auf den Weg zum Haus der Familie Starling. Familien mit Kindern waren früh wach und in der Eile erzählten sie einem auch Dinge, die ihnen sonst nicht so einfach über die Lippen kämen. Als erstes war Shuichi bei den neuen Bewohnern des Hauses. Doch keiner kannte Jodie oder ihre Familie. Sie hatten zwar von dem Unglück erfahren, konnten ihm aber auch nicht weiterhelfen. Sie hatten auch nicht mitbekommen, ob die junge Frau jemals draußen vor dem Haus stand und die Familie beobachtete. Danach holte sich Shuichi weitere Informationen von anderen Nachbarn ein. Aber Jodie wurde von Keinem gesehen. Entweder sie war tatsächlich nicht da oder sie stellte sich einfach nur gut an. Shuichi ging zurück zu seinem Wagen und streckte sich. Aufgeben kam nicht in Frage, denn es gab noch zahlreiche Optionen. Außerdem hinterließ er seine Nummer bei den Nachbarn und hoffte, dass bald jemand Kontakt zu ihm aufnahm. „Entschuldigung?“ Akai drehte sich um. Eine ältere Dame stand vor ihm. „Ja? Wie kann ich Ihnen helfen?“ „Ich habe Sie den ganzen Vormittag durch das Fenster gesehen. Sie sind von einem Haus zum nächsten gegangen. Sie haben meine Familie nach der kleinen Jodie befragt. Ist irgendwas passiert? Geht es dem Mädchen gut?“ Shuichi versuchte so freundlich wie möglich zu lächeln. Ältere Menschen redeten gerne und scheinbar hatte er jemanden vor sich, der ihm etwas erzählen wollte. Auch wenn sie es noch nicht wusste. „Ich bin auf der Suche nach ihr. Kennen Sie sie?“ „Jodie war noch so klein. Sie war immer ein aufgewecktes Kind, sie lachte und war immer so fröhlich. Ich erinnere mich noch gut an damals. Wenn ihre Eltern arbeiten waren oder etwas anderes erledigen mussten, kam ich zum Babysitten rüber. Ich brachte meine beiden Hunde mit, sie hat die beiden so geliebt. Och was war sie für ein süßes Mädchen…“ Shuichi hörte ihr aufmerksam zu. Am liebsten hätte er sie unterbrochen und nach dem Kern ihrer Erzählungen gefragt, aber stattdessen ließ er sie einfach weiterreden. Sie musste ihm vertrauen und das ging nun einmal nicht anders. „In jener Nacht war es draußen so laut. Als ich aufgestanden und ans Fenster gegangen bin, stand das Haus in Flammen. Ich habe sofort die Feuerwehr gerufen und bin rausgelaufen. Es war so schrecklich. Ich konnte auch nicht ins Haus und ich dachte, dass alle drei umgekommen waren…“ Akai nickte. „In welchem der Häuser wohnen Sie?“ „Direkt nebenan. Wir hatten bei dem Zaun extra eine Tür eingebaut, damit ich immer rüberkommen konnte, ohne erst außen herum zu müssen.“ „Sie sagten, Sie wurden wach, weil es laut war. Was haben Sie gehört?“ Akai wurde hellhörig. Die Nachbarin stand zwar auch in dem Bericht vom FBI, aber die Informationen selbst zu hören, machte die Situation nur realer. „Es hat furchtbar geknallt, so wie wenn man mit dem Auto unterwegs ist und ein Reifen platzt. Das hab ich auch alles der Polizei erzählt und dem anderen netten Herren. Wie hieß er doch gleich? Es war etwas mit einer Farbe. Blue. Nein. Red…auch nicht…mhm…“ „Black?“ „Ja, genau. Black“, nickte die ältere Dame. „Er war so nett zu mir. Ich hab ihn schon oft hier gesehen. Er war auch in der Nacht da. Ich war so froh, dass die kleine Jodie wohlauf war. Aber seitdem war nichts mehr wie es war.“ Sie seufzte. „Die arme Kleine…“ „Haben Sie Jodie danach wieder gesehen?“ „Das habe ich. Ich wusste, dass Jodie in eine Pflegefamilie gekommen war, aber sie kam trotzdem noch regelmäßig her. Ich nahm sie dann immer in meine Obhut und spielte mit ihr. Aber dann…kam sie eine ganze Weile nicht mehr her.“ Akai hatte manchmal Schwierigkeiten ihren Erzählungen zu folgen. Hin und wieder schweifte sie ab oder erzählte belanglose Kleinigkeiten, doch jetzt wurde er hellhörig. Nun kamen sie zum Knackpunkt. „Wann haben Sie das letzte Mal mit ihr gesprochen?“ „Das letzte Mal mit ihr gesprochen?“ Sie überlegte. „Das war etwa vor drei Jahren. Ja, drei Jahre ist es nun her. Wie die Zeit vergeht. Meine kleine Jodie ist so groß geworden, richtig erwachsen. Eine junge Frau.“ „Hat sie Ihnen etwas über ihr Leben oder ihre Pläne erzählt?“, wollte Shuichi wissen. „Ihre Pläne? Ja, natürlich. Sie wollte das Studium abschließen und dann etwas von der Welt sehen. Wie ich sie beneidet habe. Ich wollte auch immer eine lange Reise antreten, aber dann habe ich eine Familie gegründet und zu meiner Zeit war es noch üblich, dass die Frau zu Hause blieb.“ Shuichi nickte verstehend. „Haben Sie sie seitdem wieder einmal gesehen?“ „Ja, aber wir haben nicht miteinander geredet. Ich habe sie oftmals aus dem Fenster beobachtet. Sie starrte auf ihr Elternhaus. Es wurde erst vor einigen Jahren saniert, ich glaube aber, dass ihr das keiner erzählt hat. Ich wollte runter und mit ihr sprechen, aber…sie war schon weg.“ Sie seufzte. „Wie gerne würde ich noch einmal mit dem Mädchen sprechen.“ „Ich verstehe. Sie war nicht zufällig gestern auch hier?“ Die Alte schüttelte den Kopf. „Das habe ich auch gehofft, aber es ist schon einige Wochen her. Vielleicht kommt sie in drei Monaten zum Geburtstag ihres Vater wieder her.“ „Einige Wochen“, murmelte der Agent. „Könnten Sie mich bitte anrufen, wenn Sie sie hier wieder sehen?“ „Ich weiß ja nicht“, murmelte sie. „Damit ist mir eigentlich nicht so wohl. Ich kenn Sie ja nicht.“ „Das versteh ich. Ich bin ein Freund von Mr. Black und er macht sich Sorgen um Jodie. Sie war schon lange nicht mehr…zu Hause und ich möchte Jodie bitten, sich mal wieder bei ihm zu melden. Er hat auch bald Geburtstag und ihr Besuch wäre ein schönes Geschenk.“ „Oh, ja, das versteh ich. Das Mädchen ist ihm auch ans Herz gewachsen. Sie hat ihn immer Onkel genannt.“ Sie lächelte. „Wenn Sie mir Ihre Nummer geben, schaue ich was ich tun kann.“ „Danke.“ Shuichi ging zur Beifahrerseite und öffnete die Tür. Aus dem Handschuhfach holte er ein Notizbuch hervor und schrieb dort seine Telefonnummer auf. Er riss den Zettel heraus und reichte ihn der älteren Dame. „Sie können mich auch noch spät abends anrufen. Um meinem Freund eine Freude zu machen, ist keine Uhrzeit zu spät. Ich würde gerne wieder herkommen und mich mit Ihnen über Jodie unterhalten, natürlich nur wenn es Ihnen keine Umstände bereitet.“ Wenn er schon einen Fuß in der Tür hatte, würde er diesen auch gänzlich nutzen. Selbst dann, wenn er in die Privatsphäre einer anderen Person eindringen musste. Und die ältere Frau schien auch jemanden zum Reden zu brauchen. „Oh, das wäre wunderbar. Ich kann Ihnen auch alte Fotos zeigen.“ „Gerne.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)