Jeju-do von GodOfMischief (Squid Game) ================================================================================ Kapitel 1: Jeju-do ------------------ Die untergehende Sonne tauchte den Himmel am Horizont in warme Orange- und Gelbtöne, deren Strahlkraft von der Oberfläche des Meeres verstärkt zu werden schienen. Mit der Sonne verabschiedete sich auch die Hitze des Tages und eine kühle Brise kam auf, die im ersten Moment für ein wenig Erleichterung sorgte, doch bereits im Nächsten begann Sae-byeok zu frösteln. Sie versuchte sich das restliche Meerwasser von den Schenkeln zu wischen. Kleine Sandkörner kratzten an ihrer Haut. Sie zog das Badehandtuch enger um ihre Schultern, damit sie es ein wenig wärmer hatte, ihre dunklen Augen stets auf das seichte Wasser gerichtet, in dem ihr kleiner Bruder plantschte. Diesem schien es nun jedoch auch zu kalt zu werden und triefend nass schleppte er sich in seiner neuen Badehose zu seiner Schwester zurück an den Strand. Kurz hob er seine kleine Hand zum Gruß, doch Sae-byeok konnte erkennen, dass nicht sie damit gemeint war, sondern der Wink für jemand Anderen galt, denn nicht nur sie beide flanierten hier an dem Strand von Jeju-do. Als Cheol näher kam, griff sie in die große Sporttasche, die sie mitgenommen hatte, um auch ihm ein Handtuch zu reichen, welches er schon fast an sich riss, um sich darin einzuwickeln. Er versank fast in der dicken Wolle und ließ sich schwer seufzend zu den Füßen seiner Schwester in den noch lauwarmen Sand sinken. Seine kurzen Beine weit von sich ausgestreckt. „Ist sie jetzt deine Freundin-Freundin?“, fragte der Junge leise und wagte es dabei nicht, seiner Schwester in die Augen zu sehen. „Was redest du da für einen Unsinn?“, Sae-byeok klang bei dieser Frage nicht gerade freundlich, doch glücklicherweise sah Cheol nicht, wie sich eine leichte Röte auf ihre Wangen schlich. Einige Zeit herrschte Schweigen zwischen den beiden, ehe Cheol ein wenig kleinlaut meinte: „Ich finde sie nett.“ Noch bevor Sae-byeok antworten konnte, tönte es hinter ihnen: „Oh Gott, ihr werdet mir nie glauben, was der Typ hinter der Theke meinte. Sagt der mir doch tatsächlich, ich seh nicht so aus, als dürfe ich schon Alkohol kaufen. Selbst als ich ihn ewig bequatscht hatte, wollte er nichts rausrücken. Dreist, oder? Dabei sollte man meinen, man kann mir nichts abschlagen.“ Fröhlich weiter schnatternd manövrierte sich Ji-yeong zwischen den schwarzen Steinen hindurch, in beiden Händen je ein Longdrinkglas balancierend und zwischen den Fingern noch eine Flasche Cola tragend. Mit ihrem neongrünen Bikini, ein pinkes Tuch um die Hüften gebunden und den beim Gehen klatschenden Flip Flops, sah sie mehr nach Urlaub aus, als die beiden Geschwister in ihren simplen, schwarzen Badesachen zusammen. Gerade, Sae-byeok fühlte sich in ihrem einfachen Badeanzug ein wenig unwohl und zog die Beine an die Brust. Immerhin konnte Ji-yeong so nicht die riesige Narbe erkennen, die ihr von dem Glassplitter aus den Spielen geblieben war. „Hier, für dich Knirps“, Ji-yeong hielt Cheol die Colaflasche hin, welche er dankend annahm und augenblicklich die Hälfte der kalten Flüssigkeit hinunterstürzte. Dann quetschte die Brünette sich neben Sae-byeok auf den Felsbrocken und übergab ihr eines der Gläser. „Aber du hast trotzdem was bekommen?“, Sae-byeok sah ihre neugewonnene Freundin an, die sie nur breit angrinste. In ihrem runden Gesicht konnte man deutlich die Erholung des Urlaubs erkennen, auch ihre Haut schien bereits von der Sonne geküsst und ihre sonst so glatten Haare begannen sich dank der feuchten Meeresluft bereits zu kräuseln. Als Sae-byeok heute Morgen in den Spiegel gesehen hatte, sah sie noch immer vollkommen mitgenommen aus von den vergangenen Strapazen. „Na“, Ji-yeong lehnte sich nach hinten und frech bog sich einer ihrer Mundwinkel nach oben, als wäre sie mehr als stolz auf sich, „Ich hab ihn ein wenig mit dem Preisgeld bestochen. Ich meine, wer kann so viel Won schon widerstehen und immerhin hast du ja so viel, du weißt ja sicher gar nicht, wie du das bis an dein Lebensende ausgeben sollst?“ Die Brünette lachte schallend, ehe sie großzügige Schlucke von ihrem Cocktail nahm. Ein verstörendes Gefühl machte sich in Sae-byeok breit und sie schielte hinunter zu ihrem Bruder, der jedoch kein Interesse an ihrem Gespräch zu haben schien. Dann wanderte ihr Blick zu ihrem Glas. Sie hatte noch nie einen Mojito getrunken und es war ihr ein wenig suspekt, wie klar die Flüssigkeit in dem hohen, schmalen Glas war. Die einzigen Farbsprenkler waren die grüne Minze und Limette. Sie stocherte mit dem gläsernen Strohalm ein wenig in der Mixtur herum; Eiswürfel klapperten im Glas und ein süßlicher Zitrusgeruch vermischte sich mit der salzigen Meeresbrise. Sie legte den Strohhalm an den Mund und sog vorsichtig daran. Ein Schwall von süßlichem Zucker und frischer Minze breitete sich kurzzeitig in ihrem Mund aus, doch direkt darauf folgte ein ekelhaftes Brennen in ihrer Kehle. Sae-byeok versuchte die Flüssigkeit noch aufzuhalten, doch schluckte sie bereits und es resultierte in einem Hustenanfall, was Ji-yeong nur noch lauter lachen ließ. „Man, ihr seid aber auch gar nichts gewohnt, was?“, sie lachte weiter und beugte sich wieder vor, damit sie Sae-byeok in die Augen sehen konnte. Doch die Miene der Schwarzhaarigen verhärtete sich augenblicklich und am liebsten hätte sie ihr erzählt, dass man sich schlecht mit Reiswein volllaufen lassen konnte, wenn man versuchte aus dem Nordkoreanischen Regime zu fliehen. Stattdessen brummte sie nur: „Können wir über was anderes reden?“ Als wäre sie über diese Antwort mehr als nur enttäuscht, brummte Ji-yeong ein wenig verächtlich vor sich hin und schlürfte weiter an ihrem Cocktail. Sie blickten aufs Meer und das Rauschen der Wellen verdrängte das Schweigen zwischen ihnen. Mittlerweile lugte nur noch ein winziges Stückchen der Sonne über den Horizont hervor und es war eher dunkel, als es hell war. Minuten vergingen, in denen keiner ein Wort sagte und langsam aber sicher, entspannte sich auch Sae-byeok wieder. Ob es an dem Alkohol, der Ruhe, oder was auch immer lag, konnte sie nicht genau sagen, aber je weiter die Zeit voran schritt, desto besser fühlte sie sich. Und es war gut, den Kopf zumindest für einige Momente leer zu kriegen, nicht an die Gräueltaten der Vergangenheit denken zu müssen, sondern sich einfach auf die letzten Stunden des Tages konzentrieren zu können. Mit ihrem Bruder an der Seite. Und Ji-yeong. Die sie doch irgendwie gern hatte. Erst das grausige Schlürfen füllte die Leere in ihrem Kopf und riss sie aus ihrer gedankenfreien Starre. Ji-yeong an ihrer Seite schien mit aller Kraft zu versuchen auch den letzten Tropfen aus dem Glas zu saugen. Glücklicherweise gab sie es recht schnell wieder auf und sie drückte das leere Glas in den feinen Sand zu ihren Füßen. Mit ihren dunklen Augen folgte Sae-byeok dem schmalen Arm, bis hin zu der grazilen Hand, die sich langsam von dem Glas löste. „Ist dir nicht kalt?“, fragte Sae-byeok, dieses Mal in einem wesentlich versöhnlicheren Tonfall, als es noch zuvor der Fall gewesen war. „Hm, schon“, antwortete Ji-yeong, als müsse sie darüber wirklich angestrengt nachdenken, „Aber dir doch sicherlich auch, oder?“ Vorsichtig, damit sie sich ihre Haut nicht aufriss, rutschte die Brünette von dem schwarzen Felsen, auf dem sie noch immer saßen und angelte nach der dicken Reisetasche, die Sae-byeok gefühlt überall hin mit sich herum schleppte. Ein wenig kramte sie darin herum, als hätte sie Schwierigkeiten in der Dunkelheit das richtige Kleidungsstück zu finden. Abermals wanderten ihre dunklen Augen zu Cheol, der noch immer auf dem Boden saß, die Gliedmaßen so eng an den Körper gezogen, dass es in dem schummrigen Licht so wirkte, als sei er selbst zu einem Felsen geworden. Sae-byeok schob es darauf, dass ihr kleiner Bruder wohl bereits müde davon war, den ganzen Tag am Strand zu spielen. Es wurde sowieso langsam Zeit, dass sie sich auf den Rückweg machten und endlich in ihre warmen, weichen Betten kamen. „Ah, da sind sie ja“, triumphierte Ji-yeong nun halblaut und man konnte den Stoff rascheln hören, sowie das Ratschen von Reißverschlüssen, die aneinander rieben, „Hier.“ Sae-byeok konnte den weichen Stoff an ihrem Schenkel spüren, als ihre Freundin ihr etwas zum anziehen reichte. Sie hob den Kopf und augenblicklich begann ihr Herz zu rasen, jegliche Farbe wich ihr aus dem Gesicht und ein Gefühl der Übelkeit breitete sich in ihrem Magen aus. Im letzten Licht des Tages konnte sie das Türkis der Jacke erkennen, die weißen Streifen an den Schultern, die so viel Licht, wie sie konnten reflektierten. Und die weiße Nummer 067, die ihr entgegen prangte und sofort ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Augenblicklich hatte sie den Geruch von Eisen in der Nase, ihre Hände fühlten sich klebrig an, von Schweiß und Blut. Sie begann zu zittern. Schweiß trat ihr auf die Stirn. Am liebsten hätte sie sich jetzt übergeben. Der Alkohol verstärkte das Schwindelgefühl und die Übelkeit nur noch. „Was soll das?“, ihre Stimme hatte eine ganze andere Farbe angenommen, rau und fast atemlos presste sie die Worte über die Lippen, immer darum bemüht nicht zu spucken. Mit weit aufgerissenen, erschrockenen Augen blickte sie zu ihrer Freundin auf, die ihr, wie meist, nur mit einem breiten Grinsen begegnete, den Kopf leicht schräg gelegt, als wolle sie sie verhöhnen, fragen, ob etwas falsch wäre. Säure stieg ihr die Speiseröhre hinauf, füllte ihren Mund, ihre Nase, als sie mit Entsetzen die klaffende Wunde an Ji-yeongs Schläfe erblickte. „Was ist denn?“, fragte das Mädchen, noch immer breit grinsend und drängte ihr die Sportjacke weiter auf, so stark, dass sie ihr immer wieder in die Seite boxte, während sie zeitgleich immer lauter fragte: „Hm? Was ist, Kang Sae-byeok? Was ist los?“ Trietzend hallten die Worte ihr immer und immer wieder durch den Kopf, als sie es nicht mehr halten konnte. Sie stürzte sich von dem Felsen, ihre Handballen gruben sich in den mittlerweile kalten Sand und Sae-byeok erbrach sich. Galle und Alkohol brannten ihr in der Kehle, verzweifelte Tränen brannten ihr in den Augen. Fahrig und am ganzen Körper zitternd versuchte sie Abstand von Ji-yeong zu gewinnen, deren Worte noch immer über den Strand hallten, sie streckte die Hand aus, versuchte Cheol zu finden, ihn an sich zu ziehen, damit sie nicht nur sich selbst mit seiner Gegenwart trösten konnte – er musste auch verstört sein von diesem Anblick. Doch da war niemand. Der Stich in ihrer Brust war so heftig und schmerzhaft, dass sie röchelnd nach Luft schnappte. Sie griff sich an die Brust und suchte durch den Tränenschleier den Strand ab, doch ihr Bruder war fort. Ein mädchenhaftes Kichern drang an ihr Ohr und erschrocken drehte sie sich auf allen Vieren wieder zurück zu ihrem alten Sitzplatz. Ji-yeong war aufgestanden. Sie hatte ihre Hände in den Taschen der grün-weißen Jogginghose versteckt. Ihr schmaler Körper verschwand fast unter der gleichfarbigen Jacke und dem weißen T-Shirt darunter, auf denen die Nummer 240 zu erkennen war. Sie kicherte noch immer und neigte den Kopf spielerisch zur Seite. Das feuchte Blut ihrer Wunde schimmerte grotesk im letzten Licht des Tages. „Auf einmal so schreckhaft?“, neckte sie, bewegte sich jedoch keinen Millimeter vom Fleck, rührte sich nicht einmal das kleinste Bisschen, „Und was sind das für Sturzbäche? Das sieht dir ja überhaupt nicht ähnlich.“ Leichtes Erstaunen mischte sich in die Stimme der Brünetten, wirkte jedoch noch immer so, als wäre rein gar nichts gewesen. Sae-byeok kämpfte gegen einen weiteren Schwall Erbrochenem an, der ihr die Kehle hinauf kroch, während die Tränen nicht aufhörten zu fließen. Eine leise Stimme, im hintersten Eckchen ihres Kopfes stimmte ihrer Freundin jedoch zu. Ihr momentanes Verhalten passte überhaupt nicht zu ihr, war nicht die Sae-byeok, die sie alle kennengelernt hatten. Aber nun hatte sie auch keinen Grund mehr die toughe Frau zu spielen. Oder? „Huh?“, Ji-yeong wirkte nun vollkommen erstaunt, als hätte man mit ihr gesprochen, „Du musst das auch gar nicht spielen, du bist die tougheste Frau, die ich je kennen lernen durfte“, jetzt neigte sie den Kopf zur anderen Seite und lächelte sie liebevoll an, „Und ich meine das vollkommen ernst. So viel Spaß wie mit dir hatte ich schon lange nicht mehr, Kang Sae-byeok, alles was ich sagte, war die Wahrheit.“ Mit weit aufgerissenen Augen, vollkommen ungläubig starrte sie zu Ji-yeong hinauf, welche nun die Hand hob und leicht winkte, als wolle sie sich verabschieden. Der groteske Kontrast zwischen ihrem friedlichen Gesicht, den liebevollen Worten, die sie hinterlassen hatte und der Wunde an ihrem Kopf, war zu viel. Herzzerreißend jaulte Sae-byeok auf, als ihr Herz in tausend Stücke zersprang. Der Herzschmerz den sie beim Aufwachen verspürte, zog sich langsam aber sicher durch ihren ganzen Körper. Vorsichtig versuchte sie sich aufzurichten und trotz des weichen Bettes und der vielen Kissen, war ihr Nacken steif und die Gliedmaßen taub. Allmählich begann der plötzliche Schmerz wieder ein wenig abzuflauen und zurück blieb nur die Leere. Und das letzte Kribbeln in ihren Zehen. Dafür setzte allmählich das Klopfen ihres Herzens wieder ein, schneller und immer schneller, flatterhaft, fast schon panisch. Die Schlafsachen klebten an ihrer verschwitzten Haut, doch ihr war eisig kalt, sie begann am ganzen Körper zu zittern. Die kurzen, schwarzen Haare klebten in ihrem Gesicht, wegen des Schweißes oder der salzigen Tränen, die noch immer ihre Sicht behinderten, konnte sie nicht sagen. Es war ihr auch egal. Noch immer schmeckte sie die saure Galle auf ihrer Zunge. Erst als sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte, wischte sie sich die Tränen aus den Augen und versuchte im schwachen Mondlicht, welches durch die Fenster fiel etwas zu erkennen. Das Zimmer sah noch immer so spärlich eingerichtet aus, wie sie es bezogen hatten; ein großes Bett, eine Kommode, ein winziger Kleiderschrank. Dazu Vorhänge vor den Fenstern, die mehr Schein als Sein waren. Spucke breitete sich endlich in ihrem trockenen Mund aus, doch sie wagte es nicht, zu schlucken, dank der elendigen Erinnerung an Erbrochenem. Vorsichtig strich sie mit den Fingern über die Decke, suchte, bis sie sanft gegen etwas – oder eher jemanden – stieß, der ruhig und selig weiterschlief, als wäre nichts gewesen. Sie konnte spüren, wie sein kleiner Körper sich mit jedem Atemzug hob und senkte. Kang Cheol hatte von all dem Trubel nichts mitbekommen. Und Sae-byeok schwor sich, dass er auch nie erfahren würde, was nun in ihrer Vergangenheit lauerte. Nur eine Sache, die konnte sie sich selbst vermutlich auch nicht versprechen, ohne es zu brechen. Irgendwann würde er von Ji-yeong erfahren. Von dem Mädchen, dass so viel mehr war, als eine Namenlose, eine Verschuldete. Ein Mädchen, furchtlos und offen. Ihre Mitspielerin, ihre Verbündete. Ihre Freundin. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)