Lieblingsmensch von Idris (Leo x Adam) ================================================================================ Kapitel 2: Herzfrequenz ----------------------- Adam ist ganz schwindelig von dem abrupten Wechsel von Panik zu Sorge. Handschellen. Von allen Dingen, die heute schieflaufen konnten, waren es ausgerechnet Handschellen. Es ist offensichtlich, dass er nicht der Einzige ist, für den das unerwartet kam. Er krallt die gesunde Hand in Leos T-Shirt, hält ihn fest. „Leo“, flüstert er. „Leo…“ Sein Atem geht schnell, stoßweise, als sei er einen Marathon gerannt. Er bringt die Worte nicht heraus. Der See. Die Handschellen. Die Verhaftung. Leo. Aber er kommt nicht dazu zu fragen. Es ist als ob ein plötzlicher Schalter in Leo umgelegt wird, sobald er seine Stimme hört. Ein Schaudern, das durch Leos ganzen Körper geht. Und dann reißt er sich zusammen. Adam hat das schon miterlebt, an richtig fiesen Tatorten, wie Leo innerhalb von Sekunden von entsetzt und den Tränen nah zu komplett professionell und sachlich umschalten kann. Es ist beeindruckend. Und beunruhigend. „Es tut mir leid.“ Leo lässt die Arme sinken und fährt sich unsanft mit der Hand über das Gesicht, als versuche er mit Gewalt alles wegzuwischen, was er empfindet. „Ist okay“, sagt er. „Atme erstmal tief durch. Das ist dein erster Tag auf der Arbeit, seit… Es war klar, dass sowas passieren konnte. Ich habe nicht nachgedacht. Ich hätte dir das nicht zumuten sollen.“ Adam blinzelt. Er fühlt sich wie im falschen Film. Wieso IHM nicht zumuten? Er ist doch offenbar nicht der Einzige, dem grade etwas zugemutet wurde. „Ich bring dich sofort nach Hause, okay?“ Leo tritt einen Schritt zurück, blickt auf die Uhr. „Und dann…“ Ungelenk greift Adam nach dem Ärmel seiner Jacke und hält ihn auf. „Bleib“, rutscht es ihm heraus, weil es sich eine panische Sekunde lang so anfühlt, als ob Leo vor seinen Augen verschwindet. „Ich geh doch nicht weg, Adam.“ Er klingt sanft. Nein, aber es fühlt sich so an. Leo kann das. Innerlich ganz weit auf Distanz zu gehen, die Tür zu verriegeln, und Adam hat es immer schon gehasst, wenn er das macht. Es ist als ob ihre Herzen die ganze Zeit auf einer unsichtbaren Frequenz senden, die andere Menschen nicht mitkriegen. Und wenn Leo aufhört zu senden, ist die Funkstille in Adams Brust wie ein schwarzes Loch. Er sendet nicht. Er sendet nicht, weil er Adam irgendwas ersparen will und das ist einfach nur Bullshit. „Leo“, sagt er frustriert. „Es ist okay, mach dir keine Gedanken.“ Adam ist nie so gut mit Worten gewesen wie Leo. Er kommt sich vor als hätte er einen Dachschaden, wenn er sowas sagt. Funkstille und unsichtbaren Frequenzen! Wer soll ihm sowas glauben? Aber er kann auch nicht zulassen, dass Leo einfach darüber hinweggeht, was gerade passiert. Wortlos greift Adam nach Leos Hand und führt sie zu seiner Brust. Leo wird ganz still. Fragend sieht er ihn an, seine Finger beschützend über Adams wummerndes, völlig aus dem Takt geratenes Herz ausgebreitet. „Darum geht es gerade, oder?“ fragt Adam. Leo nickt. Statt es zu erklären, streckt Adam seine eigene Hand aus und legt sie mitten auf Leos Brust, auf Leos Herz. Es hämmert so laut, so schnell, dass er es bis in die Fingerspitzen hinein spüren kann. Es vibriert unter der Haut, im gleichen, panischen Rhythmus wie sein eigenes Herz. „Wieso geht es dann nicht darum?“ fragt er leise. Sekundenlang ist es still zwischen ihnen. Leo atmet langsam aus und lässt die Hand sinken. „Du bist verhaftet worden“, platzt es schließlich aus ihm heraus, bitter und voller Selbsthass. „Und ich habe die Handschellen angelegt.“ „Leo…“ „Ich habe dir die Handschellen angelegt. Das war unverzeihlich. Ich hätte wissen müssen…“ „Leo, verdammt nochmal.“ Leo bricht ab. „Du hast mir am See das Leben gerettet, das muss dir doch klar sein“, sagt Adam. Jetzt hat er Leos geballte Aufmerksamkeit. „Denkst du ernsthaft, ich bin sauer auf dich, weil du dich zwischen mich und ein schwer bewaffnetes SEK gestellt hast? Wenn ich deswegen sauer wäre, dann nur, weil du dich zwischen mich und ein scheiße nochmal schwer bewaffnetes SEK gestellt hast! Ich meine, Gott… Leo…“ Er atmet zitternd aus. „Die hatten Hubschrauber und Sturmgewehre. Und ich war so… ich war so durch. Ich konnte kaum noch klar denken. Und die wussten doch, dass ich eine Waffe habe. Das hätte auf fünfzig verschiedene Arten schiefgehen können und du kennst sie alle so gut wie ich.“ Er spricht es nicht aus und das muss er auch nicht. Der Flüchtige ist bewaffnet und gefährlich. Er weiß genauso gut wie Leo, was es bedeutet, wenn man so eine Anweisung kriegt. Die oberste Priorität ist diese Person aufzuhalten. Mit allen Mitteln. Am See war er so übermüdet und durcheinander, dass er nur die Hälfte mitgeschnitten hat. Er stand drei Meter neben der Spur, und die Realität ist an ihm vorbeigerauscht wie Schnellzug. Erst im Gefängnis ist ihm das klargeworden. Was Leo da gemacht hat. Sein Gesicht. Bleib ruhig, Adam. Wie schnell er die Situation deeskaliert hat. Wie er Handschellen herbeigezaubert hat, hier guckt mal, er ist ganz friedlich, wir haben alles im Griff. Und wie er sich zielsicher direkt zwischen Adam und die verdammten Sturmgewehre platziert hat. Ihm wird schlecht, wenn er daran denkt. „Du hattest gar keine andere Wahl. Die hätten geschossen. Jeder Staatsanwalt hätte das abgesegnet. Ich meine… ein flüchtiger Polizist? Mit Nahkampfausbildung und Dienstwaffe? Ich war bewaffnet und gefährlich.“ „Nein“, sagt Leo leise. „Du warst vergiftet und unterkühlt, und du hast dabei zugesehen, wie sich vor deinen Augen jemand erschossen hat. Du warst das Opfer eines Verbrechens, und ich konnte dich nicht beschützen.“ Es klopft an der Tür. Das Geräusch hallt in eine Stille hinein, in der man eine Stecknadel fallen hören könnte. Leo dreht sich um, schiebt sich reflexartig vor Adam, als seien in den letzten Tagen so viele Menschen und Instanzen hinter Adam her gewesen, dass er kein Risiko mehr eingeht. Er räuspert sich, sofort im Chefmodus, schneller als Adam mitschneiden kann, dass das Gespräch offenbar an dieser Stelle beendet ist, wenn es doch gerade erst richtig angefangen hat. „Ja bitte?“ „Ääähm… hi?“ Pia steckt vorsichtig den Kopf durch die Tür. „Alles okay hier drin? Ich wollte nur melden, dass Esther ihn abgeführt hat. Er ist sozusagen eingetütet.“ „Danke.“ Leos Stimme klingt ruhig und professionell. Nichts verrät das stolpernde, pochende Herz in seiner Brust, dessen Echo immer noch in Adams Fingerspitzen kribbelt. „Ja, alles bestens. Das Vernehmungsprotokoll tippe ich morgen ab.“ Pia nickt zögernd. Ihre Augen springen von Leo zu Adam und wieder zurück. „Du kannst das auch ruhig von Zuhause machen. Also da spricht nichts dagegen, wenn du…“ „Man Pia, wir hatten gerade einen Moment.“ sagt Adam gereizt. „Er kommt morgen nicht, kapiert?“ Nicht, wenn er da was mitzureden hat. „Klar. Natürlich! Ich sag Bescheid. Das Protokoll hat ein bisschen Zeit, ehrlich… sicher, dass alles okay ist? Soll ich…? Wollt ihr…?“ „Verpiss dich“, sagt Adam. „Es ist nicht okay und wir wollen nicht darüber reden.“ Leo wirft ihm einen Blick zu. „Danke Pia“, sagt er. „Okay. Bye!“ Mit runden Augen zieht sie eilig den Kopf zurück und schließt die Tür hinter sich. Leo reibt sich über die Stirn. „Wir hatten gerade einen Moment?“ „Ja“, sagt Adam. „Wir hatten einen Moment.“ Und jetzt ist er vorbei und er weiß nicht, wie er wieder daran anknüpfen soll. - Sie haben nicht geredet nach dem Gefängnis. Vielleicht war das ein Fehler. Andererseits – wann hätten sie das tun sollen? Leo hat ihn abgeholt. Adam erinnert sich detailliert und glasklar an Leos Gesicht, Leos Lächeln. An die Umarmung. An die Fahrt zurück erinnert er sich nur noch verschwommen. Und danach an fast nichts mehr. Er ist auf Leos Bett kollabiert und hat 50 Stunden lang geschlafen, nur unterbrochen von kurzen Momenten, wo er aufs Klo musste oder Leo ihm ein Glas Wasser in die Hand gedrückt hat. Die nächsten fünf Tage hat er in einem Nebel aus schmerzmittelinduzierter Müdigkeit und deutschem Frühstücksfernsehen verbracht, der sich erst gestern langsam gelüftet hat. Leo hat in der Zeit Protokolle und Fallberichte abgetippt, Anfragen von der Staatsanwaltschaft und dem LKA 3 von ihm ferngehalten und ihn von Arzttermin zu Arzttermin geschleppt. Auf letzteres hätte Adam absolut verzichten können, aber Leo hat darauf bestanden. Die Hand macht sich gut („sechs bis acht Wochen, dann kann der Gips ab“), zu dem unbekannten Gift kann niemand was sagen („Nebenwirkungen? Langzeitfolgen? Alles möglich, wissen wir nicht“), und seine Blutwerte sind unter aller Kanone. Offenbar schwimmt kaum noch ein einziges Spurenelement oder Vitamin durch seine Adern. Das war in den letzten Monaten aber auch keine Priorität in seinem Leben. Oder… ehrlich gesagt noch nie. Darüber haben sie geredet. Aber eben nicht über das, was alles passiert ist. Hätten sie vielleicht besser mal. Gottverdammt, Adam hasst es, wenn ihn sowas einholt. Als ob man es nicht hätte kommen sehen können. Jetzt brodelt es in dem tiefen schwarzen See, wo sie ihre Gefühle vergraben. Und vielleicht müssen sie sie jetzt an die Oberfläche holen und darüber reden. Über Dinge reden - das fällt genau in Adams absolute Kernkompetenz. Nicht. Aber er kann keine Panik kriegen, wenn er das nächste Mal Handschellen sieht. Und Leo auch nicht. Sie sind Polizisten! Sie verhaften ständig Leute. Er muss darüber hinwegkommen, dass ihm das auch passiert ist. Auf dem Heimweg sind sie ganz still. Es ist wie eine unausgesprochene Übereinkunft, dass mitten im Berufsverkehr nicht der richtige Ort ist, um dieses spezielle Fass aufzumachen. Leo fährt, schweigsam und in Gedanken versunken. Aber er ist nicht weg, die Tür ist nicht verschlossen. Seine Blicke streifen Adams Gesicht, jeder einzelne ist ein vorsichtiges Abtasten, wie Frage und Antwort zugleich. Bist du noch da? Ich bin da. Die unsichtbare Frequenz zwischen ihnen sendet und empfängt. Die Herzfrequenz. Gottverdammt. 15 Jahre hat Adam sich eingeredet, dass er sich das damals nur eingebildet hat. Diese magische Verbindung, die er gespürt hat zu dem blassen, unscheinbaren Jungen mit dem Baumhaus. Das war nicht echt. Das kann gar nicht so gewesen sein. Das war die krankhafte Phantasie eines einsamen, aushungerten Teenagers. Normale Menschen haben sowas nicht und erwarten sowas nicht, und es fehlt ihnen offenbar auch nicht. Sonst würden sie doch mehr darüber reden, oder? Aber jetzt, wo er es wiederhat, weiß er nicht, wie er es jemals ohne ausgehalten hat. Unwillkürlich reibt er sich mit der Hand über den Brustkorb. „Denkst du, ich bin seltsam?“ rutscht es ihm heraus. Leo lacht. Es kommt unerwartet und sprudelt in die fragile Stille des Autos hinein wie Champagnerbläschen. „Ach Adam“, sagt er und sieht ihn liebevoll an. „Ja. Deswegen ist dein Charme auch so überwältigend.“ Adams Lächeln spiegelt sich in der dunklen Fensterscheibe. Er sieht dabei zu, wie das Neonlicht der Nacht über Leos Wangen streift und sein Gesicht in dramatische Schatten taucht, und er hat ihn so lieb in diesem Moment, dass er es kaum noch aushält. Reden ist nicht seine Kernkompetenz. Aber Leo hat schon immer die Stellen tief in seinem Inneren berührt, die Worte nicht erreicht haben und vielleicht ist das umgekehrt auch so. Zu Hause angekommen stapelt Leo so viel verschiedenes Gemüse auf die Pizza, wie physikalisch irgendwie möglich ist, und ergänzt es durch eine homöopathische Dosis an Käse. Adam sitzt auf der Couch und trinkt irgendeinen Mix aus drei verschiedenen Brausetabletten. Seine Hände sind schweißnass und die Worte liegen auf seiner Zunge, aber in letzter Sekunde bringt er sie doch nicht heraus. „Das Zeug ist widerlich“, sagt er stattdessen. „Ich habe dich nicht aus dem Gefängnis geholt, damit du an Skorbut draufgehst“, erwidert Leo. „Bei der nächsten Blutuntersuchung will ich verdammt noch mal vernünftige Werte sehen.“ Adam senkt die Wimpern und murmelt: „Ja, Herr Hauptkommissar.“ Das ist nicht Flirten. Das ist… ganz normale Kommunikation. Außerdem hat Leo ihn aus der Hölle gerettet. Da führt kein Weg dran vorbei. Also ist das Mindeste was Adam für ihn tun kann in absehbarer Zeit nicht draufzugehen. Danach sitzen sie auf der Couch, Adam mit ausgestreckten Beinen und Leo im Schneidersitz, und teilen sich die gesündeste Pizza, die Adam jemals hatte. Im Fernsehen läuft eine Quizsendung, leise wie Hintergrundmusik. „Silbersulfat“, sagt Leo, wenn er mal mit einem Ohr zuhört. Oder: „Antipoden. Victor Hugo.“ Weil er ein Nerd ist und solche Dinge weiß, und Adam sollte das nicht so verdammt anziehend finden. Ihre Ellbogen und Knien berühren sich bei jeder Bewegung beinah, fast, und sie sehen sich gegenseitig an, wenn sie denken, dass der andere gerade nicht hinsieht. Das ist echt. Das ist echt und das ist meins. Der Alte wird das nicht kaputtmachen. Nie wieder. Adam wird das nicht zulassen. Aber der Alte hatte die Monster zurückgelassen in dem tiefen schwarzen See, wo sie ihre Gefühle vergraben. Und jetzt lauern sie unter der Oberfläche, und irgendwann müssen sie darüber reden. Ich konnte dich nicht beschützen. Dieser Satz kreiselt in Adams Kopf herum, ohne dass er genau weiß warum. Er weiß nur, dass er wichtig ist. Wenn Leo ein Fall wäre, wäre das eine Spur. Warum musste Pia auch genau in dem Moment reinplatzen? „Am See…“, sagt er, stockt und beißt sich auf die Unterlippe. „Ich wusste nicht, dass dir das so nachhängt.“ Leo wirft ihm einen Seitenblick zu. „Wie war das eben? Es ist nicht okay und wir wollen nicht darüber reden?“ „Na ja… nicht mit Pia?“ Adam schluckt, legt sein Stück Pizza zurück auf den Teller. Abwartend sieht er ihn an. Leo ist derjenige, der zuerst den Blick abwendet. Er angelt nach einer Serviette und wischt sich die einzelnen Finger ab, ein durchsichtiger Versuch Zeit zu schinden. „Adam… ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.“ „Wieso nicht?“ „Du hast so viel durchgemacht. Ich will einfach nur, dass du mal eine verdammte Pause kriegst.“ „Ich habe so viel durchgemacht?“ Adam wirft seine zusammengeknüllte Serviette nach ihm. Sie prallt harmlos an Leos Brust ab. „Krieg es endlich in deinen dicken Schädel rein. Das war eine Gruppenaktivität.“ Das trägt ihm ein Lächeln ein, dabei war es nicht als Witz gemeint. Leo fischt Adams zusammengeknüllte Serviette aus seinem Schoß und stellt den Pizzateller beiseite. Er macht Anstalten aufzustehen. Einen Moment lang rechnet Adam damit, dass er jetzt in die Küche verschwindet und aufräumt (Leo ist viel ordentlicher als man denkt) und das Thema damit effektiv zurück im See versenkt. Aber dann lässt Leo sich zurück auf die Couch sinken. Er reibt sich mit den Fingerspitzen den Nasenrücken und er sieht mit einem Mal bodenlos erschöpft aus. „Machen wir das jetzt?“ echot er Adams Satz von heute früh. „Ja.“ Adam nimmt die Beine vom Tisch und wendet sich ihm zu. „Ja, wir machen das jetzt.“ Sie sitzen sich jetzt gegenüber, beide im Schneidersitz und so dicht, dass ihre Beine sich berühren. Leo trommelt mit den Fingerspitzen auf seinen Knien herum. Es arbeitet in seinem Gesicht und er sieht immer noch überall hin, nur nicht auf Adams Gesicht. Schließlich atmet er tief durch und seine Schultern sacken nach unten. „Ich hatte so eine Scheißangst um dich“, flüstert er. Es fühlt sich an wie ein Geständnis. Ein Geständnis, das nach zwanzigstündigem Verhör aus ihm rausgeprügelt wurde. „Am See?“ „Die ganze Zeit.“ Er starrt auf seine Socken, als seien sie das faszinierendste, was er je gesehen hat. „Dein Vater wurde ermordet und du warst weg. Einfach verschwunden. Dann der offene Safe… Ich hatte Angst, dass wir als nächstes deine Leiche finden, verstehst du das?“ Adam nickt langsam. Einbruch und Doppelmord. Das… ja, das ist tatsächlich ein plausibleres Szenario als die Realität. „Als du mich angerufen hast… Als der Haftbefehl rauskam. Ich hatte Angst, dass du was Dummes tust. Dass du abhaust. Dass sie dich auf der Flucht erschießen. Adam... ich war im Leichenschauhaus. Ich habe Henny Wenzel angefleht mich anzurufen, falls jemand reinkommt, auf den deine Beschreibung passt! Und dann klingelt das Telefon, und die Pathologie ist dran und ich dachte… ich dachte…“ Mit einem Schaudern bricht er ab. „Shit.“ Adam schluckt. „Shit, Leo. Das wusste ich nicht…“ „Es war der Verdächtige in unserem Einbruchsfall. Die einzig andere Spur, die ich hatte.“ Leo lässt den Kopf hängen. Er fährt sich mit beiden Händen durch die Haare und verschränkt sie im Nacken. „Ich war so froh, dass du es nicht bist. Aber gleichzeitig hatte ich schon wieder nichts. Jede Spur löste sich in Nichts auf, glitt mir einfach durch die Finger. Ich hatte so eine Angst, dass ich es nicht schaffe“, sagt er dumpf. „Dass ich schon wieder nichts tun kann.“ Schon wieder? „Leo… mir wurde noch nie ein Mord angehängt“, sagt Adam behutsam. Nicht, dass das eine Erfahrung ist, die er wiederholen möchte. Als Leo antwortet, ist es so leise, dass es er es kaum versteht. Er hört nur drei Worte und dann, endlich, endlich, fällt der Groschen. „…genau wie früher…“ Adam erstarrt. Eine eisige Hand schließt sich um sein Herz und drückt zu und er versteht. Plötzlich versteht er alles. Leo hebt den Kopf, ein fieberhafter Glanz in seinen Augen. „Ich dachte, du wärst sicherer in U-Haft als auf der Flucht. Aber da warst du auch nicht sicher. Eine Nacht - und dann warst du schon auf der Krankenstation. Ich konnte nichts tun. Du warst nirgendwo sicher, und niemand hat mir geglaubt, und es war genau wie früher!“ Er ist wieder im Baumhaus. Die Stimme vom Alten durchschneidet die kalte Waldluft. Adam, du kommst sofort da runter! Leos panisches Kopfschütteln. Seine Augen weit aufgerissen. Flehend. Tu es nicht. Tu es nicht. Geh nicht! Den Bruchteil einer Sekunde, indem Adam eine Entscheidung trifft. Treffen muss. „Ich drehe mich die ganze Zeit nach dir um“, sagt Leo. Der Damm ist gebrochen, die Worte sprudeln atemlos aus ihm heraus. „Ich hasse es, dich aus den Augen zu lassen. Wenn das LKA3 anruft, fällt es mir so schwer höflich zu bleiben. Scheiße, Adam, ich… Ich möchte sie anbrüllen, dass sie dich nie wieder zu Gesicht bekommen und schon gar nicht vernehmen dürfen.“ Das schleppt er nicht erst seit letzter Woche mit sich herum, begreift Adam. Das schleppt er seit fünfzehn Jahren mit sich herum. Aber er hatte doch keine Wahl. Gehen oder bleiben. Wenn er bleibt, wird der Alte hochkommen. Daran besteht kein Zweifel. Und er wird Leo entdecken, er wird Adams Gesicht sehen und er wird alles wissen. Wenn er geht, wird sein ganzer Hass sich auf Adam entladen. Er wird vergessen, dass da vielleicht noch jemand gewesen ist. Das ist der einzige Weg, um Leo zu beschützen. Und Leo muss beschützt werden. Um jeden Preis. „Die letzten Nächte…“ Leo fährt sich mit der Zunge über die Unterlippe, schluckt. „Ich wache immerzu auf und… Adam, ich steh dreimal pro Nacht an deinem Bett und sehe nach, ob du noch atmest. Ob du noch da bist.“ Adam öffnet den Mund, kriegt kein einziges Wort zu fassen und atmet einfach aus. „Oh…“, macht er schließlich langsam, fühlt sich wie ein Idiot. Wieso ist er davon nicht aufgewacht? Die Frage beantwortet sich von selbst. Weil er randvoll war mit Schmerzmitteln. Weil er einen Schlafentzug von hier bis Tokio hat. Vermutlich hätte es ihn nicht mal geweckt, wenn ein Güterzug mitten durch das Schlafzimmer gebrettert wäre. Leo hat an seinem Bett gestanden. Vielleicht auf der Bettkante gesessen. Er erwischt den Fetzen eines Traumes, mehr Vision als Erinnerung. Eine Hand, die ihm sacht die Haare aus der Stirn streicht. Den Eindruck von Wärme. Eine leise Stimme. Aber vielleicht ist das nur seine überaktive Phantasie. Man entwickelt viel Phantasie, wenn man einen Großteil der Kindheit in einem Schrank verbringt. „Okay“, sagt er schlicht. „Okay?“ Leo lacht ungläubig. „Das ist total wahnsinnig!“ „Ist es nicht.“ „Ist es doch.“ „Leo…“ Adam schüttelt den Kopf, wünscht sich, er wäre besser mit sowas. Sein Herz blutet für den schmächtigen Jungen, der Leo einmal gewesen ist und für den Leo, der grade vor ihm sitzt, der jetzt eine Dienstwaffe trägt, jeden Morgen 5 km läuft und 100 Klimmzüge macht, nur um sich soweit wie möglich von diesem kleinen hilflosen Jungen zu entfernen. Der Leo, der einen Beruf ergriffen hat, wo er andere beschützen kann. Jeden Tag. Leo musste ihn vor fünfzehn Jahren gehen lassen. Und schon wieder letzte Woche. Ich konnte dich nicht beschützen. „Aber du hast mich beschützt“, flüstert er. „Nein, ich…“ Leo schüttelt den Kopf. „Du meinst den Spaten. Ja. Vielleicht. Das war zu spät. Das war nicht genug. Ich hätte…“ „Ich bin hier“, sagt Adam leise, nachdrücklich. „Leo, ich bin hier. Bei dir. Das ist der sicherste Ort, an dem ich jemals gewesen bin.“ Leo blinzelt. Ganz langsam, als ob er aus einem langen, furchtbaren Traum erwacht. Adam greift nach Leos Hand und führt sie zu seiner Brust, so wie eben im Büro. „Es ist deins“, sagt er. „Ich meine… das war es schon immer.“ Reflexartig breitet Leo die Finger aus, direkt über Adams pochendes Herz. Er hebt den Blick und er sieht ihn an, als sähe er ihn gerade zum ersten Mal. Der gequälte Zug um seine Augen verschwindet langsam. „Der Alte hat es immer gewusst. Dass da ein Teil ist, an den er nicht rankommt. Das hat ihn wahnsinnig gemacht. Er hätte es gerne aus mir rausgeprügelt. Sogar ganz am Schluss… wollte er noch reingreifen und da drücken, wo es wehtut. Und er hat gewusst, dass es was mit dir zu tun hat. Als er gesagt hat, dass ich deine Strafe jetzt einfach mitkriege… da war ich erleichtert, weißt du? Es war beinah komisch. Wie er dachte, dass er mir damit eins reinwürgt, und ich war einfach nur froh. Weil es das Schlimmste gewesen wäre, was er mit hätte antun können. Zusehen zu müssen, wie…“ Adam schüttelt den Kopf. „Aber das hat er ja nie verstanden.“ Leo ist ganz still. Seine schillernden, ozeanblauen Augen haben sich auf Adams Gesicht festgesaugt. Er hört zu, endlich hört er richtig zu, und Adam ist sicher, dass er nicht nur die Worte hört, sondern auch all das was Adam nicht sagt. Nicht sagen kann. „Er hat immer gedacht, dass ich ihm gehöre“, sagt Adam leise. „Aber das hat ihm nie gehört. Da ist er nicht drangekommen, egal, was er versucht hat. Deswegen… deswegen ist es auch nicht so kaputt wie der Rest.“ „Adam…“ Seine Stimme bricht. „Es war nie bei ihm. Es war immer bei dir.“ Du hast mich immer beschützt, Leo. Damals. Heute. Im Baumhaus. Am See. Den einzigen Teil von mir, der etwas wert ist. Wortlos packt Leo ihn und zieht Adam in seine Arme. Adam sinkt ihm willig entgegen und vergräbt das Gesicht an seiner Schulter. „Ich bin hier“, flüstert Adam, weil er das Gefühl hat, dass es noch eine Weile brauchen wird, bis Leo das wirklich glaubt. „Bei dir.“ Dem sichersten Ort, an dem er jemals gewesen ist. Statt einer Antwort hält Leo ihn noch fester, und es fühlt sich an, als ob es endlich, endlich etwas in ihm einrenkt, das vor fünfzehn Jahren aus den Fugen gesprungen ist. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)