Die Gefühle, über die wir nicht reden von Evilsmile ================================================================================ Kapitel 6: Blaupause -------------------- Auf dem Flur im Altenheim kam mir Fatima in Richtung des Fahrstuhles entgegen, als ich mit der Bettwäsche der gesamten Station in den Waschkeller wollte. Sie hielt mir ein kleines braunes Fläschchen unter die Nase und mir fiel es schwer, nicht zu würgen. „Boah, was ist das?“ „Ätherisches Öl mit Tannenduft. Das schütte ich auf den Baum, damit der genauso riecht wie ein echter Tannenbaum aus dem Wald. Die Omis werden mich dafür lieben!“ Sie grinste breit über das ganze Gesicht. „Du wolltest doch schon immer mal wie ein Tannenbaum riechen, oder?“ Bevor ich dies klar verneinen konnte, benetzte sie mich mit einigen Tropfen aus ihrem Fläschchen. Meinen lautstarken Protest daraufhin quittierte sie nur mit einem hämischen Lachen, und machte sich aus dem Staub. „Das wirst du bereuen, Fatima! Ich gebe dir nie wieder meinen Nachtisch!“ Die paar Tropfen, die ich abbekommen hatte, rochen bereits so intensiv, dass mir davon übel wurde. Kein Wunder, nach diesem Kater-Wochenende, von dem ich immer noch Kopfschmerzen hatte. Heute war mir echt nicht nach Scherzen zumute. Weiter vorn hörte ich eine Tür knallen und drehte mich in die Richtung. Der Boden erzitterte. Sandro Schwarzer marschierte schweren Schrittes in meine Richtung, ausgerechnet heute. Die nächste Tür, meine Fluchtoption, war nur ein Schritt entfernt, doch zu spät, er hatte mich bereits erblickt. Er schien noch weniger zu Späßen aufgelegt als ich. Aber was sollte ich denn sagen?! Ich konnte mich ja kaum noch an den Samstagabend erinnern. „Dominique!“ Schnell setzte ich den Sack Schmutzwäsche auf dem Boden ab und zog schützend die Schultern an, wich reflexartig zurück, doch er berührte mich nicht mal. „Komm mit!“ „Wo…wohin?“, fragte ich zögerlich. „Komm besser mit, bevor ich mich vergesse!“ Das tat ich, bevor er mich noch am Kragen mitschleifte. Wohin er wollte, wurde mir sogleich klar: Natürlich hinaus auf den Balkon, wohin auch sonst. Puh. Die frische Luft tat echt gut. „Ich war eben bei Vater!“ Gefrierstrahl!, schrie sein Blick, und seine Augen waren heute so dunkel und unergründlich wie die Tiefsee. Nie hatte ich ihn so zornig erlebt. Seine Stirn so zerklüftet wie ein Gletscher. Eine sichtbare Ader pulsierte seitlich an seiner Schläfe. Ich schluckte und wandte den Blick ab. „Was erzählst du meinem Alten, bist du noch ganz dicht! Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“ „Was meinst du?“ Ich versuchte mich daran zu erinnern, worüber ich heute Morgen mit Siegfried geplaudert hatte, als ich ihm im Badezimmer bei seiner Morgenroutine half, so wie ich Schiko immer geholfen hatte. Dabei war mir aufgefallen, dass sich einige Gegenstände mehr in seinem Zimmer befanden; wie ein kleiner Wecker mit Leuchtziffern auf seinem Nachttisch, den wohl Sandro vorbeigebracht hatte. Dunkel erinnerte ich mich an mein Selbstgespräch, bei dem ich nebenbei fallen gelassen hatte, dass Sandro wunderbar Gitarre spielen konnte, und ich ihm bereits zweimal im Club live gesehen hatte. Auf meine Frage, ob er selbst auch musikalisch war, und bei unserem Advents-Chor mitsingen wollte, aber keine Antwort erhalten, zumindest keine verbale. Vielleicht hatte ich mir erhofft, die andere Seite der Medaille zu sehen zu bekommen. Nachdem mir Sandro mir offenbart hatte, wie es für ihn gewesen war, ihn zu pflegen. „Du hast das mit der Band ausgeplaudert!“ „Äh?! Das hat er mitbekommen? Und hat es dann dir erzählt?“ Ich war baff. Siegfrieds Kommunikationsfähigkeiten hatte ich deutlich unterschätzt. Sandro seufzte deutlich hörbar auf. „Natürlich. Hast du seine Patientenakte nicht gelesen? Er bekommt alles mit, ist bei glasklarem Verstand, auch wenn das sein Anblick nicht vermuten würde. Kognitiv hat er da keine Probleme. Bloß mit dem Sprechen, wegen seinem Schlaganfall, er hat auch nichts aus der Vergangenheit vergessen, nicht das kleinste Detail. Vielleicht wäre das besser für ihn… Die Demenz wäre eine Gnade, aber so ist sein Geist eingesperrt in seinem Wrack von Körper. Und kein Mensch macht sich die Mühe, zehn Minuten für einen einzigen hingebrabbelten Satz von ihm aufzuwenden, so was kann auch keiner verlangen. Aber ich glaube, es würde ihm schon genügen, wenn man ihm die Zeitung vorliest, halt nicht unbedingt Sport oder den Feuilleton-Teil.“ Gedanklich machte ich mir eine Memo, das beizeiten mal zu tun. „Wieso hast du es ihm eigentlich nicht schon gesagt? Da trittst du ja nicht erst seit gestern auf, oder? Was hast du ihm denn noch so alles nicht erzählt, über dich?“ „Das geht dich gar nichts an! Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, der Sohn von Siegfried Schwarzer zu sein! Also sei still!“ Schien es nur so, oder hatte seine glattgebügelte Fassade einen Riss bekommen; eine Haarsträhne hatte sich aus der Wand als Gel gelöst und fiel auf seine Stirn. Dieser emotionale Ausbruch war etwas Neues, überraschte mich. Da war doch Feuer in ihm, nicht Eis, wie man vermuten könnte. „Ne, woher sollte ich auch?“ Ich zuckte die Achseln. „Nun weiß er es eben. Na und?“ Sandro schüttelte missbilligend den Kopf. Er griff wie automatisch in seine Jackentasche, und ich wusste nur zu gut, was nun kam. Seine Zigarettenschachtel beförderte er ans Tageslicht, zündete sich eine an. So standen wir beide am Geländer, er rauchte und ich nicht. Ich schaute ihn klammheimlich von der Seite an, er mich nicht. Seine Stirn glättete sich allmählich wieder, aber das war es nicht, was heute meine Aufmerksamkeit erregte. Sondern sein Handgelenk. Was waren das für bunte Klebestreifen auf seiner Haut? „Hast du es am Samstag zu wild getrieben?“, fasste ich mir ein Herz und sprach ihn darauf an. Den Rauch blies er mir mitten ins Gesicht. „Zu wild getrieben!? Das sagt ja der Richtige, du hast dich halb ins Koma gesoffen, mit deinen Kumpels! Findest du das cool?“ Oh Mann, das hatte er wirklich mitbekommen von der Bühne aus. Wie unangenehm… „Nein, ich hab es schon am nächsten Tag bereut. War dumm gewesen.“ Stillschweigend standen wir nebeneinander, ein paar Atemzüge lang. Der Wind blies den Rauch voll in meine Richtung. Das Wetter war schon deutlich herbstlicher als bei unserem ersten Aufenthalt hier draußen. Etliche Blätter wurden von dieser Windbö erfasst und verließen den Baum wie ein Schwarm Vögel. „Euer Auftritt…“, begann ich. „Ihr wart echt gut. Du warst wieder geschminkt, das steht dir so verdammt gut. Wie ist das überhaupt, auf einer Bühne zu stehen? Vor so vielen Leuten?“ „Hör auf mit der Schleimerei. Es geht Vater nichts an, klar? Er ist der Letzte, der das wissen muss. Er verachtet mein Hobby, hat mich darin nie unterstützt, es ist Dreck in seinen Augen! Für Musik und generell Kreativität, hat er nichts übrig. Gottverdammt, ich bin echt sauer!“ „So ist das also.“ „Früher hat er mir immer gedroht, meine Gitarre zu verbrennen.“ Er schnaubte, Rauch quoll aus seinen Nasenlöchern. „Ich glaube, dann hätte ich echt mal Respekt vor ihm gehabt, da hätte er nämlich etwas gewagt, was ich ihm nicht zugetraut hätte. Aber er hat es nie getan, er hat mir immer nur damit gedroht. Leere Drohungen.“ „Hm. Vielleicht, weil er wusste, dass dir die Gitarre sehr wichtig ist?“ Bloß ein Kopfschütteln von ihm. „Tu mir nur einen Gefallen: Rede nicht mehr mit ihm über mich.“ Bevor ich dazu etwas sagen konnte, meinte er: „Ich habe was für dich; verdient hättest du es eigentlich nicht.“ Aus der Innentasche seiner Jacke zog er eine CD hervor und reichte sie mir. Eine schnöde Hülle, auf deren Plastik schlicht mit Edding der Bandname hingekritzelt war. „Ihr habt eine CD aufgenommen? Wann das denn?“ Ich wusste nicht, ob ich mich über Gitarrhö in gepresster Form freuen sollte, versuchte aber, mir meinen Unmut darüber nicht anmerken zu lassen. „Vor ein paar Wochen. Unser Schlagzeuger hat Beziehungen.“ „Und euer Sänger…“, begann ich aber biss mir rechtzeitig auf die Zunge. „Was ist mit ihm?“ Eine solche Schärfe lag in seine Stimme, dass ich verstummte. Gefährliches Terrain. „Nichts. Danke dir.“ Ich verstaute die CD in meiner Kitteltasche. „Da ist eine Datei mit den Texten drauf“, verriet mir Sandro mit verschwörerischer Stimme. „Aber ich glaube kaum, dass du sie verstehst, so unreif wie du dich aufführst.“ Die Kippe war noch nicht ganz zu Ende geraucht, da entsorgte er sie bereits im Aschenbecher, der dringend geleert werden sollte. „Wieso nicht? Sind das schwule Texte?“, rief ich ihm provozierend hinterher. Er zeigte mir den Mittelfinger. Doch sein Gang war wieder federleicht, weil er seine Wut losgeworden war, und es war schön, ihm hinterher zu schauen, die Gangart eines Menschen, der etwas von Musik verstand. Sandro...Schon wieder heiße Wangen. Oh Mann, an diesem Wochenende war irgendetwas mit mir passiert. Ich war nicht mehr derselbe wie zuvor. Nie hatte ich einem Kerl hinterher geschaut. Als ich mich suchend nach dem Bündel Wäsche umsah, sah ich sie. Sie saß da, ganz still wie eine Buddhastatue, und einem ähnlichen Lächeln. Frau Spinnler auf ihrem Rollator, mit bester Aussicht auf den Balkon. „Na, wie war Schiff der Leidenschaft ? Haben Sie das Buch schon fertig gelesen?“ „Oh ja, es war sehr gut! Sie konnte ihn davon überzeugen, dem wilden Leben als Pirat zu entsagen und mit ihr aufs Land zu ziehen, in ein Cottage. Möchten Sie sich das Buch ausleihen?“ „Nein, danke… Aber die werden sicher nicht lange zusammenbleiben, man kann doch aus einem Piraten keine Landratte machen.“ Sie schnalzte mit der Zunge. „Ihr jungen Leute müsst doch alles an den Haaren herbeiziehen. Was nach dem Ende eines Buches passiert, ist doch wirklich völlig egal.“ „Ok, also wird es wohl eher keinen zweiten Band geben. Wissen Sie schon, was Sie als nächstes lesen werden?“ Unter ihrer Häkeldecke zog sie den nächsten Roman hervor, dessen Cover nicht weniger kitschig war:Knisterndes Kaminfeuer. ~ Au weia. Zwar war die Tonqualität überraschend gut, doch der Sänger traf einfach nicht meinen Geschmack, und auf CD war es fast noch schlimmer als im Club. Da konnte ich den Gesang eher ausblenden und Sandro beim Spielen zuschauen, jetzt aber gab es nichts zu sehen. Er sang übrigens wirklich „Blaupause“. Das stand so auch im Songtext. Den hatte Sandro geschrieben? Das ergab überhaupt keinen Sinn. So viele schräge Sprachbilder, Metaphern... Ich raufte mir die Haare. Was wollte er damit ausdrücken? Gab es dahinter einen tieferen Sinn, eine versteckte Botschaft, oder sollte es bloß cool klingen und sich reimen? Stirnrunzelnd las ich ihn wieder und wieder. Ich wollte nicht, dass er mit seiner Vermutung richtig lag, dass ich die Texte nicht verstand. Dann würde ich ihn eben sooft lesen und mir den Song dazu anhören, bis ich ihn verstand! Was hatte ich im Deutschunterricht nicht für stupide Gedichte und Dramen aus sämtlichen Epochen der Literaturgeschichte analysieren müssen. Wo sich der Verfasser wohl im Grab umgedreht hätte, wüsste er, dass ganze Generationen von Schulklassen jede Silbe zerpflücken. Da war doch dieser Text keine Herausforderung für mich, also bitte! Erst schlug ich das Wort im Duden nach, dann googelte ich es. Und trotzdem… Fast war ich geneigt, Marie zu fragen, die sich gerne mit Texten befasste. Aber das hier, das ging Marie nichts an. Das war eine Sache zwischen Sandro und mir. Den ganzen Dienstag über schaute ich immer wieder mal am Balkon vorbei, doch wurde enttäuscht. Kein Sandro da. Dass es mir mittlerweile schlechte Laune bereitete, ihn nicht zu sehen, war eine krasse Entwicklung. Am Mittwoch sah ich eine schwarze Gestalt am Balkongeländer rauchen und mein Puls beschleunigte sich. Ich hatte schon die Finger am Türgriff, als ich feststellte, dass es bloß meine Kollegin Gabi war, die sich draußen eine Zigarettenpause gönnte. Oh Mann! Was dachte sich Sandro? Der konnte doch nicht einfach seine blöde CD bei mir abliefern und auf Nimmerwiedersehen verschwinden! Zumal das fast zu einem Ritual geworden war, unsere fünf Minuten hier draußen. Am Donnerstag bildete ich mir ein, dass mir Frau Spinnler im Flur verschwörerisch einen Hinweis gab: „Hat was, so ein Kaminfeuerchen, gibt ordentlich Rauch.“ Rauch. Das Stichwort. Nur Zufall? Es konnte nicht schaden, mal nachzusehen. Und richtig, da draußen stand er – kein geringerer als Sandro! - umgeben von Rauchschwaden. So laut, wie die Schiebetür zuknallte, konnte ich mich nun nicht mehr an ihn anschleichen. „Ich habe mir die Texte angeschaut“, begrüßte ich ihn, ohne großes Vorgeplänkel. Er schnippte Asche weg und warf mir einen fragenden Blick zu. „Sag, worum geht es in dem Song Blaupause ?“ Als er nicht antwortete, nur stumm weiter rauchte, fragte ich weiter: „Sicher nicht um Schiffbau, oder?“ Ein Grunzen. „Nein. Und der Song Herumgehurt handelt auch nicht vom Rotlichtmilieu, falls das deine nächste Frage ist. Und Oben oder Unten ...“ „Ist wohl keine schwule Sexfantasie?“, vollendete ich seinen Satz. „Schade.“ Seine Stirn wurde zu einem Kraterfeld. „Warum sollte ich darüber einen Text schreiben?“ „Keine Ahnung? Ich weiß wirklich nicht, was du mit Blaupause aussagen wolltest. Dass wir… mehr Apfelbäume pflanzen sollen? Wegen dem Zweig, der keine Früchte trägt, und so. Ein ökologischer Hintergrund?“ Sein charakterisches zischendes Lachen. „Oh Mann, typisch Generation Z…du bist viel zu jung, um ihn zu verstehen.“ „Bin ich nicht!“, protestierte ich und mein Kampfeswille war entfacht. Mochte ja sein, dass ich in einem anderen Jahrtausend geboren war als er, aber was hieß das schon. Nun wollte ich es erst recht herausfinden. Mein Handy nahm ich aus der Kitteltasche und las noch einmal die Zeilen des Textes durch. Im Kern drehte es sich wohl um Verwandtschaft. „Wahrscheinlich ist der tiefere Sinn nur einem kleinen elitären Kreis vorbehalten. Wie beim Symbolismus“, mutmaßte ich. „Ha, ha. Es ist einfach nur die Lebenserfahrung, die dir noch fehlt. Sei froh drum, ehrlich.“ Er nahm noch einen kräftigen langen Zug an seiner Zigarette, presste dabei die Finger ganz hart auf seine Lippen. „Ich kläre dich morgen auf, okay?“ Die Zigarette wäre noch nicht fertig gewesen, trotzdem landete sie im Aschenbecher. Wie konnte er die nur vorzeitig beenden? „Wieso bis morgen warten? Ich will es jetzt wissen, klar?! Ich kann es schon verkraften, egal um was es geht! Sandro! Bleib da!“, quengelte ich und hielt mich wie ein Kleinkind an einem Zipfel seiner schwarzen Kleidung fest. Doch ich konnte ihn nicht zum Bleiben bewegen, er verschwand zur Schiebetür nach drinnen. Als er nicht mehr zu sehen war, pickte ich mit spitzen Fingern seine Zigarette aus dem Aschenbecher, blies in die verlöschende Glut, bis sie neu entfachte. Dank meiner Mutter hatte ich nie das Verlangen danach gespürt, selbst eine Zigarette zu rauchen. Dieses Filterstück jedoch hatten Sekunden zuvor keine geringen Lippen als die von Sandro berührt… Schmecken, was er geschmeckt hatte, tun, was er getan hatte, denken wie er gedacht hatte, und ich würde Blaupause analysieren können, dachte ich und schüttelte im selben Moment den Kopf über diesen Unsinn. Zurück damit in den Aschenbecher, wo es hingehörte! Was stimmte mit mir nicht?! ~ Verbissen starrte ich auf der Fahrt nach Hause auf mein Handy und las Sandros Songtext wieder und wieder. So tiefgründig konnte er doch nicht sein. Wieso sollte ich zu jung sein, um ihn zu verstehen? Da war doch eine idiotische Aussage. Sandro war nicht viel älter als ich. Ich schätzte ihn auf Mitte Zwanzig. Ob er wohl noch studierte? Gar nicht gelegen kam Jos Nachricht in diesem Moment: „Hey Dome, was machste? Willste nicht mal wieder zum Zocken vorbeikommen?“ Genervt stöhnte ich auf, schrieb zurück: Ne, ist langweilig ohne Chris. Darauf folgte nur ein trauriger Emoji von Jo. Ob Jo vielleicht etwas über die Hintergründe zu diesem Song wusste? Ich überlegte gut, wie ich diese Frage formulierte. Zurück kam bloß: Blaupause? Nicht dass ich wüsste. Vielleicht weiß Simon was? Never! Niemals würde ich Simon über Gitarrhö ausfragen, oder sonst irgendetwas, das mit Sandro zu tun hatte. Unsere Unterhaltung im Club war mir noch viel zu präsent. Vielleicht steigerte ich mich ja nur seinetwegen so in die Sache rein. Er hatte ausgesprochen, was tief in mir zu brodeln schien. Die Frage war nur, ob ich ihn dafür hassen oder ihm dankbar sein sollte. ~ Blasser Dunst und Nebelschleier lagen über der Stadt in der Ferne, als wäre dort das Ende der Welt. Heute war ich allein hier draußen. Ich fror leicht und hoffte, dass Sandro bald kam. Leider hatte ich immer noch keine zündende Idee gehabt, was den Text anging. So einen Text konnte sich doch nur ein Verrückter ausdenken. Sandro eben. Hoffentlich würde er mich gleich aufklären. Die Schiebetür wurde aufgestoßen und mir zog ein richtiger Schauder durchs Mark, eisiger als jede Kälte. Das konnte nur Sandro sein. „Dominique!“, begrüßte er mich eine Spur zu fröhlich und nahm seine Stellung am Balkongeländer ein. War seine Laune umso besser, je mieser das Wetter war? Die Zigarette, die ihm hinterm Ohr klemmte, steckte er zwischen die Lippen und aus der Tasche seiner Lederjacke holte er ein Plastikfeuerzeug hervor. Heute war es ein rosafarbenes, so rosa wie Himbeerjoghurt, was meine Mimik etwas entgleisen ließ. Aber das Anzünden wollte ihm nicht gelingen, das billige Feuerzeug spuckte bloß klägliche Funken aus. Doch heute schien er endlose Geduld zu besitzen. „Das ist das einzig Doofe an diesem Wetter. Nebel mag ich total.“ Immer noch versuchte er erfolglos, die Zigarette anzuzünden, während er immer mehr die Stirn runzelte. Hatte er Schmerzen, wegen seiner Hand? Ich konnte es nicht länger mit ansehen, nahm ihm das Feuerzeug aus der Hand und entfachte beim ersten Versuch eine Flamme. „Das ist…“, begann er, nahm dann aber doch meine Hilfe dankbar an, und kam mir so verdammt nahe, als ich seine Zigarette anzündete. „Verrückt, ja“, vollendete ich seinen Satz, und auf das Fragezeichen in seinem Gesicht hin, erklärte ich: „Dir noch dabei zu helfen, dich kaputt zu machen.“ Apropos Gesundheit. „Ist deine Hand wieder okay?“ Denn heute entdeckte ich keines der bunten Tapes. „So einfach wird sie nicht wieder okay“, gab er zurück und nahm einen weiteren tiefen Zug. „Nicht?“ Nachdem er den Rauch ausgepustet hatte, wandte er mir den Kopf zu. Ein mildes Lächeln. „Hey. Krieg dich wieder ein. Ist doch nicht deine Hand.“ Was bedeutete das? Mir musste das blanke Entsetzen ins Gesicht gemalt sein, weswegen er seine Finger wie auf mich zukrabbeln ließ wie eine Spinne und dann spielerisch mit dem Nagel in meinen Oberarm hinein piekste. Für ihn war das nichts. Aber für mich war das wie eine Explosion, diese harmlose Berührung. Er ahnte ja nicht mal im Entferntesten, was er mit mir anstellte, die ganze Zeit schon. Nervös spielte ich an dem rosa Feuerzeug herum, das ich immer noch festhielt. „Hattest du eine Erleuchtung, was den Text betrifft?“ Ich räusperte mich, zwang mich wieder in die Gegenwart. „Ähm... Er hat vielleicht keine Bedeutung. Möglicherweise ist der Sinn, dem Text den Sinn zu geben, den er für einen selbst hat.“ Sandro schnaubte belustigt. „Fans stellen die absurdesten Analysen und Theorien auf. Ich hatte mal angenommen, dass ein Song vom Jenseits handelt. Bis ich dann später in der Biografie des Sängers gelesen hab, dass dieser Song den beschwerlichen Weg der Band zum internationalen Durchbruch beschreibt.“ Ich grinste. „Ganz knapp vorbei.“ „Ja, haarscharf“, grinste er zurück. Die Zigarette war zur Hälfte aufgeraucht. Der internationale Durchbruch. War es das, von dem er träumte? Ein Stadion füllen mit tausenden Zuschauern? Berühmt sein und auf der Straße erkannt und um Autogramme angebettelt werden? Bevor ich diese Frage formulieren konnte, kam er mir zuvor: „Macht dir die Arbeit hier Spaß?“ „Das hast du mich schon einmal gefragt.“ „Kann sein.“ „Ja, sie macht Spaß, aber bis an mein Lebensende möchte ich sie nicht machen.“ „Warum nicht?“ „Ich sehe mich nicht in diesem Beruf. Mit Menschen will ich schon etwas machen. Muss nur noch die Details klären. „Du hast ja auch noch eine Ewigkeit Zeit, um dich und deinen Weg zu finden, probier dich aus, sammel Erfahrungen.“ „So lang aber auch nicht!“, gab ich zurück, malte mir bereits aus, wie ich mit Dreißig noch in Désirées Küche stand und mir ihre Tiraden anhören musste. Er schnippte die Asche von der Zigarette. „Ich hab keine Ahnung, was dein Vater arbeitet oder welchen Lebensentwurf er für dich vorgesehen hat, aber er ist nicht die Blaupause für dein Leben.“ Bei mir klingelte etwas. „Aha… ein Hinweis, ja? In deinem kafkaesken Songtext geht um deinen Vater! Wie du ihn siehst, wie er dich sieht, und dass du...“ „Kafkaesk? Tatsächlich habe ich das Gesamtwerk von Kafka sehr genossen…“ Ein zartes Lächeln huschte auf seine Lippen, mit seinen Gedanken schien er plötzlich ganz woanders zu sein. „Das habe ich mir geholt, nachdem wir im Deutsch-LK Die Verwandlung fertig hatten. Der Lehrer hatte so ganz nebenbei erwähnt, wer ihn verstehen will, muss Kafka lesen. Denn auf der ganzen Welt würde einzig Kafka ihn verstehen, und der wäre der menschlichste Mensch, von dem er je ein Buch gelesen hat. Ich will gar nicht wissen, mit welchen Dämonen sich dieser Mann herumschlagen muss.“ Ich betrachtete ihn, wie er an diese vergangene Zeit und an diesen Lehrer zurückdachte, und was das mit ihm machte. Seine Augen hatten einen richtigen Glanz bekommen und er schien wie ausgewechselt. „Warst du… in diesen Deutschlehrer verknallt gewesen?“ „Hm… Ja, kann man wohl so ausdrücken.“ Das war stark, dass er da ganz aufrichtig zu mir war, dass er zu diesen Gefühlen stehen konnte und sie mir, einem fast Fremden, mitteilte. Ich versuchte mir einen Schüler-Sandro auf dem Pausenhof vorzustellen, der verstohlen seinen Deutschlehrer anschmachtete, das gelang mir aber nicht. Seine Zigarette neigte sich dem Ende zu und mich überfiel die Panik. Weil ich so eine Ahnung hatte, eine Intuition. Wenn er jetzt ging, wann würde ich ihn dann wiedersehen? Ihn nur einmal im Monat im QUAKE zu erleben, und aus der Ferne anzustarren, das würde mich kaputt machen und würde nur in weiteren Suffnächten enden. Ich wüsste zu gern, welche Worte der Geheimcode waren, mit dem Simon es fertig brachte, nahezu jede Frau abzuschleppen, auf die er Bock hatte. Sofern er überhaupt Worte benutzte und nicht nur die Macht seiner Pheromone. Aber ich war nicht Simon und Sandro keine Frau. So musste ich einfach improvisieren. All meinen Mut zusammen genommen, fragte ich: „Bin ich auch zu jung dafür, dich besuchen zu kommen?“ Das war der wohl verrückteste Einfall, den ich je in meinem Leben hatte! Sogar Sandro schien überrascht, so hoch hatte er seine blonde Braue noch nie gezogen. Als würde er mich zum allerersten Mal als sexuelles Wesen wahrnehmen. Nur noch in Luft auflösen wollte ich mich. Scheiße, scheiße, scheiße! „Mich besuchen?“, wiederholte er, ganz ohne seinen typischen ironischen Unterton in der Stimme. Ich hatte seine Aufmerksamkeit so sehr auf mich gezogen, dass er sogar vergaß, die Asche wegzuschnippen. Deshalb krümmte sich das verbrannte Ende seiner Zigarette immer mehr nach unten, bevor die einzelnen Flöckchen zu Boden rieselten. „Wow. Ich dachte, du fragst mich erst mal nach meiner Nummer, oder so…“ „Vergiss es, war nur ein Witz“, ruderte ich zurück, mit sehr wenig Überzeugungskraft. Was war nur los mit mir?! Als ich im Begriff war, den wohl peinlichsten Abgang meines Lebens hinzulegen, packte Sandro mich in letzter Minute an der Schulter. Wie ein Blitz zuckte es mir durch sämtliche Nervenbahnen, und ja, so musste es sich anfühlen, zu sterben. Mein Gott… „Besuch mich Sonntagabend. Gleich im Parterre, rechts.“ Er nannte mir eine Straße und Hausnummer, drückte dann den Stummel in den Aschenbecher. „Wehe, die Adresse stimmt nicht!“, rief ich ihm hinterher, um meine Nervosität zu überspielen. „Wehe, du kommst nicht“, entgegnete er darauf lässig und dann fiel die Schiebetür ins Schloss. Ich atmete erst einmal durch und wartete noch eine Minute. Meine Hände zitterten, aber nicht vor Kälte. Ich war vollkommen irre. Hatte ich mich gerade wirklich verabredet? Mit Sandro? Scheiße, nein! Schnell war das Handy aus der Tasche gezogen, wobei ich bemerkte, dass ich sein Feuerzeug versehentlich eingesteckt hatte! Die Straße gab es tatsächlich. Im Stadtteil Kornheim. Dorthin fuhr die Linie 13. „Na? Hast du seine Nummer?" Frau Spinnler schielte neugierig über den Rand ihres Kaminfeuer-Buches hinweg, als ich an ihr vorbeiging. Mein Kopf musste so rot leuchten wie eine Ampel. Nicht seine Handynummer. Seine Hausnummer, verdammt! „Sie sollten lieber Klarinette üben! Sie wollen doch den Adventschor begleiten!“, wurde ich laut. „Ruhig Blut, Junge, ich übe doch jeden Tag. Nur nicht um die Mittagszeit, wenn es hier Interessantes zu sehen gibt. Das erinnert mich an die lustigen Stummfilme, die ich früher so gern gesehen habe.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)