Die Gefühle, über die wir nicht reden von Evilsmile ================================================================================ Kapitel 4: Zigarette -------------------- Fatima, saß mir im Pausenraum gegenüber. Bereits aufgegessen, wischte sie auf ihrem Handydisplay herum. „Bin schon gespannt auf den Neuzugang morgen.“ „Mh“, brummte ich teilnahmslos und schob die öligen Fischstäbchen von einer Ecke in die nächste, heute hatte ich überhaupt keinen Appetit. „Ich will noch gar nicht an einen Neuzugang denken. Schiko fehlt mir unglaublich!“ Der Schock, zu erfahren, dass er am Wochenende mit sechsundachtzig Jahren verstorben war, versaute mir den Tag. Ach was, das restliche Jahr! „Er war doch noch so fit gewesen, ich hatte damit nicht gerechnet. Und er wollte mir richtig Schach beibringen...“ Schnell blinzelte ich Tränen weg. „Manchmal geht es echt schnell“, meinte Fatima nur. An ihr ging das spurlos vorüber zu gehen, knallhart professionell und das bereits in der Ausbildung. Ich las die einkommende Nachricht. Diesen Samstag ist wieder Gitarrhö im QUAKE. Kommst du wieder mit?, fragte Jo im Chat. Ich weiß noch nicht, David wird wohl nicht mitkommen? Glaub ich nicht. „Heute Nachmittag sollen wir doch den Weihnachtsbaum aufstellen“, erinnerte mich Fatima, „Hmm“, murmelte ich. Motiviert dazu war ich gleich null. Was für ein Tag. ~ „Puuhh…“ Zwei Stunden später kroch ich am Boden herum, und sollte diese beiden Enden ineinander stecken und festschrauben. Wer hatte sich so eine Technik ausgedacht, und wie alt war dieser klapprige Weihnachtsbaum überhaupt? „Domi, du so bist so schlapp, geh mal ins Fitti!“, machte sich Fatima über mich lustig, während ich mit dem künstlichen Baumstamm hantierte. „Meinen Sie nicht auch, Frau Spinnler? Dass er mehr Sport treiben sollte?“ „Jaja, der junge Bursche könnte kräftiger sein. Sollte viel essen, damit er nicht vom Wind davon geweht wird“, stimmte ihr die Bewohnerin zu. Ich erwiderte lieber nichts, denn vor Frau Spinnler hatte ich Respekt, seit sie aus Wut einen Schuh nach mir geworfen hatte, als ich an meinem zweiten Tag das Anklopfen vergessen hatte. Während man zu den Herzen der anderen Bewohner mit der Zeit eine Brücke baute, war es bei ihr eher ein Pfad, den man sich durch dorniges Gestrüpp hindurch freikämpfen musste, das von einem Tag auf den nächsten wieder zugewuchert sein konnte. Da gab es ein Knacken und der Keil rastete endlich ein. „Ich hab´s geschafft!“, rief ich aus und richtete mich wieder auf. „Steht er gerade?“ Einen Schritt trat ich zurück, um das zu überprüfen und war stolz auf mein Werk. Plötzlich hörte ich etwas knistern an meinem Ohr und dann verbarg mir etwas silbrig schimmerndes die Sicht. „Fatima!“ „Hihihi, Lametta steht dir gut!“, kicherte sie und schoss mit ihrem Handy Fotos von meiner glitzernden Perücke. „Komm, Silberlöckchen, häng dir doch noch zwei Christbaumkugeln an die Ohren, das sieht so crazy aus, das muss ich posten!“ „Wehe, du postest dieses Foto, das verbiete ich dir!“, warnte ich sie, und musste aber doch loslachen. Das Lametta rückte ich mir zurecht und posierte, die beiden Christbaumkugeln an die Ohren haltend, für ein weiteres Foto. Bis ich ein Räuspern hinter mir vernahm. Sofort sprang ich einen Schritt zur Seite. Das leise Pling der Fahrstuhltüren musste ich in unserem Lachen überhört haben. „Das nennst du also arbeiten, Dominique mit Q?“, vernahm ich eine tiefe Stimme hinter mir. Der hellblonde Mann, der mich angesprochen hatte, schob einen alten Herrn im Rollstuhl aus dem Aufzug. Das Lametta riss ich mir vom Kopf. Oh mein Gott… Sandro! Von der Band! Heute ganz anders gekleidet als neulich auf der Bühne: ungeschminkt, ohne Sarg-Kette und Killernieten-Armbänder. Ein biederer, unscheinbarer Typ mit nach hinten gegelten Haaren anstatt zu Berge und Sportschuhen. Man würde überhaupt nicht darauf kommen, dass er mit einer E-Gitarre einen Saal zum Beben bringen konnte. Starrte ich? Wahrscheinlich schon. „Kennt ihr euch?“, fragte Fatima. Ich schluckte nur, während ich nach Worten rang und weiterstarrte. Da stand er direkt vor mir, auch noch an meinem Arbeitsplatz! Und hatte mich in einem total peinlichen Moment erwischt. So albern war ich eigentlich nicht, nur wegen Fatima hatte ich mich hinreißen lassen. Was suchte Sandro hier überhaupt?! Ausgerechnet hier? Er als einziger von Kopf bis Fuß in tintenschwarze Kleidung gehüllt wie der Todesengel höchstpersönlich. „Na, du bist mir einer. Dass du mich schon vergessen hast“, zog Sandro mich auf, und ich wollte im Boden versinken. Fatimas Blick spürte ich deutlich auf mir und meine Wangen wurden heiß. „Ich…ähm… Also, ist dein Großvater unser Neuzugang, oder was?!“ Etwas anderes fiel mir in diesem Moment nicht ein, ich musste mich immer noch um Fassung bemühen. „Mein… Vater“, korrigierte er mich. Aber diese Pause dazwischen! Als hätte er tatsächlich einen Moment darüber nachgedacht, sich als sein Enkel auszugeben. „Sorry.“ Man sollte wirklich nie von Äußerlichkeiten auf etwas schließen, das war so gut wie immer der direkte Weg ins Fettnäpfchen. „Sein Name ist Siegfried Schwarzer. Und auf der Warteliste stand er schon länger, als du hier geplant warst.“ „Okay...“ Damit wandte ich mich dem Patienten zu. „Guten Tag, Herr Schwarzer. Willkommen bei uns, auf Station Mohnblume. Ich bin Dominique, Ihr Pfleger.“ Doch bekam bis auf ein Blinzeln keine Reaktion von diesem Mann, seine Mimik blieb steinern und unverändert und grimmig. Unter seinen kurzen schlohweißen Haaren schimmerte rosige Kopfhaut hindurch. Die rechte Gesichtshälfte neigte sich zur Seite der Kopfstütze, die komplette rechte Körperhälfte schien wie erstarrt. Ich tippte auf Schlaganfall, vielleicht sogar mehrere. Sandros Vater also. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, war überfordert mit der ganzen Situation. Surreal, wie ein Traum, das alles. „Wie schön!“, gab Fatima mit entzücktem Tonfall von sich und lockerte die Spannung etwas auf. „Wir sollen uns bei der Stationsleiterin melden“, sagte Sandro. „Ich bring euch hin“, bot ich sofort an. „Fatima, ich bin gleich zurück.“ „Sie da“, sprach Frau Spinnler Sandro an, bevor wir uns entfernen konnten. „Sie sind doch so schön groß. Könnten Sie nicht die Spitze oben auf den Baum setzen?“ Das formulierte sie nicht wie eine Frage, sondern wie einen Befehl in ihrer schroffen Art. Er starrte erst sie unbeholfen an, dann mich, und ich setzte an, etwas zu sagen. Doch da nickte er und nahm die Spitze entgegen, besah sie sich kurz und steckte sie dann mühelos auf den Baum, ohne sich auf die Zehenspitzen stellen zu müssen. Lediglich sein Pullover rutschte ein Stückweit nach oben, offenbarte für einen Augenblick nackte Haut an seiner Leiste. Das waren mal Bauchmuskeln! Wie oft sah man denn so etwas in freier Wildbahn? Fatima klatschte Beifall, und Frau Spinnler bedankte sich. „Natürlich wär es schöner, wenn es eine echte Tanne wäre. Aber wir sind froh, dass wir überhaupt einen Christbaum haben. Wenn es jetzt, Anfang November, auch noch viel zu früh ist, ihn aufzustellen. Komische Zeitplanung hier, die halten uns wohl alle für dement.“ Niemals Lob ohne Kritik, das war typisch für Frau Spinnler. Mit einem Blick bedeutete ich Sandro, mir mit dem Rollstuhl zu folgen. Schweigend gingen wir nebeneinander den Flur entlang, der Gang, den ich jeden Tag mehrmals entlang ging, aber nie war ich ihn so angespannt gegangen wie in diesem Moment. Tausende Gedanken strömten mir durch den Kopf. Wir gingen vorbei an unserem Balkon und den Türen zu den Einzelzimmern der Bewohner auf der rechten und den Doppelzimmern auf der linken Seite. Zimmerpflanzen fristeten da und dort in den Ecken ihr Dasein, wurden von Bewohnern mit grünen Daumen liebevoll gehegt und gepflegt, wie diese erstaunlich riesige Dattelpalme dort. Fotos und Bilder von Mohnblumen zierten die Wände, damit man auch wusste, dass man sich auf Station Mohnblume befand, und nicht etwa auf Sonnenblume eine Etage tiefer. Eine Blume, deren Farbe mir im Übrigen mehr zusagte und die ich nicht mit Schlaf, Tod und Knitterigkeit in Verbindung brachte. Knittrig wie Sandros Stirn, wie ich von der Seite bemerkte. An diesem Ort schien er sich ziemlich verloren vorzukommen, dauernd schaute er sich nach allen Richtungen um. Damit erinnerte er mich an meinen ersten Tag hier auf der Station, im Spätsommer. Ich kam mir vor wie auf einem fremden Planeten gestrandet. Bereute meine Bewerbung. Bis ich meinen Rettungsanker in Schiko fand. Vor meinem geistigen Auge lief diese erste Begegnung wie in einem Film ab, ich hörte seine Stimme als wäre er anwesend: „Du bist der Neue? Ich bin der Alte“, waren seine ersten Worte gewesen, gefolgt von einem Lachen, das solche Herzlichkeit verbreitete. Immer war er gut gelaunt und zu jedem freundlich gewesen. Ein Mensch, der wirklich mit sich im Reinen gewesen war, weil er ein erfülltes Leben gelebt hatte und sein Gesicht durchzogen von unzähligen Lachfalten. „Könntest du mir vielleicht den Knopf an meiner Jacke zumachen? Heute machen die Finger nicht so mit. Ich bin übrigens der Schiko.“ Mehr brauchte es nicht, um das Eis zwischen uns zu brechen. Denn alte Menschen kannte ich bisher nur aus sicherer Distanz heraus, jeder von ihnen ähnlich farblos und verbraucht aussehend. Das alles ging mir im Kopf herum, während wir schweigsam den Weg beschritten. Nichts von all dem sprach ich aus. Meine Lippen waren wie zugewachsen. Auch Sandro blieb stumm. Vielleicht war er war schüchtern bei Tageslicht und ohne schützende Gitarre. Oder er hatte schlicht kein Bock auf ein Gespräch mit mir. „Sekunde“, sagte ich, als ich an dem kleinen Beistelltisch vorbeikam, an dem das Ewige Licht brannte, genauer gesagt ein batteriebetriebenes Teelicht, das einzig an Karfreitag ausgeschaltet wurde, wie mir unsere Teamleiterin erklärt hatte. Daneben lag ein aufgeschlagenes Fotoalbum, die Seiten in schwarzem Papier. Wolfgang „Schiko“ Schikolowski, stand dort mit fettem silbernem Edding geschrieben, neben seinen Daten. Nie hatte er mir seinen Vornamen genannt; er war für jeden Schiko gewesen, sogar seine Frau hatte ihn so gerufen. Ein Schwarz-Weiß-Foto von ihm klebte daneben, einige Mitbewohner hatten bereits ihre Anteilnahme und Dank für die Zeit miteinander ausgedrückt und unterschrieben. Sonst tat ich das nicht, aber jetzt ergriff ich den Stift, der dort lag, nahm das Album und schrieb zwei Zeilen auf das dicke Papier. Sandro, dem die Frage ins Gesicht geschrieben stand, erklärte ich nur: „Das ist unser Gästebuch, wo wir den verstorbenen Bewohnern die letzte Ehre erwiesen.“ Er sagte nichts dazu und wir gingen weiter. „Danke fürs Hinbringen“, sagte er, als wir angekommen waren und parkte den Rollstuhl seines Vaters neben der Sitzbank, auf der er sich niederließ zum Warten. Seine Stirn war dabei in tiefe Falten gelegt wie ein ungebügeltes Hemd. Ihn zum Lachen bringen, wenigstens zum Lächeln, einem ehrlichen Lächeln, das nahm ich mir in diesem Augenblick fest vor, so lautete die Challenge. Man soll seine Herausforderungen ja nicht zu niedrig ansetzen. „Ah, Herr Kamhart!“, rief mir meine Schichtleiterin zu, die gerade aus dem Stationszimmer kam. „Haben Sie den Baum aufgestellt?“ „Ja, er steht“, sagte ich und registrierte Sandros Prusten, dem wohl alles abverlangte, nicht lauthals loszulachen. Ein Zischen wie von einem Fahrradreifen, aus dem die Luft herausströmte. Was hatte der denn für einen pubertären Humor? Aber gelacht war gelacht. Ging ja verdammt schnell. ~ Einige Stunden später, zur Abendbrotzeit, kam ich auf meinen Weg über den Flur an unserem Balkon vorbei, wo die Kolleginnen gerne ihre Zigarettenpausen verbrachten und miteinander schwatzten. Die Wolken am Himmel hatten eine Färbung wie Himbeerjoghurt angenommen. Von hier oben aus konnte man die Aussicht auf die verwaschene Silhouette der Wolkenkratzer in der Ferne genießen, sofern man diesen Anblick denn schätzte. Nicht nur deswegen blieb ich stehen. Atemluft und Rauch ausblasend, lehnte dort Sandro am Geländer. Mir den Rücken zugedreht, ahnte er noch nicht einmal, dass er beobachtet wurde. Dass er immer noch hier war, Stunden später, als die Besuchszeit längst vorüber war - hoffentlich erwischte ihn niemand. Das Zigarettenende zwischen seinen Fingern glühte auf, und sofern ihm kalt war, ließ er sich das nicht anmerken. Vor dieser Kulisse kam er mir wie der einsamste Mensch auf der Welt vor. Waren seine Gesichtszüge wenigstens jetzt mal entspannt, während er seiner Nikotinsucht frönte? Doch er tat mir nicht den Gefallen, sich umzudrehen und mir sein Gesicht zu zeigen. Ich wollte mich ja noch bei ihm entschuldigen, für seine Nase, das hatte ich ganz vergessen… Fast zu Tode erschreckte mich die Stimme von Frau Spinnler: „Ein schöner Sonnenuntergang heute, nicht wahr?“ Ich drehte mich zu ihr um. Wie sie dasaß, in der schlecht einsehbaren Nische bei der Dattelpalme, auf ihrem Rollator, ein Buch auf dem Schoß. Ich hätte sie niemals entdeckt. „Ja“, sprach ich leise, wie ein Geheimagent zu einem anderen bei einem diskreten Treffen. „Das stimmt, da haben Sie recht.“ Außerdem fasste ich mir ein Herz und fragte: „Was lesen Sie denn da?“ Einige Sekunden betrachtete sie mich, und ich bereute schon die Frage, da hob sie langsam das Buch von ihren Knien, damit ich das Cover betrachten konnte: Vor der Kulisse der sinkenden Sonne auf hoher See, verdrehte eine Frau im Puffärmelkleid die Augen, als würde sie gerade in Ohnmacht fallen, durch die Umarmung des langhaarigen blonden Piraten, dem vor lauter Muskelbergen sein Hemd zu platzen drohte. „Schiff der Leidenschaft“, las ich den Titel. Für jemanden, der Kitschromane konsumierte, hatte ich sie wirklich nicht gehalten. „Na, dann viel Spaß beim Lesen. Ich gehe mal zu ihm raus.“ „Das würde ich besser unterlassen“, widersprach mir Frau Spinnler mit Schärfe in der Stimme. „Warum?“, fragte ich eingeschüchtert nach. „Er raucht jetzt schon seine zweite. Lass ihn für heute besser in Ruhe. Er ist wirklich noch sehr jung...“ „Ich habe ihm aber etwas Wichtiges zu sagen.“ „Das kann bis morgen warten“, sagte sie bestimmt. Was machte sie denn so sicher, dass Sandro morgen noch einmal kommen würde? Bedächtig fügte sie hinzu: „Dieser Mensch hat eine sehr dunkle Aura.“ ~ Am nächsten Tag war Sandro tatsächlich wieder da. Rauchend am Balkongeländer, gegen halb zwölf, kurz vor Ende der Besuchszeit. Ich überlegte kurz, dann fasste ich mir ein Herz und schob die Balkontür zur Seite. „Hey“, sprach ich ihn an, und fügte flapsig hinzu: „Besitzt du eigentlich nur Klamotten in Schwarz? Weil das leichter zu waschen ist?“ Er rührte sich nicht und ich biss mir auf die Lippen. Konnte ich gut nachvollziehen, nach diesem mehr als beschissenen ersten Eindruck im Club, den ich bei ihm hinterlassen hatte… ich hatte mir wohl nur eingebildet, dass ich gestern einen Zugang zu ihm gefunden hätte. Ich ging trotzdem die paar Schritte zum kalten Geländer und lehnte mich ebenfalls dort an, da erst registrierte er meine Anwesenheit, nahm sich die kabellosen Kopfhörer aus den Ohren und verstaute sie in der Jackentasche. „Hey. Was hörst du dir an?“ „Ach, nichts Ausgereiftes.“ Zwischen seinen Fingern glühte eine Zigarette, die schon fast zu Ende war. Er blies Rauch aus und warf mir einen flüchtigen Seitenblick zu. „Willst du dir eine schnorren?“ „Nein, danke, ich rauche nicht. Ich wollte mich nur entschuldigen, für deine Nase, eigentlich schon gestern. So bin ich nicht, musst du wissen. Wirklich, ich hab noch nie jemanden geschlagen, es war keine Absicht.“ „Ach nein?“ Er nahm einen weiteren Zug. „Hat nur für meine Nase keinen Unterschied gemacht, ob Absicht oder nicht.“ Hilflos reckte ich die Arme in die Luft. „Sorry! Meine Freundin hat Schluss gemacht. Da sind mir einfach die Sicherungen durchgebrannt.“ Er kräuselte schon wieder so die Stirn. „Aha. Und darüber wunderst du dich ernsthaft?“ „Hey! Ich habe sie nie geschlagen!“, verteidigte ich mich, doch sein Blick sprach Bände. Das war ja wohl die Höhe! Gleichzeitig fragte ich mich, wieso mir überhaupt wichtig war, was er von mir hielt. „Sie ist einfach so seltsam zur Zeit…“ „Bei Freundinnen kann ich nicht mitreden. Ich bin nämlich schwul.“ Oh mein Gott! Klar, Jo hatte ja so etwas angedeutet, es gab Gerüchte – aber es ihn so laut herausposaunen zu hören, das kam unerwartet! Stille. Die Wirkung dieses Comingouts auf mich schien ihn zu amüsieren, während er noch einen Zug nahm. Wollte er mich provozieren? Schauen, ob ich noch einmal zuschlagen würde? So zu tun, als hätte er nichts gesagt, schien mir die beste Lösung. „Letztendlich hat es dir ja PR verschafft, was haben sie geschrieben? Gewagte Kriegsbemalung! Du bist offiziell ein Badboy!“ Das war als Witz gemeint, doch was darauf folgte, hatte ich nicht absehen können: Sein Mund verzog sich auf dieselbe Art zu einem Lächeln, wie sich die Sonne ihren Platz nach einer Sonnenfinsternis zurück erkämpfte, entblößte seine Eckzähne. Ganz genau auf diese Art. Als wäre sein Lächeln die Normalität; der Urzustand, den sein Gesicht am besten kleidete und sein ernstes Alltagsgesicht ein vorübergehender Zustand. Um ihn noch mehr aus der Reserve zu locken, trieb ich es auf die Spitze: „Jetzt haben sie alle vor dir Respekt! Sandro Schwarzer, der böse Rockstar! Mit dem will man sich lieber nicht anlegen.“ Ein Glucksen, aber bloß eine Sekunde lang. „Gut und Böse sind doch nur Konstrukte. Aber egal. Hast du gerade Mittagspause, oder was?“ Er nahm den letzten Zug, was die Glut am Ende der Zigarette hellorange aufleuchten ließ. Der Wind schickte den Rauch in meine Richtung, aber das störte mich nicht. Durch meine Mutter war ich bereits abgehärtet, was Tabak betraf. Ob sie immer noch eine Kettenraucherin war? Ob sie überhaupt noch derselbe Mensch war, nachdem sie die halbe Welt bereist hatte? „Nein, meine Mittagspause ist von halb eins bis eins.“ „Aha“, meinte er nur und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Kommentarlos ließ er mich stehen. Liebste Marie! Ja, den einen Emoji hast Du wirklich sehr inflationär gebraucht, was mich manchmal genervt hat. Aber jetzt fehlen sie mir sehr, unsere Chats! Es ist wirklich eine merkwürdige Phase im Leben, wenn die besten Freunde an der Uni sind und man selbst (noch) nicht. Seit Chris in Berlin studiert, haben wir auch nicht mehr so viel Kontakt. Man lernt halt wieder neue Leute dafür kennen, man muss sich nur für andere Menschen interessieren. Du wirst deine Ausbildung rocken! So kenne ich meine Marie, und nicht anders. Gib Dir Zeit, es ist ja alles neu für dich. Du stehst erst am Anfang deines Berufslebens. Wieso willst Du immer alles sofort perfekt beherrschen? Geduld!!! Lass uns doch eine Wette abschließen: In zehn Jahren bist Du Chefin von diesem Laden! Du bist eben eine kleine Perfektionistin. Was nicht perfekt läuft, das willst Du gleich hinschmeißen. Ist es nicht so? Denke darüber mal nach. Deine Mutter habe ich ja kennengelernt, ich glaube Dir, dass sie in dem Punkt gnadenlos ist. Ich weiß nicht, ob ich Dir da einen Rat geben kann, Sport war nie mein Ding. Aber wenn es Dir wirklich keinen Spaß mehr macht, würde ich aufhören. Nicht bloß aus dem Grund, weil du nicht aufs Treppchen kommst. Niemand kann immer der Erste sein! Bedenke, dass dieser Sport auch nicht ganz ungefährlich ist, die Verletzungsgefahr ist hoch. Ich weiß, das willst Du nicht hören. Aber ich sage es dir trotzdem. Manchmal habe ich schon geschlottert bei deinen waghalsigen Moves. Was ich von Deinen Erzählungen mitbekommen habe, herrscht da sau viel Konkurrenzdruck bei euch. Dein Trainer, dieser Wassili, den fand ich auch immer unheimlich. Wie er Dich in der Halle herum gescheucht hat, da fehlte nur noch die Peitsche, hatte ich den Eindruck. Verzeih meine Ehrlichkeit. Aber ich will nur noch ehrlich zu dir sein; Marie. Ich bin sicher, dass Du einen anderen Sport findest, der dir Spaß macht, da solltest du dich in aller Ruhe umschauen. Was ich noch niemandem erzählt habe? Neulich, als ich Deinen Brief eingeworfen habe, abends, als es dunkel war, bin ich noch ein bisschen durch das Viertel spazieren gegangen. Und habe durch die Fenster reingeschaut, wie die Leute leben. Nicht in Schlafzimmer gespannt oder was du jetzt denkst, sondern wie sie vorm Fernseher oder PC sitzen oder beim Abendbrot. Manchmal Familien, manchmal einzelne Leute. Ein paar Momente lang. Ich habe viel Einsamkeit gesehen. In der Öffentlichkeit sind die Einsamen unsichtbar, da geben sie sich nicht zu erkennen. Da denkt man in so manchem dunklen Moment, man wäre der einsamste Mensch auf der Welt, doch braucht nur zehn Häuser weiter zu gehen und sieht sein Spiegelbild! Kann es sein, dass das jenes Gefühl ist, worüber wir alle nicht reden aber jeder genau kennt? Wollen wir uns nicht mal wieder treffen, Marie? Ist doch verrückt, dass wir in derselben Stadt wohnen und uns Briefe über die Post zuschicken, wo wir uns genauso gut treffen könnten. Durch das Schreiben scheinst du mir sooo weit weg, als würdest du auf dem Mars leben. Kuscheln soll übrigens lebensverlängernd wirken, habe ich wo gelesen ;) Denk mal darüber in Ruhe nach. Ich vermisse dich sehr. Dominique PS: Ich habe Deine Tomaten eingerahmt und in der Küche aufgehängt! Sieht echt spitze aus, das Bild! Egal was du machst, du machst es immer gründlich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)