Willkommen in der Familie von Sydney (16. Kalendertürchen 2021) ================================================================================ Kapitel 1: -----------                                                                           Willkommen in der Familie       Davon zu sprechen, dass Sofiya Pavlovna wütend war, wäre eine maßlose Untertreibung gewesen. In Ihrer Sprache gab es unzählige Begriffe für diesen Gemütszustand. Doch keiner konnte wirklich vermitteln, was in diesem Moment in ihr vorging.   Gerade erst zurück aus Afghanistan, musste sie feststellen, dass sie von einem gigantischen Drecksloch direkt in ein anderes geraten war. Dass sie in der Heimat nicht als Heldin gefeiert werden würde, war ihr klar gewesen. Dass sie so schnell wieder bei unerträglichen Temperaturen mit einem Scharfschützengewehr auf der Lauer liegen würde, hätte sie sich jedoch nicht träumen lassen.   Der Anblick gefallener Kameraden war nichts Neues mehr für sie. Im Krieg gab es Opfer. Doch nun war sie nicht mehr in einem Krisengebiet. Dennoch starben ihre Männer reihenweise. Diejenigen, die sich traumatisiert in ein frühes Grab gesoffen hatten, waren das eine. Die mysteriösen Unfälle der letzten Wochen das andere.   Der kalte Nordwind brannte auf ihren Narben als sie vom Dach des heruntergekommenen Mietshauses hinab sah und der zunehmende Schnee verfing sich in ihren Wimpern. Die kleine Wohnung zwei Etagen tiefer kam ihr oft schäbiger vor, als das Zelt, das sie noch vor wenigen Wochen bewohnt hatte. Kalt und dreckig war beides. Doch hier blieb nicht einmal der Schnee weiß. Grau in grau. Trostlos. In Afghanistan hatte sie sich an den Gedanken klammern können aus dem Drecksloch herauszukommen. Doch was war ihr hier geblieben?   Es waren mittlerweile zu viele Vorfälle um noch an die Unfälle zu glauben. Dafür brauchte sie nicht den Überlebensinstinkt zu bemühen, der ihr mehr als einmal das Leben gerettet hatte. Solche seltsamen Vorkommnisse hatte es auch gegeben, als man ihren Großvater entmachtet hatte. Die Lebenserwartung unliebsamer Personen hatte sich damals stark verkürzt. Jetzt lief es ähnlich.  Boris, ihr Sergeant, mit dem sie nun abwechselnd Wache hielt, teilte ihre Ansichten. Die anderen Mitglieder ihres ehemaligen Kaders waren abgetaucht. Die Nachricht war unauffällig von einem zum anderen weitergegeben worden. Keine Briefe, keine Telefonate. Für Außenstehende nicht nachvollziehbar. Sie war die einzige, die noch greifbar war. Das nächste logische Ziel. Wer auch immer hier am Werk war würde als nächstes zu ihrer Adresse kommen.   Dennoch erschien ihr mit jeder Stunde, die sie auf dem kalten, windigen Dach verbrachte, der Gedanke, dass sie einfach nur unter einem besonders schlimmen Fall von Verfolgungswahn litt, beachtenswerter. Sie war für Situation wie diese ausgebildet worden. Beobachten. Stunden. Tage. Bei Wind und welchem Wetter das Schicksal auch immer für sie bereit hielt. Auf einen Moment warten, der vielleicht niemals kam. Immer bereit den Abzug zu drücken. Doch der Flockensturm ringsum machte es nicht einfacher. Der Gedanke, vielleicht völlig umsonst im Schnee zu liegen noch weniger.   Doch kurz vor Sonnenaufgang bekam sie ihre Chance. Und der Schnee war für einen Moment weder weiß noch grau. Er färbte sich rot.                                                                                                 *     Ein dumpfes Pochen hallte durch den Raum als Sofiya den Beutel auf den Boden fallen ließ. Die Geräusche des Kopfes, der herausrollte, wurden von dem roten Teppichboden geschluckt. Genauso wie die verbliebenen Körperflüssigkeiten.   Der bärtige Mann dem das Büro gehörte, in das sie gerade gestürmt war, wirkte wenig beeindruckt. Im Gegensatz zu einem der beiden Wachleute, die gerade versuchten sich bedrohlich vor ihr aufzubauen. Eine Handbewegung seines Auftraggebers hielt ihn zurück.   „Respekt. Die Eier für so eine Nummer hatte schon lange keiner mehr.“   „Es war nicht schwierig diesen Abschaum zu erledigen.“ Sofiya gab dem Sack einen leichten Schubs. Ein weiterer Schädel kam zum Vorschein. „Aber ich bin nicht hier um über die Unfähigkeit dieser Männer zu sprechen.“   „Worüber willst du dann mit mir sprechen, Sofiya Pavlovna?“   „Ein Geschäft", antwortete sie.   Der Hauch eines Lächeln fand seinen Weg auf das Gesicht des Bärtigen als er ihr andeutete sich zu setzen. „Ich wüsste nicht, was du mir anbieten könntest.“   „Wie viel hat man dir dafür geboten, dass du meine Männer und mich erledigst?“   Das Lächeln das Russen wurde breiter. „Jedenfalls mehr als die aus dem Militärdienst entlassene Tochter der in Ungnade gefallenen Pavlov-Familie mir anbieten könnte.“ Der Russe zündete sich eine Zigarre an. „Aber ich höre mir gerne dein Gegenangebot an. Es klingt unterhaltsam.“   „Wahrscheinlich hältst du dir deshalb Singvögelchen statt Soldaten. Zur Unterhaltung“, Sofiya warf einen Blick auf die Köpfe, die noch mitten im Raum lagen. „Sie haben viel gesungen, bevor ich ihnen die Hälse umgedreht habe.“   Der Bärtige wirkte nun ganz und gar nicht mehr belustigt. Mit einer Handbewegung wies er seine Männer an, den Raum zu verlassen. „Die Dreistigkeit zu besitzen hier hereinzustürmen ist das eine, aber jetzt wird es lächerlich. Es mögen nicht meine besten Männer gewesen sein, aber sie waren loyal.“   „Achja? Woher sollte ich dann wissen, Michail Worobjow, dass du an dieser Adresse deine Geschäfte machst? Welches Codewort ich den Männern am Eingang sagen muss, dass sie mich passieren lassen? Welchen Vodka du dir liefern lässt und dass du jeden Dienstagabend alleine einem grauen Sportwagen verschwindest?“ Jetzt war es an Sofiya zu Lächeln. „Das einzige, dass ich noch nicht weiß, ist ob du zu deiner Frau oder zu deiner Hure fährst. Nachdem du das aber schon seit Jahren tust, scheint sie dir etwas zu bedeuten.“ Wie selbstverständlich griff sie sich eine der Zigarren des Mannes und zündete sie an. „Bevor du auf dumme Gedanken kommst – nicht nur ich habe diese und noch einige andere Informationen. Und sollte mir etwas passieren, könnte es sein, dass deine kleinen Geheimnisse nicht mehr so geheim sind.“   „Na schön. Was willst du?“   „Du hast einen Mangel an vertrauenswürdigem Personal. Ich habe eine Truppe bestens ausgebildeter Männer. Du ziehst deine Hunde zurück und wir erledigen deine Drecksarbeit für dich, bis die Summe abgearbeitet ist, die man dir geboten hat.“   Sofiya hatte lange über ihre Möglichkeiten nachgedacht. Sie war rasch zu dem Schluss gekommen, dass sie sich die Killer der Mafia nicht für immer vom Hals halten konnte. Für jeden den sie ausschalten würde, würden weitere folgen. Irgendwann kein simpler Auftragsmord mehr, sondern Blutrache für die Getöteten.   Michail Worobjow schien für einen Moment zu überlegen. Er betätigte einen Knopf an seinem Schreibtisch. Eine Gegensprechanlage. „Vadim, bring den Vodka, wir haben ein Geschäft zu besiegeln“.   „Willkommen in der Familie“, prostete er Sofiya zu als er sein Glas erhob. „Meine Freunde nennen mich Boss Michail.“ „Meine Freunde nennen mich Balalaika.“                                                                                               Epilog   Der Schneesturm hatte sich gelegt als Balalaika das Gebäude verließ. Nur noch vereinzelt vielen kleine Flocken vom Himmel.   Ein Wagen fuhr vor als sie den Bürgersteig betrat.   "Die Verhandlungen sind gut gelaufen, Kapitan?"   "Definitiv, Kamerad", antwortete sie. "Sag den Männern, dass sie ihre Koffer packen sollen. Wir sind wieder im Einsatz. Jeder der aus diesem Drecksloch raus will, ist eingeladen."   "Ein neues Drecksloch?" Boris hob fragend eine Augenbraue. "Ich hoffe dort ist es zumindest warm."   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)