Buchstabensuppe von Pragoma ================================================================================ Kapitel 2: B wie Besuch im Jammertal ------------------------------------ Der Herbst ist neben dem Frühling die schönste Jahreszeit, die es geben kann. Alles wird bunt, die Luft riecht anders und der morgendliche Nebel verleiht dem Ufer der Moldau eine ganz besondere Atmosphäre. Man sieht gespenstisch die Turmspitze Prags herausragen, während die Karlsbrücke fast ganz versinkt. Bäume wirken wie Kleider, färben sich in einem schönen Maisgelb und Karminrot. Kastanien fallen von den Bäumen, werden lachend von Kinderhänden aufgehoben und zu den schönsten Tieren verbastelt. Eine schöne Jahreszeit, die einige stürmische Tage zu bieten hat, die man sich mit heißem Früchtetee versüßen kann und herrlich duftenden Kerzen, die jedem Raum einen ganz besonderen Flair verleihen. Herbstmärkte ziehen ein, bieten ihre Waren an, wollen geflochtene Körbe an den Kunden bringen, während Kinder von kandierten Äpfeln träumen und der verlockende Duft von Maronen in die Nase steigt. Das ist die Jahreszeit, auf die ich mich am meisten freue und es kaum erwarten kann. Mich zieht es in die Innenstadt, auf den Altstädter Ring, direkt vor das Jan-Hus-Denkmal, welches einst der tschechische Bildhauer LLadislav Šaloun entworfen hat. Ein perfekter Treffpunkt in Prag und nun stehe ich hier, warte ungeduldig auf meinen besten Freund, lasse mir den Wind um die Nase wehen und beginne zu lächeln. Wir haben uns einige Zeit nicht gesehen, waren beide beschäftigt und endlich konnten wir einen vollen Tag zusammen nutzen. Obendrauf den Geburtstag seiner Tochter feiern, die einem Engel glich und sein ganzer Stolz war. In Gedanken an ihre blonden Locken, ihre aufgeweckte Art, stupste mich jemand an. "Träumst du wieder, Lena?" Ein dickes Grinsen legte sich auf seine vollen Lippen, während seine grünen Augen leuchteten und mich an tobende Tannen im Wind erinnerten. Ohne auf seine Frage einzugehen, zog ich ihn in die Arme und umarmte ihn. "Schön, dass es endlich mal wieder geklappt hat", murmelte ich leise, atmete den vertrauten Duft seines Parfüms ein und schloss für einen Moment meine Augen, um den Moment ganz auskosten zu können. Drei Wochen waren eine viel zu lange Zeit, die wir uns nicht gesehen und kaum gesprochen hatten. Mir wurde schmerzlich bewusst, wie sehr Andrej mir gefehlt hatte. Tief atmete ich nochmals ein, dann löste ich mich und sah ihn an. "Wie geht es dir?" "Gut, danke und dir?", beantwortete er meine saloppe Frage und fing an in seiner Jackentasche zu kramen. Ich wusste genau, was er suchte, kannte sein Laster. "Es geht mir soweit ganz gut." Während Andrej sich seine Zigarette anzündete, hielt er mir bereits die Schachtel hin. "Jetzt nicht", lehnte ich jedoch ab und wurde stutzig angesehen. "Geht es dir wirklich gut?", wollte er wissen, während wir uns langsam auf den Weg zu Theresia machten. Von mir kam nur ein schwaches Nicken, ich griff mir jedoch seine Hand und schlenderte auf die andere Straßenseite. Ganz glauben wollte Andrej mir nicht. Ich spürte seine bohrenden Blicke, doch ich wollte nichts sagen. Nicht heute, nicht jetzt und am besten gar nicht. Er würde sich nur wieder aufregen und ihm den Tag vermiesen war nicht meine Absicht. Es gab bessere Zeiten, um einiges zu klären, um meinen Kummer herauszulassen. "Reden hilft, Lena." "Ich weiß, aber nicht heute", gab ich leise zu, lief weiter quer durch Prag, zur Metro Linie C und setzte mich schließlich auf einer der freien Bänke. Andrej folgte, setzte sich und sah auf die Uhr. "Noch zehn Minuten", merkte er an. Lediglich kam ein Brummen von mir. Ein Zeichen, dass ich es gehört, aber nichts zu sagen hatte, lieber die Zeit verstreichen lassen wollte. Warum musste Theresia auch im vierten Stadtteil von Prag wohnen? Nusle, südlich vom Zentrum der Hauptstadt, typischer Plattenbau und die Gegend kam mir recht schmuddelig vor. Aber das lag wohl auch daran, dass ich weit außerhalb von Prag lebte und das recht ländlich für eine Kleinstadt. Ich sollte mich also nicht beschweren, darüber hinwegsehen und es dabei belassen, dass manche Menschen anders lebten und wohnten. Sicherlich war die Wohnung innen ein Schmuckstück, gut ausgestattet und liebevoll dekoriert. Mein Blick richtete sich auf die große Uhr über der Anzeigetafel. Immer noch drei Minuten und die nutzte ich und lehnte mich kurz an meinen besten Freund an. Sofort legte er den Arm um mich und ich fühlte mich für einen Moment besser. "Die Bahn kommt", merkte ich leise an, löste mich aus Andrejs Umarmung und stand auf, trat einen Schritt auf die Schienen zu. Mein bester Freund tat es mir nach, fasste erneut nach meiner Hand und lächelte mir aufmunternd zu. "Egal was ist, heute machen wir uns einen schönen Tag, okay?" "Okay", wiederholte ich, drückte seine Hand etwas fester und stieg in die Metro ein, die bereits gehalten und ihre Türen geöffnet hatte. Sie war voll, Sitzplätze gab es keine mehr und somit stellte ich mich unweit der Tür und hielt mich an der Stange fest. Super, stehen, dazu gute zwanzig Minuten und meine Laune war an einem Punkt angelangt, an dem ich am liebsten wieder ausgestiegen wäre. "Kopf hoch, Süße", flüsterte Andrej mir, während er eine dümmliche Grimasse zog und versuchte, mich zum Lachen zu bringen. Es wirkte sogar, ich lächelte und fing an, mich langsam zu entspannen. Die Aussicht Theresia zu sehen überwog und wenn ich ehrlich war, tat etwas Ablehnung mehr als gut. Vielleicht konnte ich später reden und das mit einer lieben Freundin, die nicht nur verständnisvoll, sondern auch gute Argumente hatte, wie man damit umgehen sollte. Ein Lichtblick am Ende des dunklen Tunnels. Jedenfalls redete ich mir das die ganze Bahnfahrt ein, war so in Gedanken, dass ich fast die viel zu leise Stimme vernahm, die jene Station nannte, an der wir aussteigen mussten. Wäre nicht mein bester Freund, würde ich heute meinen Kopf vergessen, in der Metro zurücklassen und den kopflosen Reiter spielen. Meine Gedanken sollten mich heute keinesfalls beeinträchtigen und mir meine Stimmung vermiesen. Wäre es einfach, wäre es nicht so schwer. So aber riss ich mich zusammen, stieg aus und sah mich vorerst um. Typischer Bahnsteig, der Geruch von muffiger Luft, regem Treiben von viel zu vielen Menschen und nun war ich doch neugierig, was mich oben erwartete. Hastig schritt ich die Treppen rauf, atmete oben angekommen die klare Luft ein und lächelte. Gar nicht so schlimm wie gedacht. Nusl erinnerte mich irgendwie an Frankfurt. Nicht so groß, aber die gemischten Häuser sprachen für sich. Fehlte nur noch ein gelber Bunker und ... "Vorsicht Lena!" Andrej packte mich plötzlich am Arm, zog mich vor dem Auto weg, welches mich mit voller Härte traf und meine halbe Hose mit Matsch bedeckte. "Scheiße!", fluchte ich laut und sah an mir runter. "So eine verdammte Kacke, man." Zwischen flottieren und der Ohnmacht nahe, klammerte ich mich an Andrej fest, brauchte einen Moment und vergrub mich regelrecht in seinen Armen. Beruhigend strich er über meinen Rücken. "Das wird schon wieder. Wir gehen jetzt erstmal zu Theresia und bestimmt hat sie eine trockene und sauberer Hose für dich." "Dann lass uns gehen, ich fühl mich unwohl und mir wird kalt." Mein bester Freund sagte nichts, er nickte und griff nach meiner Hand. Ich folgte, ließ mich führen und doch kam ich nicht umhin, mich immer wieder umzusehen. Dieser Stadtteil war noch immer fremd für mich und doch entdeckte ich eine Brücke, weiter unten sowas wie einen Park. Ruckartig blieb ich stehen und zog Andrej zurück. "Was ist das da unten?" "Das?" Andrej lächelte. "Das ist Nuselské údolí, das Jammertal und dahinter ist die Stadtmauer von Prag." Wunderschön war das Erste, was mir durch den Kopf ging, während ich meinen Blick schweifen ließ und an etwas hängen blieb, was ich nur sehr selten in meinem Leben gesehen hatte. Von Weitem konnte man denken, es wären Schneebälle, doch es war ein Baum, der in voller Pracht blühte und sich in seiner ganzen Schönheit zeigte. "Der gemeine Schneeball", flüsterte ich leise. "Der was?", wollte mein bester Freund wissen und sah mich verdutzt an. "Der rötlich, gelbe Strauch mit den knallroten Beeren." Andrej folgte meiner Geste. "Sorry, aber ich kenn mich mit sowas nicht aus, aber er sieht nett aus." Nett? Fast hätte ich ihn geschlagen, aber gut, ich wusste auch nicht viel über diese Art von Gewächs. "Er wird als Zierpflanze in Gärten, Parks und Anlagen angepflanzt und hat einen guten Nutzen." "Spricht da die kleine Hexe aus dir?" "Vielleicht", antwortete ich verschwörerisch und stieß meinen besten Freund sanft in die Seite. Meine Schwäche für Hexen war ihm bekannt, ich hatte daraus nie ein Geheimnis gemacht und ich wusste, dass Andrej mich nur sehr selten damit aufzog. "Die Rinde wird bis heute als krampflösendes Mittel, insbesondere bei Menstruationsbeschwerden, arzneilich verwendet und die Früchte des herkömmlichen Schneeballs sind gekocht für Marmelade oder Gelee verwendbar. In osteuropäischen Ländern werden die roten Beeren sogar gegen Erkältung in heißem Wasser zerdrückt und mit Honig gesüßt getrunken." "Ich bin sprachlos", gestand mir Andrej. "Aber ich weiß sehr genau, dass du gerne liest, dich informierst und eine Schwäche für altmodisches Zeug hast." Oh ja, altmodisch. Ich würde es eher wissbegierig nennen. "Na ja, so viel weiß ich auch nicht. Er blüht im Sommer aber weiß und daher kommt auch sein Name. Er sieht dann aus, wie weiße, flauschige Schneebälle", erzählte ich weiter, während ich mich langsam in Bewegung setzte, den Park vorerst hinter mir ließ und es vorzog mich endlich bei Theresia umzuziehen. Die Kälte war nicht mehr zu ignorieren und auf eine Erkältung war ich nicht besonders scharf. "Theresia wartet." "Sie hasst es zu warten." Andrej grinste neben mir. "Noch mehr aber hasst sie es, wenn man es bewusst tut." "Wir haben eine gute Ausrede, Andrej. Zum einen ist meine Hose nass und zum anderen musste ich dich über einen Strauch aufklären", witzelte ich zurück, überquerte die Straße und lief lässig an einem tristen Häuserblock in Grau vorbei. Neben diesem grenzte ein verwaschenes Gelb und diese altrosa Fassade dahinter, traf ebenfalls nicht meinen Geschmack. Plattenbau war nicht meins, ich lebte in einem Haus und das wurde erst vor drei Jahren frisch in einem strahlenden Zitronengelb gestrichen. Eine ganz andere Welt, Kleinstadt und zentral in der Nähe von Pilsen gelegen. "Prag ist riesig im Vergleich zu Doma." Ich stöhnte auf, lief aber weiter und wollte endlich ein paar trockene Sachen. "Ist nicht mehr weit", versicherte Andrej mir. "Da vorn ist es schon." Er deutete auf das letzte Haus am Block und interessiert sah ich auf, mir die verblichene Fassade an und lächelte. Der Vorgarten gefiel mir. Er versprühte mit seinen Blumen und Sträuchern einen gewissen Charme und lenkte von unschönen Äußerlichkeiten ab. "Gefällt mir", murmelte ich, folgte Andrej, der bereits zielsicher auf die Haustür zuschritt und vor dieser stehenblieb. "Nun klingel schon." Leise kicherte Andrej, dann aber drückte er die Klingel und nach einem leisen Surren die Tür auf. Locker nahm er die ersten Treppenstufen, blieb jedoch schnell stehen und mir wurde klar, dass Theresia im Erdgeschoss wohnte. Gott sei Dank, dachte ich mir, hasste es, Treppen zu steigen und folgte hastig die wenigen Stufen nach oben. "Hey Tessa." "Lena, wie schön dich zu sehen." Sie lächelte, umarmte mich und ließ mich einige Sekunden gar nicht los. Es tat gut, ich hatte sie länger nicht gesehen und schon gar nicht jemals zu Hause besucht. Wie hieß es aber so schön? Für alles gab es ein erstes Mal und ich war glücklich, endlich diesen Schritt getan zu haben. "Gut siehst du aus", stellte ich fest, als Theresia mich losließ und ich sie endlich richtig ansehen konnte. Ihre blonden Haare waren gewachsen, wirkten noch voller und auch ihr Make-up trug sie anders, als ich es noch in Erinnerung hatte. Dezenter, nicht mehr so knallig und wenn ich ehrlich war, gefiel es mir so deutlich besser. Es trug nicht mehr so dick auf und passte zu ihrer gesamten Erscheinung. "Du siehst mir ein wenig angeschlagen aus." Misstrauisch sah mich meine Freundin an. "Du hast Augenringe und ich weiß, wie heilig dir dein Schlaf ist", plapperte sie prüfend weiter, während sie mit meinen braunen Locken spielte, sie wieder entließ und uns endlich hereinbat. Ja, Schlaf war mir heilig, kam die letzten Tage etwas kurz und doch hatte ich keine Lust jetzt über mein Problem zu reden. "Tessa, können wir das ein andermal besprechen? Ich bin nicht hier, um dich mit meinen Problemen zu belästigen." "Bitte was?" Fast wäre ich in sie gerannt, da Theresia so ruckartig stehenblieb, dass ich nicht ausweichen konnte. "Gib mir einfach eine trockene Hose und alles andere bereden wir die Tage. Okay?" Flehend sah ich sie an und deutete auf meine nasse Hose. "Also schön", seufzte Theresia, zog mich zu ihrem Schlafzimmer und fing sofort beschäftigt an, in ihrem Kleiderschrank zu kramen. "Danke", murmelte ich, wartete und nahm einige Sekunden später eine schwarze Jeans entgegen. "Kannst du behalten. Mich kneift sie nur", erklärte Tessa. "Ich mach dann mal Tee." Lächelnd nickte ich, wartete, dass sie das Zimmer verließ und streifte mir endlich meine Hose ab. Noch länger hätte ich es nicht mehr ausgehalten, meine Beine waren eiskalt und selbst meine Füße jubelten, dass ich sie aus den Schuhen befreit hatte. Zum Glück hatte Tessa die gleiche Größe und ihr Geschmack war ganz ähnlich, wie der meine. Schwarz war ohnehin eine Farbe, die ich neben grau recht gerne trug und auch die Art von Jeans, die Theresia mir gegeben hatte. Enganliegend, genau, wie ich es liebte. "Lena?" "Komme gleich", erwiderte ich, schlüpfte hastig in die trockene Hose, meine Schuhe und sah mich prüfend in dem großen Spiegel am Kleiderschrank an. Wie angegossen passte sie, spannte nicht und so konnte ich mich wieder sehen lassen, wohlfühlen und den Tag genießen. Im Flur stieg mir der feine Geruch von Zimt in die Nase, dem ich bis zum Wohnzimmer folgte. Sehr geschmackvoll eingerichtet. Hell, modern und nicht zu viel unnützer Kitsch. Ihre Schwäche für Orchideen hatte sie jedoch noch immer und die gesamte Fensterbank war mit diesen zugestellt. Bilder zierten die Wände und auf einem erkannte ich mich selber. Neugierig trat ich näher und sah es an. Das musste zwei Jahre her sein, meine Haare waren kürzer und ich wirkte runder im Gesicht. "Da waren wir in Pilsen. Erinnerst du dich?" "Sicher doch. Wir waren hinterher so breit, dass wir nicht mal mehr wussten, wo unsere Pension war", erwiderte ich lachend, wandte mich von dem Bild ab und setzte mich zu Andrej auf die Couch. Den Tee hatte Tessa schon fertig, alles gedeckt und die Kanne stand doch tatsächlich auf einem mir vertrautem Stövchen. Ein Geschenk von ihrer Großmutter, welches wie ein Schatz gehütet wurde und bei besonderen Anlässen herausgeholt wurde. Ein besonderer war mein Besuch, unser Wiedersehen und unsere langjährige Freundschaft, die wir beide Andrej zu verdanken hatten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)