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Way Home

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Eine kleine Hommage an ‚Toni Erdmann‘. Wer den Film nicht kennt und sich ein bisschen in Elsa wiedererkennt, sollte ihn unbedingt sehen!

Für Michi
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Sorry, ich musste den Schluss doch noch mal ändern. Ich denke jetzt agieren die beiden passender. Komplett anzeigen

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Verpasst

„Entschuldigung!“

Mit Bestimmtheit zwängt sich Elsa erst an dem Mann mit dem Rollkoffer und dann an einer mit Tüten vollbepackten Frau vorbei. Ihre Absätze klackern auf der Rolltreppe, als sie zielgerichtet in das Labyrinth der U-Bahn einbiegt.

Rush-Hour in Tokio. Innerhalb von nur einer Stunde verwandelt sich die sowieso schon quirlige Stadt in einen wahren Bienenstock. Alles läuft durcheinander. Autos verstopfen laut hupend die Straßen. Fußgänger bahnen sich zwischen ihnen ihren Weg.
 

Elsa umgreift die Träger ihrer Tasche fester. Ihr langer Pferdeschwanz tanzt in ihrem Nacken zum Rhythmus ihrer festen Schritte. Gekonnt umrundet sie eine größere Gruppe Touristen, die verzweifelt mit dem Zeigefinger die bunten Linien auf dem großen U-Bahn-Plan entlangfahren und verloren die Namen der Stationen murmeln. Sie verdreht genervt die Augen: „Entschuldigung!“
 

Sie muss keine Schilder lesen, um den Weg zu finden. Sie kennt den Weg. Sie ist hier zu Hause. Seit zwei Jahren lebte sie inzwischen in Tokio, war ein Teil dieser Stadt, die niemals schlief. Hier schlendert man nicht und blickt sich auch nicht suchend um. In dieser Stadt läuft man entschlossen und mit festem Blick geradewegs auf sein Ziel zu.
 

WHUMMMMMMM. Krachend fährt die Bahn aus der Röhre und hält kurz darauf mit quietschenden Rädern am Bahnsteig. Elsa zuckt mit keiner Wimper. Ungerührt studiert sie die Anzeige über ihrem Kopf. Die gelbe Linie, mit der sie üblicherweise fährt, fällt aus. Eine Spur Ärger zieht sich über ihre Stirn. Rasch wendet sie sich um und läuft die Treppe wieder hinauf. Sie würde dann halt die blaue Linie vom gegenüberliegenden Gleis nehmen.
 

Nein, sie ist keine Touristin in Tokio, die sich von dieser Stadt beeindrucken und sich klein fühlen lässt. Die junge Frau strafft bei dem Gedanken die Schultern und zieht ihren Blazer gerade. Elsa Daichi hat es geschafft. Sie hat die kleine Stadt hinter sich gelassen. Sie ist jetzt groß. Sie nimmt die U-Bahn zur Arbeit und ihr Wohnzimmer trägt den Namen Starbucks. Ihr Leben ist ein nicht enden wollender Rausch. Immer im Fluss, immer ein nächster Termin, immer in Eile.

„Entschuldigung!“
 

Gerade drängt sie sich an einem eng umschlungen, aber leider völlig im Weg stehenden Liebespärchen vorbei, als sie im Augenwinkel sieht, wie ihre Bahn auf dem anderen Gleis als nächstes angezeigt wird. Elsa entscheidet sich diesmal gegen die vollgestopfte Rolltreppe und stürmt so schnell ihre Pumps sie tragen die Treppe zu ihrer Rechten hinunter.
 

Vielleicht, wenn sie stehenbleiben würde, wenn sie inne halten würde, dann würde ihr die Leere auffallen in ihrem Herzen. Schon lange hatte sie niemand mehr mit tiefen, braunen Augen angesehen, hatte mit seiner Hand eine Haarsträhne hinter ihr Ohr zurückgeschoben, hatte sie gefragt, wie es ihr wirklich geht, hatte ihr versprochen ihr Kraft zu geben, während sie sich in seinen Armen ausruhte von der ewigen Hektik.

Unwirsch schüttelt Elsa den Kopf. Dumme Gedanken! Für so etwas hatte sie keine Zeit.

„Entschuldigung!“
 

~~~
 

Reflexhaft schreckt er hoch und sieht ihr nach. Nein, er sollte es doch langsam wissen: Viel zu oft sieht er jungen Frauen mit kastanienbraunem Pferdeschwanz hinterher. Sie ist es nie. Und hier in Tokio gibt es wahrscheinlich tausende, die aussehen wie seine Elsa.

Seufzend wendet sich Mario wieder dem überdimensionalen Plan zu. „Kameari, Kanamachi, Mabashi…“, murmelt er, „Arrrggghh, verdammt!“ Fluchend lässt er seine Faust auf die Karte sausen und dreht sich entnervt ab.

„Entschuldigung“, fragt er den erstbesten Passanten, „fährt diese Bahn zum Flughafen? Ich muss dringend meinen Flieger bekommen.“

Für einen Moment sieht der untersetzte Herr im Anzug ihn irritiert an, dann schüttelt er heftig den Kopf: „Nein, die Bahn zum Flughafen fährt von dem Gleis dort drüben. Besser Sie beeilen sich, denn sie kommt gleich.“

„Mist!“ entfährt es ihm. Er bedankt sich und hetzt die Treppen, die er gerade heruntergelaufen war, wieder hinauf.
 

Keuchend kämpft er sich durch die Menschenmassen. Das Gedränge und all diese fremden Gesichter nerven ihn furchtbar. Tokio überfordert ihn. Er will einfach nur noch schnell nach Hause. Seine Heimatstadt war auch nicht klein, aber Mario kannte dort jede einzelne Straße, durch die er oft genug seine Mannschaft beim Lauftraining gescheucht hatte. Auch hatte er kein Problem mit vielen Menschen. Er kannte viele Leute und viele Leute kannten ihn. Immerhin hatte er mit den Kickers und durch diverse Turniere eine gewisse Bekanntheit erreicht. Doch er umgab sich am Liebsten mit einem nur kleinen, festen Freundeskreis, in dem er sich am wohlsten fühlte. Diese brodelnde Großstadt mit ihrer Hektik und Anonymität war nichts für ihn.
 

Bevor er sich versieht, steht er eingekeilt in einer Gruppe Touristen, die verzweifelt diskutieren, welche Bahn sie jetzt nehmen müssen. Er kann sie gut verstehen. Aber er hat jetzt keine Zeit zu helfen. Mit gesenktem Kopf bahnt er sich seinen Weg durch die dicken Jacken und Taschen.

Warum nur hatte sein Chef ausgerechnet ihn zu diesem Termin geschickt? Beim nächsten mal soll doch bitte ein Kollege hierher fahren. Noch einmal steht er für so etwas nicht zur Verfügung.

Er zuckt zusammen, als er die Durchsage hört, die die Bahn zum Flughafen ankündigt. Mario umrundet noch schnell ein Liebespärchen und springt dann mit einem beherzten Satz die Treppe zu den Gleisen hinunter.
 

Während er auf den Bahnsteig zu hechtet, tadelt er sich selbst für seine alberne Hoffnung, in diesen Menschenmassen Elsa wieder zu treffen. Von Gregor weiß er, dass sie immer noch in Tokio lebt, in das sie gezogen ist, kaum dass sie die Schule abgeschlossen hatten. Diese Stadt ist so groß und die Menschen so unendlich viele. Die Wahrscheinlichkeit, ihr hier zufällig über den Weg zu laufen, geht gegen Null. Unmöglich. Eher sollte er anfangen Lotto zu spielen, als diese Hoffnung beizubehalten.

Die Türen der Bahn blinken und ein schriller Ton kündet die Abfahrt an. Mario beißt die Zähne zusammen, drängt sich zwischen ein paar Leuten hindurch und legt einen sportlichen Sprint ein. Dies ist die letzte Bahn zum Flughafen. Wenn er diese nicht bekommt, ist der Flieger weg.
 

Da spürt er etwas an seiner Tasche. Etwas verfängt sich, bremst und hält ihn ruckartig zurück. Er zieht noch einmal kräftig in Richtung des Bahnwagens, doch er kommt nicht weit. Er hört den erschrockenen Schrei einer Frau. Seine Tasche gleitet ihm von der Schulter, er selbst dreht sich, greift hinter sich, seine Schuhe rutschen aus und als die Wagontüren sich vor ihm schließen, findet er sich keuchend auf dem gefliesten Boden des Bahnsteigs wieder.
 

~~~
 

Schwer atmend setzt Elsa sich auf. Verdammt, so etwas ist ihr ja noch nie passiert! Welcher idiotische Volltrottel wusste sich nicht in der Tokioter U-Bahn zu bewegen. Dem würde sie etwas erzählen!

Sie holt tief Luft, um dem jungen Mann, der ihr gegenüber auf dem Boden hockt, laut und deutlich ihre Meinung zu sagen, als sich ihre Augen erstaunt weiten.
 

Mario richtet sich panisch auf und greift schnell nach seiner Tasche. So ein Mist aber auch! Nicht nur, dass die Bahn weg war, sondern dann passiert ihm auch noch so etwas peinliches. Er hat bereits Tausend Entschuldigungen auf den Lippen, als er die junge Frau, die er gerade umgerannt hat, zum ersten Mal richtig ansieht. Verblüfft lässt er zum zweiten Mal an diesem Tag seine Tasche fallen.
 

„M… Ma…Mario?“

„E… Elsa???“

Mario starrt sie mit weit aufgerissenen Augen an. Ist das ein Traum? Ist er gerade beim Sturz auf den Hinterkopf gefallen und sieht nun Trugbilder? Vor einer Minute hatte er sich gerade noch von der Hoffnung, ihr hier zu begegnen, verabschiedet und nun sitzt sie ihm auf dem schmutzigen Boden eines Tokioter U-Bahnsteigs gegenüber. Regungslos hockt er da und starrt sie weiterhin mit offenem Mund an, als könnte jedes Wort, jede Bewegung, das kleinste Augenzwinkern die Erscheinung vor ihm sich in Nichts auflösen lassen.

Während Mario noch seine Sinne sammelt, erhebt sich die Erscheinung stöhnend und klopft sich den Schmutz von der Kleidung. „Na toll“, seufzt sie, „jetzt hab ich meine Bahn verpasst.“ Mit vorwurfsvollem Blick sieht sie neben sich am Boden auf den Grund ihrer Verzögerung. „Was machst du eigentlich hier?“

„Ich.. ähh… ich…“ Mit hochrotem Gesich rappelt Mario sich auf. Er spürt, wie sie im Begriff ist sich umzudrehen und wieder mit schnellen Schritten in der Menschenmenge zu verschwinden. Nein, das würde er nicht zulassen! Er musste irgendetwas tun!

„Ich… wollte dich gerade auf einen Kaffee einladen“, platzt es schneller aus ihm heraus als er nachdenken kann.

Elsa, die ihm bereits den Rücken zugewandt hatte, dreht sich erstaunt wieder zu ihm um. Ungläubig zieht sie eine Augenbraue in die Höhe. „Ja klar“, witzelt sie, „bis eben hattest du es doch noch ziemlich eilig.“

Mario blickt in den dunklen Tunnel, in dem seine letzte Bahn zum Flughafen gerade verschwunden ist. „Jetzt nicht mehr“, seufzt er.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Devilvegeta
2021-11-23T20:55:41+00:00 23.11.2021 21:55
Toller Start ! Du hast echt ein Talent dafür, dass deine Leser Bilder im Kopf von den Scenen bekommen. Und es liest sich so flüssig und harmonisch wie erst Elsa zur Bahn läuft mit all ihren Eindrücken und beiläufigen Passanten und dann auch noch Mario der den selben Passanten begegnet. :)))
Antwort von:  Centranthusalba
23.11.2021 22:17
Puh, haben sich die 10.000x Korrekturlesen und Ändern und Umstellen doch gelohnt, ja?😉
Ja, sie treffen die selben Personen, aber jeder nimmt sie anders wahr. Gut beobachtet.
Danke dir!
Von:  Tasha88
2021-11-23T06:03:51+00:00 23.11.2021 07:03
Liebe Rike,
So beginnt der Tag doch viel besser als mit einem Fieberthermometer, das eine viel zu hohe Temperatur anzeigt 🙄

Gott, ich liebe es. Alles. Wie beide über den Bahnhof hetzen, ihre (genervten) Gedanken, wie sie jeweils an den anderen denken und dann ineinander krachen, sich erst aufregen und sich dann ansehen und feststellen, wer der Gegenüber ist...

Ich mag es sehr 🥰
Und deinen Schreibstil liebe ich mal wieder (habe ich dir glaube auch noch nie gesagt 😅)
Liebe Grüße
Antwort von:  Tasha88
23.11.2021 08:53
Und, der kleine feste Freundeskreis von Mario... Währen das nicht 11 weitere Kickers? 😂 ... Klein ist anders...
Mensch, ich mag diese kleinen Bilder die du zeichnest... Gerade diese Gedanken bzgl der Stadt - Elsa, die tokio liebt, sich hier wohl fühlt und dann Marios komplett gegensätzlichen Gefühle dazu... Will am liebsten sofort weiter lesen...
Antwort von:  Centranthusalba
23.11.2021 08:59
Jaa, da hast du Recht. 11 Freunde sind tatsächlich nicht mehr klein. 😅 aber vielleicht sind einige von ihnen ja auch weggezogen.

Mario ist halt der schüchterne, und alles was eine Großstadt ausmacht, passt nicht zu ihm.

Bilder zeichnen, das hast du schön gesagt. Genau das will ich. 😊

Ich lag übrigens am Sonntag flach. Gute Besserung dir! 🤒
Antwort von:  Tasha88
23.11.2021 11:17
Danke dir.
So, das Kapitel zum x-ten mal gelesen. Es hat etwas, was mich nicht loslässt... Und ganz viele Fragen aufwirft...
Mario wird mal wieder rot, kann sie nicht ansehen...
Aber sie denkt an braune Augen, die sie ansehen, eine Person, die sie in den Arm nimmt etc... Meint sie damit nicht Mario? Er redet ja auch von "seiner" Elsa... Also war da was zwischen den beiden? Aber warum kann er die dann nicht ansehen?
Du siehst, ich mache mir viele Gedanken 😅😅
Aber wenn ich es richtig weiß, kommen ja jetzt an sich Rückblicke, also sollte ich da vielleicht ja meine Antworten bekommen 😉
Antwort von:  Centranthusalba
23.11.2021 11:20
Wirst du 😜
Und vielleicht machst du dir uu viele Gedanken. Ein Teil der Reaktionen geht auch einfach auf das Wiedererkennen der Charaktere zurück. Ich hatte auch überlegt ob er nicht übertrieben schüchtern rüberkommt. Zumal er diesmal der aktive part sein wird. Ach du wirst sehen 😊
Antwort von:  Tasha88
23.11.2021 11:44
Und ich freue mich darauf 😉


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