Herz über Kopf von Centranthusalba ================================================================================ Kapitel 1: Ein Kuss ohne Bedeutung ---------------------------------- Eine Woche zuvor Es ist später Abend in Osaka. Langsam beruhigt sich die quirlige Stadt. Die U-Bahnen verlangsamen ihren Takt. Nur hin und wieder fährt noch ein Auto durch die Straßen. Die Menschen haben ihre Büros und Geschäfte gegen ihre warm beleuchteten Wohnungen getauscht, wo sich um diese Zeit die Familie am Esstisch trifft und von den Geschehnissen des Tages berichtet. Auch in einer geräumigen Wohnung im Stadtteil Hirano brennt Licht. Fünf junge Menschen sitzen in einer großen Wohnküche um einen Tisch herum und haben soeben ihr Abendessen vertilgt. Der große Nudeltopf steht nun leer in der Mitte des Tisches. „Uff, ich kann nicht mehr“, stöhnt Mario. Erschöpft lehnt er sich in seinem Stuhl zurück und hält sich den Bauch. Seine Freundin Elsa sitz neben ihm und schmunzelt amüsiert. „Nicht doch noch ein bisschen Nachtisch?“, neckt sie. „Erbarmen“, stöhnt Mario erneut. „Da haben wir also den Hungertod gerade noch abwenden können“, grinst Sarah von der anderen Seite des Tisches herüber. „Als ihr vorhin vom Training kamt, war ich mir nicht sicher, ob wir das noch schaffen.“ Sie zwinkert ihrer besten Freundin wissend zu. Elsa erwidert das Zwinkern und kuschelt sich an Mario, der sogleich den Arm um sie legt und ihr so ein Nest an seiner Seite bereitet. „Ich bin froh, dass wir jetzt endlich wieder richtig trainieren können, wo alle aus den Semesterferien wieder da sind.“ Eric streckt sich in seinem Stuhl. „Aber vielleicht war das Training für den ersten Tag doch etwas heftig.“ Viktor schnaubt: „Irgendwelche Beschwerden zu meinem Training?“ „Ich sagte doch ich bin froh…und einige von uns mögen das ja auch.“ Da fällt ihm etwas ein: „Sag mal Mario, was ist denn nun mit Gregor? Er hatte doch versprochen, zu diesem Semester ebenfalls nach Osaka zu kommen und bei uns zu spielen.“ „Ja“ antwortet Elsa an Marios Stelle. Als Gregors Schwester wusste sie über seine Pläne natürlich ebenfalls bestens Bescheid. „Gregor hat sich nach seinem Schulabschluss bei der Allgemeinen Fachhochschule in Osaka beworben und ist angenommen worden. Unser Vater war dagegen, dass er ein reines Sportstudium wählt. Und da diese Hochschule keine eigene Fußballmannschaft hat, wird er bei euch spielen.“ „Er bezieht nächste Woche das zweite Zimmer in meiner WG“, ergänzt Mario. „Und wie ich ihn kenne, wird er seinen Koffer im Zimmer abstellen und anschließend fragen, wo es zu Trainingsplatz geht.“ Alles lacht. „Sehr gut, ich freu mich. Endlich mal ein neuer Stürmer. Ich will ja nicht meckern, aber immer nur mit Gordon… das kann schon langweilig werden.“ „Du vermisst Steve, was?“ Viktor gibt Eric einen freundschaftlichen Knuff in die Seite. „Ja schon irgendwie. Schade, dass er weggegangen ist.“ „Eines verstehe ich nicht“, überlegt Sarah, „Wenn Gregor zu dir zieht Mario, was ist dann mit Conny? Die wird doch nicht auch noch in deine kleine Wohnung einziehen?“ „Du überschätzt meinen Vater“, grinst Viktor, „Mein Schwesterchen wird während ihres Jahres beim Kansai-Sinfonieorchester natürlich brav bei unserer Tante hier in Osaka wohnen… und selbstverständlich keinerlei männlichen Besuch empfangen.“ Elsa und Sarah sehen ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Die Arme“, entfährt es Elsa. Sarah nickt zustimmend: „Wir werden sie auf gaaaaanz viele Parties mitnehmen müssen.“ Mario muss laut auflachen: „Sie tut mir jetzt schon Leid. Mit euch beiden Partylöwinnen!“ Sofort schnellt Elsas Finger auf die andere Tischseite. „Sarah!“, entgegnet sie. Diese guckt gespielt empört. „Also hör mal, als angehende Eventmanagerinnen müssen wir stets ‚up to date‘ sein. Es liegt quasi in der Natur der Sache, dass wir die besten Parties kennen.“ Viktor schüttelt nur grinsend den Kopf und erhebt sich: „Ich mache mir noch einen Kaffee. Will sonst noch jemand?“ Allgemeines Kopfschütteln ist die Antwort. Doch Elsa steht ebenfalls auf, nimmt den leeren Topf vom Tisch und trägt ihn Viktor hinterher in die Küche. „Danke Elsa, aber das muss wirklich nicht sein. Du bist hier Gast“, versucht er sie aufzuhalten. „Ach was.“ Mit Bestimmtheit wuchtet sie den schweren Topf ins Spülbecken. „Ich bin doch durch Sarah so oft hier, dass dies hier schon beinahe mein zweites Wohnzimmer ist. Nein, drittes Wohnzimmer!“, korrigiert sie rasch, „Sarahs und meine WG, Marios Wohnung, deine und Erics WG“, zählt sie nacheinander auf. In dieser Konstellation wohnten sie inzwischen seit zwei Jahren in Osaka, in das sie, wie so viele ihrer ehemaligen Mitschüler, gezogen waren, um weiterführende Schulen zu besuchen. Es war ein schlichter Fakt, dass man nach Osaka gehen musste, wenn man in Wakayama die Schule abgeschlossen hatte. Das waren die Grenzen der kleineren Stadt. Elsa war froh, nicht nach Tokyo zu müssen. Ihre Heimatstadt war von Osaka mit dem Zug innerhalb von einer Stunde zu erreichen und tatsächlich fuhr sie oft und gerne übers Wochenende zu ihren Eltern. Dass Gregor mit seiner Freundin, die gleichzeitig Viktors Schwester war, nun ebenfalls hierher kam, freute sie ganz besonders. Damit fühlte es sich wieder so an, wie in der Zeit vor ihrem Schulabschluss, als sie ebenfalls viel als Freunde zusammen unternommen hatten. Sarah kannte sie bereits seit der Mittelstufe und sie waren in den Jahren beste Freundinnen geworden, die auch das Abenteuer ‚Studium‘ gemeinsam angingen. Mit Mario war Elsa inzwischen seit unglaublichen sechs Jahren ein Paar. Sie staunte immer wieder, wie gut und reibungslos ihre Beziehung funktionierte, besonders, wenn sie sich im Gegensatz dazu Viktor und Sarah ansah, die sich regelmäßig stritten, mit der Trennung drohten, nur um sich am Ende doch wieder zu versöhnen. Das war auch der Grund gewesen, warum Sarah es vorgezogen hatte, mit Elsa in einer WG zu wohnen. Elsa fand diese Idee ebenfalls gut, weil sie auch ihre Nerven schonte. Denn meistens war sie es, bei der Sarah sich dann ausweinte. Oder ausschimpfte, das konnte man nie so genau auseinander halten. Ihre Jungs spielten alle gemeinsam Fußball in einer Mannschaft, die zu größten Teilen aus den verbliebenen Spielern ihrer alten Schulmannschaften der Kitahara und der Nanyo bestanden. „Wirklich keinen Kaffee, Elsa?“, reißt Viktor sie aus ihren Gedanken, „Du sagst doch sonst nie ‚nein’ zu deinem Lieblingsgetränk.“ Elsa lächelt und schüttelt den Kopf. „Nicht so spät abends.“ Als sie an den Tisch zurückkommen, empfängt sie lautes Gelächter. „Ist nicht wahr!“, ruft Eric, „Und das hast du wirklich gemacht Mario?“ „Naja….“ Marios Kopf hat eine purpurrote Farbe angenommen. Mit seinem Stuhl ist er soweit wie möglich vom Tisch abgerückt. „Es war wirklich nur….“ „Und du hast das zugelassen Elsa?“ Mit einem breiten Grinsen dreht Eric sich zu Elsa um und sieht sie erwartungsvoll an. Elsa steht verständnislos im Raum und schaut fragend von einem zum anderen. „Was soll ich zugelassen haben?“ „Na, dass Mario Sarah küsst!“ Elsa stöhnt nur bei der Erinnerung und verdreht die Augen, doch Viktor trifft die Nachricht wie ein Schlag: „Wie bitte?! Mario hat meine Freundin geküsst?“ Eric zieht amüsiert die Schultern hoch und deutet vielsagend auf die beiden am Tisch. Sarah hat ihr Gesicht in ihren Händen vergraben und Marios Kopf zeigt eine eher ungesunde kalkweiße Farbe. „Das war doch dieses blöde Spiel auf Alex’ Geburtstagsparty neulich“, versucht Elsa zu erklären, „Da warst du nicht mit, Viktor.“ „Ja“, nickt dieser erst zögerlich, doch dann findet er schnell zu seiner Empörung zurück, „und dann nutzt du diese Situation sofort schamlos aus und küsst meine Freundin?! Mario, was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“ Wütend stapft Viktor auf den Tisch zu. Mario beißt die Zähne zusammen. Anscheinend hatte Sarah ihrem Freund nichts von der Geschichte erzählt. Und nun bekam dieser das in den ganz falschen Hals. „Viktor, das war doch nur ein Spiel!“ Etwas erschrocken über seine barsche Reaktion läuft Elsa ebenfalls zum Tisch und greift nach Viktors Arm. „Sarah hatte bei so einem Partyspiel verloren und musste sich freikaufen. Und da kam Alex auf die Idee, dass sie einen der anwesenden Jungen küssen sollte.“ Viktor lässt sich nicht anmerken, dass er ihr überhaupt zuhört. Stattdessen stützt er die Arme bedrohlich auf der Tischplatte auf und fixiert Mario aus zusammengekniffenen Augen. „Und da hat sich Gott-sei-Dank Mario bereit erklärt“, meldet sich nun auch Sarah zu Wort. „Er war mein Retter in der Not! Stell dir vor, ich hätte Yusuke küssen müssen.“ „Und was sagst du dazu Elsa?“ Viktor hört auf, Mario mit seinem Blick zu durchbohren und wendet sich stattdessen Elsa zu. Diese hebt rasch entwaffnend die Hände: „Es war nur ein Spiel, Viktor. Das hatte überhaupt nichts zu bedeuten.“ „So“, sagt er tonlos, „hat es nicht?“ Leicht unsicher sieht Elsa ihn an. Etwas an seinem Gesichtsausdruck gefällt ihr nicht. Und dann geht alles sehr schnell. Bevor sie begreift, was geschieht, nimmt Viktor ihr Gesicht in beide Hände und drückt ihr einen Kuss auf die Lippen. Nur zwei Sekunden später zieht er seinen Kopf ruckartig wieder weg und blickt triumphierend in die Runde. Alle im Raum starren die beiden mit offenen Mündern an. Sarah findet als erste ihr Sprache wieder: „Was sollte das denn jetzt?“ Ihre Stimme klingt als müsste sie sich sehr zurückhalten, nicht zu schreien. Doch Viktor ignoriert sie und sieht stattdessen seelenruhig zu Mario hinüber. „Ausgleichende Gerechtigkeit“, grinst er, „Jetzt sind wir quitt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)