Solution X von Karo_del_Green (Zwischen Schatten und Licht) ================================================================================ Kapitel 1: Mit dem Wissen um Wahrheit und Tod - 1 ------------------------------------------------- Folge 1 ~Teil 1 - Mit dem Wissen um Wahrheit und Tod~ „Ist es eine Fata Morgana? Ist es ein Staubteufel? Nein, es ist der Sandmann.“ Ein Chorus schadenfreudiger Heiterkeit erfüllt den Raum und lässt meine Fingerspitzen unangenehm Kitzeln. Der Versuch, die Augenbraue nach oben zuziehen, misslingt, denn die Erde in meinem Gesicht ist so steif getrocknet, dass ich für einen Moment, das Gefühl habe, mir die Haut von den Knochen zu schälen. Doch auch ohne eine Reaktion meinerseits fahren sie nonchalant fort. „Oder eine schmächtige Version vom Ding…“, schlägt ein anderer vor, derweil ich vergeblich versuche, meinen Dienstausweis aus der Innentasche der Jacke zu holen. Mir erschließt sich der Zusammenhang nicht und es ist im Grunde nichtig. „…aus dem Sumpf.“ Mehrstimmiges Gelächter setzt ein und der hitzige Schlagabtausch steigert sich zum Absurden. Der getrocknete Schlamm an meinen Händen sorgt dafür, dass ich die folierte Oberfläche des Ausweises nicht zu fassen bekomme. Ich seufze geräuschlos und starte einen weiteren Versuch, doch die Kollegin an der Anmeldung winkt nur ab. Sie erkennt mich trotz der Schichten Dreck in meinem Gesicht und kann sich das Schmunzeln nicht verkneifen, welches ihre schmalen Lippen zu einem schiefen Strich formt. Ich bedanke mich mit einem schlichten Handheben und betrete das Revier endgültig. „Hey, Damast, du nimmst den Spruch ´Im Dreck wühlen` etwas zu ernst, oder?“ Ich bleibe zu meinem Leidwesen instinktiv stehen, blicke zu dem Kollegen, der mit einer Handvoll Akten neben mir auftaucht und diese symbolträchtig vor meiner beschmutzten Nase herumschwenkt. Colton Barres. Seines Zeichens Angeber und Großmaul. Aber auch Detective der Mordkommission, genauso wie ich. Er mustert mich belustigt und offenkundig abschätzig. Für ihn bin ich eine Witzfigur und mein momentanes Äußeres trägt wenig dazu bei, seine Meinung zu negieren. Es ist mir sowas von egal. Ich widerstehe dem Drang, dem werten Kollegen gestisch zu verdeutlichen, was ich von ihm und den Kommentaren der anderen halte. Dennoch zuckt meine Hand verräterisch nach oben. Um das rechtzeitig zu kaschieren, streiche ich mir über die verkrusteten Lippen. Der Quarz zwischen meinen Zähnen knirscht und ich schmecke die lehmige Erde, die sich fast kühlend auf die Zunge legt. Die kalkhaltige Note verursacht mir Gänsehaut und das kehlige Lachen des anderen Mannes verhallt schallend, während ich vorbei an ihm und den Kollegen zu den Umkleideräumen gehe. Ich hinterlasse eine feinsandige Spur im Gang und atme erleichtert aus, als die Stimmen endlich zu Hintergrundrauschen werden. In der Umkleide angekommen, lasse ich einige Schrankreihen hinter mir, sehe aus dem Augenwinkel heraus ein paar Kollegen, die sich schweigend ihre Schuhe binden oder die Krawatte enger ziehen. Vor meinem Spind bleibe ich stehen, höre, wie sich die Eingangstür öffnet und schließt. Niemand ruft eine Verabschiedung. Eine Weile nestle ich an dem Schloss des Schranks herum. Doch ich bekomme es nicht auf. Die rutschigen Schmutzspuren, die meine eingesauten Hände hinterlassen, machen das Öffnen unmöglich. Nach dem fünften Versuch gebe ich auf, bette die Stirn gegen das kühle Metall und denke unbeabsichtigter Weise wieder an die Sprüche der Kollegen. Polizisten können ungemein kreativ werden. Das macht sie aber in keiner Weise witzig. Ich streife mir die verschmutzte Jacke von den Schultern, werfe sie auf die Holzbank zu meinen Füßen und setze mich schwerfällig hin. Meine Gelenke knacken verräterisch. Die durchgehende Kälte der letzten Stunden macht ihr Übriges. Während ich meine linke Hand ein paar Mal im Uhrzeigersinn drehe, wird das Ausmaß noch deutlicher. Es schmerzt. Die Gegenrichtung erspare ich mir. Bis zu diesem Moment habe ich die Verletzung kaum wahrgenommen. Jetzt scheint sie sich pochend und unaufhörlich über meinen gesamten Arm auszubreiten. Meine Schultern fühlen sich an, als hätte jemand Beton auf ihnen vergossen und das nicht nur, weil ich die letzten zwei Nächte halbvertikal im Büro verbracht habe. Ich bin müde und ausgelaugt, aber vor allem frustriert. Nichts ist so gelaufen, wie ich es mir in den letzten Tagen vorgestellt habe. Der nächste Versuch, den Schrank zu öffnen, gelingt und erleichtert streife ich mir die feuchten Klamotten ab. Der Jacke folgt das Hemd. Der weiße Stoff ist an den Schultern und am Rand übersät mit braunen Flecken. Eine irrwitzige Mischung aus Lehm und Sand, Matsch und anderen Ingredienzien, an die ich lieber nicht zudenken vermag. Ich kriege es vermutlich nicht mehr sauber und bin mir nicht mal sicher, ob es sich lohnt, es zu versuchen. Der laute Aufprall meines Schlüsselbunds auf den glatten Kachelboden lässt mich aufschrecken. Er ist aus der Brusttasche der Jacke gerutscht. Doch das ist nicht das Einzige. Ich angle mit klammen Fingern nach dem Metallring des Schlüssels, einer halben Packung Kaugummis und einem unscheinbaren aufgerollten Stück Papier, das es ebenfalls bis zum Boden geschafft hat. Nur den Zettel behalte ich in der Hand, den Rest lege ich auf die obere Ablage im Spind. Meine Fingerspitzen pulsieren, als ich den rauen Fetzen mit den Daumen auseinanderschiebe. Ich spüre die Energie darin, wie sie langsam schwächer wird und verfliegt. Ich betrachte die fünf abgebildeten Symbole darauf. Zeichen des hebräischen Alphabets. In meinem Kopf formuliert sich die Bedeutung, doch ich spreche sie nicht aus. Wage es nicht. Es fühlt sich unheilvoll an, nur daran zu denken. Den Papierfetzen räume ich erleichtert seufzend auf die Ablagefläche des Schrankes ab, gefolgt von Brieftasche und Handy. Ich entferne die restlichen Kleidungsstücke von meinem Körper, reiße mir den verkrusteten Stoff fast von der Haut und stelle mit Entsetzen fest, dass ich den Schlamm wirklich überall habe. Selbst im Bauchnabel und in den Zwischenräumen der Zehen. Sehnsüchtig greife ich nach dem Handtuch, verschwinde schnellen Schrittes in den Duschraum. Dort stelle ich direkt das Wasser an. Die kühlen Kacheln, unter meinen Füßen erzeugen ein eigenartiges Kitzeln, und der langsam heiß werdende Wasserdampf trifft einladend auf meine Haut. Ich feiere die ersten feinen Wassertropfen, aber trete eher behäbig unter den kompletten Strahl. Das Wasser begrüßt mich mit offenen Armen und ich sehe dabei zu, wie die sandigen Überbleibsel dem Abfluss entgegenfließen. Stetig lösen sich die festgetrockneten Spuren von meinem Körper. Leider kann ich das nicht von dem beschwerenden Gefühl in der Brust behaupten. Noch immer merke ich den massiven Leib des hervorbeschworenen Ungetüms, spüre die Wucht, mit der er mich zu Boden drückte. Es war dieser eine Moment, deren Ausgang auf jedwede Art hätte enden können. Ich war zu unvorsichtig gewesen, habe mich in dem sicheren Gefühl gewogen, alles unter Kontrolle zu haben. Doch dem war nicht so. Dem ist nie so. Erwarte das Unerwartete. Die Worte meines Vaters. Keine Ahnung, ob der Spruch von ihm stammt oder von jemand anderen. Aber das trichterte er mir ein, von Kindesbeinen an. Jedoch war es bei weitem nicht genug, wie ich mit den Jahren verstehen lernte. Denn es gibt Dinge in dieser Welt, die mehr sind als bloße Fantasien in den Schriften vergangener Zeiten. Tief verankert in alten Religionen, Bräuchen und Erinnerungen existieren Wesen und Kreaturen jenseits von hell und dunkel. Sie leben und wirken in den Schatten und Nischen, die den Menschen oft verborgen bleiben. Sie haben gelernt, sich anzupassen, sich zu verstecken. Sie verweben ihr Milieu geschickt mit der geglaubten Normalität und treten nur selten offen in Erscheinung. Es gibt nur wenige, die einen Blick in diese parallel existierende Welt werfen können, die in die Dämmerung hineinblicken. Ich gehöre unfreiwillig zu denjenigen. Und wenn meine Kollegen wüssten, dass ich letzte Nacht wahrhaftig auf ein von ihnen verspottetes Ding gestoßen bin, würden sie vor Angst an ihren dummen Sprüchen ersticken. Mir täte es nicht leid. Mein Vater nannte es eine Gabe. Für mich ist es ein Fehler. Seit meiner frühsten Kindheit sehe ich mehr, als mir lieb ist. Dieser Umstand sorgte dafür, dass ich schon mein Leben lang mit dieser anderen Welt in Verbindung stehe und die Zeichen deute. Allerdings lernte ich ebenso schnell, dass nicht alles darin verdorben ist. Nichts ist nur schwarz oder weiß. Und Schatten ist bei massiver Sonne ein Rettungsanker. Es gibt so viele Graustufen, die es einem schier unmöglich machen, die Wahrheit mit bloßen Augen zu erkennen. Denn nicht alle Wesen wollen Böses. Doch manchmal verursachen sie Schaden, bewusst und unbewusst, der von der herkömmlichen Polizei nicht erfasst werden kann. Dann komme ich ins Spiel. Ich bin der Volldepp des 17. Reviers. Detective der Mordkommission für merkwürdige und ungewöhnliche Vorkommnisse. Natürlich nur als unausgesprochener Untertitel, denn kein anderer Kollege ahnt von meinem eigentlichen Arbeitsfeld. Und es ist besser so. Auch, wenn es mir die Arbeit nicht gerade vereinfacht. In den regulären Polizeidienst kam ich eher aus nichtigen Gründen. Rebellion und Wut. Die Triebfedern der Verzweifelten und Gescheiterten. Mein Vater erwartete stets mehr von mir, als ich ihm geben konnte. Seine für mich erdachte Rolle kleidete mich vielmehr mit Angst und Schrecken als mit Vertrauen und so flüchtete ich vor den Schatten der gegenwärtigen Vergangenheit. Doch mein Wissen oder diese Gabe konnte ich nicht abschütteln. Genauso wenig wie den Drang, nicht tatenlos dabei zu zusehen, wie manche Wesen ihre Überlegenheit ausnutzen, wie sie manipulieren und anderen schaden. Meine komplizierte Kindheit und das spezielle Wissen erleichterten mir den Umstand, mich in der autoritären Polizeiwelt zu behaupten und sie ebneten mir einen Sonderweg. Jetzt erfülle ich meine Aufgabe. Wenn auch anders als es ursprünglich für mich geplant. Ich schalte das Wasser ab, als ich mir halbwegs sicher bin, dass nirgendwo ein Sandkorn übrigbleibt, und verweile einen Moment länger mit geschlossenen Augen im Wasserdampf. Aus den Wänden dringt ein leises Rauschen. Irgendwo im Gebäude betätigt jemand den Wasserhahn. Die Spülung einer Toilette. Ich spüre die dichte, warme Feuchte des Dampfes auf der Haut und in der Lunge. Sie lässt mich angestrengter atmen, also halte ich instinktiv die Luft an. Wieder schürt es die Erinnerungen. Die Schwere auf und in meiner Brust war unerträglich gewesen. Sie war beängstigend und überwältigend. Ich schüttele die Gedanken energisch davon. Doch es braucht länger, bis auch das Gefühl verschwunden ist. Erst nach ein paar Minuten kehre ich zu den Schränken zurück, krame ein kleineres Handtuch hervor und befreie Gesicht und Haare von der oberflächlichen Feuchtigkeit. Ich stelle zu meinem Bedauern fest, dass ich lediglich alten Sportklamotten als Ersatz habe, da meine sonstige Wechselkleidung erst letzte Woche bei einem anderen Zwischenfall zum Einsatz gekommen ist. Ich habe vergessen, sie auszutauschen. Ich beschaue die schlabbrige graublaue Stoffhose und den dunkelblauen Pullover mit dem Emblem der Polizeiakademie. Beides riecht nach Mottenkugeln und alten Turnschuhen. Nicht wirklich angenehm. Eine Wahl habe ich nicht, darum stopfe ich die dreckigen Klamotten in einen Plastikbeutel, sammele meine Habseligkeiten zusammen und mache mich barfuß auf den Weg zum Schreibtisch. Im Gegensatz zu den Kollegen habe ich das Privileg, einen eigenen kleinen Bürokellerraum nutzen zu können. Es ist mehr eine Abstellkammer ohne Licht und Luft, aber habe ich die meiste Zeit über meine Ruhe. Unterwegs dorthin überprüfe ich ein weiteres Mal die Funktionsfähigkeit meines Handgelenks, lasse es vorsichtig kreisen und merke deutlich, wie es sich gegen die Bewegung stellt. Der Schmerz ist verkraftbar, aber präsent. Genauso wie die Erinnerung an das hirnlose Ungetüm, welches mich voller Inbrunst im Morast begraben wollte. Der Gedanke schnürt mir wiederholt den Atem ab und lässt meine Muskeln angeregt pulsieren, ohne dass ich es beeinflussen kann. Ich schelte mich innerlich dafür, weil ich es hätte wissen müssen. Alle Anzeichen waren da gewesen und ich hätte sie nur besser lesen sollen. Nichts läuft je so, wie man es sich denkt. Schon gar nicht, wenn man wie ich gegen Dinge vorgeht, die andere nicht für real halten. Ich hörte am gestrigen Abend die Kollegen reden, während ich versuchte, das perfekte Verhältnis zwischen Tee und Honig in der Gemeinschaftsküche herzustellen. Sie sprachen über einen Toten, als ich dabei zusah, wie der flüssige Blütenzucker mit einem feinen goldgelben Strahl vom Löffel lief. Ein alter Mann, der Anfang der Woche auf einem verwahrlosten Grundstück im städtischen Randgebiet einer kleinen jüdischen Gemeinde gefunden wurde. Er war begraben unter einem Berg loser Erde. Unachtsam zugeschüttet und nur ein Bein und eine Hand lugten hervor, als man ihn fand. Laut Obduktion starb er an einen Herz-Kreislauf-Stillstand. Ursache unbekannt und damit ist es ein ungeklärter Todesfall, der von der Polizei verfolgt werden muss. Seine abgewetzte Kleidung und der schlechte Zustand seiner Zähne sprachen für einen Obdachlosen. Eine Identifizierung konnte dennoch schnell vorgenommen werden. Patrick Duffort. 59 Jahre alt. Ein derartiger Todesfall ist nichts Ungewöhnliches, eher eine traurige Normalität in diesem Milieu und kann vielerlei Ursachen haben. Doch der Umstand seiner Fundsituation war sonderbar. Eine tiefergehende Ermittlung gab es nicht und als eine ansässige Gang ausgeschlossen wurde, fehlte es an weiteren Verdächtigen. Es gab keine Spuren. Keine Zeugen. Nur Sand und Geröll. Darum interessierte es auch niemanden, als ich mir stillschweigend die Akte nahm und nach dem ersten Schluck aus der Tasse einschätzte, dass mein Tee nur für Kolibris genießbar war. Als ich am selben Abend am Fundort eintraf, lag das Gelände bereits im Schatten und verschwamm mit der Dunkelheit. Die grauen Fassaden der umgebenden Gebäude schienen im nebelverhangenen Mondlicht nur tiefer und älter. Und allein die bedrückende Kulisse hätte mir eine Warnung sein sollen. Verlassene Häuser mit quietschenden im Wind schwankenden Fensterläden sind der Inbegriff eines Horrorklischees. Noch dazu sind kaputte Straßenbeleuchtungen nie ein gutes Zeichen. Auch in diesem Fall nicht. Der Broken-Window-Effekt kommt hier vollständig zum Tragen. Kausalität hin oder her, da können die wissenschaftlichen Eierköpfe sagen, was sie wollen. Trotzdem war ich willens, ein paar Hinweise zu finden, um zu klären, warum er gerade hier starb und was womöglich dazu führte. Ob mehr dahinter steckte. Doch dort gab es nichts. Nur Staub und Verfall in bedrückender Stille, die so laut war, dass mir das ein weiteres Zeichen hätte sein müssen. Dann verkam alles zu einer Randnotiz, als dieses gigantische Ungetüm aus den Schatten vor mir auftauchte und mich derartig schnell in den matschigen Untergrund stampfte, dass ich nichts anderes tun konnte, als bemitleidenswert zu ächzen. Keine Agilität und keine Ausbildung der Welt hätten einen auf sowas vorbereitet. Also fraß ich minutenlang Dreck. Das feuchte Handtuch lasse ich auf den Schultern liegen, während ich in die Hosentasche greife und nach den Schlüsseln suche. Pergament streift meinen Handrücken und statt des Metalls ziehe ich dieses hervor und bleibe stehen. Dem Stück Papier haftet feinkörniger Staub an und die feuchte Erde hat es dunkel verfärbt. Mit dem Daumen streiche ich über die Oberfläche, mache das handgeschriebene Wort wieder sichtbar, so, wie ich es vorhin schon einmal getan habe. Ich hätte es auf der Stelle vernichten sollen. Ich lasse den Pergamentfetzen zwischen meinen Fingern hin und her wandern. Die raue Oberfläche ist seltsam kühl und das obwohl ich das Papier schon eine Weile in der Hand halte. Letztlich greife ich das Stück mit beiden Händen und reiße den vorderen Teil ab, sodass der erste Buchstabe des Wortes abgetrennt ist. Den kleineren Fetzen lasse ich zu Boden fallen. Den Rest stecke ich zurück in die Hosentasche. Meine Schritte verlangsamen sich erneut, als ich eine dunkle Silhouette durch die sichtgeschützte Scheibe der Kammer erkenne. Ich sehe, wie sie sich bewegt und für einen Moment wähne, ich einen losgelösten Schatten wahrzunehmen. Doch dann höre ich das Rascheln von Papier. Die Reibung der Schuhsohlen auf den synthetischen Teppichfliesen und die Anspannung fällt von mir ab. Ein letztes Mal streiche ich mir mit dem Handtuch durch die feuchten Haare und linse argwöhnisch um die Ecke in den Raum. Vor der Pinnwand steht eine durch und durch menschliche Gestalt und betrachtet einige der Tatortfotos, die nur alibihalber dort befestigt sind und einen Mord zeigen, den ich gar nicht bearbeite. Der junge Mann ist schlank und hat dunkelbraunes, fast schwarzes Haar. Eindeutige südländische Merkmale. Sein Anzug ist so sorgfältig gebügelt, dass man im ersten Moment an eine höhere Behörde denkt. Doch seine Schuhe sind abgelaufen und alt. Ich kann sehen, wie er seinen Blick durch den Raum wandern lässt. Die Tatortfotos sind das Langweiligste an dem Büroraum. Ich räuspere mich, nachdem ich ihn eine Weile beobachtet habe und er seine schlanken Finger nach einer der Steinfiguren ausstreckt. Erschrocken zieht er die Hand zurück. Er erspart sich eine weitere ertappte Geste, indem er sich ebenfalls räuspernd über den Nasenrücken streicht und nach einer Akte greift, die auf der Ecke des Schreibtisches abgelegt ist. Er beäugt unauffällig meine Sportbekleidung und ich bin mir sicher, dass ich schlammverschmiert und verdreckt mehr Eindruck auf ihn gemacht hätte als, als Sportlehrerverschnitt. „Detective Damast… Vikar Damast?“, fragt er. Seine Stimme geht am Anfang leicht nach oben. Danach wird sie ein angenehmer Bariton. Fast weich. Sehr beruhigend. Perfekt, um traurige Angehörige zu besänftigen. Ich kann mir einen kurzen Blick auf die Namensapplikation neben der Tür nicht verkneifen und denke darüber nach, seine Frage einfach zu verneinen und weiterzugehen. Das plötzliche Auftauchen von Fremden ist nie ein gutes Zeichen. Doch ich mache es nicht. Beim Eintreten werfe ich das Handtuch quer über den Tisch und sehe dabei zu, wie es von der Lehne des Stuhls rutscht. Den Beutel mit den schmutzigen Klamotten lasse ich neben dem Schreibtisch fallen. Mein unbekannter Gegenüber sieht mich abwartend an. Seltsam forschend. Intensiv und unverwandt. Erst als ich auffordernd zurückblicke, stellt er sich vor. „Detective Luis Pastor. 12. Revier.“ Er klemmt die Akte unter seinen Arm und startet das im Allgemeinen anerkannte und doch überflüssige Begrüßungsprozedere, indem er mir seine rechte Hand entgegenstreckt. Ich werfe der offerierten Geste erst einen argwöhnischen Blick zu und erwidere sie folgsam. Seine Haut ist warm und der Händedruck fühlt sich etwas zu weich an. Trotzdem mustere ich das einprägsame Gesicht des jungen Mannes. Die scharfen Kanten des Kiefers verleihen seinem Profil eine gewisse Ausdrucksstärke. Sein Mund ist schmal und ungewöhnlich klein. Er wirkt dadurch streng und ernsthaft. Es ist ein starker Kontrast zu seinen honigbraunen Augen, die so sanft und fürsorglich scheinen, dass es fast befremdlich wirkt. „Was kann ich für Sie tun, Detective?“, frage ich ruhig und sehe deutlich, wie sich beim Klang meiner tiefen Stimme seine Pupillen vor Überraschung weiten. „Ich.. ich brauche Ihre Hilfe. Ich habe einen Toten...", sagt er und stoppt. Der Satz wirkt seltsam unfertig. Auch, weil er keine weitere Erklärung beifügt. So brachial es klingt, aber Tote sind in unserem Metier nichts Ungewöhnliches. „Wenn Sie den aus der Leichenhalle mitgehen lassen haben, würde ich ihn schleunigst zurückbringen. Die Gerichtsmediziner verstehen da keinen Spaß", kommentiere ich locker und beabsichtigt schelmisch. In Pastors Gesicht regt sich nichts, stattdessen hält er mir die Akte hin, die er die gesamte Zeit über eisern festhält. Fakt eins. Spaß versteht er nicht. Ich ignoriere das dargebotene Papierensemble, lasse mich auf den Drehstuhl fallen und nach einem schweigsamen Augenblick lässt er seinen Arm seufzend sinken. „Am Montagabend vergangener Woche wurde Nicolá de Lucía bei einer gewöhnlichen Zeugenbefragung erschossen“, beginnt er ohne Aufforderung, „Die Beamten vor Ort sagten aus, dass sie, als sie an seiner Tür klopften, seltsame, laute Geräusche und Stimmen hörten. Niemand öffnete. Die Kollegen gingen nach unten um Verstärkung zu rufen, da sie Probleme vermuteten. Danach gingen sie wieder zurück ins Gebäude und versuchten in die Wohnung zu gelangen. De Lucia kam mit einem Metallgegenstand in der Hand heraus. Sie versuchten die Situation zu deeskalieren, aber er zeigte keinerlei Reaktion. Als er plötzlich losstürmte, schossen sie. Zu dem Zeitpunkt befanden sie sich bereits vor dem Gebäude, auf der Straße.“ Eine Wiedergabe wie nach dem Lehrbuch. Kurz und prägnant. Wenig ausgeschmückt mit den für mich interessanten Details. Fakt zwei. Er ist gewissenhaft. Detective Pastor atmet angeregt ein und wieder aus, dann streckt er mir die Akte zum wiederholten Mal entgegen. Diesmal greife ich danach und lege sie zur Seite, ohne einen Blick hinein zu werfen. Bisher hat er nichts gesagt, was mein Interesse weckt und was begründet, wieso er hier ist. Pastor lässt sich vom Desinteresse nicht beirren und macht einen Schritt auf mich zu. Er greift an mir vorbei zur Akte und schlägt sie demonstrativ auf. „Bitte, sehen Sie hin“, fordert er eindringlich. Ich gebe nach. Von einem an der Akte angehefteten Bild lächelt mir ein durchschnittliches, leicht fülliges Gesicht mit einem adretten Haarschnitt und breiter Nase entgegen. Nicolá de Lucia sieht aus, wie der Nachbar von nebenan. Pastor blättert weiter. Die Abbildung auf der nächsten Seite zeigt das genaue Gegenteil. Seine braunen Augen sind trüb. Die zuvor beleibten Wangen sind eingefallen. Das bleiche, im Tode verzerrte Gesicht sorgt dafür, dass sich mein Puls beschleunigt. Egal, wie oft ich tote Körper sehe, ich gewöhne mich nicht daran. Und sollte es auch nicht. Die Unruhe lasse ich mir nicht anmerken. „Habt ihr im Zwölften nicht genügend Personal oder warum sind Sie hier?“, hinterfrage ich seine Anwesenheit, ohne auf seine Ausführung einzugehen. Pastor holt tief Luft und ich lehne mich in meinem Stuhl zurück. „De Lucia war 39 Jahre alt. Er hat zuvor keine Anzeichen für etwaige psychisch instabilen Tendenzen gezeigt. Er hat zwei kleine Kinder. Drei und sechs Jahre alt. Maria und Carlo. Er ist seit über 15 Jahren im gleichen Unternehmen angestellt. Er ist ehrenamtlicher Betreuer in einer Auffangstation für gefährdete Jugendliche. Es gab nie Beschwerden und auf einem Mal wird er gewalttätig und geht grundlos auf Polizisten los?“ Geduldig höre ich mir die Fortsetzung an, dann zucke ich zur Unzufriedenheit des anderen Mannes mit den Schultern. „Das passiert... Viel zu oft, wenn Sie mich fragen und meistens hat es ganz logische Gründe. Vielleicht war es Ausdruck einer kürzlich auftretenden Geisteskrankheit. Depressionen. Überarbeitetsein. Paranoide Schizophrenie. Möglicherweise verursacht durch Drogen. Alkoholkonsum“, liste ich unaufgeregt die mannigfaltigen Möglichkeiten auf, die ein solches Verhalten hervorbringen. Als ich aufsehe, schüttelt der junge Detective energisch sein Haupt. Ich bin mir sicher, dass nichts von dem, was ich sage, ihn überzeugen könnte. Seufzend setze ich mich auf und entziehe ihm die Akte. Ich überfliege die ersten Seiten des Dokuments. Eine ruhmreiche Zusammenfassung des Lebens eines aufrichtigen, ehrlichen Bürgers. Keine Aktenvermerke. Nicht einmal Strafzettel. Der chemisch- toxikologische Befund ist unauffällig. Kein Alkohol. Keine handelsüblichen Drogen. Keine Medikamente außer etwas gegen Bluthochdruck, was nicht ungewöhnlich für das Alter und seine Gewichtsgruppe ist. Die Autopsie ist weitestgehend unauffällig ausgefallen und ich habe keine Ahnung, wieso mich der andere Mann damit behelligt. Pastor wartet geduldig, bis ich fertig bin. „Etwas an den Todesumständen ist eigenartig“, merkt Pastor mit fester Stimme an. Seine Augenbrauen ziehen sich stärker zusammen und seine eher friedlichen Gesichtszüge werden dunkel. Ich senke denen Blick zurück auf die Papiere in meinen Händen und lese ein paar der Passagen erneut. „Aus dem Bericht geht hervor, dass die ermittelte Todesursache ein Herz-Kreislauf-Stillstand durch Perforation des Herzmuskels infolge eines Schusswechsels ist. Fall geklärt.“ Trotz meiner ablehnenden Worte durchblättere ich die Papiere weiter. Etwas schnell und absichtlich unauffällig. Es sind bestimmte Begriffe, nach denen ich suche und ich finde sie in den Zeugenaussagen der Beteiligten. Hysterisch. Rasend. Überdreht. Aggressiv. Wie von Sinnen. In der Stellungnahme des ermittelnden Beamten wurde zusätzlich ein übelriechender Geruch hervorgehoben. Ich suche den Namen des Verfassers. Detective Luis S. Pastor. Keine Überraschung. Er war selbst einer der beiden Beamten, die de Lucia aufsuchten, um ihn zu befragen. Das erklärt einiges. „De Lucia schien nicht bei Verstand zu sein. Erklären sie mir bitte, weshalb fünfmal auf ihn geschossen werden musste, um ihn zu stoppen?“ Der Blick des anderen Detectives spricht Bände und selbst ich erkenne die Last der Erinnerung darin. Er ist besorgt und davon überzeugt, dass hier etwas nicht stimmt. Es ist ein unangenehmes Gefühl, was in einem nagt und das sich unaufhörlich durch die Gedanken frisst. Ich kenne es. Nur zu gut und mir sagte man stets, ich solle daran festhalten. „Auch dafür kann es verschiedene Gründe geben. Das Zusammenspiel von Adrenalin und...“ Meine Worte werden sofort von einem frustriert klingenden Ausruf begleitet, der lediglich meine eigenen Frustrationen schürt. „... und Kortisol...“ „Nein! Mannigfaltig oder nicht, das ist kein Warum!“, setzt er nach. Ein Warum? Wir kriegen selten ein Warum. Ich starre ihn lange stillschweigend an und stiert zurück. Fakt drei. Er ist willensstark. Damit ziehe ich eines der Tatortfotos hervor. Eine Nahaufnahme des Toten. Abgebildet ist die linke Hand, die eine Gabel hält. Fest umklammert in Totenstarre. Zwei Zacken des Metallbestecks sind verbogen. Aber mein Interesse gilt etwas anderem. Die Haut in meinem Nacken kitzelt. Es ist kaum mehr als ein kühler Schauer direkt entlang der Wirbelsäule. Doch ich weiß sofort, was er bedeutet und er wird schnell intensiver. Ich löse den Blick von den abgebildeten Fingerspitzen, während Pastor weitere Fakten offenbart. „Okay Pastor, hören Sie...“, unterbreche ich ihn. „Warum kommen Sie damit zu mir? Sie scheinen bereits zu ermitteln und ich nehme an, Sie sind ein hervorragender Detective des Police Departments und Stolz des 12. Reviers.“ Ein sarkastischer, aber leiser Laut durchrollt meine Kehle und ich ersticke ihn im Keim, in dem ich die Lippen aufeinanderpresse. Ich frage mich, ob es mein Vorgesetzter war, der ihn zu mir schickte. Doch warum sollte er? „Gestern am späten Abend gab es einem weiteren Vorfall. Alexander Bakow. 42 Jahre alt. Er rastete plötzlich an einer Tankstelle aus. Die Zeugen beschrieben ihn zuvor als rastlos, aufgebracht und irgendwie paranoid. Ich habe mit den Mitarbeitern gesprochen und sie sagten, er wirkte, als würde er verfolgt. Dabei war da niemand... Er wohnte im selben Block wie de Lucia. Sie waren praktisch Nachbarn.“ Die kurze Pause ist wirkungsvoll, aber unnötig. „Warum kommen Sie damit zu mir?“, wiederhole ich. Unverwandt schaue ich in die warmen honigbraunen Augen des anderen Detectives. Die Regungen in seinem Gesicht erzählen eine ganz eigene Geschichte und werden praktisch zum Hörbuch. Ich muss deutlich hinhorchen. Ich erkenne Wut. Verzweiflung. Trauer. Nichts davon ist für einen Polizisten angemessen oder hilfreich. Objektivität ist das A und O. Sein Kiefer bewegt sich energisch übereinander, ehe er endlich auf die vorige Frage antwortet. „Ich habe mir die Akte wieder und wieder angesehen und es ebenso oft in meinem Kopf abgespielt. Es ergibt einfach keinen Sinn! Es muss mehr dahinter stecken... aber Sie verlangen von mir, den Fall zu schließen und dem gestrigen Fall wird es genauso ergehen.“ Er stoppt, malträtiert seine Unterlippe und bringt seinen Fokus zurück auf mich. „Ich hörte, dass Sie... Sie hätten ein Faible für spezielle Fälle und würden gern tiefer graben als üblich. Vielleicht würden Sie mir helfen.“ Speziell ist nur eine nette Art für verrückt und aussichtslos. „Ich dachte... ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was ich dachte. Vielleicht will ich auch nur hören, dass ich nicht durchdrehe“, gesteht er aufrichtig. Ich beobachte einen Moment, wie er sich fast schon nervös durch die dunklen Haare streicht. Es lässt mich nicht kalt, aber für sowas bin ich genau der Falsche. „Das, was Sie in der Akte beschreiben, sind höchstwahrscheinlich Auswirkungen einer halluzinogenen Droge mit einer unbestimmten Zusammensetzung, die einfach nicht mehr oder noch nicht nachweisbar ist. Pilze. Badesalze…“ Pastor atmet tief ein und ich bin mir sicher, dass er für den Rest meines Monologes die Luft anhält. „Es gibt ja ständig neue Mischungen, die, sobald wir sie auf dem Schirm haben, durch etwas Neues ersetzt werden. Das geht heutzutage sagenhaft schnell. Bringen sie den Fall zur Drogenfahndung. Vielleicht wissen die, was gerade im Umlauf ist.“ „Wie frustrierend. Es waren keine Drogen!“, schmettert er meine Äußerung energisch ab, fast verzweifelt. Wieder rutscht seine Stimme etwas nach oben. „Es muss mehr dahinter stecken, als das … Die Muster beider Fälle sind sich zu ähnlich. Die Beschreibungen ihres Verhaltens zu ungewöhnlich. Es gibt zu viele Parallelen und... es sind keine Drogen.“ Für den letzten Teil hat er seine Ruhe wiedergefunden und ich frage mich weiterhin, was genau er von mir erwartet. „Schimmelsporen...“, schlage ich unbeirrt vor. Pastor beißt verzweifelt die Zähne zusammen und ich ahne, dass er mich innerlich bereits verflucht. Er hat sich etwas anderes erhofft, dessen bin ich mir sicher. Was auch immer es ist. Doch ich muss mich schützen. Pastor schiebt mir die Akte zu, so dass sie wieder vor mir liegt. „Bitte! Sehen Sie es sich einmal in Ruhe an.“ Abermals dieser Blick. Er paart sich mit der Verzagtheit seiner Worte. Ich seufze und streiche mir die feuchten Haare von der Stirn. Er ist echt hartnäckig und geht mir jetzt schon auf die Nerven. Fakt Nummer vier. Er denkt an etwas Bestimmtes, doch wagt nicht, es zu äußern. „Ich werde sehen, was ich machen kann“, teilen ich unverfänglich mit, um das Prozedere nicht hinauszuzögern. „Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich möchte die Fälle nicht abgeben. Ich werde sie weiterbearbeiten, mit oder ohne Ihre Hilfe“, stellt er ruhig aber bestimmt klar. Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und betrachte seinen angestrengten Blick, seine steife Körperhaltung und sehe nicht zum ersten Mal den unbezwingbaren Willen in ihm. „Die Autopsie von Alexander Bakow beginnt Morgen um halb acht", sagt er nach einem Moment der Stille. Der Detective ist bereits an der Tür, als er mich darauf hinweist. Ich blicke nicht auf, höre aber, wie seine Finger über das lackierte Holz des Türrahmens gleiten und kurz dagegen klopfen. Ein Abschiedsgruß. Ich schaue erst hoch, nachdem er verschwunden ist und starre direkt an die gegenüberliegende Wand des Flurs. Dort zieht sich ein prägnanter Riss vom Boden bis zur Mitte. An einigen Stellen ist die Farbe abgeplatzt und legt den Putz darunter frei. In manchen stillen Nächten könnte ich schwören, dass der Spalt arbeitet. Dass sich die Wände gegeneinander bewegen und er immer größer wird. So, als würde er es darauf anlegen, mich irgendwann zu verschlingen. Ich fixiere ihn, folge den ungleichmäßigen Furchen bis zur Spitze und empfinden mit jeder vergehenden Sekunde, wie meine Fingerspitzen intensiver pulsieren. Auch ich spüre, ebenso wie Pastor, dass etwas bei den Vorfällen nicht stimmt. Unwillkürlich ziehe ich mir die Akte heran. Zwei Mal tippe ich gegen das unebene Papier, bevor ich sie aufklappe und bis zu den Aufnahmen der Autopsie blättere. Ich suche nach einem Bild, das beide Hände zeigt, und finde eins. In diesem wurden sie gestreckt, nachdem man die Gabel entfernte. Diesmal erkennt man es deutlicher. Die Kuppen sind pechschwarz. Ich lehne mich im Stuhl zurück, streiche mir über den Unterkiefer und lasse ihn behutsam rotieren. Wie ein Mantra, bis er knackt. Ich beende meine effektlose Meditationsmethode und kippe den Kopf nach hinten in den Nacken. Ich bin müde, aber Pastors Worte lassen mich einfach nicht los. Genauso wenig wie die Aufnahmen des toten Mannes. Die schwarzen Fingerkuppen sind ein Zeichen für fortgeschrittene Verwesung, was jedoch ungewöhnlich ist, weil die Autopsie nur einen Tag nach Eintritt des Todes stattfand. Der Leichnam wurde gekühlt und damit der Verwesungsprozess gestoppt. Pastor hat Recht. Es kann mehr dahinter stecken als simpler Drogenkonsum. Das lehren mich jahrelange Erfahrung und die feinen Härchen in meine Nacken, die seit Pastors Weggang umherschwingen wie Seegras in Strömungsschnellen. Ich richte mich auf und zucke zusammen als ich mich dafür, unnötigerweise mit den Händen auf den Seitenlehnen abstütze. Ich lasse die Hand vorsichtig kreisen, spüre bei der Innendrehung ein reißendes Ziehen und wiederhole es in die andere Richtung mit demselben Effekt. Es mündet in einem fahlen Pochen. Vielleicht sollte ich mir doch eine dieser Schienen besorgen, um das Gelenk ruhigzustellen. Mit stetig umher wandernden Gedanken ziehe ich erneut den Pergamentabriss hervor. Ich entfalte das Stück Papier vorsichtig mit den Fingern. ´Emeth´, echot mir durch den Kopf. Übersetzt bedeutet es das Siegel der Wahrheit. Durch den fehlenden ersten Buchstaben steht dort nur noch der Begriff für Tod ´Meth`. Ich spüre die bedeutungsvolle Schwere des notierten Wortes und verstehe genau, was es erschaffen kann und was es anrichtet. Immerhin bin ich diesem Ding am Abend in all seiner Pracht begegnet. Einem Golem. Einem menschenähnlichen Wesen der jüdischen Mythologie geformt aus Lehm. Stumm und mangels Verstands, aber mit gewaltiger Größe und Kraft. Er tut, was man ihm aufträgt, und das ohne Rücksicht, denn des eigenen Entscheidens ist er nicht fähig. „Damast...“ Zuerst höre ich das leise Klopfen, doch erst bei meinem Namen sehe ich auf und direkt in das fleischige, düstere Gesicht meines Vorgesetzten, der unaufgefordert eintritt. Captain Francis Lamark. Er ist ein stattlich gebauter Franko-Amerikaner, mit kongolesischen Wurzeln und einem auffälligen französischen Akzent, den er bestmöglich versucht zu unterdrücken. Er hat so tiefe dunkelbraune, fast schwarze Augen, dass man darin sein Spiegelbild erkennt. „Wo stehen wir im Fall Patrick Duffort?", erkundigt er sich unaufgeregt nach dem toten Obdachlosen. Er setzt sich auf den schmalen Holzstuhl vor dem Schreibtisch und schlägt die langen, massiven Beine übereinander. Das Material unter ihm ächzt. Seine Hände legt er in seinem Schoß ab, jedoch nicht, ohne vorher sein Jackett zu richten. Wie jedes Mal haftet sich mein Blick auf die vernarbte Haut seiner Finger. Ich habe keine Ahnung, wo die Narben herstammen, und werde es vermutlich nie erfahren. Ich werde auch niemals danach fragen. „Nun?“, fordert er mich erneut auf und verzichtet auf jegliche Form weiterer Höflichkeiten. Ich löse meinen Blick von seinen Händen, greife das Pergamentpapier und schiebe ihm dieses zu, ohne etwas zu sagen. Er braucht keine Erklärung, denn er weiß, was es bedeutet. Auch er versteht die übriggebliebenen Buchstaben und ich sehe, wie sich seine dunklen Augen auf den Abriss haften. Trotzdem gebe ich ihm eine kurze Zusammenfassung der Vorkommnisse. Die überraschenden Details, wie meine lebendige beinahe Beerdigung und das schmerzende Handgelenk, spare ich aus. „Und der Verursacher?“, erfragt er, lehnt sich zurück und streicht sich eine Falte seiner Hose glatt, „Wen hat es beschützt?“ Ich atme unterdrückt ein, zögere meine Antwort bewusst hinaus. Natürlich weiß ich, wer den Golem beschworen hat und wieso er es tat. Aus Furcht. Schlicht und einfach. Doch der Golem sollte nicht ihn selbst schützen, sondern seine schwangere Tochter. Ich hadere, denn niemand ist geholfen, wenn ich es preisgebe. „Das konnte ich nicht mehr nachvollziehen“, antworte ich ausweichend. Das Schnaufen, welches laut von seinen Lippen flieht, signalisiert seine Unzufriedenheit. Er glaubt mir nicht und dennoch lässt er es darauf beruhen. Wen sollten wir anklagen? Wie sollten wir es begründen? Die großen Hände meines Vorgesetzten stemmen sich stabilisierend auf der Tischkante auf, während er sich erhebt. „Klären Sie es dennoch...“, mahnt er mich an. Ich nicke verstehend. „Und gehen Sie nach Hause, Damast." Es ist nur eine andeutende Bewegung seiner Hand. Mehr ein wellenartiges Auf und Ab seiner Finger, welches mir meine derzeitige Garderobe aufzeigt. „Sir, sagt Ihnen der Name Luis Pastor etwas?“, erfrage ich und äußere damit meine Vermutung, dass er Pastor zu mir geschickt hat. „12. Revier“, antwortet er ruhig und bleibt an der Tür stehen. Das soll mir als Erklärung reichen. Er kennt ihn und mehr werde ich nicht erfahren. „Damast... keine nächtlichen Ausflüge mehr ohne Dienstwaffe.“ Ohne ihm zu antworten, blicke ich zu dem verschlossenen Schrank, dessen Schüssel ich schon vor einer Weile verloren habe. Ich trage meine Waffe kaum. Selbst, wenn ich es müsste. Zudem gibt es selten etwas, worauf ich sie richten könnte, denn die Dinge, die ich jage, sind oft nicht aus Fleisch und Blut. Manchmal sind sie nicht mal real. Lamark verschwindet und ich bleibe zurück. Nach nur kurzer Zeit im Streifendienst hat er mich vor drei Jahren hierhergeholt. Ich habe nie erfahren, woher er von meinem speziellen Talent weiß und ich frage ihn nicht danach, denn dieser Obhut verdanke ich, dass ich nicht zurück in mein vorgesehenes Leben musste. Ich beschritt den dargebotenen Pfad ohne viel darüber nachzudenken und ohne zurückzublicken. Ich sauge staubige, schwere Luft in meine Lungen, huste und greife erneut nach der Fallakte. Wieder blickt mir das Bild Nicolá de Lucias entgegen. Lächelnd. Freundlich. Lebendig. Ich lese jedes Wort der Akte mit ausreichender Präzision und manche Absätze ein zweites oder drittes Mal. Als ich fertig bin, greife ich per Intranet auf die digitale Akte des zweiten Falls zu. Alexander Bakow. Auch sie studiere ich ausgiebig. Allerdings ist sie durch die fehlende Obduktion nicht vollständig. Das, was schon vorhanden ist, zeichnet ein erstes Bild. Lange betrachte ich die Fotos der Toten und jedes Mal gleitet dieser feine elektrische Schauer über meinen Nacken. Gedanklich fasse ich zusammen, welche Informationen ich habe. Doch es reicht nicht aus, um eine Erklärung zu kommen. Sie haben im Grunde keine Gemeinsamkeiten. Außer die des gleichen Wohnviertels, aber entgegen Pastors Behauptung wohnen sie mehrere Blocks auseinander, was dafür sorgt, dass sich die alltäglichen Anlaufpunkte, wie Supermärkte, Waschsalons und anderes, vollkommen unterscheiden. Ist es doch ein schiefgelaufenes Drogenexperiment? Vielleicht war es eine Krankheit? Ein fleischfressendes Bakterium, wie nekrotisierende Fasziitis. Eine seltene, aber dennoch auftretende Streptokokkeninfektion. Zugegebenermaßen wären die Symptome andere. Auf den Bildern des ersten Toten erkenne ich nirgendwo partielles nekrotisches Gewebe und abgesehen von den fünf Einschusslöchern wirkt der Körper des Mannes unversehrt. Keine offenen Wunden. Keine blutigen Abschürfungen. Die Farbe seiner Haut ist grau, blassgrün und wieder sind es die schwarzen Fingerkuppen, die mich innehalten lassen. Auch die starken Leichenflecke an den Unterschenkeln und Füßen zeigen, dass sich das Blut im Aufrechten absetzte. Sie entstehen für gewöhnlich zwanzig bis dreißig Minuten nach Eintritt des Todes. Diese hier müssen sich gebildet haben, während er noch rumlief. ~Fortsetzung folgt~ Kapitel 2: Mit dem Wissen um Wahrheit und Tod - 2 ------------------------------------------------- Folge 1 ~Teil 2 - Mit dem Wissen um Wahrheit und Tod~ Mit kreisenden Gedanken bleibe ich noch etwas länger sitzen, inspiziere wieder und wieder die aufgeschlagene Akte und weiß letztlich nicht, was ich suche. Anzeichen sind da, keine Frage, aber mir fallen allerhand andere Ursachen ein, die zu derartigen ungewöhnlichen Verhalten führen können. Nicht wenige davon habe ich dem engstirnigen Detective vor Minuten benannt. Als ich zum zigsten Mal die Bilder hervorhole und es merke, lege ich sie ohne einen Blick darauf zu verwenden. Ich drehe mich im Kreis. Die Anzeichen sind da, also, worauf warte ich? Den Beutel mit den schmutzigen Klamotten werfe ich mir über die Schulter, eher nach kurzem Zögern die Akte greife und daraufhin das Revier verlasse. Bevor ich an meinem Auto ankomme, dämmert es längst. Überall tanzen Schatten in den verschiedensten Farben. Beim Betreten meiner Wohnung lasse ich das Licht ausgeschaltet. Der kleine Flur, von dem aus sich der Hauptbereich öffnet, wird durch das große Fenster und den Stadtlichtern im Wohnzimmer partiell mit beleuchtet. Trotzdem ist der Raum relativ dunkel. Wieder einmal ist die Straßenbeleuchtung vor dem Haus defekt. Doch ich lasse mich nicht beirren, denn ich habe Vertrauen in die Dunkelheit. Auch wenn es eigenartig klingt. Sie hat mir nie etwas ausgemacht und wenn ich ehrlich bin, dann betrachtete ich sie stets freundschaftlich. Nicht zuletzt, weil ich in sie hinein geboren wurde. Doch, das ist eine andere Geschichte. Ich bewege mich mühelos durch die abgedunkelten Räumlichkeiten. Jeder Winkel ist mir bekannt. Jeder Schritt ist wissend. Ich begebe mich in die anschließende offene Küche und lasse Schlüssel und Handy auf der Kücheninsel liegen. Der Blick in den Kühlschrank unbefriedigend, daher mache ich kehrt, laufe gradewegs auf mein Bett zu und falle einfach hinein. Es ist praktisch, alles in einem Raum zu haben. Die Schlafstätte umfängt mich mit dem Duft von unruhigen Träumen und stickigen Nächten. In der letzten Zeit nicht ungewöhnlich, nicht mal unerwartet. Es ist nur ein Gefühl. Ein inneres Beben. Nichts Konkretes. Doch es lässt diese Anspannung in mir entstehen. Wenig später drehe ich mich vom Bauch auf den Rücken und starre gen Decke. So, wie ich es in den letzten Nächten öfter praktiziert habe. In dieser Position fühlt es sich unvermittelt an, als würde jemand, mit den Ausmaßen eines Elefanten auf meinen Gliedmaßen sitzen. Die Anstrengungen der vergangenen Tage machen sich bemerkbar und brechen über mir ein, wie es der Golem getan hat. Ich bin müde, einschlafen kann aber nicht, denn ich sehe dauernd die schwarzen Fingerspitzen vor mir. Den trüben Blick seiner einst weitgeöffneten Augen. Seufzend drehe ich mich auf die Seite zurück und mache es so lange, bis ich auf die Wand an der einen Seite des Bettes stoße. Das Ganze vollführe in die andere Richtung, bis mich die Rückseite des Sofas stoppt. Hätte ich dabei die Bettdecke mitgenommen, wäre ich jetzt ein perfekter Burrito. Ächzend rolle ich mich auf den Rücken zurück. Es ist zu früh, um zu schlafen. Teile meines Gehirns sowie ein Großteil meines Körpers legen lauten Protest ein, während ein anderer erneut einen Sprint beginnt. Am nächsten Morgen stehe ich, trotz schlafloser Nacht und eines kurzen Abstechers zur Apotheke, pünktlich vor dem gerichtsmedizinischen Gebäudekomplex. Dr. Nathanael Wariks Reich. Der Bezirksgerichtsmediziner ist ein Mann Mitte dreißig. Groß. Schlank. Seine Abschlüsse alle samt Summa cum laude. Seine Reputation ist bemerkenswert und seine Faszinationen umfangreich. Er gehört zu diesem gewissen Menschenschlag, die alles wissen oder zu mindestens schon mal darüber gelesen haben. Er besitzt das Talent, niemanden merken zu lassen, ob er die Dinge tatsächlich weiß oder nur vermutet. Damit erzeugt er eine Sicherheit, die ich anregend finde. Zudem lässt er in seiner Freizeit Drachen steigen, was im ersten Moment gar nicht zu der geerdeten Ausstrahlung passt und trotzdem, das Bild vollkommen abrundet. Dieses Detail erfuhr ich, als ich ihm eine halbe Stunde dabei zusah, wie er mir, seiner Meinung nach, die perfekte Tasse Tee herstellte. Letztendlich habe ich es nicht fertiggebracht, ihm zugestehen, dass ich meinen Tee am liebsten heiß mag und mit Honig statt mit Milch. Es war auch egal, denn ich genoss die unbeschwerte Kameradschaft, die er mir zuteilwerden ließ, da der Stand bei den sonstigen Kollegen nicht der Einfachste ist. Kaum jemand kommt mir in den gespenstisch hallenden Gängen entgegen. Wenn nicken sie mir lediglich höflich zu und meiden einen genaueren Blick. Den Ausweis trage ich diesmal mit einem Bändchen um den Hals und habe vorbildlich die medizinische Manschette angelegt, die mein ramponiertes Handgelenk schützt. Es schmerzt trotzdem. Pocht und bubbert in einem Takt von Taylor Swifts ´Shake it off´ und ich bin mir sicher, dass es das macht, um mich zu ärgern, und nicht, weil ich das Lied eben im Radio gehört habe. Ich bleibe im Flur vor dem Obduktionssaal 3 stehen und schaue auf die Uhr. Dr. Warik ist bereits zugegen. Durch die milchigen Scheiben hindurch beobachte ich, wie der Mann in blauer OP-Kleidung in seinen Gefilden herumwandert. Ich erkenne ihn nicht deutlich und das muss ich nicht, um seine Tätigkeiten erahnen zu können. Seine Bewegungen sind geprägt durch eine schwunghafte Unbestimmtheit, auch wenn sie im selben Moment seltsam gezielt erscheinen. Der Doktor ist jemand, der lieber schlendert statt zu gehen. Der gern unvermittelt stehenbleibt und den Augenblick auf sich wirken lässt. Für so etwas habe ich nie die Ruhe. Dr. Warik begutachtet Instrumente und befestigt Röntgenaufnahmen, die er für die Autopsie vorbereitet. Für gewöhnlich haben die zuständigen Rechtsmediziner eine auffällige Riege an Assistenten, die strebsam um sie herumwuseln. Heute kann ich niemanden sehen. Nicht einmal den zweiten Herrn Doktor. Philipp Hadrow. Er ist der leitende Pathologe und die helfende Hand des anderen Mediziners. Diesmal scheint er nicht im Haus zu sein. Die Zwischentür zum gerichtsmedizinischen Gebäude fällt mit einem lauten Geräusch ins Schloss und ich höre dem Echo dabei zu, wie es sich durch den gekachelten Flur auf mich zu bewegt. Nach einem Moment vernehme ich auch Schritte, die näherkommen, gefolgt von einem leisen Sohlenquietschen. „Sie sind da.“ Die Ruhe in seinen Worten sagt mir, dass er sich über meine Anwesenheit nicht wundert. Er weiß genau, dass seine halbgaren Versuche am gestrigen Nachmittag mein Interesse geweckt haben. Mein Blick fällt auf seine lauten Schuhe und wandert nur langsam höher. Sein Gesicht im Profil. Jung. Markant. Streng, aber offen. Eine eigenartige Mischung. Es sind seine Augen. Sie sind warm und tragen eine seltsame Besorgnis. Wahrscheinlich lässt er sich aus diesem Grund den Bart stehen. Er übertüncht und nimmt seiner Mimik dennoch nicht die Unerfahrenheit. „Wollen wir?“, frage ich, anstatt meinerseits eine Begrüßung hervorzubringen. Pastor hält seinen Ausweis an den Erkennungssensor und lässt mir den Vortritt. Ich bemerke sein Zögern und kann mir ein feines Grinsen nicht verkneifen, als ich an ihm vorüber durch die Tür in den Autopsieraum gehe. Die kühle Note von Desinfektionsmitteln prägt den Raum, sobald wir ihn betreten. Der Verwesungsgeruch hingegen ist nur ein feiner Hauch entlang der vielen chemischen Gerüche, die hier aufeinandertreffen. Die Mischung verursacht mir wie immer eine leichte Gänsehaut, die mich daran erinnert, wie es war, als ich zum ersten Mal diese Einrichtung betrat. Damals lag eine junge Frau auf dem stählenden Tisch und das Gefühl von Elektrizität auf meiner Haut verschwand erst wieder, als ich das Gebäude verließ. Es war ein Suizid, den zehn Tage lang niemand bemerkt hatte. Ein junges Leben und keine Sterbensseele schien es zu interessieren. Das war damals ein stilles Zeichen für mich. Ein Aufhorchen. Unser Eintreffen bleibt nicht unbemerkt und der Mediziner blickt von der geöffneten Akte auf, die er an seinem Schreibtisch durchblättert. Sein erfreuter Blick steht in einem deutlichen Widerspruch zu dem Anlass dieses Zusammentreffens. „Detectives, pünktlich, wie ein Uhrwerk.“ Ich murmele den Titel des Mediziners als Begrüßung, ziehe mir ein paar Gummihandschuhe aus dem Spender am Eingang und überlasse das weitere Reden meinem Kollegen. Pastors Blick fixiert den toten Leib auf der Barre und seine nachfolgende Reaktion ist nicht mehr, als ein unverständliches Gemurmel, was dennoch die Gesprächslaune des Doktors anregt. Interessiert beobachte ich den anderen Detective. Ich kann deutlich sehen, wie sich die Frequenz von Pastors Puls erhöht, wie die Vene an seinem Hals hervorsticht. Würde die Stimme des Rechtsmediziners nicht unentwegt durch den kühlen Raum hallen, dann würde ich sein Blut garantiert rauschen hören können, würde das Echo seines Herzschlags über die Luft hinweg spüren. Seine Abneigung ist klar zu erkennen, so, als hätte man es ihm mit Druckschrift aufs Gesicht gepinselt. „…sie wissen ja, wie das ist. Die Leute sind verrückt.“, endet der redefreudige Monolog des Doktors und er gibt zum Abschluss einen amüsierten Laut von sich, der einem kichernden Schluckauf ähnelt. Ich habe schon vor geraumer Zeit aufgehört, ihm zu folgen, weshalb ich nicht verstehe, wieso er lacht, aber das spielt keine Rolle. Ich muss nicht antworten, denn Pastor ist es, der ein eher nervöses Lächeln hervorbringt und damit Reaktion genug zeigt. „Wollen wir beginnen?“, schlägt der Mediziner vor. Er schaltet das Oberlicht an, welches die weiße Abdeckung über dem regungslosen Leib aufleuchten lässt. Behutsam hebt er den Stoff vom Körper und unwillkürlich huscht meinen Blick zu dem anderen Detective. Ich sehe die Anspannung, welche durch seine Blutbahnen zirkuliert und die Unruhe in die kleinsten Regionen seines Nervenzelts transportiert. Für eine Hundertstelsekunde hält er den Atem an und sein Adamsapfel hüpft energisch auf und ab. Sein Gesicht, seine gesamte Erscheinung spricht Bände. In unserem Job gibt es nur wenige Kollegen, deren Befinden derartig offensichtlich zu erkennen ist. Die Meisten haben im Laufe der Jahre ein Pokerface entwickelt. Pastor ist nicht lange genug dabei. Ich fokussiere mich wieder auf den Leichnam, während Dr. Warik sein Aufnahmegerät einschaltet und die Namen der Anwesenden nennt sowie der Daten des zu Obduzierenden. Er beginnt mit der Beschreibung des vor uns liegenden Korpus. Größe, Gewicht, Konstitutionstyp, Ernährungszustand und Hautfarbe. Blassgrün, echot durch meinen Kopf. Dunkles, stumpfes Haar. Von außen nach innen. So ist der reguläre Ablauf einer Obduktion. Der Tote hat keine besonderen Charakteristika, wie Tattoos oder Narben. Keine prägnanten Leberflecke. Warik lokalisiert die Totenflecke und verliert dabei zum ersten Mal die Routine. Der Körper weist stark ausgeprägte Leichenflecke auf. Dunkelrote bis bläulich violette Verfärbungen. Vor allem an den unteren Extremitäten, den Füßen und den Waden. Ebenso, wie an den Unterarmen und Händen. Doch nirgendwo sind die hellroten Ansammlungen zu erkennen, die sich normalerweise durch die kühle Lagerung am Rücken des Toten bilden. Überhaupt sind die Totenflecken nicht dort, wo sie bei einer im Liegen gestorbenen Person sein sollten. Drei Augenpaare richten sich auf den Torso Bakows, der mit vier deutlichen Einschusslöchern gezeichnet ist. Ein weitere findet sich kurz oberhalb des linken Knies. Dies muss der erste Schuss gewesen sein. Den Angreifer ohne tödliche Gewalt außer Gefecht setzen. So steht es im Handbuch. Androhen. Warnschuss. Schuss. Dr. Warik beschreibt unbeirrt die Position und die Form der Eintrittswunden. Eine ist umfassend dimensioniert. Sie stammt von dem letzten Schuss. Zu dem Zeitpunkt war er nah an den Polizisten herangekommen. Pastor rührt sich auch jetzt keinen Millimeter und steht exakt an der Stelle, wo er vorhin stehengeblieben war. Er hat es nicht mal an den Obduktionstisch herangeschafft. „Wann, sagten Sie, war das todherbeiführende Ereignis, Detective?", fragt Warik und blickt nicht auf, sondern verweilt konzentriert an einem bestimmten Punkt des Leichnams. Ich sehe zu Pastor, als dieser nicht sofort antwortet, und bin mir sicher, dass er um eine Nuance bleicher geworden ist. Sein Adamsapfel hüpft mehrmals auf und ab, ehe er ein paar Worte hervorbringt. „Vor zwei Tagen." Er spricht so schnell, dass er die Hälfte verschluckt. „Der Leichnam weist eine weit fortgeschrittene Verwesung auf“, stellt der Mediziner ruhig fest, „Sie ist deutlich inkohärent zu den angebenden Daten ihres Berichts." „Wie meinen Sie das?", fragt Pastor und der Doktor sieht auf. „Sehen Sie diese Verfärbungen, hier?“ Er deutet auf die Unterschenkel des Toten und wartet nicht darauf, dass Pastor näherkommt. „Für gewöhnlich tritt ein derartiges Spektrum bei den Verfärbungen erst nach einer Liegezeit von etwa einer Woche auf. Ihr Toter starb vorgestern. Ebenso scheint es keinerlei Verlagerung der Totenflecke zu geben, dabei verweilt er schon eine Weile in der Horizontalen. Und sehen Sie hier?" Der Doktor greift nach dem Unterarm des Verstorbenen, hebt ihn an und im selben Moment knickt bereits die Hand ab. Im Raum herrscht Stille und der Mediziner schaut abwechselnd zu mir und zu meinem Kollegen. „Keine Leichenstarre“, fährt er letztlich fort, nachdem er merkt, dass wir keinerlei Interesse daran haben, aus seinem Monolog einen Dialog zu machen. „Wenn ich nicht selbst das Datum der Tötung in den Akten gelesen hätte, hätte ich diesen Körper in einen Fäulnisstadium von einer Woche aufwärts geschätzt. Das bestätigt mir auch das Fehlen der Leichenstarre. Diese tritt für gewöhnlich in den ersten zwei bis drei Tagen auf und lässt dann wieder nach. Aber Sie sehen ja selbst. Entweder ist sie schon vorüber oder sie setzte gar nicht ein.“ Die Stimme des Mediziners wirkt seltsam angeregt, durch diese sonderbaren Ungereimtheiten. Für mich ist klar, dass der Körper von Alexander Bakow seit mehr, als einer Woche verwest. Doch er starb vorgestern. Ich sehe zu meinem Kollegen, dessen Augen einen Punkt unterhalb der Bahre fixieren. Mittlerweile bin ich mir nicht sicher, ob er regelmäßig atmet oder jeden Moment umfällt. Der Arzt tastet sich über das weiche Gewebe der behaarten Brust, stoppt an einer der schwarzgetünchten Einschusswunden und greift, ohne hinzusehen, nach einer schmalen Pinzette. „Was haben wir denn da?", murmelt der Gerichtsmediziner, während er etwas kleines Schwarzes aus dem Loch zieht. Erwartungsgemäß mache ich einen Schritt auf den Tisch zu und lehne mich über den toten Körper. Das, was Warik festhält, scheint zu zucken. Calliphoridae. Eine ausgewachsene Schmeißfliege. Er hält sie vorsichtig zwischen den Zangen der Pinzette und neigt sie ins Licht. Danach legt er das halbtote Tier auf einer flachen Glasschale ab, die neben ihm auf dem Metallwagen stehen und führt diese zu der großen Lupe. „Wo kommst du denn her, kleiner Kerl?“, murmelt er der Fliege zu und dreht die Schale in seiner Hand ein paar Mal hin und her, „Äußerst interessant.“ Finde ich ebenfalls, sage aber nichts. Normalerweise sollte die Leiche keine Insektenaktivität aufweisen. Das scheint auch Pastor zu begreifen. Es kann ein Zufall sein. Während wir das Tier auf der Glasschale begutachten, kriecht eine weitere Schmeißfliege aus dem Einschussloch, krabbelt über den leicht geblähten grünscheinenden Bauch und schwirrt gegen die Deckenbeleuchtung. Das unverkennbare Plopp-Geräusch, was der aufprallende Körper des Insekts verursacht, scheint in der entsetzten Stille laut und einprägsam. „Was zum...“, setzen Warik und Pastor gleichzeitig an. Sie stoppen ebenso synchron. Ich folge der Fliege mit den Augen und spüre den feinen Schauer, der sich über meinen Nacken arbeitet, nur zu deutlich. Sie landet auf den Leichnam und als hätte es der Arzt geahnt, stülpt er sogleich ein Becherglas über das Tier und setzt es so fest. „Das ist... das... wie kann... das kann doch alles nicht wahr sein“, entflieht Pastor aufgeregt. Die Fliege gab ihm den Rest. Er ballt seine Hände zu Fäusten, entschuldigt sich und macht auf dem Absatz kehrt. Ich sehe ihm nicht nach, als dieser den Autopsieraum verlässt, aber höre nur allzu deutlich das laute Raunen des aufgebrachten Polizisten, ehe sich die Tür schließt. Der Rechtsmediziner lässt sich davon kaum beeindrucken. Ich lausche seinen restlichen Ausführungen, nicke, als er seine Gedanken und Verwunderungen äußert und bekunde mein Interesse für den Bericht nach Abschluss der Obduktion. Ich bin sehr sicher, dass auch der innere Zustand der Leiche nicht mit dem bekannten Todeszeitpunkt übereinstimmen wird, doch mit ansehen muss ich es nicht. Seiner Frage, warum ich anwesend bin, obwohl ich nicht im Bericht auftauche, weiche ich geschmeidig aus, bedanke mich bei dem aufgeregten Mediziner und suche den anderen Detective. Ich finde Pastor im Aufenthaltsraum mit einem Becher Kaffee in der Hand, der scheinbar schon kalt geworden ist. Hier ist es so still, dass ich ihn atmen hören kann. Ein Haus der Stille in vielerlei Hinsicht. Falls er mich bemerkt, sieht er nicht auf. „Sie haben ihn gekannt, nicht wahr? De Lucia meine ich“, erkundige ich mich und bleibe neben ihm stehen. Ich überfliege das Angebot des Getränkeautomaten und irritiert verweile ich bei der Tomatensuppe. Suppe im Kaffeeautomat? Währenddessen spiele ich unablässig mit dem Plastik des Ausweises, der um meinem Hals hängt. Pastors Blick bohrt sich in meine Wange, ohne etwas zu erwidern. Ich sehe endlich zu ihm. Für einen Moment sind seine honigbraunen Iriden gefüllt mit all den Gefühlen, die er hinter der professionellen Fassade des Polizisten verbergen will. Sie sind ein intensives Blitzen und ein lautes Versprechen. Sein Kiefer spannt sich an, weil er weiß, was ich anführen werde. Seine persönliche Betroffenheit wird die Ermittlungen beeinflussen und egal, was er sagt oder denkt, was nicht passieren wird, es geschieht bereits. Er weiß es. „Vikar ist ein ungewöhnlicher Name“, bemerkt er, ohne auf meine Frage einzugehen und wendet sich ab. „Und Luis sehr herkömmlich“, kontere ich ungerührt. Tatsächlich ist es sein Nachname, der mich schon bei unserem ersten Aufeinandertreffen aufhorchen ließ. Er reagiert mit einem Schnauben. „Ja, ich kannte ihn“, beginnt mein Kollege die Beziehung zu einem der Toten zu offenbaren, „Nur flüchtig, aber... es spielt keine Rolle.... Er leitete den Jugendverein der St. Katharinen Kirche.“ Das erwähnt er nicht zum ersten Mal. Sein Blick wendet sich ab und er wägt ab, welche Erinnerungen er als Nächstes preisgibt. Ich kann sehen, wie schwer es ihm fällt und als er abwehrend seine Arme vor der Brust verschränkt, unterstricht er es zusätzlich. „Wir sind miteinander ins Gespräch gekommen als ich vor Wochen ein paar alte Sportutensilien dort abgab...“ Er stoppt wegen eines weiteren Gedankenfetzens. Ein Schnaufen, gefolgt von einem Lächeln. „Er war ein guter Mensch“, erklärt er, ehe sich der Gedanke verflüchtigt. Ein guter Mensch, wiederhole ich still. Niemand hat etwas anderes behauptet und mich muss er nicht davon überzeugen. Für mich spielt es keine Rolle, denn gut ist relativ. Ich erwidere nichts darauf und wende mich stattdessen zur Tür. Pastor hält mich zurück und der Kaffee in seinem Becher schwappt bedenklich nahe zum Rand. „Was denken Sie könnte geschehen sein und kommen sie mir nicht wieder mit Drogen. Was wissen Sie?“ „Ich weiß nicht mehr als Sie“, entgegne ich und es ist die Wahrheit. Ich habe Vermutungen. Mutmaßungen. Irrwitzige Ideen gespeist durch einen leisen Verdacht. Mehr nicht und diesen kann ich keineswegs mit ihm teilen. Noch nicht. Vielleicht niemals. Wer weiß. Er würde es nicht glauben. Er will keine Ausflüchte hören, aber gewiss auch keine Wahrheiten. Ich sehe auf den Punkt unserer Berührung, betrachte die Verbindung und spüre seinen festen Griff. Schweigsam, aber unmissverständlich, bis er seine Hand zurückzieht. Er räuspert sich und ich bin es, der zu sprechen ansetzt. „Vielleicht sehen Sie mehr darin als es ist, weil...“ „Weil ich ihn persönlich kannte? Ja, ja. Ich sage Ihnen deutlich, dass es das nicht ist.“ Er probiert einen Schluck aus dem Pappbecher, um gleich darauf die Hand wieder sinken zu lassen und befördert das kalte Getränk in den Mülleimer. Danach wendet er sich mir zu. Seine Augen sind der Spiegel seiner aktuellen Hilflosigkeit. „Hören Sie, Damast, ich weiß, dass mein Gefühl für Sie keine Rolle spielt und wenn ich könnte, dann würde ich es besser erklären, aber das kann ich nicht.“ Ich glaube ihm. „Ich habe Ihren Blick da drin gesehen und...“, fährt er fort. Ein weiteres Mal beißt er die Zähne zusammen und versucht, die richtigen Worte zu finden. Ich weiß nicht, welchen Ausdruck er angeblich bei mir erkannt hat. „Irgendwas ist sonderbar. Ich spüre es.“ Pastor fixiert einen Punkt in naher Ferne, der nur für ihn selbst eine mögliche Hoffnung verspricht. Ich ziehe mein Handy hervor, schaue auf die Uhr. Zum einen, weil ich nicht einschätzen kann, ob unser Gespräch fortgesetzt wird und zum anderen für die wirkliche Uhrzeit. Die Bibliothek öffnet erst in zwei Stunden und mein eigenes Repertoire an mythischer Literatur ist bei weitem nicht umfangreich genug, um hier ins Blaue hineinzulesen. Pastor scheint sich wieder zu fangen, denn auch er wirft einen Blick auf sein Telefon, streicht sich durch die dunklen Haare und nickt. „Danke, dass Sie bei der Autopsie dabei waren. Ich warte noch die ersten Einschätzungen ab.“ Er deutet in die ungefähre Richtung, in der auch die Obduktionsräume liegen und holt weitere Münzen aus der Hosentasche, um sich einen neuen Kaffee zu ziehen. „Informieren Sie mich, wenn Sie den vollständigen Bericht haben“, entgegne ich und erhalte keine Reaktion. Der Schreibtischstuhl gibt deutlich unter mir nach, als ich mich darauf fallen lasse, wie der erschöpfte Haufen Fleisch, der ich bin. Pastor hat recht. An den Fällen ist etwas eigenartig. Das bestätigt auch die Autopsie. Nur was? Noch habe ich keinen geeigneten Ansatzpunkt gefunden, mit dem ich meine Ermittlungen beginnen kann. Deswegen bin ich ins Büro gefahren. Ich presse meinen Oberkörper in die Rückenlehne und kippe nach hinten, sodass den Blick gen Decke wandert. Wieder füllen sich meine Gedanken mit den Bildern der Toten. Sie verwesten bei lebendigem Leib, was darauf hindeutet, dass sie zu Lebzeiten nicht mehr so vital waren, wie es schien. Doch wie ist das möglich? Ein Fluch. Besessenheit. Wieso hat es niemand bemerkt? In den Akten steht nichts davon, dass sie sich in den Tagen davor merkwürdig verhalten haben. Wahrscheinlich wurde dazu gar nicht ermittelt. Besessene können eine lange Zeit vollkommen normal agieren, ohne, dass es das direkte Umfeld merkt. Ich verschränke die Arme hinter dem Kopf und schließe seufzend die Augen. Irgendwas hat sie getötet und ihre Körper in Besitz genommen, dessen bin ich mir sicher. Besessenheit ist eine Möglichkeit, aber was ist es genau? Auch hier gibt es viele Eventualitäten und keine davon gefällt mir. Ich kontaktiere meinen allwissenden Bücherwurm aus der Bibliothek, flirte, was das Zeug hält, um den Status für die Sonderbehandlung zu behalten, und bitte darum, mich zu benachrichtigen, wenn etwas zu dem Thema vorhanden ist. Nach Ende des Telefonats greife ich mir Jacke und Akte, verlasse das Revier und fahre zum ersten Tatort, um mir ein eigenes Gefühl von der Ausgangssituation zu verschaffen. Bereits beim Aussteigen fallen mir die Überreste des gelben Absperrbandes der Polizei auf, welches an einem Mülleimer und an einer der Straßenlaternen flattern. Sie bewegen sich rhythmisch im Wind, den ich selbst gar nicht spüre und geben der Szenerie eine filmwürdige Note, die die Rohheit des Viertels unterstreicht. Haus reiht sich an Haus. Dicht an dicht, wie der überfüllte Laderaum eines LKWs. Die Fassaden der Gebäude sind schmutzig und zeigen deutliche Spuren von Verfall und vergangener Zeit. Die engen Gassen zwischen den Blöcken sind selbst am Tag dunkel und uneinsichtig. Tags und andere Graffitis sind die wenigen bunten Akzente einer anhaltenden Tristesse. Wären sie etwas ästhetischer, könnten sie als Kunst durchgehen. Das jedenfalls sagt der Beauftragte des Gang- und Drogendezernats unseres Reviers, wenn man ihn darauf anspricht. Egal, wie groß die Bemühungen sind, es ist ein Kampf gegen Windmühlen, weil die Gründe für die sozialen Missstände an anderer Stelle beginnen. Wie so vieles. Es ist nicht die beste Gegend und Tötungsdelikte sind hier keine Seltenheit. Doch am Ende des Tages wollen die Leute, die hier wohnen einfach nur ihr Leben bewältigen. Ich kenne die Statistiken und sie sprechen eine eigene Sprache. Keine positive. Ein krachendes Geräusch auf der gegenüberliegenden Straßenseite lässt mich aufblicken. Dort stehen ein paar Jugendliche, die tuscheln und rauchen, derweil sie einen Ball wiederholt gegen die Wand werfen. Sie bemerke mich nicht und ich wende mich meinem eigentlichen Ziel zu. Im Flur begrüßt mich der beißende Gestank von Bleiche, der gleichzeitig gegen eine penetrante Kakophonie von Meeresbrise ankämpft. Der armselige Versuch der Neutralisierung durchrollt einen mit einer Welle der Übelkeit. Ich schaffe es, bis zur dritten Etage die Luft anzuhalten, und bin froh, als der Geruch mit jeder weiteren Stufe verfliegt. Den richtigen Wohnungseingang finde ich ohne Probleme, dank des äußerst unauffällig gelben Absperrbandes. Es klebt auf Brusthöhe im Rahmen der Wohnungstür, mit einem ebenso auffälligen ´Betreten verboten´-Vermerk, der die Wohnung zum Tatort ausruft. Es könnte kaum sinnloser sein und schreit förmlich nach Aufmerksamkeit. Zwischen Tür und Rahmen sind zwei Siegel angebracht. Eines oben und eines am Fußende. Ich durchtrenne die Versiegelungen mit dem Plastikausweis, der mich als Detective auszeichnet und knacke mit Leichtigkeit das Schloss. In meinem vorigen Leben war ich Meisterdieb oder beim Schlüsseldienst. Noch bevor ich die Tür vollständig aufdrücke, drängt sich mir ein unangenehm riechender Luftzug entgegen. Ich erkenne den Geruch sofort. Die Härchen in meinen Nacken richten sich auf und in den Ohren entsteht ein leises Rauschen. Es widerstrebt mir, weiterzugehen, und abrupt halte ich inne. Das Atmen fällt mir instinktiv schwerer. Alles in mir widersetzt sich. Doch ich drehe meinen Kopf zur Seite und senke den Blick. Ich fühle, wie der Schauer auf meiner Haut stärker wird, als ich in die Wohnung verschwinde. Nach dem Tod eines Menschen dessen Heim zu betreten, ist immer ein unangenehmes Gefühl. Ich möchte nichts durcheinanderbringen und gar nicht genau hinschauen. Doch mir bleibt nichts anderes übrig, daher verdränge ich die Zurückhaltung, durchquere den Flur und bleibe im Wohnzimmer stehen. Hier ist die Luft dick und süßlich schwer, aber nirgendwo ist eine Quelle dieses Geruchs auszumachen. Im Grund sind es lediglich Duftfetzen, die wie durchsichtiger Nebel in den abgeriegelten Räumen hängen. Die Fenster sind geschlossen, die Jalousien runtergezogen. Kein Luftzug hatte je die Chance, den Gestank zu vertreiben. Vor den abgedunkelten Fenstern liegen ein paar tote Fliegen. Ihre dicken, schwarzen Körper sind leicht auf dem hellen Fensterbrett zu erkennen. Ich wende meinen Blick ab und lasse ihn weiter durch den Raum schweifen. Am Boden liegen Spielzeuge. Bauklötzer. Eine Puppe. Allerhand Malstifte und bunt bekritzelte Bilder. Viele davon hängen an den Wänden, am Kühlschrank und zeigen die unterschiedlichsten Motive. Nicht, dass ich irgendwas darauf erkenne. Ich nehme eines der kindlichen Abstraktionen von der Wand. Es zeigt die klassische Familiendarstellung mit rundköpfigen Strichmännchen. Es wirkt wie eine vollkommen intakte Familie. Er war geschieden und trotzdem ist zu erahnen, dass seine Kinder den größten Platz in seinem Leben einnahmen. Sie sind überall präsent. In jedem Millimeter dieser Wohnung. Ich löse mich von den Bildern und versuche mich auf das zu konzentrieren, weswegen ich hier bin. Irgendwas zu finden, was darauf hindeutet, dass kein Drogenmissbrauch vorliegt, wie es Pastor vehement behauptete. Oder eben genau das. Auf dem Couchtisch türmen sich einzelne Zettel, Zeitungen und bebilderten Zeitschriften. Ein Katalog für Kinderklamotten liegt aufgeschlagen am Couch zugewandten Rand. Er ist mit unleserlichen Symbolen und Zeichen bekritzelt. Die Seiten sind buchstäblich zerrissen, so stark wurde der Kugelschreiber über das dünne Papier geführt. Es wird keines der Kinder gewesen sein. Ich durchblättere einige der platzierten Stapel und weiß nicht, was ich darin zu finden hoffe. Es ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Aber manchmal ist es das Einzige, was einem voranbringt oder mindestens einen Hinweis gibt. Auf einem der losen Blätter, der kindlichen Zeichnung eines Baumes, bemerke ich ein paar krakelige Symbole. Mit dem Papier in der Hand setze ich mich auf die Couch und drehe es umher. Die Rückseite ist leer und die Zeichen befinden sich lediglich am unteren kurzen Rand. Es könnte hebräisch sein. Ein paar der Charakteristika kommen dem sehr nahe. Doch sie bilden keine Worte. Sie haben keinen Zusammenhang und die Wahrscheinlichkeit, dass er solche Schriftzeichen benutzt, ist eher gering. Noch dazu ist mein kryptografisches Wissen nur geringfügig ausgebildet. Ehe ich das Blatt zur Seite lege, mache ich mit dem Handy ein Foto. Danach rutsche ich an den Sofarand, um nach dem bemalten Katalog zu greifen. Ich stocke, als ich mit der Ferse gegen etwas Hartes unter der Couch stoße. Mit einem schnellen Handgriff schiebe ich den Tisch zur Seite und hocke mich hin. Mein Fuß stieß gegen einen flachen Plastikcontainer, den ich langsam hervorziehe. Er ist mit Büchern gefüllt und weiteren Zeitschriften. Einem unbekannten Gefühl nach riskiere ich einen Blick hinter den Container und entdecke mehr. Direkt an der Wand erkenne ich ein in Leder eingeschlagenes Büchlein. Es dauert einen Moment, bis ich es zu fassen bekomme und hervorholen kann. Es liegt schwer in der Hand und ist bedeckt mit Staubflusen und Spinnenweben. Genauso wie der Ärmel meiner Jacke. Die Seiten des Buches sind am Rand leicht gewellt, so, als wären sie feucht geworden oder wiederholt mit verschwitzen Fingern durchblättert. Ich führe es an die Nase heran und erschnuppere den süßlichen Geruch von Verwesung, der stärker wird und sich mit einem herben Hauch des Leders mischt. Es weckt sofort Gänsehaut, die sich meinem gesamten Körper bemächtigt. Doch ich schüttele sie ab und rieche trotz alledem erneut daran, um mir wirklich sicher zu sein. Er muss es in den letzten Stunden seines Lebens in der Hand gehabt haben. Anders erklärt sich der krasse Geruch nicht. Ich lege das Notizbuch auf dem Tisch ab und sehe mich weiter um. In den anderen Räumen kann ich nichts Ungewöhnliches entdecken und es zieht mich zurück zu meinem ersten Fund. Dem Lederbüchlein. Doch ehe ich mich den darin befindlichen Geheimnissen widmen kann, erreicht mich eine Nachricht von Pastor. Nach dem Verlassen der Wohnung sehe ich draußen meinen aufdringlichen neuen Kollegen stehen, der gedankenversunken zu der Gruppe Jugendlicher schaut. Ich schließe zu ihm auf und frage gar nicht erst, was er hier macht. „Die gehören zu der Jugendeinrichtung, oder? Wurden Sie befragt?“, erkundige ich mich bei dem anderen Detective, der daraufhin in meine Richtung sieht. Die Überraschung in seinem Blick ist nicht mehr als eine flatternde Brise. Er hat damit gerechnet, mich hier zu finden oder ist zu mindestens in dieser Erwartung gewesen. Was sagt, dass über mich? Ich hielt mich nie für so durchschaubar. „Wurden sie. Aber keiner von ihnen war sehr mitteilsam“, erklärt er ruhig. Ich folge seinem Blick zu der kleinen Gruppe, die schon vorhin mein Interesse geschürt hat. Sie haben sich nur ein paar Schritte die Straße hinauf bewegt. „Gut, versuchen wir es erneut“, schlage ich vor. Seine Augenbraue hüpft nach oben. „Ich denke, wir haben vielleicht Glück. IZAN!“, ruft er laut und sofort gerät das Grüppchen in Bewegung. Zwei laufen weg. Der Rest wendet sich uns zu. Ihre Hände wandern in die Hosen- oder Pullovertaschen und ihre Schultern ziehen sich nach oben, sodass sich die Kapuzenhoodies, um ihre Hälse stauchen. Ihre Mienen sind beeindruckte Abbilder eines jugendlichen Gefühlsspektrums. Störrigkeit. Furcht. Überheblichkeit. Sie wechseln ein paar Worte, die wir auf Grund der Entfernung nicht verstehen. Unter ihnen ist ein schmächtiger Hispano, der besonders auffällig seinen Blick senkt. Er duckt sich etwas mehr, als Pastor direkt auf ihn zu stiefelt. Das scheint Izan zu sein. Ich folge mit Abstand und bin überrascht, als kein weiterer der Jungs wegläuft. Sie beobachten uns genau, wirken aber entspannt. „Izan, wie läuft das Training?“, fragt Pastor unbeschwert, „Ich habe gehört, dass du beim letzten Spiel den Buzzer Beater gemacht hast.“ Alle drei lockern sich fast instant. Ein schüchternes Lächeln legt sich auf Izans Lippen, welches in ein schiefes Grinsen abknickt. Er ist eindeutig der Jüngste von ihnen. Jetzt fällt mir auf, dass einer der älteren Jungen einen Basketball in der Hand hält. Er hat eine auffällig breite Schweinenase und gigantische Hände. Irgendwie passend. Scheinbar sind die drei aus dem Jugendzentrum, in dem de Lucía ausgeholfen hat. Laut Akte hat er die Basketballmannschaft trainiert und sich sonst stark in dem Zentrum engagiert. „Yeah...“, erwidert Izan zurückhaltend und senkt den Kopf, während die anderen beiden im Hintergrund einander die Hände abklatschen. Der dritte Kerl hat eingedrehten Haaren und legt seinen Arm auf dem kleineren Izan ab. Dieser duckt sich und schaut unruhig die Straße entlang. „Jo, Mann, das war der Hammer. Wir hams denen total gezeigt.“ „Platt gemacht haben wir sie!“ „Yeah!“ „Wann ist das nächste Spiel?“, erkundigt sich Pastor interessiert. „In zwei Wochen. Wir spielen gegen die West-Hood-Boys.“ Der Basketball wechselt den Besitzer und liegt fortan in Izans Händen. „Ich werde es mir auf jeden Fall ansehen“, bekräftigt Pastor lächelnd, „Wisst ihr schon, wer das Training übernimmt?“ Zwei schütteln ihre Köpfe. Darunter ist auch Izan. „Vielleicht Pedro. Er hat vorher schon geholfen.“ Alle drei nicken. Ebenso wie der Detective. „Jungs hört zu“, fährt er vorsichtig fort, „Wir wissen, dass unsere Kollegen bereits mit euch gesprochen haben, aber es wäre wirklich wichtig, dass ihr uns sagt, wenn euch etwas aufgefallen ist. Ihr hatte doch relativ viel Kontakt zu de Lucia. Hat er sich irgendwie seltsam verhalten in den Tagen bevor er...“ „Ey man, wir wissen nichts!“, kommt es abwehrend, von Dreadlöckchen. „Ihr wisst sicher mehr als gut für euch ist“, entgegne ich und werde von Pastors Hand gestoppt, die vor meiner Brust auftaucht. Er sieht mich nicht an und ich betrachte mit hochgezogener Augenbraue die bevormundende Geste. „Habt ihr vielleicht an dem Tag etwas gesehen?“, fragt er stattdessen weiter. „Ja, wie ihr ihn abgeknallt habt“, posaunt Schweinenase aus. „Und davor?“ „Nee, man, nix.“ Alle drei verneinen. „Hat de Lucia sich irgendwie anders verhalten beim letzten Training? Hat er etwas gesagt, was seltsam war? Irgendwas, was vielleicht komisch oder nicht nach ihm klang?“, bohre ich nach und verschränke die Arme vor der Brust. Das Gespräch mit den Jungs ist zäher als Kaugummi und Pastor sieht mich tadelnd an, weil ich vermutlich genervt klinge. Kids befragen, ist nicht meine Stärke. „Nee, er war voll in Ordnung und so wie immer, Mann“, verneint Schweinenase und mustert mich mit einem entrüsteten Blick, „Keine Ahnung, was mit ihm los gewesen sein soll.“ „Das stimmt nicht“, flüstert Izan. „Was meinst du?“, hakt Pastor direkt nach und die Schultern des Jüngsten ziehen sich wieder auffällig nach oben. „Na ja, er war irgendwie abgelenkt. Schon eine ganze Weile. So, voll... na ja, so... in Gedanken gefallen.“ Versunken, berichtige ich stillschweigend und verkneife es mir, es auszusprechen. „Wie lange schon, weißt du das? Wann hast du das zum ersten Mal bemerkt?“, setzt Pastor die Befragung fort. „Schon vor ein paar Wochen. Als ich das eine Mal an seinem Büro vorbeigekommen bin, hat er total heftig in einem alten Buch geblättert und Sachen notiert. Er hat irgendein Zeug gemurmelt. Das war total verrückt“, erklärt er und lässt den Ball in seiner Hand auf den Boden aufschlagen. Er hüpft kontrolliert in seine Hände zurück, gefolgt von einem kleinen Schatten, der direkt wieder verschwindet. Ich merke, wie sich meine Schultermuskeln anspannen und eine unerwartete Vibration durch die Glieder fährt. Die Härchen auf meinem Arm richten sich auf, gefolgt von einem Kribbeln im linken Knie. Die meisten spüren so das Wetter. „Hast du jemanden davon erzählt? Hat er dich gesehen?“, befragt mein Kollege den Jungen unbeirrt weiter. „Nee, Mann, das war echt gruselig, denke nicht das er mich gesehen hat.“ „Wann genau?“, frage ich harsch nach und erhalte im ersten Moment keine Reaktion, „Wann genau ist das passiert?“ „Keine Ahnung. Vielleicht vor zwei oder drei Wochen.“ Wieder weicht er unseren Blicken aus und konzentriert sich auf alles andere, nur nicht auf uns. Auch seine Zeitangabe ist so hilfreich wie Rührei. Dazu erkenne ich deutlich, dass er etwas verschweigt. „Du sagtest, er hat etwas notiert, weißt du worin oder hast du gesehen was es war?“, hake ich nach. Ich habe einen Verdacht. Zu meinem Glück mischt sich Pastor diesmal nicht ein, sondern sieht ebenfalls erwartungsvoll zu Izan. „Na, in sein Notizbuch“, sagt er, als müssten wir es längst wissen, „Er trägt ständig eins bei sich und schreibt da rein. Aber was es war, weiß ich nicht.“ Der Basketballer zuckt mit den Schultern, nachdem er eine Schreibbewegung imitiert. „Kannst du es beschreiben?“ „So ein Ding aus Leder, halt...“ Wieder hüpfen seine Schultern nach oben. Diesmal versetzt. Erst links. Dann rechts. Als Nächstes huscht sein Blick zu mir. Mein linkes Knie kribbelt mehr. Er lässt den Basketball auf den Boden fallen. Ich folge der Bewegung und ein weiteres Mal ummantelt ihn ein feiner grauer Schleier, der verschwindet, als der Ball in seinen Händen landet. Ihn umgibt etwas Dunkles, was ich bisher nicht zuordnen kann. „Mehr weiß nicht... Kommt, ich will noch ein bisschen trainieren. Man sieht sich.“ Den Mittelteil richtet Izan an die anderen Jungs, die einstimmig nicken und ihre Hände in den Taschen ihrer Hosen stecken. Mit hochgezogenen Schultern verschwinden sie die Straße runter und sind schnell aus unserem Blickfeld verschwunden. De Lucia hat sich demnach ungewöhnlich verhalten. In Gedanken versunken, greife ich mir an die linke Jackenseite und ertaste den Inhalt der Brusttasche. Das Notizbuch darin fühlt sich plötzlich schwerer an als vorher. Das wird es sein, wovon Izan gesprochen hat. Vielleicht finde ich darin e ein paar vernünftige Anhaltspunkte. Irgendwas, was deutlich macht, was de Lucia zugestoßen sein könnte. „Kommen Sie?“ Pastors Aufforderung holt mich zurück und ich mache mich daran ihn einzuholen. Sein Auto kreuzt unseren Weg zuerst. Er betätigt die automatische Türöffnung, doch statt zum Fahrersitz zu gehen, öffnet er erst die Beifahrertür und deutet mir damit an, einzusteigen. Meine nach einem Grund suchende Geste wird ignoriert, also, seufze ich auf und folge seiner Anweisung. In diesem Fall kann er nicht mehr sagen, ich würde nicht kooperieren. Ich warte, bis er sich ebenfalls setzt, sehe dabei zu, wie er sich schweigend anschnallt und geradeaus schaut. Eine interessante Kommunikationstechnik. „Sind Sie jetzt auch in Gedanken gefallen?“ greife ich die absurde Wortmixtur des Jugendlichen wieder auf und schaffe es nicht, es nicht sarkastisch klingen zu lassen, “Die Jungs waren nicht unbedingt hilfreich.“ Pastor murrt. Ob es eine Bestätigung und Ablehnung ist, kann ich nur mutmaßen. Bis ein abrundender vorwurfsvoller Blick folgt. Er gibt mir seine Gedanken nicht preis, sondern lehnt lediglich seinen Kopf zurück und schaut abwesend an die Decke. Ich spüre, dass er mir etwas sagen will. Nur nicht weiß wie. Die meisten Menschen haben in diesen Situationen einen eigentümlichen Gesichtsausdruck. Eine Mischung aus Verstopfung und panischen Fluchtreflex. Pastors hat eine zusätzlich genervte Note. Vermutlich, weil er das Ganze selbst nicht begreift oder weil jeder Erklärungsgedanken das Unwahrscheinliche einschließt und das unmöglich sein kann. Ich kenne dieses Gefühl. „Haben Sie irgendwelche Überschneidungspunkte zwischen Bakow und de Lucia entdeckt? Kannten Sie sich irgendwoher?“, erfrage ich, weil ich das Bedürfnis verspüre, das Gespräch voranzubringen. Pastor sieht mich erst an und dann wieder zurück an die Decke des Wagens. „Nicht, dass ich wüsste“, sagt er. Kurz und knapp. „Könnten sie sich über den Weg gelaufen sein? Selbe Gegend. Ähnliche Präferenzen.“ „Möglich“, sagt er und schweigt einen Moment, ehe er fortfährt, „Der vorläufige Obduktionsbericht ist fertig.“ Er greift hinter sich zur Bank, angelt nach einer typischen braunen Akte und hält sie mir hin. „Und wir haben die Überwachungsaufnahmen von der Tankstelle erhalten“ Es ist keine direkte Aufforderung, aber dennoch höre ich die Bitte darin und das Angebot. Es ist nicht nur das. Es ist sein Blick, der sich schier in mich hinein brennt und nichts anderes zulässt, als ihm zu folgen. Ich sehe die Entschlossenheit darin. Wie könnte ich Nein sagen? Ich nicke lediglich und lese mir während der Fahrt den Bericht durch. Neben den bereits bekannten Fakten ist nichts Wesentliches dazu gekommen. Nur weitere Wunderlichkeiten. Insektenbefall. Fortgeschrittene Verwesung. Zwei gebrochene Zehen. Ein paar Mal sehe ich zu dem anderen Detective und nutze das fremde Gesicht als Anker zum Hier und Jetzt. Dennoch lassen mich die spekulativen Gedanken einfach nicht los. Die Fragen werden immer mehr und wir haben bisher keine adäquaten Antworten. Die Anzeichen an den Körpern sprechen für eine Form der Besessenheit. Gut und schön. Oder nicht gut, nicht schön. Irgendwas hat die Körper übernommen und von ihnen gezehrt. Sie nach und nach ihres Lebens beraubt und sie bei lebendigem Leib verwesen lassen. Aber sie waren nur ein Übergangswirt, dessen bin ich mir sicher. Sie waren nicht das eigentliche Ziel. Doch wer ist es dann? Wo ist die Gemeinsamkeit? Ist es nur ein Zufall? „Detective?“ Pastors Stimme beendet meine Überlegungen. Ich sehe irritiert auf und bemerke, dass wir angehalten haben. Ein Blick aus dem Fenster zeigt mir, dass wir vor dem Hauptquartier stehen, welches die technische Abteilung beherbergt. Pastor steigt aus und wartet darauf, dass auch ich endlich in Gang komme. Diesmal schaffe ich es, ohne Probleme meinen Ausweis vorzuzeigen, doch der Kollege am Empfang winkt uns unbeachtet durch. Nur Pastor nickt er kurz zu. Sie scheinen sich zu kennen. Nach einem Moment fällt mir wieder ein, dass das 12. Revier in der Nähe liegt. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er ab und an hier zugegen ist. Ich folge ihm zur Abteilung der forensische Videobearbeitung- und auswertung. Ein rundlicher Kollege empfängt uns an der Ausgabe und führt uns in eines der Bearbeitungslabore. Ein Raum voller Monitore und blinkenden schwarzen Kästen öffnet sich. Die verlangten Inhalte wurden uns vorbereitet. Ich sehe mich um, während Pastor bedächtig der Erklärungen lauscht. „Danke Hernandez. Ich denke, wir schaffen das. Holen Sie sich doch einen Kaffee“, sagt Pastor freundlich. Der gemütlich aussehende Beamte nickt und bewegt sich ebenso geruhsam aus dem Raum. Nachdem sich die Tür hinter ihm schließt, setzt sich Pastor auf den abgewetzten Drehstuhl und lässt seine Hände flink über die Tastatur fliegen. Ich bleibe neben ihm stehen. Das Video startet bei dem Zeitstempel 15:06:06. In den ersten zehn Sekunden halte ich die Luft an und schaue gespannt auf die bewegten Bilder. Ein helles Auto fährt ein und ein Mann taumelt heraus. Eine Hand fasst an das Dach des PKWs, so, als würde es ihn stützen müssen. Er läuft vor und zurück. Die Seite des Wagens entlang. Danach geht er auf eine der Tanksäulen zu, greift aber nach keiner der Benzinhähne, sondern dreht sich um und wankt zum Kofferraum. Seine Bewegungen wirken seltsam schwerfällig und plump. Sein Mund ist in jeder Ansicht seines Gesichts leicht geöffnet. Es sieht aus, als würde er sprechen. Immer wieder wendet er sich ruckartig zur Seite. Kurz darauf taucht einer der Mitarbeiter der Tankstelle auf. Mittlerweile sind fast sieben Minuten vergangen. Der Tankstellenmitarbeiter versucht, den Mann anzusprechen, doch dieser macht keine Anstalten zu reagieren. Drei Minuten später taucht die Polizei auf und zwei Beamte nähern sich der wankenden Gestalt, die weiterhin seltsam spastisch an seinem Auto entlangläuft. Auf die Polizisten reagiert er und ein Kollege greift an sein Pistolenholster. Ich weiß genau, was sie sagen. Sie fordern ihn auf, sich zu beruhigen, von den Zapfsäulen wegzugehen, die Hände sichtbar zuhalten. All das. Nichts davon funktioniert, denn es dringt nicht zu ihm durch. Seine Bewegungen werden stattdessen immer chaotischer. Er wirkt fahrig, schwerfällig und wandert mehrere Male neben dem Fahrzeug auf und ab. Bakow wirft seine Arme umher. Mittlerweile kann man deutlich sehen, dass er den Beamten etwas zu ruft, förmlich brüllt. Ich versuche mich auf die Details zu konzentrieren, aber die Aufnahmen haben eine äußerst bescheidene Qualität, sodass zumeist nur grauer Matsch zu erkennen ist. Bakow stolpert zurück zum Kofferraum, bewegt seinen Kopf mehrfach auf und ab, von rechts nach links und stürmt unvermittelt auf die Beamten los. Es fallen insgesamt fünf Schüsse. Jeder davon lässt auf der Videoaufnahme einen hellen Lichtblitz entstehen. Der Körper fällt neben dem Auto zu Boden, wie ein nasser Sack und Pastor stoppt die Aufnahme. „Die Überwachungsvideos der Tankstelle haben keine gute Qualität, aber wir haben noch eine Aufnahme von einem der Häuser aus der Querstraße bekommen. Ein etwas anderer Blickwinkel.“, erklärt er und startet sie als Nächstes. Auch dieses Video ist mehr Pixelgewitter als Porenrein, allerdings erkennt man hier die Details ein klein wenig besser. Trotzdem kneife ich automatisch die Augen zusammen. Wie bei der anderen Aufzeichnung ist zu sehen, wie das helle Auto in die Einfahrt zur Tankstelle abbiegt und wie es am rechten Rand der Bildaufnahme stoppt. Einzig der hintere Teil des Wagens, der Kofferraum und die Hinterreifen, verbleiben im Bild. Ebenso ist ein Stück des Rücksitzes durch die Seitenscheibe einzusehen. Das Innere des PKWs sieht unaufgeräumt und chaotisch aus. Die ersten Minuten der Aufnahme sind überwiegend ereignislos, da der Mann zunächst im vorderen Bereich des Autos hin und her läuft. „Wie sie sehen, sehen sie nichts“, witzele ich und werde mit einem Raunen gestraft. Mein Kollege lässt das Video weiterlaufen. Dann sehen wir endlich eine deutliche Bewegung im Bild. Zu erkennen ist die dunkele Silhouette von Bakow, die sich mehrfach um den Wagen herumbewegt. Er gestikuliert, wie im Wahn und wirkt dennoch matt und leblos. Es ist seltsam. Reflexartig dreht er sich um und schnell wieder zurück. Der Körper beugt sich über den Kofferraum, als ein Schatten in die untere rechte Ecke des Bildes huscht und verschwindet. Es ist nur ein Schimmer, eine Irritation und merke ich sofort, wie sich die feinen Härchen in meinem Nacken aufrichten. „Was war das?“ Auch Pastor hat es gesehen und tippt aufgeregt auf die Stelle am Bildschirm, an der eben der Schatten zu erkennen gewesen war. Er lässt mit ein paar wenigen Klicks die Aufnahme zurücklaufen und als wir es zum zweiten Mal anschauen, ist nichts zu sehen. ~Fortsetzung folgt~ Kapitel 3: Mit dem Wissen um Wahrheit und Tod - 3 ------------------------------------------------- Folge 1 ~Teil 3 - Mit dem Wissen um Wahrheit und Tod~ Er wiederholt das Ganze und lässt das Video zum Anfangszeitpunkt zurück spulen, als wäre der vorige Versuch nur ein Irrtum gewesen. Wieder ist nichts zu sehen und ich beiße unmerklich die Zähne zusammen. Pastors Schultern versteifen sich und die Anspannung baut sich stetig weiter auf. Er starrt ungläubig auf den Monitor. „Was zum...“ Er stoppt, bevor er den Fluch aussprechen kann und sieht zu mir. „Spinn ich?“ Eine offensichtlich rhetorische Frage. Ich erkenne die puren Zweifel und reine Irritation in seiner Stimme. „Sie haben es auch gesehen, oder? Da war ein... ein... ein Schatten...“ Sein Zeigefinger drückt sich mehrmals gegen den Bildschirm und jedes Mal kann ich quasi sehen, wie die Pixel unter der Membran schreien. In seinem Gesicht bemerke ich das Wechselspiel aus absoluter Sicherheit und nagendem Zweifel. Seine Augenbrauen sind ein stetiges Kräuseln. Auch sein Mund öffnet und schließt sich im Sekundentakt. So viele Fragen, die einem kontinuierlich durchfluten. Ist es wirklich wahr? Kann man seinen eigenen Augen trauen? Kann man sich jemals sicher sein? Meine Erfahrungen lehren mich, dass es kein Absolut gibt. Für einen Moment lang glaube ich, dass er einen weiteren Versuch startet, hofft und erwartet, doch dann lehnt er sich zurück und lässt ermattet seine Hände in den Schoß fallen. „Was ist...was passiert hier?“ Seine Frage ist nur ein Flüstern und ich bin sicher, dass er darauf keine der Antworten will, die ich ihm geben kann. Ruckartig steht er auf, streicht sich energisch durch die Haare und wandert ein paar Schritte durch das kleine Büro. Statt ihm dabei zu zusehen, lasse ich mich auf den freigewordenen Stuhl fallen und spule erneut zurück. Wieder kein Schatten. Ich friere das Bild ein und wandere sorgsam alles mit den Augen ab. Am äußeren Bildrand bleibe ich hängen. „Ist das einer der Zeugen?“, frage ich und deute auf die schmale Gestalt im Hintergrund. Pastor kommt wieder zurück und beugt sich über meine Schulter hinweg dichter an den Bildschirm heran. „Laut Bericht wurden nur die Mitarbeiter der Tankstelle als Zeuge befragt. Niemand sonst“, gibt Pastor wieder und starrt fragend auf den Monitor. Seine Augen kneifen sich zusammen, als würde sich damit die Auflösung der Aufnahmen bessern lassen. Er wirkt überrascht. „Lass das Video weiterlaufen“, sagt er und streckt seine Hand nach der Computermouse aus, um es selbst voranzubringen. Nun lehnt er fast auf meiner Schulter. Ich schubse spielerisch seine Hand weg und wir sehen uns augenblicklich stoisch an. Abrupt richtet er sich auf und macht stattdessen eine auffordernde Geste in meine Richtung. Er hat nicht mal gemerkt, dass er mich duzt. Ich hebe amüsiert die linke Augenbraue, drücke kopfschüttelnd auf Play und lasse die Aufnahme weiterlaufen. Diesmal konzentrieren wir uns einzig auf die Geschehnisse im Hintergrund. Die Person ist, wie erwartet, nicht kaum zu erkennen. Sie trägt einen hellen Pullover oder eine Jacke. Jeans, die etwas zu weit sind. Helle Turnschuhe. Es sind einzig Vermutungen. Es gibt keine Farbe. Nur Schattierungen. Es könnte jeder sein. Die Statur ist eher schmächtig, nicht besonders groß. Mehr die eines Jugendlichen. Oder einer kurzhaarigen Frau. Sie steht vollkommen regungslos da und beobachtet die Geschehnisse an der Tankstelle. Würde ein unbeteiligter Zeuge nicht weglaufen oder sich in irgendeiner Form regen? Gut, in der heutigen Zeit würde man eher eine Handyaufnahme tätigen. Doch die Person macht nichts dergleichen. Erst als die Schüsse fallen und Bakow zu Boden geht, regt sich die Gestalt. Sie läuft ein paar Schritte auf das Auto zu, bückt sich. Unmittelbar danach schreitet sie ruhig und langsam aus dem Bild. „Was hat er da aufgehoben?“, fragt Pastor. Wieder spulen wir zurück. Durch den Winkel der Kamera ist nicht näher zu erkennen, was es ist, aber kurz, bevor die Schüsse fallen, sieht man, wie es dorthin geworfen wurde. Vielleicht durch den Toten. Wir öffnen die Aufnahmen der Tankstelle erneut und lassen beides parallel ablaufen. Tatsächlich erkennt man kurz vor dem Auftreffen, wie der Tote schwungvoll seine Hand hebt, ehe auf die Polizisten zustürmt. Was er wirft, ist nicht zu erkennen. Hernandez meldet sich zurück und wir bitten ihn darum, die vermerkten Parts in die forensische Abteilung zu geben. Wenn wir Glück haben können sie das Bild schärfen und uns damit Details liefern. Pastor bringt mich zurück zu de Lucias Wohnhaus, wo mein Fahrzeug steht. Schweigend und mit schwerer Luft um uns herum, bleiben wir in seinem Wagen sitzen. Normalerweise schwelge ich allein in dem immer dichter werdenden Dunst der Unwissenheit und stelle mir unendlich viele Fragen, ohne eine Antwort zu finden. Mit jemanden gemeinsam einen solchen Fall zu bearbeiten, ist auch für mich eine Premiere. Ob es nutzbringend ist, kann ich bisher nicht einschätzen. Ich sehe, wie in dem anderen Detective die Rädchen arbeiten und wenn es noch stiller wäre, würde ich sie sogar hören. Obwohl wir angehalten haben, sind Pastors Hände fest um das Lenkrad geschlossen. Seine Kiefer bewegen sich mahlend und beschäftigt übereinander. Er beißt die Zähne zusammen, lässt seinen Mund wieder locker und wiederholt es. Allein dabei zuzusehen, sorgt dafür, dass sich meine Mundpartie schmerzend bemerkbar macht. „Sie sagt, Sie seien wegen einer Zeugenbefragung bei de Lucia gewesen. Worum ging es?“, frage ich in die schwere Energie hinein. Ich erreiche, was ich beabsichtige, denn Pastors Schultern entspannen sich und die verkrampften Hände sinken in seinen Schoss. „Ein Verkehrsunfall mit Fahrerflucht in der Nähe der Synagoge. Laut der Verkehrsüberwachung wurde sein Autokennzeichen zum Zeitpunkt dort aufgenommen.“ „Mhm. Keine direkte Beteiligung?“ „Nein.“ Sackgasse. „Verdammt.“ „Ja.“ „Ja.“, echoe ich und steige nach einem deutlichen Seufzen aus. Ich verabschiede mich mit einem knappen `Man sieht sich` und steuere auf meinen Wagen zu, während ich einen letzten Blick auf das Wohnhaus werfe. Als ich einsteige, kann ich durch die Frontscheibe hindurch erkennen, wie der andere Detective weiterhin hinter dem Steuer verharrt und in seinen eigenen Gedanken gefangen scheint. Nach einem letzten Blick ich denke darüber nach, was ich als nächstes tue. Ich entscheide mich dafür, nicht zurück aufs Revier zu fahren, sondern in meine Wohnung. Noch bevor ich den Motor starte, werfe ich das Notizbuch, welches ich aus de Lucias Wohnung mitgenommen habe, auf den Beifahrersitz und schlagartig fällt mir das Atmen wieder leichter. Unterwegs besorge ich mir eine Kleinigkeit zu Essen beim Vietnamesen an der Kreuzung zu meinem Wohnhaus. Und obwohl Werbeprospekte aus dem Briefkasten mit meinem Namen hervorlugen, ignoriere ich sie. Ich nehme abgelenkt die Treppe nach oben. Das Notizbuch in meiner Hand scheint mit jeder Stufe schwerer zu werden und kurz bevor ich die Wohnungstür erreiche, bleibe ich stehen und betrachtete den Ledereinschlag eingehender. Es fühlt sich ungewöhnlich warm an und im nächsten Augenblick löst sich Rauch von dem braunen Material. Erschrocken stoße ich das Buch von mir und es landet mit einem dumpfen Geräusch auf dem Treppenabsatz. Ein Feuer bildet sich auf dem dunklen Leder und ich sehe dabei zu, wie es inmitten des Buches ein großes deutliches Loch frisst. Dann hört es unvermittelt auf. Nur noch vereinzelte kleine Rauschschwaden heben sich ab und die roten Glutspuren werden grau. Als ich meine Hand ausstrecke, merke ich weiterhin die Hitze, die davon ausgeht und entscheide mich dafür, etwas länger zu warten. Bevor ich in die Wohnung trete, öffne ich ein paar der Fenster im Aufgang und stoße das Buch vorsichtig mit den Füßen in den Wohnungsflur. Ich betrachte es skeptisch, umrunde das Ding mit Abstand und stelle mein Essen erstmal in der Küche ab, ehe ich wieder zurückkehre. Ich hocke mich davor und halte erneut die Handfläche darüber. Probehalbe murmele ich ein paar unverfängliche Psalme des Neuen Testaments, versuche, was auch immer es ist, zu reißen, doch nichts geschieht. Inzwischen ist es kalt, also sammle ich es auf. Der Ledereinschlag ist mit den ersten Blättern verschmolzen und damit vollkommen hinüber. Ich betrachte es von allen Seiten und bin mir nicht sicher, was das Ganze zu bedeuten hat. Den entstandenen Brandfleck auf dem Treppenabsatz ignoriere ich geflissentlich als ich aufstehe, die Tür hinter mir schließe und auf der Couch Platz nehme. Ich durchblättere das Notizbuch mit allergrößter Vorsicht. Die einzelnen Seiten lösen sich mehr schlecht als recht voneinander und an einigen Stellen reiße ich das Papier weiter ein. Auf den vorderen Absatz steht bloß belangloses Zeug. Hauptsächlich sind es To-Do-Listen und Gedanken, die er niederschrieb, um sich organisieren zu können, für die mir zum Verständnis aber das Hintergrundwissen fehlt. Die Schrift ist klein, dennoch präzise und gut lesbar. Er hat sich Zeit genommen. Jedes Wort ist sorgfältig formuliert und er schmückte nichts aus. Leider kann ich wegen der Beschädigung und den starken Verrußungen nur einen Bruchteil erkennen. Die Seiten tragen ein Datum in unmittelbarer Vergangenheit. Die Notizen sind nicht sehr alt. Ich blättere weiter nach hinten und komme seinen letzten Aufzeichnungen näher. Die Schrift in diesen Tagen ist deutlich aufgeregter und wirkt gehetzt. Er schrieb mit festem Druck auf dem Papier. Endungen fehlen oder verkommen zu einem Einheitsbrei. Stellenweise wechselt er zwischen verschiedenen Sprachen hin und her, was mich immer wieder innehalten lässt. Mein Spanisch ist nicht gerade gut. Dazu kommt, dass die Schrift teilweise unlesbar ist. Ich blättere behutsam weiter und stoße auf Symbole, die im ersten Moment fremdartig aussehen. Bei genauer Betrachtung erkenne ich ein paar der Zeichen. Buchstaben des hebräischen Alphabets. Teils aramäisch. Es verwirrt mich. Ich finde weitere kleinere Zeichnungen und allerhand Gekritzel. Vieles davon wurde wieder übermalt. Die nächsten Seiten sind undatiert und wirken chaotischer. Alles verschwimmt miteinander und oft sind die Textstellen mit größeren Worten überkritzelt. de Lucia hat sich beim Schreiben regelrecht überschlagen. Ab da an waren seine Gedanken vollkommen in Besitz genommen. Ich blättere zurück. Das letzte notierte Datum ist der Mittwoch vor zwei Wochen. Eine deutliche Eskalation. Er verlor den Bezug zur Realität und wurde wahnhaft und getrieben. Das alles kann ich aus diesen Seiten herauslesen und nicht zum ersten Mal formt sich ein konkreter Begriff in meinem Kopf. Besessenheit. Ich halte inne. Ich sollte dringend einen Schritt zurück machen. Also lege ich das Büchlein geschlossen beiseite und schließe die Augen. Nichts ist prekärer, als einem Bestätigungsfehler zu unterliegen, in dem man nur die Ergebnisse sieht, sucht und findet, die die eigenen Annahmen und Erwartungen bestätigen. Ein häufiges Problem und eine der größten Fehlerquellen. Aber ab einem gewissen Punkt wird man betriebsblind. Für jeden Polizisten ein Frevel. Dennoch erkundige ich mich nach einem schwarzen Loch, wenn ich etwas gedankenverloren verlege und nicht mehr finde, statt mir einzugestehen, dass ich abgelenkt war. Es könnten auch Kobolde sein, aber habe ich bisher keinen Beweis, dass sie existieren. Ich nehme das Notizbuch wieder zur Hand, blättere noch einmal vor und bleibe auf einer Seite hängen, auf der sich Teile einer Bleistiftzeichnung befinden. Sie ist grob und unfertig. Symbole und Buchstaben ranken sich wahllos um die energisch geführten Linien. Darunter sind auch ein paar Noten. Eine Melodie, womöglich. Nun betrachte ich die Zeichnung genauer. Sie deutet ein rechteckiges Objekt an. Vielleicht ein Kästchen. Eine Art Schatulle. Ich erkenne Teile eines fein ausmodellierten, schwungvollen Fußes. Zusammen mit den Noten könnte es eine Spieluhr sein. Oder es hat nichts miteinander zu tun. Seufzend lehne ich mich zurück, lege das Notizbuch erneut zur Seite und reibe mir mit beiden Händen über das Gesicht. Mir gehen fünf andere Möglichkeiten durch den Kopf, die diese Skizzenreste darstellen könnten. Eine Aufbewahrung für Schmuck. Gerade antike Schmuckstücke sind häufig Trägerobjekte für Flüche oder Magien. Die Übertragung ist damit ein leichtes. Um den Hals hängen, an den Finger stecken. Fertig. Ob es einer sein kann? Sie können sehr intensiv werden, in hohem Maße zerstörerisch. Das Kästchen hat gegebenenfalls gar nichts damit zu schaffen. Dennoch hole ich die Polizeiakte von de Lucia hervor und suche die Aufnahmen der Wohnung, die nach den Schüssen dort gemacht wurden. Da es sich nicht um den eigentlichen Tatort handelte, sind sie erwartungsgemäß oberflächlich. Keine Detailaufnahmen. Kein genaues Hinsehen. Nirgendwo ist ein Gegenstand zu sehen, der der Zeichnung ähnlich sieht. Was wiederum nichts heißt. Wenn das Objekt mit einer Präsenz besetzt ist, dann würde der Besessene alles tun, um es nicht wieder herzugeben. Doch wie ist es im weiteren Fortgang in Bakows Hände gelangt? Wo ist es jetzt? Unglücklicherweise könnte schon jemand anderes vor sich hinsiechen und kurz davor sein, durchzudrehen. Ich muss herausfinden, was genau es ist, was diese Leute befällt und worin de Lucias und Bakows Verbindung besteht. Da das Essen längst kalt ist, macht es keinen Unterschied, ob ich weiter grübele oder die Beine benutze. Mein Magen knurrt zum Protest, trotzdem ziehe ich mir die Jacke über und greife nach dem Notizbuch. Bevor ich mich zum ersten Tatort aufmache, fertige ich ein paar chinesische Schutztalismane an, mit denen ich sorgfältig um das Buch einschlage. Vorsicht ist besser, als einen verspielten Geist zu erzürnen. In diesem Fall möchte ich nur kein erneutes Entfachen verursachen, denn ich mag meine Jacke. Beim Betreten der fremden Räumlichkeiten spüre ich erneut diesen feinen kalten Schauer, der mich ummantelt, wie Nebel. Doch diesmal ist es weniger intensiv und einzig ein letzter Luftzug. Ich betätige den Lichtschalter und das Gefühl ist verschwunden. Licht beeinflusst die Atmosphäre nachhaltig. Die Räume wirken belebt, so, als würde jeden Moment der Bewohner aus der Küche treten. Seine Kinder rufen. Der Gedanken daran, dass er es nicht mehr tun wird, legt sich schwer auf mein Gemüt. Diesmal gehe ich bei der Suche systematisch vor. Raum für Raum. Ich starte im Küchenbereich und durchsuche alles nach möglichen Verstecken. Selbst die Cornflakes Packung schüttele ich durch. Das Gefrierfach. Gern als Geldversteck genutzt. Leider habe ich keine konkrete Idee, was ich suche. Wie groß oder klein es ist. Aus welchem Material. Es sind nur Vermutungen in meinem Kopf. Ich wechsele ins Bad und ins Schlafzimmer. Auf dem Bett liegen drei Schlafgarnituren. Die beiden kleinen in Mickey Mouse-Stil sind sorgfältig gefaltet. Nur die linke Hälfte, die Seite des Vaters, ist ungemacht. Zum Glück waren seine Kinder nicht hier gewesen. Zunächst öffne ich den Kleiderschrank, schiebe ein paar Kleiderbügel beiseite und nehme einige Stapel Pullover heraus, die ich auf dem Bett ablege. Dahinter. Daneben. Nichts. Nichts Ungewöhnliches zu mindestens. Auffällig ist eher, wie ordentlich es ist. Im Nachtschrank der Kinderseite finde ein paar Bücher, kleinere Spielzeuge. Stofftiere. Ein paar Dinge behalte ich länger in der Hand, doch ich spüre nichts. Ich wechsele die Seite. Auch hier durchsuche ich das Nachtschränkchen. Es befinden sich nur ein paar Notizzettel darin, die lose in der Schublade liegen. Ich blättere sie durch und erkenne auf einigen von ihnen Symbole, die er mehrfach in sein Buch gekritzelt hat. Auf einem Zettel sind Noten abgebildet und ich halte unwillkürlich inne. Ich kann sie nicht lesen und werde nicht mutmaßen, da es mich nur auf die falsche Fährte bringt. Ich ziehe mein Handy hervor und mache ein Foto. Dieses schicke ich einem Bekannten zu, der ein Geschäft für alte Musikinstrumente und Memorialien führt. -Kannst du damit etwas anfangen?-, tippe ich eine Nachricht und öffne die Taschenlampen-App. Ich knie mich vor das Bett und schaue auch darunter nach. Ich sehe vor allem Staub. In der rechten Ecke liegt ein Werkzeugkasten, eine Dose mit Schrauben und Dübeln direkt daneben. Links befindet sich ein in Stoff eingewickelter Pappkarton, welcher mein Interesse weckt. Aus einem Impuls heraus greife ich danach und ziehe ihn hervor. Der Karton ist mit einem dünnen Tuch abgedeckt und als ich dieses berühre, fühlt es sich an, als würde ein leichter Blitz durch meine Finger strömen. Da es kein durchgängig negatives Echo ist, bin ich zunächst irritiert. Ich lege den Kartoninhalt frei und mir wird klar wieso. Die Kiste ist gefüllt mit Erinnerungen. Fotos von Geburtstagsfeiern, undefinierbaren Knetfiguren und bemalten Steinen. Etwas, was völlig heraussticht. Ich ergreife es und der anhaftende Schatten versetzt mir einen leichten Schlag, der mich trotzdem zusammenfahren lässt. Als hätte ich gegen einen Elektrozaun gefasst. Echt unangenehm. Ich drehe das handflächengroßes Holzkästchen, das Ähnlichkeit mit der Zeichnung hat, hin und her und entdecke auf der rechten Seite ein kleines, händisch gebohrtes Loch. Es ist möglich, dass es zur Befestigung der Kurbel diente, die den Mechanismus einer Spieluhr in Gang setzt. Es gibt feine Abnutzungsspuren. Kratzer und Schrammen. Es fühlt sich zu leicht an. Als ich die Schatulle öffne, ist sie, wie erwartet leer. Könnte es das sein, was ich suche? Die Überlegungen werden unterbrochen, als mein Telefon zu klingelt. Mit der linken Hand ziehe ich es aus der Jackentasche und starre auf eine unbekannte Nummer. „Ja?“, entgegne ich. „Ich habe die Verbindung...“ Danach folgt eine blitzschnell aufgesagte Adresse und Pastor legt auf. Ich schaue irritiert auf das Display meines Handys, welches eben die unbekannte Nummer anzeigte und murmele einen ironischen Plaudermonolog vor mich hin, bis es wieder schwarz wird. Vielleicht belle ich ihn nachher einfach nur an, wenn er meint, mich ranpfeifen zu können wie ein Hund. Ich notiere die Adresse auf einem Block, der auf dem Nachttisch liegt, bevor ich es vergesse und sehe auf die Uhr. Ich stecke das Kästchen in die Jackentasche und verlasse die Wohnung. Ich brauche fast 30 Minuten, bis ich bei der Adresse ankomme und einen Parkplatz gefunden habe. Noch weitere 10 Minuten, bis ich seine Wohnungstür finde, da sie keine namentliche Beschriftung trägt. „Flohmarkt!“, schmettert er mir entgegen, als sich nach dem Klopfen die Tür öffnet. Sofort dreht sich Pastor wieder um und ist verschwunden. Ich folge ihm in die eher spärlich eingerichtete Wohnung, als ich keine weitere Erklärung oder Einladung zum Eintreten erhalte. Mutmaßlich wohnt er noch nicht lange hier, das würde auch den fehlenden Namen an der Klingel begründen. Ich lasse meinen Blick wandern, nachdem ich bei ihm im Wohnzimmer ankomme. In einer Ecke stapeln sich Umzugskartons mit verschiedensten Aufschriften. Küche. Bad. Schlafzimmer. Ein paar der Kisten stehen geöffnet im Raum und Pastor umschlängelt sie gekonnt, um an seinen Schreibtisch zu gelangen. Vermutung bestätigt. „Ein paar Möbel würden nicht schaden.“, sage ich nach einem letzten Blick und beziehe meinen Kommentar auf den offerierten Flohmarkt. Pastor sieht verdattert auf und wechselt an den großen Esstisch, der über und über mit Akten bedeckt ist. Zielstrebig schiebt er einen enormen Stapel zur Seite und beginnt, in einem Kleineren zu suchen. „Das Jugendzentrum veranstaltet am letzten Wochenende jeden ungraden Monats ein Flohmarkt für die Gemeinde.“, berichtet er und ignoriert meinen Ausspruch geschickt. Wieder folgt eine Pause, in der er eifrig in einem der Papierstapel blättert. „Dort treffen auch etliche Vereine und Missionen zusammen.“ „Der letzte war also vor drei Wochen?“ „Ja.“ Erneut entsteht Stille, in der das Geräusch von raschelndem Papier die füllende Konstante gibt. Pastor wirkt unleidlich, aber ich weiß nicht, wie ich ihm helfen kann. „Soll ich später wiederkommen?“, frage ich foppend, weil ich nicht glaube, dass er sich in diesem Chaos zurechtfinden wird und weil mir danach ist, ihn zu ärgern. Wuff. „Ich habs ja es gleich…“, kommentiert er, ohne auf meine kleine Provokation einzugehen. Ich hebe eine Augenbraue und sehe mich seufzend ausführlicher um. Es ist kaum Persönliches in den Räumen auszumachen. Am Eingang zur Küche lehnen ein paar gerahmte Bilder an der Wand, die scheinbar aus der Ermangelung an Hammer, Nägel und Zeit am Boden stehen. Oder an Geschick? Ich gehe darauf zu, um sie mir besser anschauen zu können. Es sind landschaftliche Motive voll satter Farbe und eminenter Intensität. Ein Feld aus Mohnblumen im Mittsommer und das saftige Grün eines vermoosten Waldes im Schatten uralter Bäume. Ich sehe zu dem jungen Detective und frage mich, ob er sie ausgewählt hat. Er wirkt nicht wie ein Naturbursche, der seine freien Tage damit verbringt, Bäumchen zu umarmen. Aber was weiß ich schon. Ich kenne ihn überhaupt nicht und bin selbst oft Opfer überstürzter erster Eindrücke. Auf der Anrichte zur Küche steht die gerahmte Fotografie eines älteren Paares. Sie ist vergilbt und hat deutliche Gebrauchsspuren. Ich vermute, dass es seine Eltern sind oder die Großeltern. Im Hintergrund erkenne ich Zypressen und sanfte Hügel. Sie lächeln. „Mist, ich weiß nicht mehr, wo ich ihn hingelegt habe...“, durchbricht Pastor fluchend die Stille. Er knurrt leise auf und seufzt laut. Danach zieht er resigniert die Arme hoch und verschränkt sie locker hinter seinem Kopf. Endlich erfolgt die Erklärung. „Es gibt einen Zeitungsausschnitt, den ich vor kurzem gelesen habe, in dem von dem Flohmarkt berichtet wurde. Darin gab es eine Momentaufnahme und ich bin mir sicher, dass darauf die beiden Toten abgebildet waren. Das heißt...“ „... dies wäre ein Aufeinandertreffen.“ Ein erstes, zweites oder drittes Treffen. Egal, was es ist, es ist ein Anfang. „Richtig!“, bestätigt er enthusiastisch, „Ich erinnere mich auch, dass darin stand, dass es an dem Tag zu Streitigkeiten kam. In dem Artikel bezeichneten sie es als engagiertes Diskutieren, aber ich habe durch ein Gemeindemitglied der Kirche erfahren, dass sie sich fast geprügelt haben. Normalerweise passiert dort sowas nicht.“ „De Lucia und Bakow?“ Ein auffälliger Zufall. „Vielleicht. Möglich, sie nannte mir keine Namen und es waren noch ein paar mehr involviert. Einer der Stände war wohl heiß begehrt. Es war Nachlass einer älteren Dame, die Unmengen an kleinen Kunstgegenständen besaß. Echte Raritäten zum Teil. Der Nachlassverwalter wollte so Schulden begleichen, die sie bei Gläubigern hatte.“ Seine Ausführung lässt mich aufhorchen. Antiquitäten. Nachlass. Negativ aufgeladene Objekte können dafür sorgen, dass sich darin befindliches Unheil auf die umgebenen Seelen überträgt. Das dadurch hervorgerufene atypische Verhalten könnte einer Besessenheit geschuldet sein und besessene Personen werden oft durch eigenartiges, sonderbares und von der sonstigen Norm abweichendes Benehmen beschrieben. Und das nicht ohne Grund. Die unnatürlichen Energien beeinflussen nicht nur Menschen, sondern auch die Umgebung. Mal offensichtlich, wie mit flackernden Lichtern oder Türen, die aufgehen oder zu schlagen. Mal ist es dezent. So, als würde die Luft um einen herum kälter werden und fühlt sich an, als berührte einen der eisige Hauch des Unheils im Nacken. In meinem Fall materialisieren sich die Schatten. Dunkle Umrisse und Schemen. Von den meisten werden diese Ereignisse gar nicht wahrgenommen und bleiben den dafür Sensiblen vorbehalten. Es ist kein Geschenk, es zu wissen oder zu spüren. Es ist beängstigend. „Kunstgegenstände. Wie Spieluhren?“, hake ich interessiert nach. „Was weiß ich. Gut möglich.“, erwidert er skeptisch,spart sich die Frage nach dem Wieso. „Gab es andere ungewöhnliche Vorkommnisse an dem Tag?“, erkundige ich mich weiter, als sich Pastor seufzend auf seinen Schreibtischstuhl fallen lässt. „Vorkommnisse?“ Ferner gleiten seine Augen suchend über den vollgestellten Tisch. „Ja, sowas wie... der Strom fiel aus. Stapel fielen um oder die Toiletten waren plötzlich überschwemmt.“ Während meiner Aufzählung wandert Pastors Augenbraue in die Höhe. Doch er lässt seiner Skepsis nicht die Oberhand. Er denkt einen Moment lang darüber nach und schüttelt verneinend den Kopf. „Nein. Sowas stand da nicht.“, äußert er ablehnend, „Aber...“ Die Hoffnung kehrt zurück. „Aber was?“ „Ich meine, dass auf der Aufnahme etwas komisch war...“ „Was genau?“, hake ich energisch nach. „Darf ich ausreden?“, pariert er ad hoc. Ich presse die Lippen aufeinander und vollführe eine höfliche, auffordernde Geste in seine Richtung. „Für gewöhnlich kann man doch davon ausgehen, dass Fotos für solche Artikel professionell gemacht werden. Nicht wahr?“ Ich erwidere nichts. Er erwartet es nicht. „Bei den Bildern fiel mir auf, dass es an einer Stelle überbelichtet war. Der Bereich war seltsam verschwommen und undeutlich. Sowas würde man doch normalerweise nicht für etwas Offizielles auswählen.“ „Es sei denn, es ist auf allen Bildern. Vielleicht war die Kamera defekt.“ „Sie fragten mich nach ungewöhnlichen Dingen und jetzt belehren Sie mich schon wieder mit logischen Erklärungen? Darauf wäre ich von allein gekommen.“ Den letzten Teil bellt er mir regelrecht zu. Ich hebe abwehrend die Hände. „Ist ja gut!“, wehre ich ab. Ich glaube, mich zu verhören, aber er gibt daraufhin ein grantiges Knurren von sich. „Woran denken Sie? Spucken Sie es endlich aus.“, fordert er mich auf. Pastors Stirn legt sich in Falten, sodass der Ernst seiner Frage praktisch in seinem Gesicht zu erlesen ist. Verbissen oder nicht, ich bin mir nicht sicher, wie bereit er dafür ist, meine Annahmen zu hören. Doch mir bleibt nichts anderes übrig. „Schon mal etwas von Besessenheit gehört?“ „So... wie... in.... der... Exorzist?“ Mit Vorsicht betont er jedes einzelne Wort, um den letzten Teil förmlich auszuspucken. Im gleichen Moment pressen sich seine Lippen aufeinander, so wie ich es vorgemacht habe. „Theoretisch ja. Praktisch nein. Es ist wesentlich breitgefächerter und in der heutigen Zeit durch etliche medizinisch anerkannten Krankheitsbilder erweitert. Es ist auch kein rein christliches Phänomen, wie es in dem Film rüberkommt. So ziemlich alle Kulturen sprechen von Arten der Besessenheit, die sich in sehr unterschiedlichen Formen manifestieren können.“ „Okay.“ Vorsichtig und langgezogen. Meinen Redeschwall stoppt es nicht. „Es kann permanent oder temporär sein. Es gibt sogar Dualitäten und Symbiosen“, zähle ich zu begeistert auf, wie mir Pastors entgeisterter Gesichtsausdruck mitteilt. „Besessenheit?“, wiederholt er und seine Augen verengen sich, so, als würde er dadurch durch den Schleier des Wahnsinns hindurchblicken, der mich in diesem Moment umgibt. Er ist zu dicht, als dass er das je könnte. Ich seufze und ziehe das kleine Kästchen aus meiner Jackentasche, dass ich in de Lucias Wohnung gefunden habe. Mit der flachen Hand strecke ich es ihm entgegen. „Was ist das?“, erkundigt er sich, sieht zu der Box und zurück zu mir. „Ich vermute, es war eine Spieluhr. Der Mechanismus fehlt aber und ich weiß nicht, ob das damit zusammenhängt oder ob er schon länger abhandengekommen ist.“ „Also Sie denken, die beiden waren von einer Spieluhr besessen?“ Es muss eine Meisterleistung sein, es nicht höhnend klingen zu lassen. Es gelingt ihm. „Nicht die Uhr selbst. Das, was in der Spieluhr war, hat sie in Besitz genommen. Sehen Sie das hier?“ Ich strecke ihm die Hand entgegen, deute auf eine Stelle und rede erst weiter, als er sich dichter zu mir heran beugt. „Das sind Reste von weißem Siegelwachs.“ Ich drehe das Kästchen und zeige ihm, dass alle sechs Seiten derartige Spuren aufweisen. Gut zu erkennen sind ebenfalls die leichten Rußreste, die vermutlich von einem Reinigungsritual stammen. Auch die deute ich ihm an „Ich bin sicher, dass hierin etwas durch ein Ritual gebannt war und die Tatsache, dass es geöffnet und vielleicht sogar abgespielt wurde, hat es wieder freigesetzt.“ „Und was bitte?“ „Einen Geist. Dämon... Einhorn. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass de Lucia zuletzt seltsame Symboliken in sein Notizbuch gekritzelt hat. Und diese waren eine interessante Mischung aus früh alttestamentarischen Zeichen und Kabbala. Außerdem hat er dieses Kästchen gemalt, mehrfach und er hat dazu eine Melodie notiert. Das passt zu einer Spieluhr.“ Logisch deduziert. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass das eine klare Fixierung andeutet. „Ich weiß nur nicht, was es für eine Melodie ist, aber das erfahre ich noch.“ „Sie haben sein Notizbuch?“ „Ja, ich fand es in der Wohnung unter der Couch.“ Auch dieses hole ich hervor und entferne vorsichtig die Talismane, ehe ich es Pastor reiche. Sein Blick fällt augenblicklich auf das prägnante Loch inmitten des Buches und wechselt zu den mit chinesischen Schriftzeichen versehenden länglichen Papierstücken, die ich beiseitegelegt habe. Er schaut mich verwirrt an, doch ich winke nur ab. Mehr meiner kryptischen Erklärungen verträgt er nicht. Mit einem seltsamen Raunen schlägt er das Buch auf und durchblättert ein paar der Seiten. Ich helfe ihm auf die Seite mit der Zeichnung zu gelangen und deute auf die vereinzelten Noten. Meine Quelle hat mir bisher nicht geantwortet und wenn wir Pech haben, wird es etwas dauern. „Okay,“, setzt Pastor an, “...ähm... nehmen wir mal an... dass das tatsächlich eine ...“ Er unterbricht seine Ausführung und sucht nach einem geeigneten Wort. Dabei beginnt sich die Hand, die nicht das Notizbuch hält, leicht zu drehen und zu schwenken. Ein paar gequälte Laute fliehen über seine Lippen und ich warte geduldig, um nicht erneut eine Rüge zu kassieren, weil ich dazwischenrede. „... plausible Möglichkeit wäre.“, endet er und wirkt zufrieden, „Was wären die nächsten Schritte?“ Angenommen? Plausibel? Er hätte genauso gut erfragen können, wann ich aus der Klapse entkam. Wenigstens ist er höflich. Ich schenke ihm trotzdem einen vielsagenden Blick. „Die Frage ist, ob sie wirklich beide damit in Berührung gekommen sind und was genau da drin gewesen sein könnte“, führe ich aus. „Also, ob es wirklich das diabolische Einhorn ist...“ Er steckt in der Phase des Lächerlich machens. Damit kann ich umgehen. „Jein, ich meine eigentlich das konkrete Objekt. Erinnern Sie sich an die Aufnahme? Am Ende schien Bakow irgendwas zu werfen. Es wirkte klein, handlich... Der Mechanismus der Spieluhr vielleicht oder Schmuck. Eine Münze. Was auch immer. Viel wesentlicher ist, dass es jetzt jemand anderes haben könnte.“ „Wenn es wirklich das war, was geworfen wurde.“ „Ja, es könnte auch ein Stein gewesen sein“, gebe ich zu, „Vielleicht sollten wir noch mal dorthin fahren und suchen.“ Ich sehe aufs Handy. Die Gefahr, dass es in andere Hände geraten ist, ist groß und bereitet mir Sorgen. Auch Pastor schaut auf die Uhr und erst jetzt scheint ihm aufzufallen, wie spät es ist. Statt mir zu antworten, sieht er erneut zu seinem Schreibtisch und auf den Berg von Akten. Er seufzt und schließt für einen Moment die Augen. „Okay. Besser als sinnlos weiter zu grübeln.“, bestätigt er zu guter Letzt und steht auf. Ich stecke die leere Schatulle zurück in meine Jackentasche und nehme ihm das Notizbuch aus der Hand. Sorgsam verpacke ich es wieder in die Schutztalismanen, murmele ein paar präventive Formeln und ignoriere Pastors skeptischen Blick. Ich warte im Flur auf ihn. Als er endlich fertig ist, hat er eine dicke Akte in der Hand und deutet mir an, vorzugehen. Wir steigen in mein Auto und fahren eine Weile, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Pastor durchsucht die Zettellagen, obwohl er kaum etwas sehen kann. Das unstete Aufblitzen der Straßenlaternen bietet keine nutzbringende Lichtquelle. „Bakow und de Lucia müssen neben dem Flohmarkt noch ein weiteres Mal aufeinandergetroffen sein, weil...“, beginne ich. „Weil der eine die Schatulle und der andere das Was-auch-immer-Ding hatte?“, führt Pastor meine Gedanken fort. Ich hätte es nicht besser ausdrücken können. „Ja.“ „Aber wie sollen wir das jemals nachvollziehen können? Es ist zu beliebig. Es könnte sonst wo gewesen sein und sonst wann.“ Berechtigter Einwand. So ist das Leben. „Wenn sie auf dem Flohmarkt damit in Berührung gekommen sind, dann wird der Effekt sich auf beide ausgebreitet haben. Sie wurden von dem Objekt angezogen und werden sicher versucht haben, es sich abzunehmen.“ „Hätten sie sich dann nicht gegenseitig die Köpfe eingeschlagen?“, wirft er berechtigterweise ein, „Es lagen gut acht Tage zwischen den Vorfällen. Das spricht für ein Nacheinander.“ Er hat Recht. Was immer es war, es ist gesprungen. Von einem Körper zum anderen. Doch, wieso ist es bei keinem der beiden Männer geblieben? Warum hat es sie getötet? „Zwischenwirte“, murmele ich mehr zu mir selbst als zu dem Detective, „Was auch immer es war, es wollte jemand anderen.“ „Heißt was?“ „Die beiden waren nicht die Richtigen.“ Diesmal bekomme ich nur ein schweres Raunen als Antwort. Ich werfe einen Blick zur Seite. Pastor schaut aus dem Seitenfenster und trommelt mit zwei Fingern auf der Akte herum, die auf seinem Schoss liegt. Er schlägt sie wieder auf und beginnt einen weiteren Versuch, das zu finden, was er sucht. Auf einem Mal ist die Gestalt mitten auf der Straße. Mein Fuß prescht auf die Bremse und wir kommen unsanft zum Stehen. Irgendetwas vom Rücksitz prallt geräuschvoll gegen den Fahrersitz und fällt zu Boden. „Vermaledeit!“, ertönt es neben mir. Pastor schafft es noch, zwei oder drei Blätter festzuhalten, der Rest der vollgepackten Akte rutscht in den schmalen Raum zu seinen Füßen. Doch das ist mir egal. Der Grund des plötzlichen Manövers hat meine volle Aufmerksamkeit. Ein lauter Seufzer ertönt vom Beifahrersitz. „Hast du deinen Führerschein aus dem Kaugummiautomaten?“ Detective Pastor beugt sich leise mosernd nach vorn und beginnt, die Blätter aufzuklauben. „Pastor…“, sage ich ruhig, um ihn auf den jungen Mann aufmerksam zu machen, der vor dem Auto aufgetaucht ist. Die schmale Gestalt ist eingehüllt in blutbespritzte Kleidung und starrt ausdruckslos geradeaus. Er nimmt uns nicht wahr. Ich taste schwungvoll nach dem Arm meines Beifahrers, klopfe gegen seine Schulter und dem Schulterblatt. Doch mein Kollege ist mit dem Einsammeln der gelösten Blätter beschäftigt, dass er meine Hand nur abschüttelt. „Fahr weiter! Ich habs gleich… Letzte Woche hatte ich den Artikel definitiv noch in der Hand“, versichert er mir zum wiederholten Male. Es spielt keine Rolle. „Ist mir gerade scheißegal!“, erwidere ich absichtlich harsch. „Wie bitte?“ Pastor schaut auf. Erst zu mir. Doch ich schaue direkt nach vorn. Er folgt meinem Blick und trifft sofort auf die Gestalt, die regungslos vor dem Wagen steht. Die Akte gleitet aus seiner Hand und wieder flattern etliche Papiere in den Fußraum des Beifahrersitzes. „Izan…“, entflieht ihm der Name des Jungen. Laut genug, dass es scheinbar auch nach draußen dringt. Denn der Jugendliche erwacht in diesem Moment aus seiner Starre. Pastor öffnet die Tür und mit nur wenigen Schritten erreicht er den unvermittelt zitternden Körper. Ich folge ihnen nach draußen, aber mit mehr Ruhe und bedachten Blicken in die Umgebung. Es ist menschenleer. Ungewöhnlich für einen späten Nachmittag. Nichts ist zu hören. Nur die Stimmen der Natur und der Stadt. Ich habe keine Ahnung, wo der Heranwachsende hergekommen ist und was er in dieser Gegend verloren hat. In dem Viertel ist es gefährlich. Als ich näher an den Jungen herantrete, wird das Ausmaß der blutigen Spuren deutlicher. Die Unmengen an Spritzer, die an seiner Kleidung und an seinen Händen haften, sprechen für eine große Menge Blut. Aber er scheint nicht verletzt. „Luis…ich habe…“, flüstert der Junge. Seine Stimme begleitet ein angsterfülltes Zittern und dann bricht er vollends in Tränen aus. „¿Izan, estas herido? Izan! Atme! Sieh mich an. Bist du verletzt?“ Es folgt ein ruckartiges Kopfschütteln, als der Jugendliche die Frage nach eigenen Wunden verneint. Die Tränen hinterlassen blasse Spuren auf seinen verschmutzten Wangen. Ein Wimmern flieht über seine verkrusteten Lippen. Ein Schluchzen folgt und erstickt. Ich greife nach seinem Arm, berühre ihn nur minimal und zucke sofort zurück. Für den Bruchteil einer Sekunde färbt sich alles um ihn herum schwarz. Mein Puls beschleunigt sich und dieses ganz bestimmte Gefühl bricht hervor. Es sitzt tief und augenblicklich schaltet sich alles in mir auf Obacht. Es folgen ein paar Worte auf Spanisch, die mich zurück aus der Dunkelheit holen. Ich vernehme sie nur dumpf, aber es reicht aus. Pastor zieht den jungen Mann endlich zur Seite und von der Fahrbahn. Weitere Träne malen bizarre Muster in seinem Gesicht, während der Kollege beruhigend auf ihn einredet. Im Moment ist er mehr Freund und nicht Polizist. Es ist nicht hilfreich, denn ich spüre unentwegt, wie sich die Härchen in meinem Nacken aufrichten und wie meine Ohrläppchen zu kribbeln beginnen. Etwas stimmt nicht. Ich beobachte Izans gequältes Gesicht, der stotternd zu erklären versucht, was passiert ist. Wortfetzen jagen Phrasen. Nur unnützes Zeug verlässt seinen Mund, was zu dem von Tränen, Schluchzen und unverständlichem Nichts unterbrochen wird. Ich tippe Pastor auf die Schulter und suche seine Konzentration. Sein Blick huscht kurz zu mir und sofort zurück zu dem Jungen. Dennoch hat er verstanden. Er greift nach dessen Händen, um ihn besser zu fokussieren. Sie sind dreckig, doch ich erkenne nicht nur Blut, sondern ebenso getrockneten Schlamm und Erde daran. Die Adern an den Fingergliedern treten deutlich hervor und sind ungewöhnlich dunkel. Izan entfliehen weitere spanische Gebetsphrasen und er lässt seine Augen geschlossen. Mittlerweile hat es angefangen zu nieseln. „Izan, bitte... du musst uns sagen, was passiert ist. Verstehst du? Izan?“, versucht Pastor es erneut. Er muss auf den Punkt kommen. Irgendwoher ist das Blut hergekommen und diese Person liegt sterbend am Boden. Wenn sie nicht schon tot ist. „Hey, konzentriere dich. Wo kommt das Blut her?“, mische ich mich ein und packe ihn an den schmalen Schultern. Der Körper des Jungen versteift sich in meiner Berührung. Izans Blick bleibt starr auf Pastor gerichtet und nur langsam schaut er zu mir. Wieder durchdringt mich ein inneres Beben, doch ich lasse ihn nicht los. Da ist ein Flackern und für einen Atemzug wird das dunkle Braun seiner linken Iris blau. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Eine einseitige Verfärbung der Iris, echot es durch meinen Kopf mit aufblitzenden Erinnerungen. Leider kriege ich den Funken nicht gefasst. „Izan, bitte, wir müssen wissen, von wem das Blut ist“, versucht es Pastor mit sanftmütiger Stimme weiter. „Pablo…“, antwortet er flüsternd. Ich schaue zu dem anderen Detective und sehe ihn verstehend nicken. Er weiß, von wem er spricht. Wer ist Pablo? Kurz sieht er zu mir, weil ich ihm meinen fragenden Blick förmlich aufzwinge. „Ein Hund“, sagt er schlicht und ich atme hörbar aus. Nicht schön, aber immerhin kein toter Jugendlicher. Izan streckt seine Hand aus und deutet ohne ein weiteres Wort in den Hinterhof eine der Baracken. „Bleibt hier. Ich gehe allein“, sage ich und der zweite Teil klingt wie eine Anweisung. „Warte...“, sagt Pastor und hält mich zurück, „Vielleicht sollten wir... Verstärkung holen!“ „Und mit welcher Begründung?“ Für einen toten Hund? Einen gruseligen und verdreckten Jungen? Ich spare mir jeden Kommentar. Ich habe mir abgewöhnt, in solchen Situationen über die üblichen Polizeivorschriften nachzudenken. Okay, hier sind zwei Polizisten in einer unangenehmen Lage, aber Verstärkung brächte nur weitere Menschen in Gefahr, was ich unbedingt vermeiden möchte, wenn hier etwas von den Varianten passiert, an die ich denke. Mehr Personen bringen hier leider keinen Vorteil. Pastor schluckt seinen Protest runter. Er tastet unruhig nach seinem Handy und legt dabei seine Dienstwaffe frei. Doch bevor er es benutzen kann, springt der Junge hastig auf, knurrt und schlägt das Telefon mit einer schnellen Bewegung aus Pastors Händen. Es klirrt und das Gerät zersplittert auf der Straße. „Was zum...“, entflieht es Pastor erschrocken. Doch er schafft es nicht, gegen die energetische Welle anzukommen, die uns plötzlich trifft. Mit einem Ruck wird er ohne körperliches Zutun über den Boden geschoben und endet an einer der nicht funktionierenden Straßenlaternen. Ein schriller Laut entkommt der Kehle des Jungen. Seine Augen färben sich komplett schwarz und ich gehe in Deckung, ehe eine Mülltonne in meine Richtung fliegt. Sie kollidiert mit der Hauswand. Der Krach ist enorm. Plastik splittert. Scharniere bersten. Eines der Räder rollt über den Bürgersteig und kommt neben dem Auto zum Liegen. Die Kräfte, die eben wirkten, sind gewaltig gewesen und das gigantische Dunkel trübt augenblicklich meine Sinne. Es ist wie ein beißender Schmerz und ein summender Schatten, der sich meiner kurzzeitig bemächtigt. Ich halte mich geduckt und kann nur aus dem Augenwinkel heraus sehen, wie der Junge in den Hinterhof verschwindet. Der Schatten begleitet ihn. ~Fortsetzung folgt~ Kapitel 4: Mit dem Wissen um Wahrheit und Tod - 4 ------------------------------------------------- Folge 1 ~Teil 4 - Mit dem Wissen um Wahrheit und Tod~ Sofort rappele ich mich auf und suche nach meinem Kollegen. Pastor hockt nur ein paar Meter neben der Mülltonne, die mich hätte treffen sollen und blickt mir mit erschrockenen Augen entgegen. Ich sehe, wie sich sein Mund bewegt, aber kein Laut dringt aus seiner Kehle. Die Wucht der Energie hat Spuren an ihm hinterlassen. Seine Haare sind zerzaust und er hat Blut am Ohr. Ich stolpere auf ihn zu, packe ihn an den Schultern, sodass er mich vollkommen fokussiert und ziehe ihn hoch. „Was war das? Was ist hier gerade passiert?“, fragt er mit zittriger Stimme, „Wo ist er? Wo... ist Izan?“ „Er ist verschwunden und wir müssen ihn unbedingt finden. Aber wir werden vorher sicher gehen, dass sich niemand weiteres hier aufhält. Haben Sie mich verstanden?“ Meine Worte sind ein wenig harsch. Doch es klappt. Er scheint sich wieder zu fassen. Pastor nickt langsam, streicht sich die Haare zurück und tastet nach seiner Dienstwaffe im Holster. Sie wird ihm kaum helfen, aber sie gibt in solchen Situationen eine gewisse Sicherheit. „Sie gehen nach Westen. Gelände sichern. Ausschau halten. 10 Minuten, dann treffen wir uns wieder hier“, weise ich an. Ich krame mein Handy hervor, aktiviere die Ortung und einen Timer, während Pastor sich die wirren Haare zurückstreicht und erneut nickt. Ich habe das Gefühl, ich müsste irgendetwas Aufbauendes oder Erhellendes sagen, doch ich schweige. Stattdessen deute ich ihm die Richtung an, in die ich gehe und in die Izan verschwunden ist. Sich zu trennen, war, zugegebenermaßen, nicht die beste Idee, aber ich brauchte einen Moment, um nachzudenken, mich zu sammeln. Ich habe eine Ahnung, was mit Izan passiert sein könnte und hoffe inständig, dass ich falsch liege. Ich drücke mich dicht an der Wand entlang, während ich langsam durch die Gasse in den hinteren Bereich des Gebäudekomplexes gelange. Vor mir erstreckt sich ein unerwartet weites Gelände, welches erst nach mehreren hundert Metern in ein Nachbargrundstück mündet. Einige der anliegenden Häuser sind kaum mehr als Ruinen, verfallene Baracken. Berge von Schutt und Abfällen türmen sich auf und versperren mir die Sicht. Der Junge könnte überall sein. Die Möglichkeiten, sich hier zu verstecken, sind endlos. An einer der übriggebliebenen Wände leuchtet eine Außenlampe. Wenigstens flackert sie. Sie flackert, wiederhole ich leise und mir wird klar, dass entgegen meines ersten Gedankens, nichts Gutes bedeutet. Er ist hier. Ganz in der Nähe. „Izan?“, rufe ich den Namen des Jungen. Er verhallt in der Dämmerung und war ohnehin nicht sonderlich energisch. Wie war das doch gleich mit der bedrückenden Kulisse und den verlassenen Häusern? Horrorklischees und Warnung? Kaputte Straßenbeleuchtungen sind mitnichten ein gutes Zeichen. Mein Blick wandert aufmerksam hin und her. Diesmal bin ich definitiv gewarnt, aber ich fühle mich nicht wesentlich besser vorbereitet. Ein Schatten huscht über ein leergeräumtes Fundament und ich stoppe in der Bewegung. Das Kichern eines Kindes ertönt. Es verhallt mit Gewitter auf meiner Haut und lässt ein tiefes Lachen eines Mannes folgen. Beides dröhnt durch die Dämmerung und schürt die Obacht an mir noch weiter. Ich versuche etwas zu erkennen, aber sehe nur huschende Schatten, die durch das tiefstehende Licht überall und nirgends zu sein scheinen. Das Knacken von Glas. Ich wende mich ruckartig um. Es spielt mit mir. Ich halte ungewollt die Luft an, als wieder das Kichern ertönt. Diesmal ist es das einer Frau. Es ist hell und scheint an den vereinzelten Wänden widerzuhallen. Ich kann nicht verorten, woher es kommt. „Damast!“ Als ich mich umdrehe, erkenne ich, wie Pastor heftig atmend auf mich zu gelaufen kommt. Seine Haare sind mittlerweile klitschnass und er schnieft, während er bei mir ankommt. Der Regen hat die Schmutzspuren auf seiner Wange verwischt. Er streicht sich mit dem Handrücken Feuchtigkeit vom Philtrum und leckt sich über die Lippen. Ich sehe vermutlich nicht besser aus und merke deutlich, wie die nassen Klamotten unangenehm an meiner Haut kleben. „Dort drüben ist noch ein Teil des Friedhofs. Da habe ich jemanden angetroffen. Einen älteren Herrn und seine schwangere Tochter. Sie habe ich weggeschickt. Izan konnte ich nicht finden“, sprudelt es aus ihm hervor. Obwohl er außer Atem ist, sagt er das alles, ohne Luft zu holen. „Wo ist er?“ Ich schüttele den Kopf, um ihm zu verdeutlichen, dass ich ihn nicht gefunden habe. Aber ich kann ihn mit wachsender Sicherheit spüren. Das schwere Knistern in der Luft ist unverkennbar. Er beobachtet uns. Er spielt mit uns. Es ist kein Zufall, dass wir den Jungen hier angetroffen haben. Ich erkenne die Gegend. Hier wurde der tote Obdachlose gefunden. Ein paar Aufgänge entfernt. Und hier ich hatte die unangenehme Begegnung mit dem Golem. Irgendwas muss Izan hierhergezogen haben. Meine Vermutung, was es ist, hat sich verstärkt. Ein Dibbuk. Ein Totengeist. Es wird Pastor nicht gefallen. „Was machen wir jetzt? Wir müssen ihn finden!“, durchbricht der andere Detective das Schweigen und holt mich in die Realität zurück. Er hat Recht. Wir müssen etwas tun. „Vielleicht können wir ihn zu uns locken...“, schlage ich vor und taste nach der defekten Spieluhr in meiner Jackentasche. Pastor beobachtet mich und sieht fragend zu mir auf „Wieso sollte das Ding ihn herlocken?“ „Ich glaube, er will es zerstören, damit sie nicht wieder sein Gefängnis wird.“ Möglicherweise ist er deshalb nicht abgetaucht. Er hat gespürt, dass ich sie habe. Ein helles Lachen zerreißt den Moment und im nächsten Augenblick erfasst uns abermals eine Energiewelle, die uns zu Boden ringt. Pastor wird über den Beton hinweg gegen die Mauerreste des Hauses gedrückt. Ich hingegen falle rückwärts über die Kante des Fundaments und rolle in einen verwilderten Garten hinein. Durch den Schwung fliegt mir das Kästchen aus der Hand. Ich komme erst in einer flachen Pfütze zum Stehen. Das dreckige Wasser ist bitter auf meinen Lippen und ich will mir lieber nicht vorstellen, was alles darin rumschwimmt. Gut, dass es so dunkel ist, dass ich es nicht sehe. Ich rappele mich auf, streiche mir den Dreck aus dem Gesicht und blicke mich nach der Spieluhr um. Sie liegt nur ein paar Meter von mir entfernt und ich krabbele schnell darauf zu. Ich greife zu. Doch dann steht er unvermittelt vor mir. Sein Fuß auf meiner ausgestreckten Hand. Izan tritt nicht zu, und ich ziehe sie nicht weg. Stattdessen schaue ich auf. Wieder verfärbt sich sein linkes Auge in ein auffällig leuchtendes Blau. Von außen nach innen. Er starrt mich direkt an. Oder vielmehr es, denn nichts als die Hülle des Jungen steht vor mir. Sein Körper scheint mit der Dunkelheit zu verschwimmen und nur der Schein des Mondes umspielt die Gestalt, bevor er hinter einer weiteren Wolke verschwindet. Die Schatten tünchen es nur unwirklicher und der Regen macht es unangenehmer. Izans Mund öffnet sich, weitet sich zu bis an die Grenzen und darüber hinaus. Das Knacken ist leise, aber hörbar. Es durchbricht die Stille mit Intensität und tiefgreifenden Unbehagen, welches nicht allein ich spüre. Izan neigt seinen Kopf langsam zur Seite, ohne den Fokus auf mich zu brechen und ohne einen Ton von sich zu geben. Das Bild, welche es sich uns bietet, ist nahe zu grotesk. „Damast!“, ruft Pastor und rammt den Jugendlichen zur Seite, sodass ich mich endlich aufrichten kann. Ich greife mir die Spieluhr und sehe zu dem im Morast liegender Körper des Jungen. Ein Lachen zerreißt die Nacht. Erst schrill, dann wird es immer tiefer, bis es fast bebt. Pastor neben mir zuckt zusammen, als eine Stimme ertönt, die nicht die des Jungen ist. Sie spricht eine fremde Sprache. Für einen Moment spüre ich seine Hand, die nach meinem Ärmel greift. Nur eine hilflose Geste, um in irgendeiner Weise die Anspannung zu mildern, die uns beide mit festem Griff umklammert. Die Luft um uns herum ist zum Bersten gespannt. Ich habe keine Ahnung, wie stark der Dibbuk ist, wie viel Hoffnung noch besteht. Ein Stein neben meinem Fuß rückt näher, schlägt gegen die Gummisohle des Schuhs. Ich starre ihn an. Die Bewegung wird langsam stärker, bis der Stein erzittert. Ich sehe zurück zu Izan und die Atmosphäre, um ihn herum beginnt zu flimmern und zu verschwimmen. Dann... Der Aufschrei des Dibbuk durchdringt mich mit heftigem Schauder. Ich ducke mich und versuche den entstehenden Schmerz in meinem Kopf abzumildern. Doch es ist zwecklos. Die Energie, die er freisetzt, lässt die Luft vibrieren und ich erkenne durch zusammengekniffene Augen, wie sich langsam einige der kleineren Gegenstände um uns herum in die Höhe heben, so als wären sie nicht mehr den physikalischen Gesetzen unterlegen. „Pastor, wir sollten in Deckung gehen“, schlage ich vor und packe bereits seinen Arm. Als nächstes trifft ihn ein Stück Holz. Zum Glück nur am Bein. „Was passiert hier? Was ist das?“, ersucht er panisch und weichem einen vorbeischnellenden Ziegelstein aus, der geräuschvoll an der Hauswand zersplittert. „Ein Dibbuk.“, spreche ich aus. Mit dem nur einem leuchtenden Auge bin ich mir sicher. Gleichzeitig gehen wir hinter einem alten, liegenden Kühlschrank in Deckung. „Und was zur Hölle ist ein Dibbuk?“ „Ein Totengeist aus dem jüdischen Volksglauben.“, erkläre ich weiter und ohne großes Tamtam. „Jüdischer Volksglauben? Izan ist katholisch...“ „Na, das interessiert den Dibbuk herzlich wenig. Er freut sich einfach über einen willigen Geist und den hat er in dem Jungen definitiv gefunden. Glaubensrichtung hin und her. Er ist von ihm besessen.“ Mir ist egal, dass es unsensibel klingt und genauso gleich ist es mir, ob mir der andere Mann glaubt oder nicht. Wir haben keine Zeit für die sanfte Tour oder die heimelige Bibliotheksführung durch die Reihen der Religionswissenschaften. Der Dibbuk in Izan ist gefährlich und angenommen, dass Widerstand in dem Jungen herrscht, wird er töten. So lange, bis seine Gegenwehr bricht und er ihn vollständig besitzt. „Ich kann nicht glauben, dass wir wirklich über einen jüdischen Totengeist sprechen.“, wettert Pastor fassungslos und eindeutig ungläubig. Dafür haben wir keine Zeit. Diese Diskussion führt uns zu nichts und wird uns auch nicht dabei helfen, den Dibbuk loszuwerden. „Von mir aus kannst du dir auch einreden, dass es ein Glücksbärchie ist, der statt Regenbögen Verwesung kotzt!“, belle ich übertrieben zurück und gebe einen Scheiß auf die sonst übliche Etikette. Wir müssen Izan außer Gefecht setzen, egal wie und ihn schnellstmöglich zum Rebbe bringen. Alles andere brächte nur größeres Unheil mit sich. „Dann mach einen Exorzismus.“ „Seh ich aus wie ein Rabbi? Und das ist nicht so einfach... Es darf nicht jeder wild irgendwelche Exorzismen vornehmen. Das ist gefährlich.“ „Was bist du denn für ein Geisterjäger?“, schnauzt er vorwurfsvoll. „Ich bin Polizist und kein Ghostb...“ Ich stoppe, weil sich der Kühlschrank ruckartig in unserem Rücken bewegt und uns dezent einen halben Meter wegschiebt. Izan ist nähergekommen und damit wird die Energie stärker. „Er steckt nach wie vor in einem menschlichen Körper. Die sind weich und gehen kaputt. Du hast doch deine Waffe dabei, oder?“, kommentiere ich, stemme mich gegen unsere Barriere, um nicht zerquetscht zu werden und versuche mit einer Hand in die Richtung seines Holsters zu deuten. „Das ist nicht dein Ernst?“, erwidert er entsetzt und sieht mich mit diesen hoffnungslos freundlichen Teddybäraugen entgeistert an. Echt wirkungsvoll. „Wir müssen ihn ja nur k.o. kriegen.“, relativiere ich meinen Vorschlag. „Ich werde nicht auf ihn schießen. Das ist gefährlich“, echot er bissig und diesmal schaffe ich es nicht, mir ein Augenrollen zu verkneifen. „Wo ist überhaupt deine Waffe?“ „Da, wo sie niemanden gefährlich werden kann“, entgegne ich gelassen, drehe mich um, weil sich der Kühlschrank nicht mehr bewegt und luge vorsichtig über diesen hinweg. Alle eben schwebenden Gegenstände fallen zu Boden. Überall ertönt leises Platschen und dumpfes Rumsen. Ein Surren in der Ferne und das gleichmäßige Prasseln des Regens runden die Kakophonie des Gespenstischen ab. Ich strecke meine Hand unbewusst nach Pastor aus, als dieser ebenfalls einen Blick riskieren will und spüre, wie mich gleich darauf ein tiefgehender Schauer erfasst. Heftig. Schnell. Er ist kalt, zerrend und legt sich um meine Glieder, wie eine beißende Fessel. Dieses Gefühl, es ist genau dasselbe, welches ich vor ein paar Tagen schon mal gespürt habe und kein gutes Zeichen ist. Ehe ich reagieren kann, ist es zu spät. Er ist da. Ich ziehe den Kollegen zurück, bevor etwas Undefiniertes, aber großes neben uns einschlägt und den Kühlschrank komplett verbeult. Eine Welle voller Schlamm und Schuttpartikel ergießt sich über uns und meine Sicht ist für einen Moment vollkommen getrübt. Ich höre das unterschwellige Grölen, kann es aber nicht verorten. Wie auch, ich kann absolut nichts sehen. Der schlanke Körper des besessenen Jungen schlägt neben einem Stapel Holzlatten auf und bleibt liegen. Der Dibbuk scheint sich zurückgezogen zu haben, denn ich höre das leise Wimmern des Jugendlichen und wie er wiederholt Pastors Namen sagt. Sein Murmeln ist pure Verzweiflung. Er will unseren Schutz und lässt dem Jungen kontrolliert die Oberhand. Pastor neben mir hustet. „Der ältere Mann vorhin vom Friedhof...trug er eine Kippa?“, frage ich hastig, als er wieder dichter zu mir aufschließt. Pastor hat keine Zeit, um zu antworten, denn erneut erfasst uns eine Schlammwelle, verursacht durch einen weiteren Schutthaufen, der in unsere Richtung gerammt wird. Er stoppt nur wenige Zentimeter neben uns und schon baut sich der Golem direkt vor uns auf. Ein Grölen zerreißt die Nacht und mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Das darf nicht wahr sein. „Fuck!“, entflieht mir erstickt, als ich das unmissverständliche Zeichen deute. Wir werden elendig krepieren, echot es durch meinen Kopf zerquetscht. Zermatscht. Zerdrückt. Alles das. Einfach nur platt. Ich ersticke den Gedanken sofort im Keim. Sterben ist keine Option. Die nächste Welle wird durch den Aufschrei des wieder aktiven Dibbuks gebrochen, der eine Art temporären Energiewall um sich herum bildet, der uns praktischerweise miteinschließt. Ich nutze die Gelegenheiten, rappele mich auf und greife mir eine der Eisenstangen, die hinter uns auf einem der Haufen liegen. An einem Ende befinden sich Reste von Beton, was sie unhandlich, aber definitiv effektiver macht. Ruckartig erheben sich etliche kleinere Objekte vom Boden. Schutt. Steine. Metall. Sie schweben für einen Moment still in der Luft. Pastor schließt zu mir auf und schaut mich fragenden Augen an. Ein weiterer Schrei. Ich ziehe Pastor nach unten, ehe auch er sich eine Stange nehmen kann und verhindere somit, dass er als nächstes von den weggeschleuderten Gegenständen getroffen wird. Die anderen Eisenstangen zischen über unsere Köpfe hinweg und in die Richtung des Golems. Sie reißen etliches von ihm fort, aber halten ihn nicht auf. Ein Krachen. Ein Splittern. Es wird noch etwas dunkler, da eine der letzten Außenbeleuchtungen erlischt. Als ich wieder aufblicke, kann ich gerade noch sehen, wie das gewaltige Ungetüm den schlanken Körper des Jungen erreicht und wie dieser ihn mit einem impulsiven Ruck zur Seite zerrt. Die wirkenden Kräfte reißen die Seite des Tonkörpers in Zwei und schleudern den Jungen zu Boden inmitten des Schlamms. Ich denke nicht, ich handle und greife die Eisenstange fester und lasse mich von den Energien in die Richtung des Golems ziehen. Unvermittelt ramme ich die Stange in den massiven Leib, durchtrenne den letzten Verbindungspunkt und schaffe es, dass sich der gesamte obere Teil des noch frischen Tonkörpers zu Boden schiebt. Übrig bleibt die untere Hälfte, die verharrt und darauffolgend zusammenfällt. Das tiefe Raunen, welches in die Nacht entflieht, dämpft meine Freude ein wenig. Der Golem ist nicht besiegt. Er wird sich wieder zusammensetzen. Und er wird noch wütender sein als zuvor. „Verdammt, was um Himmelswillen war das?“, ruft Pastor aufgeregt als etwas Ruhe einkehrt. Seine Stimme wird dabei eine Oktave heller. Ich sehe, wie er mit entsetztem Gesichtsausdruck zuerst zu mir, zum Golem und dann zu Izan blickt, dessen erschöpfter und regloser Körper am Boden liegt. Ich versuche selbst wieder zu Atem zu kommen und ignoriere den Schmerz in meinem Handgelenk, der nach dem heftigen Schlag stärker geworden ist. „Ein Golem.“, antworte ich. „Ein... ein Golem... ein was?“, stottert er entsetzt. Sein Blick fällt zurück auf den scheinbar leblosen Körper des Jungen und der Gedanke ist erstmal verdrängt. „Izan!“ Damit springt er auf und stürzt auf ihn zu. Verzweifelt hockt er sich neben Izan, murmelt wieder und wieder den Namen des Jugendlichen und beginnt sorgsam, dessen Vitalwerte zu prüfen. Mit vor Kälte zitternden Fingern herrschen erschwerte Bedingungen vor und ich sehe zu, wie er immer aufgeregter wird. Selbst Pastors Unterlippe bebt. Ich versuche, sicherzugehen, dass wir nicht in einen Hinterhalt geraten und hocke mich ebenfalls hin. Auch ich prüfe den Puls des Jungen. Schwach, aber vorhanden. Sein Gesicht ist fahl. Seine Lippen kaum von der umgebenden Haut zu unterscheiden. Wir müssen ihn unbedingt hier wegbringen, sonst wird sein Körper weiteren Schaden nehmen. „Pastor? Pastor…Luis!“, brülle ich meinen Nebenmann entgegen. Erst mit seinem Vornamen reagiert er. Er versteht es nicht. Wie sollte er auch? Es bahnt sich ein Schock an, ich kann es sehen und das ist das letzte, was wir jetzt brauchen. Ich greife nach seinem Handgelenk, umklammere es mit Nachdruck. Ich deute auf den Jungen und danach in die Dunkelheit. Pastor begreift ohne Worte, dass ich will, dass wir ihn aus der Gefahrenzone bringen, während der Golem ungesehen damit beschäftigt ist, sich zu revitalisieren. Ich schaue mich ein letztes Mal um. Die Sicht ist schlecht. Das letzte übriggebliebene Licht ist bei dem kurzen Kampf erloschen. Uns umgibt nichts als Dunkelheit und ab und an wolkenverhangenes Mondlicht. Pastor tastet nach seinem Handy, bis ihm einfällt, dass es zerbrochen auf der Straße liegt. Ich gebe ihm meins und er lässt den Schein der Taschenlampe erleuchten. Ich entdecke einen Stapel mit Wellblechplatten und deute in diese Richtung. „Dort!“, weise ich an. Sein Blick folgt meinem ausgestreckten Arm. Er nickt, packt den Oberkörper des regungslosen Jungen, während ich nach seinen Beinen greife. Gemeinsam ziehen wir ihn zu den Wellblechen. Der Boden unter unseren Sohlen ist weich und matschig. Es ist nicht leicht, auch wenn Izan kaum etwas wiegt. Das dünne Metall vibriert schallend durch die Nacht, als wir eine der Platten vom Stapel zerren. Ein Knurren ist zu hören und ich halte inne, sehe in die Richtung des Golems. „Oh oh.“, murmele ich, mehr zu mir selbst als zu dem anderen Mann. Wir heben gemeinsam eine weitere Platte von dem Stapel und schirmen den ohnmächtigen Jungen bestmöglich ab. Es folgt ein bedrohliches Donnern, welches von dem Ungetüm ausgeht, das sich sichtbar von dem dunklen Erdboden erhebt. Erst nur der Rumpf. Massiv und gewaltig. Wie rückwärtige Tropfen schließen sich die Gliedmaßen an und es entsteht erneut ein vollständiger Leib. Die schwarzen Augenhöhlen scheinen alles zu verschlingen. Jedes Quäntchen Licht, jede noch so winzige Reflexion. Wir haben nur kaum Zeit, um zu reagieren. Pastor greift automatisch zu seiner Waffe und richtet sich auf. Es fallen drei Schüsse. Sie hallen laut durch die dicke, feuchte Luft um uns herum. Jede Kugel trifft, doch sie verschwinden nur in dem massiven Leib und richten keinerlei Schaden an. Irdische Waffen haben keine Chance und mir ist nicht klar, was er erwartet hat. Mein Kollege starrt auf die Löcher im Oberkörper des Wesens, welches sich fast vollständig aus dem Boden erhoben hat und scheinbar immer größer wird. Das mag nur der zunehmenden Furcht geschuldet sein, die wir beide empfinden, aber wer kann es uns verübeln. „Was machen wir jetzt?“, fragt Pastor und seine sonst beruhigende Stimme ist auffällig spitz. Ich schüttele vorsichtig und abwägend meinen Kopf, um ihm zu verdeutlichen, dass ich an einem geeigneten Plan arbeite. Eins nach dem anderen. Ich ziehe zwei weitere Wellpappen über den reglosen Körper des Jungen, sodass er vollständig versteckt ist und deute dem Detective an, dass wir ein neues Versteck suchen sollten, um den Golem von Izan abzulenken. „Denk schneller! Wie macht man dieses Ding unschädlich?“, platz es aus Pastor hervor, als wir beiden hinter einem Haufen mit Holzpaletten in Deckung gehen. Wenn es so einfach wäre, wäre ich beim letzten Mal nicht nur um Haaresbreite den Tod entkommen. Ein Gedanke, den ich ihm lieber nicht preisgebe. In meinem Kopf arbeitet es fieberhaft und der panische Druck Pastors ist nicht hilfreich. Ich beiße die Zähne zusammen, während ich allerhand Verse und Passagen der talmudischen Haggadah durchdenke, die etliche Erzählungen und Sagen vereint. Der Ursprung der Volkssage des Golems ist nicht bekannt, deswegen gibt es viele Mythen und Entstehungsgeschichten, was die Zerstörung leider unangenehm umständlich macht. Ich denke an das Buch der Schöpfung, einen Text der Kabbala. „Der Erweckungsspruch unter seiner Zunge…“, spreche ich den ersten greifbaren Gedanken aus, der sich hervor arbeitet. Wieso bin ich nicht früher darauf gekommen? Der Rabbi hatte beim letzten Mal den Spruch aus dem Mund des Golems hervorgeholt. „Sein was? Wo?“ Das verwirrte Entsetzen in Pastors Blick ist seltsam erheiternd. Ich grinse, schaffe es aber einen Lacher zu unterdrücken. „Ein Erweckungsspruch, der beim Heraufbeschwören verwendet wird. Er muss sich in seinem Mund befinden.“, gebe ich enthusiastisch von mir, gestikuliere wirr mit meinen Händen und sehe mich nach etwas um, was uns dabei helfen könnte, an den Golem heranzukommen. „Wieso der Mund?“ „Er hat ihn nicht auf Stirn stehen, oder?“, motze ich zurück. „Was? Wieso jetzt die Stirn?“, fragt sichtbar verwirrt. Ich gebe einen verzweifelten Laut von mir und bin sicher, dass der Golem nicht mehr lange auf sich warten lässt. „Okay, okay. Laut Mythologie gibt es verschiedene Methoden, einen Golem zu erwecken. Entweder ein Zettel mit dem Wort `Emeth` auf der Stirn oder unter der Zunge. Damit der Golem wieder zu unbelebtem Ton zerfällt, müssen wir ihn nur entfernen oder den ersten Buchstaben tilgen. Von Leben zu Tod“, erkläre ich hektisch und gestikuliere dennoch die Stellen zeigend mit. „Nur?“, entgegnet er bestürzt. Pastors Stimme ist mittlerweile konstant eine Oktave höher und sein Gesichtsausdruck spricht Bände. „Na ja, es wäre definitiv einfacher, wenn sein Erschaffer hier wäre. Der könnte ihn zurückrufen.“ „Erschaffer?“, wiederholt er seufzend, „Und wer, um Himmelswillen, würde sowas freiwillig erwecken?“ „Naja... der Rabbi... vermutlich den, den du nach Hause geschickt hast.“ Im Grunde bin ich mir sicher, denn er war es schon beim letzten Mal gewesen. Die Feststellung spare ich mir aber. „Der Rabbi?“, entflieht es ihm entsetzt, „Dieser Rabbi? Ist das dein Ernst? Wieso hast du nichts gesagt?“ Wieder das Du. Pastor deutet mehrmals zu dem angrenzenden Friedhof. Ich kann mir ein schuldbewusstes Grinsen nicht verkneifen. „Hättest du mir geglaubt, wenn ich von einem riesigen Ungetüm aus Ton erzählt hätte, das uns eventuell töten würde?“, kommentiere ich trocken. Noch dazu habe ich nicht damit gerechnet, dass der Rabbi meine durchaus ernstgemeinte Ermahnung ignoriert. Das gibt sicher Ärger mit Lamark. „Natürlich nicht...“, entgegnet Pastor resolut. Warum auch? Ich sehe ihn mit hochgezogener Augenbraue an, ohne irgendetwas zu entgegnen. „Okay, und wie ist der Plan?“ „Du musst die Erweckungsformel von seinem Körper entfernen. Der Golem will nicht uns, er will den Dibbuk. Das können wir also zu unserem Vorteil nutzen.“ Ich deute zu Izans besessenen Leib, der verborgen unter den Wellblechen ruht. „Das können wir nutzen? Moment mal, wieso ich?“ „Ich bin gehandicapt.“, erkläre ich und hebe meinen geschienten Arm in die Höhe. Ich sage nicht, dass daran der Golem schuld war. „Mein Rang ist höher und du bist jünger.“ Ein weiteres eher schleichendes Argument. Wir müssen von zwei Seiten angreifen und ich will ihn nicht entmutigen. Gerade als Pastor den Mund aufmacht, um zu widersprechen, kracht es neben uns und ein Teil der gemauerten Wand rieselt auf uns hinab. Der Golem schaltet auf Verwüstung und lässt dabei den abgeladenen Müll fliegen. Zum Glück ist er nicht sehr schlau. Er spürt die Anwesenheit des Dibbuks und wir stehen ihm im Weg. Ein größeres abgeplatztes Farbplättchen bleibt auf Pastors dunkler Augenbraue hängen, aber keiner von uns beiden bewegt sich. Ich bin mir sogar sicher, dass niemand von uns atmet. Wir lauschen, vernehmen das unmenschliche Raunen und Murren. Eigentlich sind es keine wirklichen Laute, sondern ein grollendes Echo. Es ist äußerst furchterregend und geht einem direkt in Mark und Bein über. Ich bin der Erste, der erneut eine auffordernde Geste in dessen Richtung macht und ernte zunächst ein vehementes Kopfschütteln, dann einen bissigen Gesichtsausdruck und zum Schluss die von mir erwünschte Resignation. Wir können nicht länger warten. Wir müssen handeln oder wir werden es nicht schaffen, den Jungen zu retten. Der Detective aus dem 12. Revier rappelt sich auf und lugt über die Holzpaletten hinweg zu dem stampfenden Ungetüm, welches sich aufbäumt und in Position bringt. Doch dann hält er mitten in seiner Bewegung inne, dreht sich ruckartig zu mir und packt meinen Oberarm. „Hat das Ding Zähne?“, fragt Pastor besorgt. Ich starre in das erschreckend symmetrische Gesicht des anderen Mannes und denke darüber nach. Pastors Augen weiten sich, als ich nicht sofort verneine. „Wieso sagst du nichts?“ Die wachsende Panik ist deutlich herauszuhören. „Ich überlege noch…“, erwidere ich zu seiner Unzufriedenheit. Ich sage ihm nicht, dass das das kleinste unserer Probleme ist. Pastor lässt mich los und ich höre ihn leise fluchen, während er in seine Angriffsposition zurückkehrt. „Was für ein Alptraum...“, murmelt er, streicht sich die feuchten Haare zurück und das Farbplättchen von der Augenbraue. Es bleibt an seiner Schulter hängen. Ich widerspreche nicht, denn aus diesen Erscheinungen wurden seit jeher Albträume gemacht. Pastor greift sich eine der rumliegenden Metallstangen, fasst sie fest mit seinen klammen Fingern und versucht zu atmen. „Okay, versuch unbemerkt hinter ihn zu gelangen, während ich versuche ihn...“, setzt er an und sieht sich um, „...dorthin zu locken.“ Er deutet zu einer schmalen Böschung. Eine Erhöhung könnte helfen, an den massiven Körper heran zu kommen. Auch ich begebe mich in Position und nicke. „Komm von der anderen Richtung, zieh dann die Aufmerksamkeit auf dich und versuche, an ihn ranzukommen.“, weist er mich an, ehe er die Metallstange gegen einen alten Bauzaun schlägt und ein schepperndes Geräusch verursacht. Es klappt. Der Golem brüllt und Pastor rennt los. Ich warte ein Fünkchen länger, bevor ich die Gegenrichtung nehme und von der anderen Seite zur Böschung gelange. Ich rutsche einen der Hügel hinab und halte nach Pastor Ausschau. Ich sehe zuerst den Golem und dann, wie Pastor einen Schlag ausweichend in die Böschung kullert. Mist. Ich taste hastig nach meinem Telefon, aktiviere den Musikplayer und stelle das Gerät auf die höchste Lautstärke bis Taylor Swifts ´Shake it off´ die Nacht durchdringt. Auch das funktioniert, denn das laute Geräusch lenkt das Ungetüm ausreichend ab, sodass Pastor es schafft, sich auf zu rappeln. Ich werfe das tönende Gerät in die Gegenrichtung der Böschung und sehe, wie der Kopf des Golems der lauten Musik folgt. Jeder Schritt verursacht ein klatschendes Geräusch, als ich durch den Schlamm auf den Golem zu renne. Mit aller Kraft packe ich den Arm des Ungetüms und ziehe ihn mit dem ganzen Körper zurück, sodass er nicht nach Pastor greifen kann. Der Riese strauchelt und stößt mich mühelos davon. Ich lande wenig grazil neben einem Schuttstapel, erkenne aus dem Augenwinkel heraus, wie Pastor hinter dem Golem auftaucht und sehe nur noch, wie der massive Leib den anderen Detective unter sich begräbt. Dann wird es still. Zu still. Ich wische mir mit einer schnellen Bewegung den feuchten Dreck aus dem Gesicht, der mein Blickfeld einschränkt und ignoriere den stechenden Schmerz in meinem Handgelenk als ich mich hochstemme. Die Dunkelheit und der Regen lassen alles zu einer gleichartigen Masse verschwimmen. Ich erkenne keine Konturen mehr. Nur grauen Matsch. „Pastor?“, rufe ich und versuche wieder zu Atem zukommen. Ich wiederhole den Namen des anderen Detectives. Einmal. Zweimal. Nichts regt sich. Einzig der Regen umhüllt mich mit seiner klaren Melodie, spielt seinen eigenen, besinnlichen Song auf den abgedeckten Wellblechen. Ich spüre Panik in mir simmern. Shit. Was, wenn er es nicht geschafft hat? Es ist nicht der einzige Gedanke, der mir durch den Kopf jagt, als ich mich vollends aufrappele. „Detective?“ Diesmal klinge ich besorgt. „Pastor?“, erkundige ich mich erneut und krieche auf allen Vieren auf die Stelle zu, wo ich ihn vermute. Der Boden unter meinen Händen und Füßen ist kalt und zäh. Mit einem deutlichen Uff setzt sich der Angesprochene abrupt auf und ich falle erleichtert und erschrocken zur Seite, als er sich mit der Handfläche sein beschmiertes Gesicht freilegt. Er sieht mich benommen und ungläubig an. „Na geht doch…“, rufe ich überschwänglich aus, versuche den Druck aus meiner Brust zu nehmen, da ich selbst komplett fertig bin. Nichts als Galgenhumor und das Beste, was ich in diesem Moment zu bieten habe. „Echt jetzt?“, entflieht es dem anderen keuchend und eindeutig an meinem Verstand zweifelnd. Ich kann es ihm nicht verübeln. Pastor wischt sich eine weitere Schicht Dreck von der Stirn und hinterlässt eine neue. Ich gehe nicht auf den triefenden Sarkasmus ein, lasse mich stattdessen vorwärts auf die Knie fallen und schiebe suchend die feuchte Erde hin und her. So lange, bis ich endlich den festen Pergamentschnipsel freilege. Beruhigt greife ich zu und streiche mit dem Daumen über die fünf notierten Schriftzeichen. Der Regen macht den Rest. Mein Herz rast energisch, als ich vorsichtig den ersten Buchstaben abtrenne und erst jetzt fällt das letzte bisschen Beklommenheit von mir ab. Erleichtert rutsche ich zu Pastor und bleibe neben ihm sitzen. Ich übergebe ihm den Papierfetzen. Er starrt auf einen der Lehmklumpen zu seinen Füßen, der ein Arm gewesen sein könnte und ich erkenne deutlich, wie sich seine Brust hektisch auf und ab bewegt. Ich stoße mit meiner Schulter seine an und erst jetzt reagiert er. Er greift nach dem Papier und zerteilt es kurzerhand in drei weitere Stücke, ohne es anzuschauen. Sicher ist sicher. Ich ziehe meine Beine heran in den Schneidersitz und betrachte das Profil des anderen Mannes. Er ist ausdauernden als ich glaubte. „Ein Jahr, Damast. Ich bin nur ein Jahr jünger“, schnauft er und schließt die Augen. „Gut zu wissen“, erwidere ich grinsend. Einen Moment lang lauschen wir beiden dem stetigen Regenschauer und unserem rauen Atem. Dann rappele ich mich auf, streiche mir die schlammigen Hände an der Hose ab und halte sie dem anderen Detective hin. Obwohl er zögert, sehe ich Zustimmung in seinem Blick. Er greift zu und mit einem festen Ruck ziehe ihn auf die Beine. ´I, I, I shake it off, I shake it off´, ertönt durch die Nacht und der Song endet. Pastor wirft mir einen vielsagenden, aber ebenso erschöpften Blick zu und ich begebe mich auf die Suche nach meinem Telefon. Ich entdecke es in einer Graskuhle und folge Pastor, der sich auf den Weg zu dem Versteck des Jungen gemacht hat. Wieder perlt als allererstes dessen Name über seine Lippen wie ein Stoßgebet. Mit schnellen Schritten ist er bei ihm, stößt die Platten zur Seite und legt ihn frei. Er versichert sich, dass keine weiteren Verletzungen an dem schmalen Körper hinzugekommen sind. Sein Blick ist begierig und bittend als er sich an mich wendet, um zu erfahren, wie es weitergeht. Ich versuche ihm zu erklären, was folgend geschieht und erneut sehe ich die fragende Skepsis in seinem Gesicht. Ich ignoriere sie und wähle die Nummer der Synagoge, mit der ich schon öfter bei solchen Angelegenheiten zusammengearbeitet habe. Sie setzen alles in Bewegung und wir brauchen Izan nur zu ihnen bringen. Gemeinsam tragen wir den schlaffen Körper zurück zum Wagen. Der stetige Regen wäscht Schlamm und Dreck davon, aber nicht ausreichend genug, um zu verhindern, dass wir das Innere meines Autos vollkommen einsauen. Wir kommen nicht drum herum, den schlanken Körper des bewusstlosen Jungen zu fesseln. Es wäre zu gefährlich, wenn er das Bewusstsein zurückerlangt, während wir durch die halbe Stadt kutschieren und der Dibbuk erneut die Oberhand gewinnt. Zu meiner Überraschung lässt es Pastor ohne Widerworte geschehen. Vielleicht fehlt ihm auch nur die Kraft, irgendetwas zu entgegnen. Ich finde den Mechanismus der Spieluhr in Izans Jackentaschen, als ich ihn auf weitere gefährliche Gegenstände abtaste. Das Metall ist gedellt und beschädigt. Es wirkt, als hätte er versucht ihn zu zerstören. Es hängt alles miteinander zusammen. Es erleichtert und betrübt mich zu gleich. Zwei Menschen sind gestorben. Ich hätte mir einen weniger hektischen Verlauf gewünscht, aber das lag nicht in unserer Gewalt. Als wir mit dem Verpacken der Fracht fertig sind, setzt sich Pastor nach hinten und zieht den Kopf des Jungen auf seinen Schoß. Mehr nicht. Wir schweigen während der Fahrt. Wir schweigen weiter, als wir bei der Synagoge ankommen und ich zusammen mit dem wartenden Zaddik die Geschehnisse bespreche. Ich überreiche ihm die leere Spieluhr und den dazugehörigen ramponierten Mechanismus, während die Mitglieder des Minjans Izan auf einer Trage in die Synagoge transportieren. Nun liegt es in ihren Händen. Als ich zu Pastor blicke, kann ich erkennen, wie sich seine Schultern nach unten senken, wie die Schwere und der Druck von ihm abbröckeln, wie der Lack von den alten Fensterrahmen, weil sein ermüdeter Körper keinen Widerstand mehr bietet. Er starrt zum Eingang des eher schlichten Gebetshauses und ich kann mir nicht vorstellen, was gerade in seinem Kopf passiert. Ich kann es nur erahnen. Wie unwirklich muss es für ihn sein? Wie viele Fragen wird er wohl haben? Ich gehe zu ihm, doch er reagiert nicht auf mich, richtet seinen Blick unbeirrt auf das Gebäude, so, als würde er dadurch etwas Kontrolle zurückerlangen. Ich versichere ihm, dass Izan in den besten Händen ist, dass ihm nichts passieren wird und dass wir nichts mehr unternehmen können. Ich kann es jedenfalls nicht. Erst als ich erneut seinen Namen nenne, hebt er seine Hand und stoppt meine Phrasen. Er sieht mich kurz an und schüttelt seinen Kopf. Sein Blick sagt und zeigt mir mehr als tausende Worte es könnten. Er hat erstmal genug. Danach steigt er zurück ins Auto und schließt die Augen. Ich folge ihm und lasse den Motor an. Ich setze Pastor an seiner Wohnung ab und sehe erst nachdem er ausgestiegen ist, dass die Akte, in der er vor wenigen Stunden noch intensiv gewühlt hat, im Fußraum des Beifahrersitzes zurückgeblieben ist. Ich hebe sie auf den Sitz und blättere sie dabei auf. Zum Vorschein kommt ein Zipfel des Zeitungsartikels und ich ziehe ihn heraus. Das Foto zeigt eine Straße, auf der auf beiden Seiten diese klassischen Marktstände aufgestellt sind. Es zeichnet ebenfalls ein Blick in die Ferne und die Gesichter der beiden toten Männer im Profil, wie sie an einem Stand mit vielen Kunstgegenständen stehen. Genauso, wie es Pastor beschrieben hat. Hier sind sie aufeinandergetroffen. Das ist die Verbindung. Ich lasse meinen Blick über den Moment schweifen und stoppe. Am rechten Bildrand entdecke ich eine weitere bekannte Gestalt. Sein Gesicht ist abgewandt und die Fotografie ist an dieser Stelle seltsam unscharf, fast überblendet. Trotz alledem erkenne ich die Statur, den hellen Hoodie mit dem prägnanten bunten Schriftzug, den er auch heute Nacht trug. Es ist Izan. Es ist dasselbe Oberteil, welches die Gestalt in den Videoaufnahmen von der Tankstelle trug. Nur war mir das vormals nicht aufgefallen. Auf dem Bild hält Izan die Spieluhr in seiner Hand und das Kitzeln der Erkenntnis lässt mich bittersüß erzittern. Er war es die ganze Zeit. Der Dibbuk hatte von vornherein ihn ausgewählt. Doch wahrscheinlich war der er nicht sofort an das Objekt seine Begierde herangekommen. Ich lege den Artikel zur Seite und lehne mich zurück. Mit geschlossenen Augen bleibe ich etwas sitzen, ehe ich in meine eigene Wohnung zurückkehre. Stufe für Stufe nehme ich nach oben und ich fühle die Schwere der Erschöpfung, die sich wie ein Mantel über meine Glieder legt. Die letzten Reste des Adrenalins verabschieden sich aus meinem Blutkreislauf. Mein Puls hat sich schon vor etlichen Minuten normalisiert und dient als unterschwellige Müdigkeitsbekundung. Mein Blick verbleibt auf der Höhe des Treppenabsatzes, sucht zuerst den kleinen Brandfleck und entdeckt ein mittelgroßes, braunes Päckchen neben der Fußmatte. Ich bleibe instinktiv stehen. Im ersten Moment kann ich es nicht zu ordnen. Ich bestelle selten Dinge. Als ich oben ankommen, hebe ich es auf. Es ist schwer. Das Adressetikett ist mit der Hand geschrieben. In fast schon ästhetischer Kalligraphie. Fein verschnörkelt und ausgesprochen hübsch. Wie immer klemmt der Schlüssel im Schloss. Nur mit einem Ruck öffnet sich die Tür und ich betrete die durch fahles Mondlicht beleuchtete Wohnung. Die Konturen der Möblierung liegen im Schatten. Genauso wie meine eigene Gestalt. Ich lasse das Licht aus, streife Jacke und Schuhe ab und bewege mich wissend durch die Dunkelheit. Mit dem Päckchen unterm Arm mache ich einen Abstecher in der Küche, greife das kalte To-Go-Essen, die Stäbchen und gehe weiter. Im Türrahmen zum einzigen Zusatzzimmer der Wohnung bleibe ich stehen und schließe für einen Moment die Augen. Langsam spüre ich das gesamte Ausmaß des erneuten körperlichen Einsatzes. Jeder Muskel in meinem Leib scheint zu brennen und die Gelenke fühlen sich durch die unentwegte Kälte und Feuchtigkeit seltsam steif an, obwohl meine Kleidung seit geraumer Zeit getrocknet ist. In den nächsten Stunden werden sich etliche Blutergüsse entwickeln und vermutlich werde ich morgen früh dreimal so lange brauchen, um aus dem Bett zu kommen. Ich bin müde und ausgelaugt, aber ich weiß schon jetzt, dass mein Kopf so schnell nicht abschalten wird. Geräuschvoll stoße ich die Luft aus, trete über die Schwelle und schiebe das Päckchen ungeöffnet in ein Fach im Bücherregal. Als Nächstes strecke ich mich nach der Stehlampe aus, die neben der Tür steht und schalte sie an. Sie taucht den Raum in ein sanftes, dezentes Licht, welches nicht in den Augen brennt. Mein Blick fällt auf die alte Buchdruckpresse, die den größten Teil des Zimmers einnimmt. Sie stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert. Ihr Holz ist dunkel und übersäht mit Flecken von Ruß, Farbe und Blut. Ich erstand sie vor sechs Jahren bei einem Antiquitätenhändler. Seither habe ich schon viele Stunden damit verbracht die Lettern zu setzen, die Reihen perfekt zu positionieren und den Geruch der Druckerschwärze in mich einzusaugen, als wäre sie der Hauch des Verstehens. Ich öffne die Box mit dem kalten Gemüsegericht und manövriere eine Portion in meinen Mund. Kauend lege ich die Hand über die erhabenen Eisenlettern und senke die Lider. Ich beginne mit den Fingerspitzen die feinen Linien der Buchstaben nachzuzeichnen. Die gelegten Sätze kann ich auswendig. Jeden einzelnen Zeichen. Jedes Wort. Sie zu setzen beruhigt mich. Sie zu kennen, erfüllt mich mit Bitternis. Dieses Buch steht ganz am Anfang und es fehlen weitreichende Kapitel bis zur Vollendung. Ich nehme einen weiteren Happen, lasse den Kopf kreisen, um die Steifheit aus meinem Nacken zubekommen und stelle die Pappbox zur Seite. Dann greife ich mir eines der gusseisernen Lettern und beginne. `Am Anfang...` - Ende Folge 1 Kapitel 5: Superdupernatural - 1 -------------------------------- Folge 2 ~Teil 1 - Superdupernatural ~ POV Luis Pastor Ich… Kann nicht… Atmen. Schlamm verklebt meine Lippen, füllt meinen Mund und verstopft mir die Lunge. Er ist überall. Kalt. Beißend. Bitter. Meine Brust ist steinhart und brechend schwer als ich versuche, die lebensnotwendige Luft einzusaugen. Doch es funktioniert nicht. Mein Körper scheint mir nicht mehr zu gehorchen. Meine Hände beginnen zu zittern, während meine Gedanken vibrieren. Es wird mehr und mehr zum undurchsichtigen Nebel, der vor meinen inneren Augen aufzieht, meine Sicht trübt und mein Gehirn lahmlegt. Es fühlt sich an, als ob kein bisschen des notwendigen Sauerstoffs meine Synapsen erreicht. Ich kann einfach nicht atmen, kann mich nicht bewegen. Alles wird dunkler und ich spüre, wie die Welt um mich herum verschwindet. „NEIN!", stoße ich laut aus und schlage die Augen auf. Der Widerhall meiner eigenen Stimme fegt durch den Raum und durch meinen Kopf. Jedoch er ist nichts gegen die Stärke meines Herzschlags, des Bebens meiner Brust, welche die Nachwirkungen des Traums mit sich bringen. Ich spüre beides bis in meine Fingerspitzen hinein pulsieren und in meinem kleinen Zeh verweilen. Ein Traum. Einatmen. Nur ein Traum. Ich atme aus. Für eine Sekunde empfängt mich die Erleichterung. Doch sie schwindet schnell, weil die Erkenntnis einsetzt. Es war zu real. Es fühlte sich echt an. Greifbar. Erlebt. Selbst der Geschmack des Schlamms hängt in meinem Mund und ist bitter und kalt. Das alte löchrige T-Shirt klebt mir feucht auf der Haut, als ich die Bettdecke zur Seite schiebe, weil ich mit einmal merke, wie es mich einzwängt. Ich brauche mehr Raum. Mit einer hektischen Bewegung zerre ich das Textil über den Kopf und werfe es zu Boden. Ich atme gelindert aus, bemerke mit Genugtuung, wie sich meine Lungenflügel mit Sauerstoff füllen und wie ein kühler Hauch auf meine erhitzte Haut trifft. Es hilft. Ich lebe. Wäre ich doch niemals in dieses Kellerbüro gegangen und hätte diesen verrückten Kerl angesprochen. Hätte ich doch nur auf seine ersten Vorschläge gehört und es sich darauf beruhen lassen. Hätte ich doch nur seine erste Ablehnung hingenommen. Besessenheit. Golem. Einhörner! Was für ein verdammter Albtraum. Ein Albtraum schlimmster Sorte. Aber… „Fuck, fuck, fuck“, brabbele ich, ehe sich die Gedankenfäden in meinem Kopf langsam entknäulen. Doch zu fluchen reicht nicht. Erst nach weiteren Minuten und dem sorgfältigen Ertasten all meiner Gliedmaßen greife ich zur Seite und schalte die Nachttischlampe ein. Das dezente Licht erdet mich, zieht mich in die Wahrhaftigkeit und ebnet mir die Realität. Ich streiche mir mit beiden Händen über das Gesicht und feiere still die Tatsache, dass all meine Körperteile noch dort sind, wo sie hingehören. Beim Versuch, meine verschwitzten Haare zu bändigen, ertasten meine Finger eine raue Stelle hinter dem linken Ohr. Ich reibe darüber und erkenne die Rückstände von getrocknetem Schlamm auf meiner Fingerspitze, als ich sie danach betrachte. Der braune Staub lässt mich schaudern. Es war kein Traum. Es ist wirklich passiert. All der Schlamm. Die feuchte Kälte. Das Grölen und die umherfliegenden Dinge. Das Ungetüm aus Erde und Fels, welches über mir zusammenbrach und mich vollständig unter sich begrub. Nichts davon habe ich mir eingebildet. Oder vielleicht doch? Der Geschmack von Staub liegt schwer auf meiner Zunge, während ich ruhelos mit den Händen über mein Gesicht reibe und danach tief ein- und wieder ausatme. Die Panik erfasst mich in Wellen und ich schwöre, einige davon sind mörderisch. Ich konzentriere mich lieber noch etwas länger darauf, am Leben zu sein. Einatmen. Ausatmen. Meinen Herzschlag spüren. Es wird besser, je mehr Luft ich einsauge. Je mehr das feine Kitzeln auf der Haut versiegt. Einst schwor ich mir, an alles ohne Vorurteil heranzugehen, ohne es von vornherein als unmöglich abzutun, denn für jeden kann Realität etwas anderes sein. Die Wahrheit kann in einer anderen Nuance existieren und dennoch nicht weniger richtig sein. Bisher hat es mir stets geholfen, mich den Dingen nicht zu verschließen, die um mich herum passieren. In meinem Beruf als Polizist half es mir des Öfteren, die Tür zum Vertrauen von Zeugen zu öffnen oder die Verdächtigen dazu zu bringen, sich mir zu offenbaren. Jeder Mensch handelt nach seinem eigenen Verständnis. Doch diesmal ist der Hader stärker als gewöhnlich, das Zaudern tiefsitzend, sodass ich, sobald ich auch nur daran denke, meinen Körper kaum unter Kontrolle halte. Etwas in mir schreit förmlich danach, dass es nicht real gewesen kann, wünscht und bittet. Fleht. Und trotzdem sehe ich ununterbrochen Izan vor mir. Der eigenartige Ausdruck in seinen Augen, der von weiter Ferne sprach und doch die unmittelbare Umgebung verbrannte. Es wirkte so surreal und auch jetzt in meinen Erinnerungen noch. Es muss eine Erklärung dafür geben, fernab derer, die mir Detective Vikar Damast gab. „Ein Totengeist“, spreche ich laut aus. In meinen Ohren klingt es wie die alleinige Erscheinung eines Horrorfilms. Ein B-Movie bei der Scary-Sunday-Movie-Night im Nachbarschaftskino. Damasts Erklärung ist ein imaginäres Trauerspiel meiner Realität. Ich wiederhole es. Leise. Laut. Zynisch. Ernst. Jedes Mal anders, bis es lediglich als ein schnaufendes Lachen über meine Lippen rattert, wie Trommelfeuer. Es bleibt mir alsbald im Halse stecken, sodass einzig ein gequältes Wimmern ertönt. Dann falle ich zurück ins Kissen und starre an die Decke. Ein Totengeist. Das kann nicht wahr sein. Oder doch? Es existiert sowas wirklich? Kann nicht sein. Es gibt keine Totengeister und keinen Golem. Für einen Sekundenbruchteil bin ich überzeugt. Vielleicht waren es drogeninduzierte Halluzinationen. Vielleicht bin ich eingeschlafen, wurde hypnotisiert oder k.o.-geschlagen. Ich hatte mir kurz zuvor den Kopf gestoßen, als mich beinahe der Müllcontainer zerquetschte. Exakt der Müllcontainer, der von einem 50 Kilo schweren Jugendlichen weggeschleudert wurde. Weggeschleudert, ohne, dass er ihn berühren musste. Ich presse die Lippen fest aufeinander und die Erkenntnis trifft mich mit einem Paukenschlag. Es ist alles genauso passiert und daran gibt es nichts zu rütteln. Nicht das kleinste Quäntchen. „Es ist alles wahr…“, plappere ich hektisch atmend vor mich her und merke, dass ich langsam hin und her wippe. Ich muss atmen. Ein und aus. Ganz einfach. Ein und aus. „Ganz leicht. Aus und ein.“, beruhige ich mich. Die Tatsache, die gesamte Nacht keinen erholsamen Schlaf gefunden zu haben, liegt mir wie eine juckende Schicht unter der Haut. In stetigen Intervallen kriecht sie über meine Glieder und überzieht mich mit Schauer und Beben. Es sendet Zweifel und Argwohn. Es kann einfach nicht wahr sein. Oder doch? Ein Wechselspiel, das all meine Skepsis bündelt und mich durchschwimmt. Aber wie könnte es nicht wahr sein? Immerhin habe ich es mit eigenen Augen gesehen. Als ich es schaffe, meine Beine aus dem Bett zu schwingen, ist es draußen hell. Vögel zwitschern in der Weide neben meinem Fenster. Der wolkenverhangene Himmel bricht auf und es sieht nach einen guten Tag aus. Doch auch das ändert nichts daran, dass die vergangenen Geschehnisse schwer auf meinen Knochen lasten. Es ändert auch nichts daran, dass sich mein gesamter Torso taub anfühlt und der Unwillen in meinem Kopf laut gegen jede Wahrscheinlichkeit protestiert. Ich halte in meiner Vorwärtsbewegung inne, als mein Blick auf mehrere sauber zusammengelegte Wäschequadrate fällt, die vor dem Fußende meines Bettes abgelegt sind. Es ist eine akkurate Sortierung nach T-Shirts, Pullover und Unterwäsche. Der Kitzel der fehlenden Erinnerung fühlt sich an, als würde er in einer puddingartigen Masse nach Steinen bohren und erfasst mich mit einnehmender Verwunderung. Ich setze meinen Weg fort, vorbei an den Wäschequader, suche das Bad auf und lande letztendlich in die Küche. Wie jeden Morgen wandert mein Blick beim Vorübergehen durch das Wohnzimmer. Obwohl ich seit mehreren Monaten in dieser Stadt, in dieser Straße und Wohnung lebe, stehen weiterhin unzählige Kartons herum. In vielerlei Hinsicht entspreche ich vollends dem Klischee eines ruhelosen Polizisten, dessen Arbeit an erster Stelle steht und damit alles andere keine ausreichende Berechtigung findet. Ich habe kaum die Zeit, um mich mit diesen Nichtigkeiten zu befassen und selten Muße. Obendrein erliege ich mehr und mehr dem Glauben, dass ich den Inhalt auch nicht benötige, wenn ich ihn bisher nicht aus den Karton hervorholen musste. Mittlerweile habe ich bereits vergessen, was sich in einigen der Kartons befindet. Vielleicht sollte ich sie einfach entsorgen. Oder mich schlicht zusammenreißen und sie auspacken. Es sind schwere Entscheidungen, nach denen mir aktuell nicht der Kopf steht. Ich habe es bisher nicht geschafft, den Kabelanschluss zu aktivieren. In der Küche wiege ich weiterhin das Für und Wider von öffentlichem Fernsehen ab und komme wie schon die letzten Male zu keinem nützlichen Ergebnis. Im Grunde habe ich keine Zeit für Fernsehen. Es wäre aber eine beruhigende Vorstellung, die Möglichkeit zu haben. Ich drehe mich argumentativ im Kreis und fülle währenddessen neues Wasser in die Kaffeemaschine. Ich schaue zweimal in den Kühlschrank, während der dunkle Wachmacher röchelnd in die Tasse rinnt. Ausnahmsweise höre ich auf meinen Magen, der mir zuflüstert, dass er nichts Aufwendiges verdauen will. Demnach setze ich mich lediglich mit dem Kaffee und einem geviertelten Apfel an den Laptop. Ich tippe Totengeist in das Suchfeld ein und nehme mir einen ersten Apfelschnitz, den ich langsam zerkaue, während ich motiviert die Ergebnisse absuche. Ich erhalte vor allem Links zu Hilfsseiten für Kreuzworträtsel. Totengeist mit sechs Buchstaben scheint ein besonders häufig auftretendes Feld zu sein. Ich finde auch Verweise zu ostasiatischen Inhalten. Oder römischen Totengeistern. Der Begriff, den Damast gestern benutzte, begegnet mir nicht und er will mir auch nicht mehr einfallen. Während ich die restlichen Suchergebnisse nacheinander durchklicke, knabbere ich den Apfel weg und fühle mich durch die Suche kaum erleuchtet. Das Gleiche mache ich mit dem Begriff Golem und abermals stoße ich auf eine Unmenge an lexikalischen Ausschnitten und etliche Film- und Buchverweise. Die Befriedigung hält sich in Grenzen und macht erneut den unwirschen Gedanken Platz. Meine Augäpfel jucken und ich widerstehe schwer dem Drang, mir ununterbrochen das Gesicht zu reiben. Gerade als ich noch die Zusätze ´Real`, ‚Echt‘ und ‚Wirklichwirklich‘ im Suchverlauf ergänzen möchte, höre ich das Handy neben mir klingeln. Ich gehe ran, ohne vorher aufs Display zu sehen. „Pastor. Hallo?“, frage ich beiläufig und klicke einen weiteren der Links an. Ich höre ein Knacken und dann meinen Vornamen, der fast im Rauschen der Leitung untergeht. Irritiert sehe ich auf das Display. Eine unbekannte Nummer, aber mit einer Vorwahl dieses Distrikts. „Hallo? Können Sie das bitte wiederholen?“, erkundige ich mich mit ernster, aber ruhiger Stimme. Wieder nur ein Rauschen und dann Bruchstücke von Worten, die durch die schlechte Qualität seltsam blechern klingen. „…uel…“, ertönt es erneut. Unwillkürlich schüttele ich das Telefon in den irrwitzigen Annahmen, dass das irgendwas an der schlechten Leitung ändert. Wie erwartet vergeblich. „Hallo? Ich kann Sie nicht verstehen. Die Leitung ist scheinbar gestört oder der Empfang schlecht. Können Sie sich zu einem anderen Zeitpunkt erneut melden?“ „…nuel Ev… hil…“, höre ich, als ich das Gerät wieder ans Ohr drücke und mich nach einem Stift umsehe. Ich hebe einige der Akten an und entdecke einen Bleistift, der einem Stummel gleicht. „Manuel Evans?“, setze ich vermutend zusammen, als ein weiteres Mal nur Bruchteile bei mir ankommen und mir dennoch sofort das Bild des ehemaligen Klassenkameraden in den Kopf schießt. Groß. Rasierter Kopf und immer ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen. Wir haben im Geschichtsunterricht nebeneinandergesessen und gemeinsam für das Matheexamen gebüffelt. Ich höre, wie Manuel am anderen Ende erleichtert aufatmet und mir ein aufgeregtes Ja entgegen schreit, welches vollständig bei mir ankommt. Ich notiere Manuels Namen auf einen Block. Der stumpfe Bleistiftstummel macht daraus mehr ein flächiges Gekrakel und ich bin mir sicher, dass es verwischt, sobald ich nur flüchtig darüberstreiche. „Luis! ... brauche Hilfe… ich … in Untersuchungshaft…“ Wieder sind es nur Bruchstücke und ich drücke das Handy dichter ans Ohr. Dadurch wird auch das stetige Knacken lauter. „Untersuchungshaft? Du bist in Untersuchungshaft?“, wiederhole ich, um sicher zu gehen. „Ja!“ Trotz des schlechten Empfangs höre ich die Erleichterung, die mit diesem einzelnen Wort mitschwingt. Wieso ist er in Untersuchungshaft? „Warum und wo?“ „Bezirks...nis Geigerdi… sie sagen, ich... mand getötet.“ Erneut habe ich nicht alles verstanden, doch für das Wesentliche hat es gereicht und es lässt mich erschrocken ausatmen. Er hat jemand getötet oder wird zu mindestens dessen verdächtigt. Das ist nicht gut. „...deine Hilfe ...“ Sein Ausruf zwingt zur erneuten Aufmerksamkeit. „Hast du einen Anwalt kontaktiert? Manuel?“ Ein Knacken. Ein kurzer Piep. Ich hege schon die Befürchtung, dass der Anruf unterbrochen ist, doch dann höre ich ein undeutliches Ja und durchgängiges Rauschen. „Ich werde sehen, was ich machen kann, Manuel, hörst du mich? Ich versuche etwas herauszufinden“, versichere ich ihm, doch die Leitung ist bereits unterbrochen und ich weiß nicht, was er gehört hat. Verdammt. Das muss ein Irrtum sein. Manuel Evans, ehemaliger Schulkamerad und aufrichtiger Lehrer seit sechs Jahren soll jemanden getötet haben? Der Mann, den ich in Erinnerung habe, war kein gefährlicher Typ. Nur etwas verrückt. Das Gespräch lässt einen Haufen gemischter Gefühle zurück und triggert den Gerechtigkeitssinn in mir. Was ist nun geschehen? Ist es wirklich möglich, dass Manuel etwas Derartiges getan hat? Es gibt einfach zu viele Faktoren, die Menschen Entscheidungen treffen lassen, die man ihnen zuvor niemals zugetraut hätte. Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Mit steigenden Unbehagen im Bauch stoppe ich meine vorangegangene Recherche und schließe den Laptop. Trotz oder eher wegen meines inneren Zwiespalts brauche ich länger, bis ich angezogen und fertiggemacht bin. Als ich die Tür öffne, fällt mein Blick sofort auf ein einfach gefaltetes Blatt Papier, welches an die Tür geklebt ist. Ich werfe einen Blick in den Gang. Nach links und rechts, dann ziehe ich das Blatt ab. Ich raune genervt auf, als der Klebestreife an der Tür haften bleibt und ein Stück vom unbeschriebenen Rand des Papiers abreißt. Es ist eine handschriftliche Notiz von Detective Vikar Damast. Prompt frage ich mich, wann er sie hier befestigt hat. Er ist gestern Abend nicht mit mir nach oben gekommen, soweit ich mich erinnere. Oder doch? Alles nach unserem Eintreffen in der Synagoge ist verschwommen und unwirsch. Ich lief auf Autopilot. Wieder fällt mein Blick in den Flur. Doch auch das hilft mir nicht, mich daran zu erinnern. Die Reste des gestrigen Abends bleiben graue Wolken, die durch meinen Kopf schweben und die Erinnerung verdunkeln. Es ist ein reiner Schutzmechanismus, der mir im Laufe meiner Polizeikarriere schon öfter zur Hilfe gekommen ist. Hin und wieder ist es ganz nützlich. Doch meistens hinterlässt es eher einen bitteren Beigeschmack. Ich muss definitiv in der Nacht noch duschen gewesen sein und ich habe Wäsche zusammengelegt, was die feinsäuberlich sortierten Häufchen am Boden meines Schlafzimmers bewiesen. Vielleicht war der andere Detective doch mit oben gewesen? Ernüchtert widme ich mich der Notiz. -Minjan arbeitet noch. Junge hält durch. Melde mich. Da...- Der Rest seines Namens ist unlesbar. Minjan. Dafür brauche ich etwas länger. Ist Minjan der Exorzismus? Nein, damit war die Gruppe der Betenden gemeint, glaube ich, aber ich bin mir nicht sicher. Es ist auch egal, denn allein der zweite Teil der Auflistung zählt für mich. Izan ist stark. Er hält durch. Dieser Funken Hoffnung lässt das Kribbeln in meinen Fingerspitzen anschwellen. Ich hoffe inständig, dass es dem Jungen gut geht und eigentlich wünsche ich mir, dass er danach nichts mehr von den Dingen weiß, die in den vergangenen Tagen passiert sind. Wirklich gar nichts davon. Weder de Lucia, noch Bakow oder Pablo. Der Hund ist ein weiteres Opfer in der Liste. Ich nehme mir vor, den armen Vierbeiner suchen zu gehen und ihm wenigstens ein anständiges Begräbnis zukommen zu lassen. Ich falte die Nachricht zusammen, bis sie in meine Hosentasche passt und fahre ins Revier. An meinem Schreibtisch begrüßt mich ein wachsender Stapel neuer Fälle und die abgelegte Akte von Nicolá de Lucia. Die Originalakte, nicht die Kopie, die ich Damast gegeben habe. Ihr Anblick lässt meinen Atem kurz stocken und mein Herzschlag explodiert ungehindert. Das beginnende Schwitzen meiner Hände ist ein weiterer Indikator für die Überbleibsel des Schocks, die sich in meiner Brust einnisten und dort hausieren. Es wird ein offener Fall bleiben. Genauso wie der von Alexander Bakows. Sie werden sich einreihen in eine Riege von Fällen, bei denen die Ursachen gewiss sind und doch die richtigen Beweise fehlen. Davon haben wir einige in den Archiven liegen. In den wenigsten Fällen ist es etwas Übernatürliches, sondern vielmehr die innere Gewissheit, den Täter nicht überführen zu können, da konkrete Spuren fehlen oder das Opfer selbst. Es ist frustrierend, aber ein Teil des Ganzen. Ich habe keine Ahnung, mit welcher Begründung ich die beiden Fälle schließen soll, ob ich es überhaupt kann. Ich schiebe sie zusammen mit anderen Unterlagen in die Schublade des Rollcontainers und atme erst wieder auf, als ich sie nach dem Schließen nicht mehr sehe. Ein kühler Schauer erfasst mich dennoch. Mit Gänsehaut am gesamten Körper stehe ich wieder auf, besorge mir aus der Gemeinschaftsküche einen Kaffee und setze mich erst nach der Hälfte der Tasse zurück an den Schreibtisch. Ich werde Damast fragen müssen, wie in solchen Fällen verfahren wird. Er müsste es wissen. Als nächstes tippe ich den Namen meines alten Freundes in das Suchfeld der Datenbank und merke sofort, wie ich die Luft anhalte, während das Übersichtsfenster mit den allgemeinen Informationen zur Person aufploppt. Drei Einträge zu diesem Namen. Ich checke das Geburtsdatum, um sicherzugehen, dass es der Richtige ist. Vermerkt sind Mahnungen wegen unbezahlten Strafzettel und die Verdächtigung des Mordes. Es ist noch keine vollständige Anklage. Ein ziemlich heftiger und eher ungewöhnlicher Eskalationssprung. Ich finde zusätzlich eine Verwarnung wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Es ging um einen Streit, der jedoch geschlichtet wurde. Eine weitere Strafverfolgung ist nicht entschieden. Also widme ich mich dem Tötungsdelikt. Aktenzeichen AKPR89-040019-23/03. Ich bestätige die Fallnummer des Mordes und die Akte öffnet sich. Der ermittelnde Beamte ist Colton W. Barres, Detective des 17. Reviers. Das Siebzehnte. Schon wieder. Seufzend lehne ich mich zurück und reibe mir mit beiden Händen über das Gesicht. Ist nicht normalerweise die Dreizehn eine Unglückszahl? Ausnahmen bestätigen die Regel, sage ich mir als ich nach der Jacke greife und mich auf den Weg mache. Am Empfang frage ich, ob Detective Barres am Platz ist und eine nette uniformierte Kollegin gibt mir eine ungefähre Richtung vor. Sie erkennt mich noch vom letzten Mal und lächelt verschwörerisch, was ich bestmöglich versuche zu ignorieren. Ich lasse meinen Blick schweifen, suche den richtigen Namen auf den Aufstellern, die die Tische der Detectives ausweisen. Ich werde fündig und gehe auf den Arbeitsplatz zu. Der Typ, der sich im nächsten Moment an den Schreibtisch setzt, ist muskulös gebaut, adrett frisiert und auffällig gut gekleidet für einen einfachen Detective. Der hellgraue Anzug schmeichelt seinem dunklen Teint. Ich erkenne ihn und bin mir sicher, dass ich ihn vor ein paar Tagen schon mal in einem ähnlich teuren Anzug gesehen habe. Nur dunkler. Er wirkt wie der Stereotyp des ambitioniert, dennoch ignorant karriereorientierten Special Agents einer Bundesbehörde. Er passt hier nicht rein, er ist besser und alle sollen es wissen. „Verzeihung, sind Sie Detective Colton Barres?“, erkundige ich mich und sehe, wie der große Kerl im schicken Hemd seine gerade zum Mund geführte Tasse Kaffee wieder absetzt. Er mustert mich offen und ungeniert. Ich fühle mich unter seinem Blick gleich herabgesetzt und straffe automatisch meine Schultern, um so größer zu wirken. „Der bin ich, was kann ich für Sie tun?“ „Detective Luis Pastor, Mordkommission 12. Revier“, stelle ich mich vor und tippe gegen meinen Dienstausweis, der an meinem Gürtel befestigt ist. „Neuling?“ „Vor vier Monaten versetzt. Davor war ich fünf Jahre bei der Jugendkriminalität in der 6. Direktion“, lasse ich ihn ohne Umschweife wissen. Ich bin kein Anfänger, da soll er bloß nicht auf falsche Gedanken kommen. Mein Gegenüber mustert mich prüfend, streicht sich über das frischrasierte Kinn und deutet mir an, mich zu setzen. Es ist mir nicht neu, dass die Leute derart auf mich reagieren, denn ich habe einige dieser erst im höheren Alter wertgeschätzten juvenilen äußeren Attribute, die mich jünger erscheinen lassen, als ich bin. „Undercover?“, fragt er amüsiert. Ich antworte nicht, sondern sehe ihn nur abwartend an. „Was kann ich für Sie tun, Detective Pastor?“ „Ich hätte gern Informationen zu einem Fall, der in Ihrer Zuständigkeit liegt.“ „Um welchen geht es?“, fragt er und klingt freundlich, doch in seiner Körperspannung kann ich erkennen, dass es ihm nicht gefällt, dass ich Fragen stelle. Er wendet sich seinem Rechner zu und öffnet die Suchfunktion der der Informationsdatenbank. „Aktenzeichen AKPR89-040019-23/10. André C. Dotton. Gangname C-Dots“, gebe ich aus dem Gedächtnis wieder und sehe, wie Barres nach der Hälfte der Zahlen aufhört zu tippen. „Das ist ein laufender Fall...“ „Ja, das ist mir bewusst.“ „Und warum wollen Sie Informationen zu diesem laufenden Fall, der nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich liegt?“, fragt er fast mechanisch und lehnt sich im Stuhl zurück. Die vorige Anspannung weicht einer offensiven Grundhaltung, die einer klischeehaften Polizeitradition dient. Kollegen habe sich nicht in die Fälle anderer einzumischen. Egal, welche Absichten sie hegen oder welcher Intention sie folgen. Meine sind dazu noch berechnend und in gewisser Weise persönlich, daher zögere ich, sie offenzulegen. „Ich möchte mich nicht einmischen, ich möchte nur den Stand erfahren.“ „Weil Sie was damit bezwecken?“ „Ich habe nur ein paar Fragen.“ „Weil Sie denken, wir machen unsere Arbeit nicht korrekt“, entgegnet er harsch. Sein Blick ist scharf, fast stierend. Er beobachtet mich ganz genau. Barres öffnet die oberste Schublade und zieht eine gutgefüllte Akte hervor. Er lässt seine Hand genau über der notierten Aktennummer liegen, als er sie auf die Tischkante zwischen uns ablegt. „Wir wissen beide, dass nicht alles sofort Eingang in die digitale Akte findet. Ich möchte Ihre Eindrücke hören, ihre Gedanken und Vermutungen zum Tathergang.“ „Meine Vermutungen? Nun ja, der Fall ist eindeutig. Wir haben die DNA des Verdächtigen am Fundort der Leiche gefunden. Es gibt Augenzeugen, die einen Mann gesehen haben, der sich unmittelbaren vom Tatort entfernt hat und diese konnten ihn ausgesprochen gut beschreiben“, berichtet er mit selbstgefälliger Sicherheit. „Wie kamen Sie auf den Verdächtigen? Welches Motiv liegt vor oder nehmen Sie an?“, frage ich und nutze die dargebotene Chance, seine inkonsequente Abwehr niederzuringen. „Na gut, spielen wir ihr Spiel, Detective“, erwidert Barres nach einer Pause, schlägt die langen, muskulösen Beine übereinander und bedenkt mich mit einem eindringlichen Starren. Ich werde nicht zuerst blinzeln. „Es gab Hinweise durch die Anwohner, dass es in den vergangenen Wochen zu mehrmaligen Streitigkeiten zwischen der dort wirkenden Gang und den Anti-Drogen-Initiativen des Distrikts kam. Naheliegend war demnach, dass wir die Akteure der Initiative in den Verdächtigenkreis aufnehmen. Hier kommt der Hauptverdächtige ins Spiel. Er frequentierte nachweislich vormalig den Tatort und traf laut Aussage mehrerer Zeugen wiederholt auf das Opfer. Es gab Diskussionen und Streits, die auch durch herbeigerufene Beamte dokumentiert sind. Somit herrschte dringender Tatverdacht“, endet er die partielle Indizienausführung. Naheliegend. So bezeichnet er es. Der Detective hat nicht unrecht. „Aus welchem konkreten Grund heraus sollte er ihn umbringen?“, gebe ich zu bedenken. „Sie haben eine eindeutige Vorgeschichte miteinander. Dealer und Drogengegner. So unerwartet ist es nicht. Er arbeitet für eine Anti-Drogenorganisation und ist nach Aussage der Verantwortlichen dort durch seine sehr restriktive und klare Einstellung zu Drogen aufgefallen. Er wollte am liebsten jeden einzelnen Drogendealer einsperren und den Schlüssel wegwerfen.“ Hörensagen. Sicher ist es nichts weiter als die Widergabe einer der Aussagen. „Einsperren, nicht umbringen“, merke ich an, verweise auf den deutlichen Unterschied zwischen diesen beiden Kategorien. „Ihm ist sicherlich durchaus bewusst, dass das Töten eines Dealers den Drogenhandel nicht stoppt, sondern lediglich die Position neubesetzt wird. Welchen Nutzen hätte es also, zu töten? Es hätte keinerlei Nutzwert oder Einfluss auf die Drogenflut selbst.“ „Detective, hören Sie, Motiv hin oder her, die Beweise sind eindeutig. DNA lügt nicht und die Zeugenaussagen identifizieren ihn hinreichend. Noch dazu hat er kein nachweisbares Alibi, was durch seine Frau bestätigt ist.“ „Schmauchspuren?“ „Nicht eindeutig. Es lagen mehrere Tage zwischen Tat und Festnahme und damit mehrfaches Händewaschen.“ „Auch nicht an der Kleidung?“ „Sie wurde gewaschen.“ „Überwachungsaufnahmen?“ „Keine Brauchbaren, weder am Tatort noch am angegebenen Ort des Alibis oder des Hinwegs.“ Barres tippt mit allen fünf Fingern seiner rechten Hand auf die Oberfläche der braunen Akte. Dabei krümmen sich die vorderen Glieder auffällig nach oben, so als wären die Gelenke dort überstreckt. Er wirkt ungeduldig und ich kann sehen, wie der Wille, weiter mit mir darüber zu sprechen, schwindet. Am Tisch taucht ein älterer Detective auf, der einen Teller mit geviertelten Gurkenschnitzen und genauso vielen Walnusskeksen in den Händen hält. Er drängt sich in die dicke Wolke des Ungemachs, die zwischen mir und Barres herrscht. „Eine klare Sache, also was auch immer Ihre Beweggründe sind, vergessen Sie es“, murmelt der Neuankömmling nach einem Blick auf die Akte, auf der nach wie vor Barres große Hand liegt. Er nickt mir kurz zu, nimmt sich erst ein Stück Gurke. Auf halbem Weg und in einem weiteren Sekundenbruchteil entscheidet er sich um und schnappt sich stattdessen einen Keks. Er steckt ihn sich vollständig in den Mund, ehe er mir die Hand zur Begrüßung hinhält. Ich ergreife sie und bin gespannt darauf, wie er es schaffen will, mir mit vollem Mund seinen Namen zu nennen. Zu meiner Überraschung übernimmt das Barres. „Detectives James Marks, mein Partner.“ Marks lächelt bestätigend zwischen seinen Kaubewegungen. Jedem anderen wäre der Keks wieder aus dem Mund gebröselt, er meistert diese Multitaskingaufgabe bravourös. „Pastor. Richtig?“, fragt Barres, obwohl er es genau weiß, „Mir ist vollkommen egal, warum Sie Informationen zu dem Fall wollen. Er ist wasserdicht.“ Mit diesen Worten steht er auf, glättet seinen Anzug und greift nach einem schwarzen Mantel, der über einem nahestehenden Drucker abgelegt ist und ungeheuer teuer aussieht. Vermutlich ein Kaschmirmix. Ich sehe dabei zu, wie er ihn sich überstreift und die Akte zurück in die Schublade legt. „Evans wird Ende der Woche angeklagt. Finden Sie sich damit ab.“ Das kann ich nicht. Barres verschwindet zum Treppenaufgang, während Marks samt Snacks und Kekse zu seinem Schreibtisch tippelt, wie ein falsch proportionierter Boxer. Ich bleibe an Ort und Stelle sitzen, da mir die Anlaufpunkte ausgegangen sind. So viele Indizien und Beweise. Damit habe ich nicht gerechnet. Dennoch bringe ich die Informationen nicht mit den Erinnerungen in Einklang, die ich an dem heutigen Lehrer habe. Er war immer expressiv, aber nie aggressiv. Er war stets lösungsorientiert und nie übergriffig. Ich verstehe es nicht. Allerdings ist unser letztes Treffen vier Jahre her. Es war ein improvisiertes Klassentreffen mit den Ehemaligen, die in der Gegend geblieben sind. Nichts weiter als ein lauter Abend mit gutem Essen und ein paar Drinks, die Manuel nicht angefasst hat. Mein Blick wandert über den aufgeräumten Schreibtisch und zu der Schublade, in der die Akte liegt. Ich könnte sie mitnehmen. Niemand würde es merken, aber Barres wüsste, dass ich es gewesen bin. Zu auffällig. Allerdings bezweifele ich, dass etwas anderes darinsteht als das, was ich nicht schon weiß. Sie haben DNA gefunden. Einen genetischen Fingerabdruck. Alles andere scheint irrelevant. Damit ist es für die Mehrheit so gut wie wasserdicht. Die Worte des Detectives hängen schwer in der Luft und in dem Fragezeichendunst meines Gehirns. Jeder Fall wirft in irgendeiner Form Blasen. Wasserdicht ist eher relativ meiner Meinung nach und Manuels Fall wird keine Ausnahme sein. Dringender Tatverdacht. Mord ist kein Bagatelldelikt, daher stand die Anordnung von Untersuchungshaft außer Frage. Ich muss wissen, was sie noch gegen Manuel in der Hand haben. „Scheiße“, murmele ich, greife über den Schreibtisch zum Festnetztelefon und wähle die Nummer des zuständigen Bezirksgefängnisses. Ohne direkte Verbindung zum Fall sollte ich Manuel lediglich als Freund besuchen, doch das würde mir nicht gestattet werden. Also nutze ich eine kleine Schwindelei zu meiner wahrhaftigen Beteiligung. Ich erkundige mich nach dem herkömmlichen Prozedere, den Vorgaben und bekomme keine zufriedenstellenden Auskünfte, außer, dass ich mich gedulden muss, da die aktuelle Überfüllung lange Wartezeiten mit sich bringen wird. Noch während mir die Bearbeiterin am Telefon zusätzliche Auflagen und Umstände beschreibt, die die Wahrscheinlichkeit meines Besuches einschränken, sehe ich, wie eine bekannte Gestalt im Übergang zu den Verhörräumen auftaucht. Detective Superdupernatural. Bei ihm steht noch jemand anderes, doch ich erkenne nur, dass es ein auffällig großer, dunkelhäutiger Mann ist. Das Gesicht sehe ich nur kurz im Profil. Damast sieht der Person mit schwerem Blick nach und schlürft in den Küchenbereich. Er trägt weder Hemd noch Krawatte, sondern schwarze Jeans und einen Pullover, der seinen Oberkörper quasi in eine schwarze und weiße Hälfte teilt. Seltsam ironisch. Das Teil ist ein paar Nummern zu groß, sodass er schlaksiger wirkt, als er ist. Seine Haare sind genauso wie gestern, ungestylt und locken sich an den Enden zu kleinen Kringeln. Unwillkürlich schüttele ich den Kopf und versuche mich an den Wortlaut der Satzung zum Dresscode nicht uniformierter Beamte zu erinnern. Dieses Outfit bekäme ein klares Nein. Doch aus irgendeinem Grund scheint Detectives Vikar Damast an keine dieser herkömmlichen Richtlinien gebunden zu sein und mich interessiert sehr, warum. Ich beobachte, wie Damast mehrere Teelöffel aus der Schublade nimmt und sie einzeln betrachtet. Seinem Gesichtsausdruck nach scheint er mit den Ergebnissen wenig zufrieden, denn mit einem lautlosen Seufzen wirft er sie alle bis auf einen zurück. Das auserwählte Essbesteck dreht er hin und her und lässt es versehentlich fallen. Das Klirren hallt bis zu mir vor und in der nächsten Sekunde ist er verschwunden, weil er hinter dem Tresen abtaucht. Das Wiederfinden scheint schwieriger als erwartet und beim Hochkommen schaut Damast kurz nach links und rechts, aber nicht in meine Richtung. Nach dem Reinigen legt er das Rührbesteck zur Tasse, die neben der Spüle abgestellt ist und ich entscheide mich dafür, dass es Zeit für mich ist, mir ebenfalls einen Kaffee zu gönnen. Vielleicht gibt es Neuigkeiten. Als ich im Küchenbereich ankomme, wird der Wasserkocher bereits lauter. „Hey“, begrüße ich ihn und mache mich damit bemerkbar. Damast schaut von seiner akribischen Arbeit auf, wirkt aber in keiner Weise überrascht, mich zu sehen. Was mich wundert. „Hey“, erwidert er schlicht als Echo meiner eigenen Begrüßung. Durch die Tiefe seiner Stimme klingt es mehr wie das Brummen eines nordamerikanischen Waldbewohners. Allerdings mutiert er mit dem Design seines Pullovers mehr zur asiatischen Kategorie. Beides erklärt den Honig, der neben ihm steht. „Ich habe die Nachricht gefunden.“ Und frage mich noch immer, wieso er keine SMS schickte. „Sind Sie deswegen hier?“, erfragt er mit dieser Stimme, die mir zugegebenermaßen jedes Mal wieder einen Schauer beschert, „Wenn ja, muss ich Sie enttäuschen. Ich weiß nichts Neues.“ Ich blicke zu seiner nun professionell eingeschienten Hand, die einen der Walnusskekse hält, die ich eben schon bei dem anderen Kollegen gesehen habe. Vikar folgt meinem Blick, legt den Keks zur Seite und wackelt dann mit den Fingern. „Besser als ein gebrochenes Genick, nicht wahr?“, sagt mein Kollege scherzend. Mir ist nicht zum Lachen zu Mute, denn ich beginne unweigerlich zu frösteln, als ich daran zurückdenke, dass diese Bruchstelle im Bereich des Möglichen lag. Der Blick des anderen Detectives ist für einen Moment scharf und suchend, doch dann klickt der Wasserkocher und seine Aufmerksamkeit ist verschwunden. Er schiebt die präparierte Tasse über die Küchenzeile dichter zur Spüle. Als er den Tee aufgießt, geht Wasser daneben, welches er prompt mit der Hand wegwischt, ehe ihm einfällt, dass es heiß ist. Ein interessantes Schauspiel, welches erneut die beängstigende Frage aufwirft, wie wir die gestrige Nacht überleben konnten. „Also, du bist sowas wie der Mulder des 17. Reviers?", frage ich flüsternd nach kurzem, bitterem Schweigen und mit all der aufgestauten Absurdität, die seit dem gestrigen Vorfall schwerfällig durch meine Gehirnwindungen rotiert. Ich bin automatisch näher an ihn herangetreten, lehne mich an die Arbeitsplatte und lasse meinen Blick wandern, um sicher zu gehen, dass wir niemandes Aufmerksamkeit erregen. „Und wenn es so wäre, willst du etwa meine Scully sein?", reißt er unbeirrt. Die Art, wie er es sagt, ist fast rauchig und untermalt die Tiefe seiner Stimme perfekt. Ich erkenne das feine neckische Funkeln in den grünen Augen, ehe er sie kunstvoll verdreht. „Seit wann sind wir eigentlich beim Du?“ „Wir haben zusammen ein riesiges Monster gekillt, ist das kein Du wert?“, gebe ich zu bedenken und sehe mich abermals um, um sicher zu gehen, dass keiner in die Küche getreten ist. Auch Damast folgt meinen Blicken und hebt eine Augenbraue, ehe er nach dem Honig und dem Löffel greift. „Wir haben den Golem lediglich überlebt, das ist ein großer Unterschied“, mildert er meinen Enthusiasmus ab. Er lässt etwas der klebrigen Flüssigkeit auf den Löffel und danach in die Tasse fließen und wirkt äußerst unentschlossen, wie viel er davon braucht. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich die Hoffnung, dass er lacht und mich fragt, wovon ich spreche. Ob ich verrückt geworden sei oder spinne. Doch meine letzten Hoffnungen zerbersten an der nonchalanten Realität. Wieso kann er nicht einfach darüber lachen? So, wie es jeder bei einem solchen aberwitzigen Kommentar tun würde? Die tiefe, ruhige Stimme meines Gegenübers gibt dem Ganzen eine zusätzliche ernste Note, die mir erneut die Eingeweide verdreht. Noch dazu kann ich nicht verhindern, dass mein Herz von ganz allein in den Marathonmodus wechselt und dabei fast aus meiner Brust prescht, als ich den Golem erinnere und wie sich die Schwere auf meinem Körper anfühlte. Es war kein Traum, echot es erneut und ich atme schwerer. Damasts augenscheinliche Ruhe bei dieser Thematik macht es besonders widersinnig. Was läuft falsch bei diesem Kerl? Bereits an diesem Abend. Er wirkte gefasst und war kaum überrauscht als dieses Ungetüm auf den Plan trat. Wie konnte er nicht verblüfft sein? Nicht zweifeln? Nochmals erlaube ich mir einen suchenden Blick, erwarte Verstehen und erhalte nichts als weiteres Wundern. Damast inspiziert die verstaubte Quetsche mit Honig als wäre es ein Beweismittel, welches die Morde von Jack the Ripper enttarnt, dann verzieht er das Gesicht, weil seine Finger an dem knittrigen Plastik kleben. Ich bringe es nicht fertig, dieses normale, fast schon trottelige Bild des anderen Mannes mit den gestrigen Geschehnissen in Einklang zu bringen. Dennoch. Deutlich ist mir die Spannung seines Körpers im Gedächtnis geblieben, die ungewöhnliche Konzentration in seinem Gesicht, als er fieberhaft darüber nachdachte, wie er der Situation habhaft werden könnte. Er schien, als wäre er ganz sicher, dass es etwas geben muss. Die Bedrohlichkeit war ihm demnach bewusst gewesen und jede Faser seines Körpers durchströmte sie. Allerdings riss er Witze, was die Absurdität ins Sondergleichen hervorhob. Ich habe gelernt, dass Menschen in ungewohnten und überraschenden Gefahrenlagen normalerweise nur in zwei Arten reagieren, Angriff oder Flucht. Wozu Damasts Reaktion zu zählen ist, ist mir bis jetzt unklar. Sie war weder das eine noch das andere. Nicht wirklich zu mindestens. Der andere Detective greift nach der Tasse, rührt die Flüssigkeit darin erneut um, nimmt einen langsamen, fast bedächtigen Schluck. Noch beim Trinken legt sich seine Stirn in Falten und seine Mundwinkel ziehen sich nach unten. „Du hast nicht mal gezuckt“, stelle ich laut fest, hänge noch immer meinen Gedanken nach. Damast kippt den Tee mit Schwung in den Ausguss und schaut auf, als er die Tasse auf dem Abtropfbereich parkt. „Hm?“, gibt er irritiert von sich, als wüsste er nicht, wovon ich spreche. „Als dieses Ding auftauchte oder als Izan uns ohne jegliche Anstrengung den Container entgegen schleuderte. Du hast nicht gezuckt. Kein Bisschen. Als, wäre… als … es war wirklich real, nicht wahr?“, frage ich stockend und schaffe es nicht, den Hauch des Zweifelns zu unterdrücken, der mitschwimmt, jedes Mal, wenn ich an die Szenerien zurückdenke. Selbst mein Wunsch nach Verleumdung ist so klar, dass er wie glitzerndes Wasser zwischen uns steht. „Wäre es dir lieber, wenn ich sage, dass es ein böser Traum war?“, entgegnet Damast ohne mich anzusehen, „Glaub mir, ich habe gezuckt.“ Mein Kopf will ein Ja auf die erste Frage hören. Aber auch im selben Moment ein Nein. Ich wünschte, dass es ein böser Traum war und doch erahne ich längst, dass ich es nicht so einfach sein wird. Und genaugenommen wäre es nicht das erste Mal, dass ich zweifele, dass ich auf etwas gestoßen bin, was die herkömmliche Realität und das Gewohnte in Frage stellt. Etwas, was trotz aller Gedanken keinen Sinn ergibt, egal, wie sehr ich darüber nachgrüble. Doch diesmal ist die Ausgangssituation viel schwerer zu verdauen. Ich habe es gesehen. Ich war nicht allein. „Was ist da noch? Was…“ „Mehr als du bereit bist zu verstehen“, würgt er mich ohne zu zögern ab und richtet sich auf. Damast greift nach einer Wasserflasche und geht um den Tresen herum, an mir vorbei. Ich rieche den kühlen Hauch von erdigem Grund an ihm und richte meinen Blick auf seine Schuhe. Sie sind voller sandigem Staub. Bevor er die Küche verlässt, stoppt er, ohne sich umzudrehen. „Ach, falls das hilft. Außerirdische sind Mumpitz." Ausgerechnet das Wahrscheinlichste von allen ist nicht wahr. Kann ich ihm das glauben? „Damast, warte! Gibt es wirklich noch keine Neuigkeiten von Izan? Ich meines, es dauert jetzt schon die ganze Nacht. Du musst doch irgendwas gehört haben. Irgendwas?“, frage ich hoffnungsvoll und hole ihn kurz vor dem Fahrstuhl ein. Ich will nur hören, dass es dem Jungen gutgeht. Dass er lebt. Dass er atmet. Mehr nicht. Meine innere Aufregung und Besorgnis versuche ich bestmöglich zu unterdrücken und doch schleicht sich ein leichtes Zittern in meine Stimme, welches er mit Sicherheit vernimmt. „Nein, tut mir leid, aber beim nächsten Mal bitte ich den Rebbe darum, zwischendurch den Stand zu twittern.“ Da er nicht aufsieht, bemerkt er meinen entrückten Gesichtsausdruck nicht, der sich durch die abrupte Ernüchterung einstellt, die seine ungerührte Antwort mit sich bringt. Doch mein darauffolgendes Schweigen interpretiert er vollkommen richtig. Der schlaksige Detective hebt das Haupt und sieht mich direkt an. „Sie wissen, was sie tun. Es ist nicht die erste Austreibung, die dort durchgeführt wird. Die Mitglieder sind vollkommen gefestigt und glaubenstreu. Sie wissen ganz genau, was sie machen“, fährt er fort und klingt wie die schlechte Imitation einer 90er-Jahre Computerfahrstuhlansage. Er deutet mir unpassend dazu eine überschwängliche Geste an, die mich in keiner Weise befriedigt. Das mitfühlende Beschwichtigen sollte er dringend üben. Noch dazu hinterlässt der Gedanke, dass er mir viel erzählen kann und mir nichts anderes übrigbleibt, als ihm zu glauben, nichts als Bitternis. „Wie lange kann sowas gewöhnlich dauern?“, frage ich und entscheide mich dafür, ihn nicht so leicht davonkommen zu lassen. Ich werfe ihm meine gesamte Ungeduld entgegen. Damast seufzt und sieht mich an, ehe wir zum Fahrstuhl gehen. „Es gibt kein gewöhnlich“, verkündet er lapidar, während der Fahrstuhl endlich ankommt. Ich bin kurz davor, ihn niederzuringen oder ihn in den Fahrstuhlschacht zu befördern. „Nicht hilfreich“, brumme ich ihm entgegen und folge ihm in den Fahrstuhl. „Es ist nicht wie im Film. Es werden nicht ununterbrochen Tiere geopfert und das Böse schlägt daraufhin stärker zurück, oder sowas“, fährt er unaufgeregt fort und mit einer Selbstverständlichkeit, die den Wunsch in mir weckt, ihm die Nase zu brechen, „Es braucht Geduld und Ruhe. Auch damit Izan bei Kräften bleibt. Sie beten, singen. Dieses ganze Tamtam.“ Geduld und Ruhe. Ich verabscheue, dass er das sagt. Zumal ich mir unter keinen Umständen vorstellen kann, was genau mit dem armen Jungen passiert. Ich kenne Geschichten. Ich weiß von Erzählungen und ich weiß auch, was die Bibel dazu schreibt. Doch das, was ich mir ausmale, ist nichts Gutes. Ich halte meine angestaute Energie und die leicht schwelende Aggressivität im Zaum und ziehe zur Entspannung ruhig die Luft ein. Ich brauche einen Moment, um meinen inneren Sturm und die Wut abflauen zu lassen. Der Fahrstuhl kommt endlich im Keller an. „Die Mehrzahl der Tode, die bei Exorzismen zu verzeichnen sind, werden durch aggressive und langanhaltende Sitzung herbeigeführt. Die Besessenen sterben an Erschöpfung und Mangelernährung. Pausen und Zurückhaltung sind das A und O. Für alle Parteien.“, erklärt er auf dem Weg vom Fahrstuhl zu seinem Büro und wirft, als wir ankommen, seine Jacke über den Stuhl, auf dem ich sitzen könnte. Er umrundet seinen Schreibtisch, um den größtmöglichen Abstand zwischen uns zu bringen. Auch ich kenne die von Zeit zu Zeit auftauchenden Berichterstattungen von schiefgelaufenen Exorzismen, die große Wellen schlagen und für einen Aufschrei bei der glaubensfernen Gemeinschaft führen. Doch mit der nächsten unerwarteten Promischwangerschaft verschwindet es zurück ins Vergessene. Oberflächlich gesehen helfen mir weder seine Worte, noch seine Versicherungen und doch hat die ruchlose Impertinenz, mit der er mir antwortet, etwas Beschwichtigendes. „Ich will ihn sehen“, fordere ich und lehne mich mit beiden Händen auf dem Schreibtisch ab. „Es wird ihm gut gehen“, sagt er erneut, ohne auf mein Anliegen einzugehen. Die Sorge bleibt. „Das ist keine befriedigende Antwort“, dränge ich weiter. Aber auch das zeigt keine Wirkung, also schlage ich mit beiden Händen auf die Holzplatte. Der laute Hall funktioniert. „Ich habe keine. Und nun?“, bekennt er foppend. „Wie ‚Und nun?‘? Gib mir mehr Information, um in der Lage zu sein, davon irgendwas begreifen zu können, verstehst du das nicht? Was passiert jetzt weiter? Was geschieht danach mit Izan? Wird es wieder passieren? Ist er in Gefahr? Sind wir es? Was? Du stellst mich absichtlich vor ein riesiges Nichts“, meckere ich ungehalten. „Was willst du von mir hören? Ich untersuche noch die Hintergründe und kläre Dinge ab.“ „Okay, was genau bedeutet das? Was machst du üblicherweise in solchen Situationen? Was sind die nächsten Schritte um… „Dinge“ abzuklären?“, grabe ich weiter. Damast seufzt und lässt mir einen beeindruckend genervten Blick zu kommen. „Ganz einfach, ich beschwöre mit der Hilfe einer Glaskugel und Voodoopuppen meine Ahnen und schwuppdiewupp… Bevor du fragst, Ouija-Bretter sind bei Befragungen eher ineffektiv. Nicht zu vergessen, das alles funktioniert am besten mitternachts mit einem Überfluss an Menschenblut.“ Aalglatt. In seinem Gesicht ist keine verräterische Regung des Amüsements zu erkennen, dennoch weiß ich, dass es nur ein Scherz sein kann. Ich hoffe es zu mindestens. „Beeindruckend. Voodoo gibt es also wirklich?“, mucke ich zurück. „Das war… Dir ist schon klar, dass die Yoruba-Tradition eine anerkannte westafrikanische Religionsform darstellt, die von mehr 60 Millionen Anhängern weltweit praktiziert wird? Das ist keine Erfindung Hollywoods. Also ja, Voodoo gibt es wirklich.“ „Ja, das weiß ich natürlich“, entgegne ich mit Selbstverständlichkeit, „Ich meinte auch eher im Sinne der… du weißt schon… dieser… naja… ähm…“ Ich hadere abermals mit der Verwendung der korrekten Begrifflichkeiten und statt wild zu spekulieren, beginnen meine Hände einen Tanz, der von den grünen Augen des Kollegen skeptisch beobachtet wird. Ich mache ein paar Kreise, male ein Dreieck und eine Spirale. „… besonderen Umstände“, vollende ich meine unkontrollierte Wortanhäufung und seufze. „Ist dir bewusst, dass sowas in einer anderen Kultur eine Beleidigung sein könnte?“ „Verarsch mich nicht. Ich meine diese ‚Monster- existieren- wirklich‘- Geschichte.“ „Ist das denn so?“, gibt er Retour und lehnt sich zurück. In meinem Magen beginnen saure Eruptionen und sie kommen nicht von zu viel Kaffee. „Detective!“, knurre ich frustriert und es fällt mir schwer, das rumorende Gefühl der Unzufriedenheit weiter zurückzuhalten. Ich habe genug von den Unklarheiten und dieser Unsicherheit. Ich brauche etwas, woran ich mich festhalten kann, etwas, dass ich verstehen kann. Auch, wenn es nur ein Ja von ihm ist. Es würde mir erst einmal reichen. „Pastor, versteh mich nicht falsch und…“, beginnt er lächelnd, „Normalerweise bin ich der Letzte, der das fragt, aber solltest du nicht selbst an irgendwas arbeiten? Oder geh Pudding essen. Lenk dich ab. “ „Mach ich doch. Ich ermittle offiziell noch im Bakow-Fall. Schon vergessen?“ Was soll ich mit Pudding? „Oh hooo“, gibt er mit einem merkwürdigen Singsang von sich und starrt mich an. Erst Damasts Telefon durchbricht die kribbelnde Stimmung mit rhythmischen Vibrationen. Er wirft einen Blick auf das Display, kräuselt die Brauen und schiebt das Telefon zurück in die Hosentasche, ohne darauf zu antworten. „Okay! Bevor du mir weiter auf die Nerven gehst, begleite mich.“ „Wohin?“ Sein Mund öffnet sich und ich kann in seinem Gesicht erkenne, dass er mir etwas Verrücktes entgegnen will. Doch stattdessen greift er nach seiner Jacke und deutet aus seinem Büro heraus. „Wir ermitteln weiter im Bakow-Fall, was sonst“, sagt er mit einem erstaunlich ehrlichen und offenen Gesichtsausdruck, den ich ihm nicht zugetraut hätte. „Wirklich?“, erfrage ich skeptisch und verspüre keinerlei Bedürfnis. abermals in eine Situation wie am vorangegangenen Abend zu geraten. Wer weiß, welche gefährlichen Ungetüme er sonst noch aus der Tasche zieht. Ich weiß nicht, was es ist, aber irgendwas an Damast sorgt dafür, dass sich mir die Nackenhaare aufstellen. Mehr als jemals und bei jedem anderen zuvor. Warum bleibt mir gegenwärtig noch ein Rätsel, aber ich werde dem auf den Grund gehen. ~Fortsetzung folgt~ Kapitel 6: Superdupernatural - 2 -------------------------------- Folge 2 ~Teil 2 - Superdupernatural ~ „Ich habe vor einer Weile bei jemanden wegen der Spieluhr angefragt“, erklärt Damast auf dem Weg aus dem Keller nach oben, „Vielleicht kann er uns sagen, was sie gespielt hat und wann sie gebaut wurde. Da er sich bisher nicht gemeldet hat, statten wir ihm einen Besuch ab.“ Er nimmt auf der Treppe zwei Stufen gleichzeitig und ich habe Schwierigkeiten, ihm zu folgen. Es wundert mich nicht, dass er einen Kerl für Spieluhren aus dem Hut zaubert, allerdings ist mir vollkommen unklar, was uns das bringen soll. Doch ich hake nicht weiter nach, denn ich bin froh über jede Ablenkung. Als wir das großräumige Büroabteil der Morddezernatskollegen durchqueren, ist der Platz von Barres und Marks leer. Ich verlangsame mein Tempo unvermittelt. „Hey! Ich komme gleich nach. Warte am Auto auf mich.“ Den letzten Teil murmele ich mehr zu mir selbst, werfe ihm aber einen kontrollierenden Blick zu. Damast hebt lediglich seinen Arm, ohne sich umzudrehen. Ich observiere für einen Moment die anwesenden Kollegen, doch niemand scheint mich zu bemerken oder nimmt mich zur Kenntnis. Also mache ich einen kleinen Schwenker zu dem Schreibtisch des adrett gekleideten Kollegen Barres und stelle mit Freude fest, dass Manuels Akte noch am selben Ort platziert ist. Ich stibitze sie heraus, fotografiere unauffällig, während ich schnell die Seiten durchblättere und folge Damast zügig zum Auto. Ich brauche eine Weile, bis ich ihn und den Metallkasten auf vier Rädern wiederfinde. Der schlaksige Kerl lehnt am Kofferraum und telefoniert. Ich öffne die Beifahrertür, ohne darauf zu warten, dass er mich bittet, merke, wie mir sofort der lehmige Geruch von feuchtem Schlamm in die Nase steigt. Mit wachsender Gänsehaut blicke ich nach hinten auf den Rücksitz. Das Auto ist noch nicht gereinigt und die Polster sind voller Spuren, die unsere verschmutzte Kleidung zurückgelassen hat. Ich denke unweigerlich an Izan und mein Brustkorb verengt sich. Die Unfähigkeit, aktiv etwas für den Jungen zu tun, lässt mich in Taubheit versinken. Und ich hasse es! Ich verfalle, sobald ich mich anschnalle, ins Grübeln und sehe nur kurz auf, als Damast endlich einsteigt und den Motor startet. Wenn ich schon Izan nicht helfen kann, muss ich es schaffen, Manuel zu retten. Irgendwie. Doch im Moment hemmen mich die bürokratischen Strukturen, denn ich weiß nicht, was ich tun kann, ohne, dass es mir selbst die Beine stellt. Aus Frustration schalte ich das Radio an. Es laufen die Nachrichten. Am Boscop-Pfad, einem bei Spaziergängern beliebter Waldabschnitt im Geiger-Distrikt wurde durch einen Jogger ein Grab entdeckt. Doch die weiteren Ausführungen des Sprechers gehen im Geräuschpegel meines einsteigenden Kollegen unter. Die Fahrt ist nur von kurzer Dauer und verhilft mir zu keinen nützlichen Problemlösungen. Wir durchqueren zwei Bezirksgrenzen und halten im südlichen Teil der Stadt. Eine der gehobenen Gegenden. Damast parkt in einer Seitengasse. Die Feuerschutzwand einer der Gebäude ist mit einem künstlerischen Graffiti verziert. Es zeigt einen farbenprächtigen Feen-Wald. Satte Grüntöne, tiefes Blau und federleichte Strukturen im hauchzarten Schimmer. Eine großartige Arbeit, das sieht selbst ein Laie wie ich. Ich starre zu einer spärlich bekleideten Elfe mit langen glänzenden Flügeln, die auf einem Stein mit drei braunen Augen sitzt. Eine kurze Reflektion lässt es wirken als würde er blinzeln und plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, welche Augenfarbe es wirklich ist. Sie schimmert blau. Damast wirft mir einen auffordernden Blick zu, ehe er aussteigt, den ich mit gespieltem Zorn erwidere. Damast schüttelt nur den Kopf und ein weiteres Mal an diesem Tage folge ich ihm wie ein stupider Anfänger. Es gefällt mir nicht. Wir bleiben vor einem Geschäft mit Fassadenvertäfelungen stehen, in die kleine handbemalte Fliesen eingearbeitet sind. Sie sind dunkelrot und stechen dadurch deutlich hervor. Wir betrachten beide das ‚Geschlossen‘-Schild des Antiquariats. Ich sehe mich nach einem Geschäftsnamen oder einem Schild um, doch finden kann ich nichts. „Ist heute Montag?“, fragt Damast, schaut nach links und rechts, als gäbe es irgendwo die Straßen hinunter einen Anhaltspunkt für den Wochentag. Es sollte mich überraschen, dass er es nicht weiß, doch es passt ins Bild. „Mittwoch“, erkläre ich. Unsere beiden Augenpaare wandern gleichzeitig zurück zur Tafel mit den Öffnungszeiten. Das Geschäft wäre seit zwei Stunden geöffnet. Theoretisch. Ich spähe in den Laden hinein und kann erwartenderweise nichts erkennen außer Unmengen an rechteckigen Silhouetten und fluktuierenden Schatten. Ein älteres Paar mit Dackel spaziert an uns vorbei und beäugt uns wie Verdächtige eines vorstehenden Raubes. Auch mein Kollege wirft ihnen einen auffällig langen Blick zu und sein Gesichtsausdruck wirkt für einen Sekundenbruchteil vollkommen abwesend. Seine Augen scheinen getrübt. Er blinzelt und es ist verschwunden. In mir breitet sich das Gefühl aus, irgendwas verpasst zu haben. Es ist wie ein Kitzeln in den Zehen. „Kaffee?“, fragt der andere Polizist unbeschwert nach einer schnell getippten Handynachricht. Seine Frage bestätigend wackele ich mit den Gliedern und folge seinem Blick die Straße runter zu einem der unzähligen Coffeeshops, die sich wie bunte Perlenketten aneinanderreihen. In diesem Viertel verweilen überwiegend Menschen, die ihren täglichen Kalorienbedarf in Kaffee umsetzen und ein dementsprechend hohes Entgelt tilgen können. Wir befinden uns in einem der vielen Künstlerviertel, die direkt an den Regierungsdistrikt anschließen und überwiegend durch Touristen frequentiert werden. Die Häuser hier sind mehrheitlich Eigentumswohnungen, in deren Erdgeschossen viele kleine Galerien und Klimbim-Läden integriert sind. Alles ist modernisiert und oft nur wenige Monate im Jahr bewohnt, die restliche Zeit stehen die Wohnungen leer oder werden temporär an Touristen vermietet. Damast fordert mich auf, zu bestellen, nachdem er selbst einen Kamillentee ordert. Tee in einem Coffeeshop. Dann noch Kamille? Die Option, Damast zu verleugnen, steht mir nicht offen, da ich will, dass er für mein Getränk bezahlt, also reagiere ich mit einem fremdschämenden Grinsen auf den ungläubigen Gesichtsausdruck des Baristas. „Einen großen Americano, bitte. Erklärst du mir, wie dein Experte eigentlich herausbekommen will, welche Musik die Spieluhr spielte? Ich dachte, der Mechanismus ist defekt?“, erkundige ich mich. Die Frage nach dem Grund dieses Schrittes stelle ich gar nicht erst. Ich schiele zum Barista, der den frischgemahlenen Kaffee in den Siebträger gibt. „Spielwerk“, ertönt es neben mir. „Was?“ „Das Musikdingsinnere nennt man Spielwerk.“ Ich schenke ihm einen unverhohlenen Blick voller Gereiztheit und Entrüstung. Es prallt an ihm ab, wie schon zuvor. „Wie auch immer. Wie will er ohne das Spielwerk herausbekommen, was es gespielt hat?“ Das röchelnde Geräusch der Maschine verstummt und der Barista lässt den schwarzen Lebenssaft in einen To-Go-Becher fließen. Der Duft der frisch gerösteten Bohnen weht mir entgegen und ich inhaliere tief. Ich greife nach dem dampfenden Becher, der vor mir abgestellt wird und warte darauf, dass Damast bezahlt und ebenfalls sein Getränk nimmt. „Muss ich dir wirklich erklären, wie diese Dinger funktionieren?“, sagt er abfällig. „Bekämst du es hin, ohne wie ein aufgeblasenes Professorenarschloch zu klingen?“, erkundige ich ebenso despektierlich. „Touché. Glaub mir einfach, dass man das noch erkennt. Außerdem gibt es das Notizbuch von de Lucia. Darin sind Noten skizziert. Es ist anzunehmen, dass diese mit der Spieluhr im Zusammenhang stehen.“ Ich erinnere mich daran, sie ebenfalls gesehen zu haben, bin aber nicht sicher, dass man daraus ein gesamtes Musikstück ableiten kann. Allerdings habe ich von musikalischen Dingen kaum Ahnung. Wir lassen uns an einen der auf dem Bürgersteig stehenden Tische nieder. „Anzunehmen? Du denkst also, der Totengeist hat ihm diese zugeflüstert, sozusagen?“, fasse ich seine weithergeholte Äußerung für mich zusammen. „Sozusagen“, echot er, nicht weniger sarkastisch. „Und was bringt uns das?“ „Mir bringt es eine lückenlose Aufklärung darüber, wo der Dibbuk herkam und wann er möglicherweise entstanden ist, was im Übrigen auch für den Rebbe interessant ist. Solche antiken Stücke haben oftmals eine lange und düstere Familiengeschichte. Sie bringen regelmäßig Unheil und Unruhe in die Gemeinden“, palavert er generös, „Du kannst es ja als Beschäftigungstherapie abhaken.“ „Du frustrierst mich“, entgegne ich knurrend und gebe ihm die alleinige Schuld, dass meine sonst hochgelobte Kollegenetikette flöten geht. „Du bist nervtötend.“ „Du kannst mich mal. Was genau heißt das jetzt?“ „Wahnsinnig nervtötend“, wiederholt der Blasebalg an Ungereimtheiten, ohne an Pfeffer zu verlieren, „Okay, gut. Ich habe mir gestern deinen Zeitungsartikel genauer durchgelesen und fand ein paar interessante Anmerkungen. Daraufhin habe ich die Todesanzeigen der letzten Wochen durchsucht und fand den Namen der Besitzerin des Nachlasses. Also bin ich danach noch zum Friedhof zurückgefahren...“ „Gestern Abend? Schläfst du irgendwann auch mal?“, frage ich, lehne mich vor und nehme einen Schluck des Kaffees. „Ich konnte nicht schlafen. Kann ich fortfahren?“ Ich mache nur eine kurze, wedelnde Handbewegung und presse die Lippen aufeinander. „Die alte Dame, deren Nachlass auf dem Flohmarkt veräußert wurde, ist dort begraben. Sie gehörte einer namenhaften, alten jüdischen Familie an, hatte aber keinen Nachfahren. Das dortige Gebetshaus hat ein kleines Archiv, in dem ich ein paar Aufzeichnungen zu ihr und ihrer Familie finden konnte“, erklärt Damast weiter, lehnt sich zurück und legt seine langen, schlanken Beine auf einen der unbenutzten Stühle ab, „Ich vermute, dass der Totengeist in direkter Verbindung zu ihrer Familie stand. Ein Bruder, ein Onkel. Ein Neffe oder ein Cousin. Dritten, vierten, fünften Grades.“ Er denkt kurz darüber nach, was es noch für männliche Verwandtschaftsmöglichkeiten geben könnte. „Keine Ahnung, wer es genau war. Es ist nicht mehr nachvollziehbar. Für gewöhnlich vermeiden es Familien, derartige Vorkommnisse auszubreiten, daher wird es sicher auch keine direkten Aufzeichnungen über den Dibbuk geben. Ich konnte aber Vermerke auf mehrere, unvorhergesehene Todesfälle innerhalb der Familie finden, was ein hinreichender Hinweis ist, dass irgendwas nicht ganz koscher war.“ Er nimmt einen Schluck von seiner gelblichen Plörre und fährt fort. „Und bevor du fragst, der Ursprungsmythos besagt, dass diese Totengeister entstehen, wenn der Tote keine Erlösung findet und sie zuvor ein unerfülltes Leben geführt haben. Problematisch ist natürlich, dass Unerfüllt immer sehr subjektiv ist.“ „Wohl wahr“, bekräftige ich und benetze meine Lippen mit der vorzüglichen Bitternis des Americanos. „Wahrscheinlich wurde schon früher versucht, dem Dibbuk habhaft zu werden und ihn auszutreiben, was letztendlich auch geklappt hat, wie die Reste der Versiegelung an der Spieluhr zeigen.“ „Der Totengeist war also nicht gut drauf, als er wieder rausgelassen wurde. Und Izan ist wegen der Nachfahrin zu dem Friedhof?“, frage ich und habe das Gefühl, dass nur noch mehr Fragezeichen in meinem Kopf aufploppen. Als Damast grübelnd seinen Kopf hin und herwiegt, nicke ich auffordernd. „Der Dibbuk, ja, nehme ich an. Es kann alles Mögliche dazu geführt haben, dass er entstand. Eine Familienfehde. Hass. Unrecht. Mord. Hunger. Sonstige Sünden. Vielleicht wollte er sich an seiner Nachfahrin rächen oder er suchte das letzte Bisschen Verbindung auf, welches irdisch für ihn bestand. Sie sind nicht gut erforscht. Außer Frage steht jedoch, dass Dibbuks besonders häufig ... Jüngere in Besitz nehmen, was erklärt, weshalb er sich hauptsächlich an Izan hängte und nicht an de Lucia oder Bakow. Aus ihnen zog er nur Energie, um sich zu kräftigen und manipulierte ihr Verstand, was sie langsam wahnsinnig werden ließ.“ Ich frage gar nicht erst, wo er diese Informationen her hat. Zugegebenermaßen fühlt es sich auch noch immer an, als würde er mir einen schlechten Horrorroman zusammenfassen. Obwohl ich das dringende Bedürfnis verspüre, es zu verstehen, erhält sich die Sperre in meinem Kopf aufrecht. Darüber zu sprechen, als wäre es ein Fall wie jeder andere, macht mich fertig. „Was heißt das genau? Warum gerade Izan, doch nicht nur weil er jung ist?“, bohre ich nach und sympathisiere mit der Wärme des Kaffees. „Er hatte die Spieluhr zuerst in der Hand, meine ich. Laut etlicher Aufzeichnungen heißt es, dass sie sich üblicherweise jüngerer Frauen bemächtigen, da diese leichter zu lenken sind und mit besonders zweifelhafter Lebensweise aufwarten. Damals jedenfalls, das bedingt sich durch die vorherrschenden, moralischen Ansichten und mittelalterlichen Auffassungen. Keuschheit und derartiges. So steht es zu mindestens in den Überlieferungen, das ist nicht meine Meinung.“ „Zweifelhafter Lebensweise“, wiederhole ich mit Skepsis, „Totengeister sind also sexistisch. Gut, aber wieso dann Izan? Auf dem Markt sind bestimmt massenweise junge Frauen rumgelaufen.“ Damast zuckt mit den Schultern und für einen Moment befürchte ich, dass er seine Ausführungen enden lässt. „Also?“, bohre ich nach. „Was weiß ich. Ich würde sagen, sie sind altmodisch und ihrer Zeit angepasst. Möglicherweise verheimlicht der Kleine mehr, als du wahrhaben willst und das hat den Dibbuk angezogen“, kommentiert er schlicht. Ich höre die Andeutung heraus und weigere mich, zu verstehen, worauf er hinauswill. „Er ist noch ein Kind“, schmettere ich den implizierten Vorwurf ab und nehme Izan automatisch in Schutz. Die Lippen meines Gegenübers verziehen sich zu einem bestimmten Lächeln, dessen Bedeutung ich nicht vollumfänglich erlesen kann. Doch das, was ich im selben Moment in seinen Augen erkenne, gefällt mir nicht. Ich habe es schon bei einigen Polizisten gesehen, allerdings waren deren Gemüter durch die jahrelange Polizeiarbeit getrübt. Sie hatten Dinge erblickt, die man nicht sehen möchte, die man nie sehen sollte. Menschliche Abgründe, die jedes Mal wieder ein Stück ihres Glaubens mitrissen, welches sie nie wieder fanden oder neubilden konnten. Wahrscheinlich hat es bei Damast eine ähnliche Bedeutung. Nur, dass er unglaublichere Dinge gesehen hat. Dinge eines anderen Ursprungs, welchen er mir nicht zu erklären vermag. Vermutlich nicht mal beschreiben kann, da ich mir nicht sicher bin, ob ich es verstehen würde. Ich weiß auch nicht, ob ich die Bedeutung von dem, was unlängst stattgefunden hat, vollends begreife. Was ist, wenn er mir erklärte, dass das, was er weiß, meine gesamte Welt zum Einstürzen bringt. Dass das, was er weiß, alles verändert? Der Gedanke rüttelt etwas in mir wach, was die tiefsten und kindlichsten Ängste in mir anspricht. Die verblassten Erinnerungen wispernder Winde, von der Präsenz in der Dunkelheit und dem eigenartigen Geräusch, welches nur das kindliche Gemüt wahrzunehmen schien, werden wieder real. Was, wenn es nie Einbildung war? Wenn das, was die Fantasie malte, in bunten Tönen und facettenreichen Farben, nie nur ein Traum gewesen ist? Wäre ich bereit, es zu akzeptieren? Wäre es damit vereinbar, woran ich stets glaubte? Ich schüttele die Gedanken fort, doch zurück bleibt dieses verzehrende Loch der Ungewissheit in meinem Inneren. „Und was hatte dieses Ding damit zu tun, was mich fast zerquetscht hat?“ „Den Golem, meinst du? Das…der… das war eine Verkettung ungünstiger Umstände, würde ich sagen. Eine ziemlich fatale Verkettung.“ Vikar Damast lacht unnatürlich auf und weicht meinem Blick frenetisch aus. Ich ahne, dass er mir etwas verschweigt. Ehe einer von uns fortfahren kann, werden wir durch laute Musik unterbrochen und schauen uns perplex an. `We get it on most every night´, dudelt es und Damast scheint überhaupt nicht zu bemerken, dass das Geräusch aus seiner Hosentasche kommt. ´When that moon is big and bright. Its a supernatural delight. Everybodys dancing in the moonlight´. Es dauert erschreckend lange, bis er es begreift und das musizierende Gerät herausklaubt. „Bin den Klingelton noch nicht gewohnt“, entschuldigt er sich. Ich sehe dabei zu, wie er argwöhnisch das Display begutachtet und den Anruf wegdrückt. Reste von getrocknetem Schlamm sind an der Rückseite des Handys zu erkennen und unwillkürlich beginnen meine Zehen zu kribbeln, sodass ich sie mehrfach strecke und spreize, bis ich mir sicher bin, dass sie noch da sind. Noch gestern hat es Taylor Swift gespielt. Ein einfacher Tanz im Mondlicht ohne Golem wäre mir lieber gewesen. Das rede ich mir ein, während jede Faser meines Körpers eilig das Gegenteil behauptet. „Gibt es Neuigkeiten?“, frage ich, beobachte, wie er mit dem Daumen mehrmals über das Display streicht und seinen Kopf schüttelt. „Nein, war nur der Monsterbuschfunk. Sie planen beim nächsten Vollmond eine Opferung. Die Jungfrau haben sie schon“, erwidert er salopp und grinst, als ich mich irritiert, aber alarmiert vorlehne. Meine Reaktion ringt ihm ein sarkastisches Wow ab, was mich als absolut leichtgläubig schilt. Ich hätte es ihm kaum leichter machen können. Doch was viel wichtiger ist, diesmal wird die Erregung in meinen Gliedern nicht durch die Furcht geschürt, sondern durch einen Funken Faszination und Aufregung. Ich bin überrascht. „Das ist nicht hilfreich und du hast viel zu viel Spaß daran, mich aufzuziehen“, meckere ich und wende mich ab. Damast lacht lediglich auf. Diesmal ist es ein echtes Lachen. Es ist frustrierend. Ich habe so viele Fragen, doch irgendwas hält mich davon ab, sie zu stellen. Zufriedenstellende Antworten könnte ich sicher nicht erwarten. „Wieso machst du eigentlich dieses Gesicht?“, fragt Damast einen Augenblick später und zerrt sich umständlich die Jacke von den Schultern, weil es wärmer ist als erwartet. Das Innenfutter ist an vielen Stellen eingerissen und aufgeraut. Ein paar Sonnenstrahlen kämpfen sich ihren Weg durch die Wolkendecke. Mein Kollege zupft sich den Kragen seines Pullovers zurecht und lugt konzentriert in die ovale Öffnung, als würde er etwas anderes darin vermuten als sich selbst. Mein Gesichtsausdruck ist vollkommen normal. Damasts Augenbraue hebt sich, nachdem er das Zuppeln an seinen Klamotten beendet und mich abwartend anschaut. Wieder durchfährt mich dieser winzige, elektrisierte Schauer, der dafür sorgt, dass sich die feinen Härchen in meinem Nacken aufrichten. Es fühlt sich an, wie ein Kitzeln ohne Ursache. Diesmal gesellen sich auch die Haare auf meinen Beinen dazu und machen das Erlebnis besonders eigenartig. Da ist etwas in seinem Blick. Etwas Tiefes. Als würde er weiter in andere hineinblicken können als andere oder gar durch sie hindurch. Ich kann es nicht definieren, also ergebe ich mich diesem schwelenden Gefühl. „Von welcher Art Gesicht sprichst du genau? Ich habe viele, weißt du?“, patze ich ihm zu und setze ein leises, knirschendes Geräusch hinterher. Damast lässt sich Zeit, um darüber nachzudenken und nach seiner Erklärung weiß ich auch warum. „Du siehst aus, als hätte sich…hm… ein Chihuahua in deinem Arsch verbissen und du versuchst im Handstand ihn anzuknurren“, eröffnet er mir diese Umschreibung, die er einzig meinem Gesicht entnehmen kann. Einer Mischung aus Ernst und Clownerie. Ich stiere meinen dunkelgelockten Gegenüber an und zweifele an seinem Verstand. Im Handstand? Chihuahua? „Bitte was?“, entgegne ich unaufgeregt. Ich will keine Wiederholung hören. „Du hast gefragt. Also, was ist los? Was beschäftigt dich? Der Dibbuk ist nicht der Grund.“ Mit einem resignierten Seufzer lehne ich mich zurück und inspiziere den angetrockneten Fleck, der sich über einen weiten Teil der Tischkante zieht. Er ist gräulich grün und eigentlich will ich nicht länger darüber nachdenken, was das gewesen sein könnte, also fange ich an zu reden. „Ein alter Schulfreund von mir sitzt seit ein paar Tagen in Untersuchungshaft. Ihm wird Totschlag, möglicherweise auch Mord vorgeworfen.“ „Und er beteuerte dir seine Unschuld?“, erkundigt sich der andere Detective ohne den erwarteten Sarkasmus, was mich überrascht. „Selbstverständlich!“, erwidere ich mit klarer Überzeugung, was mir selbst Angst macht. Doch vielleicht ist es nur das Überspielen der Tatsache, dass ich im Grunde nicht wirklich weiß, ob er dazu in der Lage wäre oder nicht. Zugegeben, ich habe meinen Schulfreund seit Jahren nicht gesehen. Kennt man jemanden jemals wirklich? Ich wage es zu bezweifeln, denn das lehrten mich bisher viele Vorkommnisse meines Lebens. „Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Es gibt ein paar Beweise, die auf ihn als Täter hindeuten.“ „Beweise, nicht nur Indizien?“ Ich nicke. „Was lässt dich zweifeln, abgesehen von der persönlichen Verbindung?“ „Er hat kein hinreichendes Motiv“, sage ich, ohne zu zögern, „Das Opfer war ein polizeibekannter Drogendealer, mit einer offenkundigen Palette an Vorstrafen wie Körperverletzung, Schmuggel und versuchten Mord. Seine Lebensumstände waren dementsprechend konfliktbehaftet. Manuel ist Sportlehrer an einer Mittelschule…“ „Steroide?“, wirft mein Kollege ein. „...mit dem Schwerpunkt Gymnastik. Nein!“, beende ich meinen angefangenen Satz mit einer Stimme voll deutlicher Ablehnung. „Nichtsteroidale Antirheumatika?“, schlägt Damast unbeirrt vor. Es ist als wäre er ein kriminologisches Apothekenhandbuch, mit nervtötender Siri-Funktion. „Ach bitte, nicht das schon wieder“, schmettere ich hastig ab und erinnere mich gut an Plattitüden, die er mir schon beim de Lucia-Fall zukommen ließ, „Er ist der letzte, der irgendwas an chemischen Substanzen einnimmt. Im Gegenteil sogar, er fährt eine besonders strenge Anti-Drogenpolitik an der Schule und initiiert regelmäßig Aufklärungsveranstaltungen für den gesamten Schulbezirk. Er verweigert Ibuprofen und jede Form der Gewalt“, erkläre ich mit Inbrunst. Die Erinnerung an die letzten Gespräche und die kurze Recherche zu meinem ehemaligen Schulkameraden, um mich auf den neusten Stand zu bringen, trugen etliche Früchte und hinterließen in meinem Schuldbewusstsein einen nervös blinkenden Fleck in der Größe von Kanada. „Damit hast du doch dein Motiv. Er hatte die Schnauze voll und hat es selbst in die Hand genommen. Frustrationen, weil Verbrechen nicht gestoppt werden können, sind auch ein deutliches und häufig vorkommendes Motiv der zunehmend medialen Neuzeit. Soziale Medien machen es zudem möglich, fast jeden rund um die Uhr zu lokalisieren und auszuspähen. Selbst Drogendealer nutzen Social-Media.“ Nicht unwahr, aber nicht das, was ich hören will. Darüber hinaus bin ich mir nicht sicher, ob Manuel weiß, wie er mit sozialen Medien umzugehen hat. Aber wirklich einschätzen kann ich es nicht. „Das ist absolut ungenügend...“, äußere ich und sinke weiter in den unbequemen Stuhl hinein, weil ich ebenso merke, dass es mir an ausreichend Objektivität fehlt. Ich will nicht, dass er es war und damit behindere ich jede Form rationaler Gedankengänge. „Aber nicht unmöglich. Wer ermittelt in dem Fall?“, fragt Damast und klingt, wie die Ruhe selbst. Ich hasse es. „Die Detectives Barres und Marks aus deinem Revier. Aber Ermitteln ist das nicht, eher zurücklehnen und geschehen lassen. Ich war vorhin bei ihnen und habe versucht, ein paar Informationen zu erhalten. Sie haben abgeblockt. Natürlich! Außerdem haben sie die Akte im Grunde bereits geschlossen. Denn DNA lügt nicht.“ Das zu wiederholen, entfesselt die Frustrationen von Neuem. Ich nehme einen Schluck des kalten, herben Kaffees und verziehe dennoch keine Miene. Es ist nicht die einzige Bitternis, die mir im Kopf umhergeht. „Barres hat gesagt, ihn interessiert es nicht, dass Manuel kein erkennbares Motiv hat.“ Ich sehe, wie Damasts Gesicht knittert und er sich nach vorn lehnt. Seinen Ellenbogen platziert er auf dem Tisch. Seine Lippen reiben sich übereinander, doch das, was ihm durch den Kopf zu gehen scheint, spricht er nicht aus. Stattdessen greift auch er nach dem Pappbecher mit Tee, trinkt aber nichts davon, sondern verformt den knubbeligen Rand zu einem abstrakten Hokusai-Motiv. „Tja, wenn nicht irgendwo ein böser Zwilling rumläuft, dann wird es schwierig, bestehende DNA-Beweise zu widerlegen. Allen voran, wenn sie ihn eindeutig mit dem Tatort und dem Toten in Verbindung bringen“, steuert Damast bei und entlockt mir ein mildes Seufzen. Böser Zwilling. Mit leichtem Entsetzen stelle ich fest, dass ich ernsthaft über die Möglichkeit nachdenke. Nicht nur im biologischen Sinn. Das wäre verrückt. Unglaublich und allem voran undenkbar. Aber vielleicht… „Was, wenn es nur sowas wie Übertragung war?“, schlage ich vor, nachdem ich meine ausufernden Gedanken zurück an ihre Grenzen zwinge und eine logische Erklärung suche. Immerhin ist auch eine indirekte Übertragung von genetischem Material möglich. Im Grunde hinterlassen wir tagtäglich überall, wo wir gehen und wandeln, unsere DNA. Wir verlieren Haare, Hautschuppen und sonstige Körperflüssigkeiten. „Nur eine Verunreinigung, meinst du? Vielleicht ist es ein zweites Heilbronner Phantom, wie in den 90er Jahren.“ „Wie wahrscheinlich wäre das?“, frage ich mich eher selbst. Damals stellte sich heraus, dass mehrere Fälle verschiedener Delikte irrtümlich durch identische DNA-Funde miteinander in Verbindung gebracht wurden, weil bereits in der Produktionskette der verwendeten Wattestäbchen eine Verunreinigung stattfand. Das Phantom stellte sich als eine Verpackungsmitarbeiterin heraus, die nicht unschuldiger hätte sein können. „Nun gut, wie wahrscheinlich ist es, dass er es nicht gewesen ist?“, gibt Damast eiskalt Retour. „In Prozent?“, erwidere ich trotzig. „Ich mag Tortendiagramme.“ „Delikat“, spotte ich und klinge säuerlich, „Es gilt immer noch die Unschuldsvermutung. So lange, bis er rechtskräftig verurteilt ist. Bis dahin versuche ich, was ich kann, um seine Unschuld zu beweisen. Ich habe morgen einen Termin im Bezirksgefängnis, um ihn zu sprechen. Ich will ihm irgendwie helfen oder wenigstens besser verstehen können, was passiert ist.“ Ehe Damast etwas Unnützes einwerfen kann, meldet sich sein Handy. Es piept mehrmals energisch auf. Er zieht es mit dem Zeigefinger über den Tisch in sein Blickfeld, liest die Nachrichten und steht auf, ohne mir die Inhalte näherzubringen. Das Telefon lässt er in der Tasche verschwinden und zieht sich im Gehen die Jacke über. Der Teebecher bleibt an Ort und Stelle stehen, während er sich schnellen Schrittes entfernt. Ich greife seufzend danach, um unsere beiden Behältnisse in den Mülleimer zu verfrachten. Danach folge ich dem hochgewachsenen Detective, bis ich ihn mit verschränkten Armen vor dem Antiquitätenladen vorfinde. Das Schild des Ladens beschreibt uns weiterhin den geschlossenen Zustand und in Damasts Gesicht kann ich eine deutliche Verärgerung ausmachen. Neben der Tafel ist ein brauner Umschlag befestigt, auf dem mit Großbuchstaben sein Name steht. Seufzend reißt er diesen ab und begutachtet ihn zähneknirschend von vorn und hinten. Nach einem affektiven Raunen schlägt er zwei Mal mit der flachen Hand gegen das Fenster des Ladens und ich zucke bestürzt zusammen. „Was machst du da? Hör auf.“ Ich bin nicht scharf auf eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch. „Ey Aran… ist das dein Ernst?“, ruft Damast aufgebracht und ignoriert mich komplett. Er wiederholt den Schlag gegen das Glas, sodass die Scheibe vibriert und für einen Moment geht im hinteren Bereich des Geschäfts ein Licht an und wieder aus. Wer auch immer dieser Aran ist, er ist da und scheint nicht gewillt, mit uns oder eher Damast sprechen zu wollen. Mich beschleichen gewisse Sympathien. „Ein Freund von dir?“, frage ich spöttelnd. Als er einen weiteren Versuch startet, halte ich ihn ab und packe dabei sein eingeschientes Handgelenk. Ich entschuldige mich prompt. „Nennen wir es ein gegenseitig nutzbringendes Informationskonsortium“, beschreibt er die Verbindung zum Antiquar und ich hebe fragend die Augenbraue. „Klar doch. Tja, dann scheinst du wohl deinen Anteil nicht vollumfänglich zu erbringen“, mutmaße ich großspurig und mit mehr Schalk im Nacken als wahrem Wissen. „Doch natürlich, aber er benimmt sich lieber wie eine Primadonna“, ächzt er. Sicher hat er seinen Grund und wie ich Damast bisher kennengelernt habe, sind es Gründe. Dennoch zeichnet sich ein eher ungewöhnliches Bild in meinem Kopf. Auch der Name Aran lässt sich für mich nicht zuordnen. „Will ich wissen, wieso?“ „Ich wüsste es ja selbst gern.“ Nebulös. „Egal, wir haben, was wir brauchen. Wir gehen zurück“, befiehlt er und wedelt den Umschlag in meinem Blickfeld umher. Ich folge ihm zum Auto. An der Front bleibt er stehen, lehnt sich gegen die Motorhaube und reißt die Laschen auf. Der Umschlag enthalten Ausdrucke eines Fotos mit den hingekritzelten Noten aus dem Notizbuch. Es sind weitere Noten ergänzt sowie ein Text in einer Sprache, die ich nicht kenne. Damast holt das Originalbuch hervor, welches noch immer mit den seltsamen Papieren umwickelt ist, die mich schon beim letzten Mal stirnrunzelnd zurückließen. Er blättert es unbeirrt durch, bis er die entsprechende Seite findet und legt sie direkt neben die Fotokopie. Damasts Blick wandert über die Notizen, dann greift er nach den übrigen Blättern und geht sie nacheinander durch. Sie zeigen vollständige Kopien von Notenblättern eines Musikstücks. „Das ist ein chassidisches Sabbatlied.“ „Ist das etwas Ungewöhnliches?“, frage ich und positioniere mich neben ihn, bette meinen Hintern, ebenso wie er, gegen die schmutzige Motorhaube. Ich kann nichts davon lesen, denn es ist offenkundig hebräisch. „Eher herkömmlich. Frühes 19. Jahrhundert.“ Wieder regt sich sein Telefon. Er ignoriert es im ersten Moment und mir wird gerade schmerzhaft bewusst, dass sich die ganze Zeit über mein Handy kein einziges Mal geregt hat. „Ist ganz eingängig, aber nichts mit höherer Bedeutung. Herkömmlich eben“, fährt mein Kollegen fort. Er klingt etwas enttäuscht. „Was mehr oder weniger bedeutet, dass es uns nichts bringt“, bekunde ich und versuche, dabei nicht allzu selbstgefällig zu klingen. Damast schnaubt und schürzt die Lippen, ohne mich anzusehen. Ich gestehe mir ein, dass subtil nicht meine Stärke ist. „Wieso hast du eigentlich keinen Partner?“, fragt der Detective mich aus dem Nichts heraus. „Wieso hast du keinen?“, gebe ich die Frage wenig eloquent zurück. „Wurde gefressen.“ „Nicht witzig.“ Damast grinst breit, entblößt grade, natürliche Zähne und stößt sich von der Motorhaube ab. Er wirft die Arme in die Höhe, verschränkt seine Hände und streckt sich der Länge nach nach oben, was auch seine Kleidung hochzieht. Damast trägt einen Gürtel mit Comic- Gürtelschnalle, die mir wegen seines langen Pullovers vorher nicht aufgefallen ist. „Ich fahr dich zurück zum Revier.“ „Meins oder deins?“ „Mal sehen.“ Zurück an meinem eigenen Schreibtisch werde ich von einem enorm großen Stapel Akten empfangen, die heute Morgen dort nicht lagen. Glaube ich zu mindestens. Gleichwohl gestehe ich mir ein, dass ich nicht sehr aufmerksam war. Ich schiebe die ersten drei Hefter mit nur zwei Fingern auseinander, als wären sie radioaktiv, durchblättere ein paar Seiten und habe direkt danach wieder vergessen, was dort stand. Verdammt. Ich hasse es, nicht bei der Sache zu sein und ich befürchte, dass es langsam auch meinen Kollegen auffällt. Wie aufs Stichwort werde ich vom Chief Supervisor ins Büro beordert und muss mich prompt für meine lange Abwesenheit rechtfertigen. Er weiß, dass ich Kontakt zum 17. Revier gesucht habe. Er will einen Statusbericht zum Bakow-Fall und ich kämpfe mit jedem Wort. Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll. Ich weiß nicht, was ich sagen kann und darf. Letztendlich rudere ich herum, wie ein Skiffpaddler im Achter, verweise auf die Aufnahmen der Tankstelle und die wenige Hinweise, die wir haben. So schwer es mir auch fällt, hierbei zu Lügen. Danach bearbeite ich stundenlang brav die abgelegten Akten und Formulare, sichte Befunde und vervollständige die digitalen Aufzeichnungen. Der Großteil der Fälle ist danach abgeschlossen und wandert ins Archiv. Nur drei der Fälle landen auf dem Ungelöst-Stapel, die eine erneute und umfassendere Untersuchung nach sich ziehen werden. Hier fehlen uns Zeugen und hinreichende Spuren. Die Datenbankabgleiche fielen negativ aus und bei zwei der Toten konnten nicht einmal Angehörige oder Bekanntschaften ausgemacht werden. Sie liegen als Unbekannt in der Gerichtsmedizin. Nach einem extrem verspäteten Mittagessen und zwei Tassen Kaffee nehme ich mir Manuels Fall vor. Ich öffne die Fotos in meinem Handy und scrolle sie langsam durch. Die wichtigsten Fakten des Tatortbefundberichts notiere ich mir auf einen Block. Die Schüsse wurden gegen 01:28 Uhr gemeldet. Die Zeit kringele ich ein. Die eintreffenden Beamten fanden einen einzelnen männlichen Körper ohne Vitalzeichen vor. Auf dem Rücken liegend. Blutend. Die Augen geöffnet. Die Sanitäter stellten um 1:51 Uhr offiziell den Tod fest. Der Bericht des Gerichtsmediziners fehlt, sodass ich keine bestätigte Todesursache habe. Vielleicht sollte ich Dr. Warik ansprechen? Vielleicht kann er mir ein paar unverfängliche Auskünfte geben. Nein, ich will ihn nicht in das Desaster mitreinziehen. Ich schüttele den Kopf und scrolle zu der Liste der Gegenstände, die bei dem Opfer C-Dots gefunden wurden. Eine schwarze Bauchtasche mit einigen Geldscheinen, aber keine nennenswerte Summe. Ungewöhnlich für einen Drogendealer. Vielleicht wurde er kurz zuvor abgeschöpft. Zwei Packungen Zigaretten, eine davon ungeöffnet, waren in der Tasche. Ein Führerschein mit falschen Namen. Kein Ausweis. 6 g Marihuana zum Eigengebrauch. Obwohl die Polizei schnell vor Ort war, wurden keine größeren Mengen von sonstigen Drogen gefunden, was dafürspricht, dass der eigentliche Verkauf der Ware anders abgewickelt wird. Sonst hätte man Lager im Gebüsch oder sonstigen Verstecken gefunden. Er trug eine Waffe bei sich. Eine Glock 17. Kaliber 9 mm. Im Magazin fehlten zwei Kugeln und augenscheinlich wurde er mit dieser Waffe erschossen. Seiner eigenen Waffe. Das heißt, dass der Täter niemand war, bei dem er für sich eine Gefahr vermutete, sonst hätte er sie vorher gezogen. Der Sportlehrer einer Mittelschule wäre so jemand. Hätte Manuel sie ihm wirklich abnehmen können? Wäre er so nah an ihn herangekommen? Ich suche nach dem ballistischen Bericht der abgeschossenen Kugeln, doch der fehlt. Wie erwartet ist die Akte nicht vollständig gewesen, als ich sie heimlich fotografierte. Entweder wird schlampige Arbeit gemacht oder die Detectives aus dem 17. Revier haben sie absichtlich lückenhaft gehalten. Es frustriert mich ungemein und auch der objektive Sachverhalt darin. Vieles weist auf Manuel hin. Selbst die Aussage seiner Frau, so, wie es Barres bereits erwähnte. Sie gab an, dass er in dem besagten Zeitraum zwischen 1 Uhr und 2 Uhr morgens nicht im Haus gewesen ist. Sie wisse nicht, wo er war, denn sie hatte geschlafen und erwachte lediglich, als er zurück ins Bett stieg. Daran änderten auch ihre Beteuerungen, dass er ein guter Mann ist, nichts. Er hat kein Alibi. Dazu noch die DNA. Sie wurden an der Bauchtasche sichergestellt, die bei der Leiche gefunden wurde. Die schwarze Tasche wurde eindeutig dem Toten zugeschrieben und sie war am Verschluss zerrissen. Es zeichnet sich ein klarer Verlauf ab. Das Aufeinandertreffen. Ein möglicher Streit. Handgreiflichkeiten. Schüsse. Was ich nicht sehe, ist der Vorsatz. Immerhin hat Manuel keine Waffe mitgebracht. Die Tötung erfolgte im Affekt. Doch wieso gibt es keine verwertbaren Aufnahmen. Es geht aus dem lückenhaften Bericht nicht hervor. Ein Protokoll gibt es auch nicht. Manuels Aussage fehlt weitestgehend. Ich gebe auf. „Manuel, worin hast du dich da nur reingeritten?“ Es ist der schleichende Zweifel, der sich ein Loch durch meinen Magen frisst und überall Narben zurücklässt. Hoffentlich kann mir Manuel morgen mehr sagen. Irgendwas erklären. Irgendwas, was ihn entlastet. Fingerabdrücke auf der Tatwaffe. Irgendwas, was vielleicht auf einen anderen Täter hinweist. Ich brauche seine Aussage und die komplette Fallakte. „Verflixt“, fluche ich murmelnd in die Innenfläche meiner Hand hinein und führe meinen einsilbigen Monolog fort. Meine Kollegin hört es dennoch und schaut stirnrunzelnd über einen Berg Papiere zu mir rüber. Ich winke ihr mit einem übertriebenen Lächeln zu und senke den Kopf. Ich schiebe noch eine Weile die Akten auf meinem Schreibtisch von der einen zur anderen Ecke, teste meine Kugelschreiber auf ihre Funktionsfähigkeit und wünsche meiner Kollegin einen schönen Feierabend, als sie gehen 7 Uhr das Revier verlässt. Meine Hände wandern zurück zur Tastatur und ich tippe Damasts Namen ins Suchfeld. Seine Akte ploppt auf und ich sehe mich verstohlen um. Es ist niemand mehr da, also werfe ich einen Blick hinein. Vikar. S. Damast. 32 Jahre alt. Ledig. Keine Verwarnung oder negativen Einträge. Aber auch keine positiven Vermerke oder Belobigungen. Er wurde vor sechs Jahren Detective und ist seither dem 17. Revier zugeordnet. Ich versuche, nicht zu tief hineinzulesen. Die vermerkte Wohnadresse verweist mich in den Hobrecht-Distrikt. Es war früher das Industrieviertel der Stadt und bekam im 19. Jahrhundert als erster Stadtteil einen funktionierenden Abwasserkreislauf. Einer meiner ersten Fälle führte mich in diesen Teil der Stadt und in genau dieses ehemalige alte Klärwerk. Es ist noch heute Industriestandort, aber mittlerweile wurden viele der alten Fabrikgebäude dem Erdboden gleich gemacht und durch Eigentumswohnungen ersetzt oder sie wurden teuer saniert. Gentrifizierung in Reinform. Auch dort habe ich nach meiner Versetzung nach Wohnungen gesucht, bin aber nicht fündig geworden oder konnte die Preise nicht mit meinem Gehalt vereinbaren. Den glanzlosen, ruhevollen Charme zeigt das Viertel in jeder Gasse und selbst im dämmrigen Licht des Tagesendes. Vom Revier hierher durchquerte ich zwei Distrikte und gefühlt drei Welten. Unruhig werfe ich einen Blick auf die Uhr. Fünf Minuten sind vergangen, seit ich das Auto vor Damasts Wohnhaus geparkt habe. Viele der Fenster des Hauses sind erleuchtet, was größtenteils an der spätabendlichen Uhrzeit liegt. Meine Mutter würde mich warnend darauf hinweisen, wie unhöflich es ist, zu solch einer Stunde unangekündigt bei jemanden aufzutauchen. Doch Damast geht einfach nicht an sein Handy. Vielleicht gehört er zu der Sorte Mensch, die es abschalten, sobald sie über die Schwelle treten. Vielleicht aber hat er sich in ein hautenges Superheldenkostüm gezwängt und wetzt durch die Stadt, jagt Dämonen und Geister. Oder Tauben. Um Himmelswillen. Ich muss dringend damit aufhören. Es ist auch ohne meine ausschweifenden Fantasien eine zunehmende Anstrengung. Das Alles kann nur ein lebendiger Albtraum sein, aus dem ich morgenfrüh hoffentlich erwache. Ohne länger darüber zu philosophieren, wie unangebracht ich mich verhalte, steige ich aus und habe direkt jemanden, der mir die Tür öffnet. Eine dunkelgekleidete Frau mit kinnlangen, braunen Haaren kommt mir entgegen, als ich versuche, auf dem Klingeldisplay Damasts Wohnung zu verorten. Sie hält die Tür mit ihren schweren Boots offen und lächelt mich zuckersüß an. „Suchst du jemand bestimmten?“, fragt sie mit einem unüberhörbaren Flirten. „Ich suche die Klingel für Damast“, sage ich, deute auf die kaum beschrifteten Namensfelder und greife bereits nach meinem Ausweis, falls meine Neugier Argwohn weckt. Macht es nicht. „Ganz oben. Fünfte Etage“, antwortet sie schlicht und ohne zu zögern. Ich halte in meiner Bewegung inne und nicke. Sie lächelt noch breiter und lässt ihre vollgeschminkten, dunklen Lider flattern, nachdem ich ihr danke und meinerseits die Tür zurückhalte. An den Briefkästen entdecke ich endlich den gesuchten Namen. Doch dieser hätte mir wenig bei der Lokalisierung der Wohnung geholfen. Immerhin bin ich im richtigen Haus. Aus der Briefkastenöffnung ragt ein Stapel buntgemischter Flyer und ich frage mich, wann ihn mein Kollege das letzte Mal geleert hat. Ich greife mir ein paar der Menüblätter und blättere sie durch, während ich nach dem Treppenaufgang suche. Einen Gutscheinzettel für ein indisches Restaurant stecke ich mir in die Hosentasche. Ich hätte große Lust auf frisches Bhatura, aber es ist der falsche Zeitpunkt für Gelüste. Das Gebäude strahlt ein schlichtes Industrieflair aus, wirkt gebraucht und bewohnt. Die Zugänge der Wohnungen verstecken sich in dunklen Fluren, mit mehr Ecken und Winkel als mir als Polizist lieb sind. Alles, was ich nicht sofort einsehen kann, ist eine potenzielle Gefahrenquelle oder ein Versteck. Im Positiven, wie im Negativen. Keines der Stockwerke hat einen identischen Aufbau und das verwirrt mich in jeder Etage etwas mehr. Ich werde aus dem Aufbau dieses Gebäudes nicht schlau. Irgendwann endet der Treppenaufgang, fast abrupt. Doch ich bin mir sicher, dass ich noch nicht oben angekommen bin. Keines der Klingelschilder zeigt den gesuchten Namen, also folge ich den unruhigen Flur, bis ich bei einem weiteren Aufgang ankomme. Die Treppe, die in die obere Etage führt, ist an einer Seite offen und an der anderen Außenseite durch eine große Fensterfront mit weiß betünchtem Glas verziert. Stellen mit abgeplatzter Farbe und abgekratzten Bereichen lassen das auffällig helle Mondlicht der Nacht hindurch, welches den Flur in einen kühlen, fast furchtvollen Schein taucht. Vielleicht war dies ursprünglich ein altes Lagerhaus oder eine Fabrikhalle. Oben angekommen bleibe ich am letzten Treppenabsatz stehen. Neben der Fußmatte, die an der Wand lehnt, zeichnet sich ein dunkler, rußiger Fleck ab. Ich hebe argwöhnisch die Augenbraue, ehe ich zunächst an der Tür klopfe. Einmal. Zweimal. Nichts ist zu hören. Ich ziehe mein Handy hervor, wähle Damasts Nummer und lehne mich zur Tür. Das Ohr direkt am Holz. Gleich darauf vernehme ich das auffällige Lied, welches er aktuell als Klingelton hat. Ich lege wieder auf und drücke diesmal die Klingel. Wieder nichts. Es ist die pure Ungeduld, die die wenigen Sekunden in meinen Kopf wie Kaugummi zieht, obwohl es kaum ein Flattern ist. Sie lässt mich erneut die Klingel betätigen. Zweimal in einem noch kürzeren Abstand als zuvor. Ich höre ein verhaltenes Poltern und die Tür springt auf. Aber ausschließlich einen Spaltbreit. Vikar Damasts dunkler Haarschopf taucht als Erstes auf, dann schiebt er etwas mit dem Fuß zur Seite, öffnet die Tür weiter und schaut mich an. „Du.“ Damast klingt so neutral, wie die Schweiz und so begeistert, wie ein Coulrophobiker im Zirkus. Nichtsdestotrotz flackert sein Blick über meine Erscheinung, von oben nach unten, als wollte er sicher gehen, dass ich keine Einbildung bin. Ich entgegne seinem Blick mit einem Stirnrunzeln. „Ja, ich“, bestätige ich ungefragt, „Kann ich reinkommen?“ „Ähm… eigentlich…“ Er stoppt seine ohnehin schon zögerliche Antwort nach diesem ausweichenden Nichts gänzlich. Sein Kopf verschwindet aus dem geschmälerten Sichtfeld. Als er zu mir zurückblickt, sieht er kaum entscheidungsfreudiger aus. „Gib mir fünf Minuten.“ Schon schließt sich die Öffnung vollends vor meiner Nase. „Wirklich? So verhalten sich Serienmörder… und Jugendliche, die beim Pornos gucken erwischt werden“, kommentiere ich halblaut. „Ich bin nicht deine Mutter.“ Den letzten Teil rufe ich laut. Mir ist egal, ob er es hört, oder nicht. Mir ist ebenso egal, ob er in einem Saustall wohnt. Meine Wohnung sieht nach wie vor aus, wie eine Baustelle und ich bereue mit jedem Tag mehr, dass ich die Möblierung abgelehnt habe, die mir angeboten wurde. Trotzdem habe ich den anderen Detective in meine vier-Wände gelassen, ohne mich derartig aufzuführen. Es dauert sieben Minuten, bis er erneut öffnet und mich keineswegs enthusiastischer in die Wohnung lässt. Dafür spare ich mir das Danke. Im Eingangsbereich umschiffe ich einen hingeworfenen Haufen Schuhe. Darunter sind auch zwei Paare dunkle Halbschuhe, die komplett mit Schlamm benetzt sind. Ich starre sie einen Augenblick lang mit exponentiell schwitzenden Schläfen an. Der Rhythmus meines Herzes erliegt der Unbeständigkeit, ohne, dass ich es beeinflussen kann. Der Geschmack von Schlamm auf meinen Lippen sitzt fest und jedes Mal wieder habe ich das Gefühl, dass ich den Sand zwischen meinen Zähnen knirschen höre. Es verebbt erst, als sich mein Herzschlag stabilisiert und setzt sich mit der nächsten Flut von Erinnerungen fort. Ich schaffe es erst aus dem Erinnerungszirkel an den Golem auszubrechen, nachdem mich Damast kurzerhand anweist, meine Schuhe anzulassen. Erst jetzt klaubt er ein paar rumliegende Klamotten auf, wirft sie hinter die Couch. Ich frage mich, was er in der Abwesenheit getan hat, wenn es nicht Aufräumen gewesen ist. Mit einem Blick auf seine Hände fällt mir auf, dass die Haut dort ungewöhnlich dunkel wirkt, was auch an den Lichtverhältnissen liegen kann. Das war aber heute Morgen nicht so. Noch dazu hat er die Schiene wieder abgelegt. Damast wirft weitere Kleidungsstücke hinter die Couch und erst als ich in der Mitte des Zimmers stehe, erkenne ich, dass direkt dahinter sein Bett steht. Der Hauptraum der Wohnung ist großzügig geschnitten und die weite Fensterfront des Flurs setzt sich an einer Seite fort. Auch hier sind etliche der kleinen Scheiben mit einer Farbe abgedeckt, sodass das hineinscheinende Mondlicht mehrfach unterbrochen wird. Das Muster, welches dadurch auf dem Boden entsteht, wirkt wie ein unvollständiges Mosaik und lässt die Atmosphäre des Raums tanzen. Der Bewohner räuspert sich und ich beende ertappt das neugierige Umherschauen. „Was war das hier mal?“, frage ich zur Ablenkung und deute nach oben, zur Seite und zurück. „Ein altes Brauereigebäude samt Glasmanufaktur. Erwartest du jetzt eine Lektion in Stadtgeschichte von mir?“, berichtet er energielos, ohne mein Fingerzeig zu beachten oder in sonst irgendeiner Weise zu sympathisieren. Was kaum einer weiß, ist, dass ich als Jugendlicher eine Weile in der Stadt gelebt habe. Nicht, dass mir das irgendwelche Vorteile bringt. Alles ist so schnell im Wandel, dass ich es vermutlich schon nach ein paar Monaten nicht mehr wiedererkannt hätte. Schon gar nicht nach Jahren. Damast sieht mich an und ich spüre, wie sich seine wachsamen Augen tief in mich hineinarbeiten. Es fühlt sich an, wie ein Kratzen in meinem Inneren und mir wird klar, dass ich es nicht zum ersten Mal bemerke. „Beim nächsten Mal. Jetzt würde mir ein Glas Wasser reichen“, tische ich ihm unverblümt meine Absicht auf und lächele. ~Fortsetzung folgt~ Kapitel 7: Superdupernatural - 3 -------------------------------- Folge 2 ~Teil 3 - Superdupernatural ~ „Übrigens wurde der Kleine nach Hause gebracht“, erwähnt Damast beiläufig, als er mir das Glas Wasser überreicht, zu dem ich ihn quasi vor wenigen Minuten genötigt habe. Ich folgte ihm in die offene Küche und ich begutachte gerade die feine Staubschicht auf dem Ceranfeld. „Wann? Wie geht es ihm?“, sprudele ich überrascht los und stelle das Glas ohne zu trinken, auf die nächstliegende freie Fläche ab. Das Wasser schwappt über und benässt einige leere Briefumschläge, die unter dem Messerblick liegen. Den Durst vollkommen vergessen, spüre ich die Aufregung, die sich mit dieser Nachricht in mir ausbreitet, wie eine Horde Ameisen, die meine Blutbahnen okkupieren. Das nervöse Flattern wird stärker und es trägt die Signaturen verschiedener Gefühlsregungen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich bis eben nicht mehr an den armen Jungen gedacht und es beschämt mich. „Seit wann?“, frage ich, diesmal eindringlich. „Gerade eben“, antwortet Damast und deutet mutmaßend auf das Telefon, „Vielleicht vor einer Stunde? Was weiß ich. Auf jeden Fall ist er in einem Stück und lebendig. Ist doch gut, oder nicht?“ Beruhigend, aber nicht ausreichend. „Gut zu wissen“, grummele ich unglücklich und klinge dabei patziger als beabsichtigt. “Und gut ist es mit Sicherheit nicht. Jedenfalls nicht, wenn er sich an irgendwas von dem Abend erinnern kann.“ Ich weiß, dass auch Damast sein Möglichstes getan hat, aber ich entschuldige mich nicht für meine säuerliche Reaktion über die Verschwiegenheit und Herabwürdigung meiner Besorgnis. Auch nicht, als er mich zweiflerisch mustert. „Vielleicht erinnert er sich nicht.“ „Vielleicht“, wiederhole ich diesen eher lahmen Versuch, von dem wir beide wissen, dass es bei jenem wagen Wunsch bleiben wird. „Wieso erfahre ich es eigentlich erst jetzt? Das hätte das erste sein müssen, was du mir an der Tür sagst. Nein! Du hättest mich gleich anrufen müssen“, motze ich nachträglich, nachdem sich der überraschende Schluckauf löst und ein kleines bisschen mehr Ruhe meine Lungen füllt. „Ich habe die Nachricht gerade erst gelesen. Komm mal runter, du Muttertier!“, kommentiert Damast gelassen und gibt meiner Rage weiteres Feuer. Doch egal, wie ich es drehe und wende, ich darf meinem Unmut nicht nachgeben, also atme ich aus. Ich bin aus einem bestimmten Grund hier, denn ohne seine Hilfe komme ich nicht an die vollständige Untersuchungsakte und kann mir kein komplettes Bild von Manuels Fall machen. Das ist meine aktuelle Mission. Ich brauche ihn auf meiner Seite und ihn anzuschreien, wird meine Chancen auf eine positive Resonanz nicht erhöhen. „Was willst du eigentlich hier? Das ist, wie man merkt, kein Höflichkeitsbesuch. Also, was willst du?“ fragt er hinterher. Ich beiße kurz die Zähne zusammen und richte meinen Blick auf die farbigen Lichtpunkte, die durch das Wohnzimmer schweben. Auf dem entfernt liegenden Schreibtisch stapeln sich Papierberge. Vielleicht auch Akten. Durch die Dunkelheit kann ich kaum etwas erkennen. „Einen Gefallen erbitten“, gebe ich geradeheraus preis, ohne weitere Wortklauberei. Damast scheint zu ahnen, worauf ich hinauswill, denn er hakt nicht nach. „Und das konnte nicht bis morgen warten? Ich wollte ausnahmsweise früh schlafen gehen. Schlaf ist so wichtig und mein Stoffwechsel kündigt mir sonst das Abo“, erläutert er stattdessen und ich weiß nicht, wie viel er davon ernst meint. Ich werfe ihm einen argwöhnischen Blick zu, der bei seinen Händen stoppt. Diesmal zieht er sie bewusst aus meinem Blickfeld, schiebt sie sich unter die Achseln. „Also, was ist so wichtig?“, fragt er ruhig und lehnt sich provokativ gegen den Herd und die Dunstabzugshaube, die das einzige Licht in der scheinbar ungenutzten Küche macht. „Ich brauche eine Kopie von Detective Barres vollständiger Ermittlungsakte Aktenzeichen AKPR89-040019-23/03. Ich meine aber nicht die digitale Fallakte, die ist so löchrig, wie Schweizer Käse.“ Damast starrt mich an, während er leger gegen den Küchentresen lehnt. Seine Hände weiterhin versteckt. „Nein.“ „Nein?“, hake ich ungläubig nach. „Nein, denn ich kann dir nicht helfen.“ „Du bist der Einzige, der mir helfen kann, den ich bitten kann“, offenbare ich, wenn auch unwillig. „Ach, deshalb sind wir schon beim Du? Für das leichtere Einlullen und Gefallen a la `Eine Hand wäscht die andere‘? An diesem Punkt unserer Zusammenkünfte bist du weit im Rückstand“, stellt Damast mit neckendem Ton fest und trifft damit unweigerlich den Kern der Wahrheit. Ich bin seit mehr als fünf Monaten den Hauptdistrikten und der Mordkommission zugeteilt. Zuvor war ich Mitglied einer strategischen Sondereinheit der Außenbezirke, die der Jugend- und Bandenkriminalität übergeordnet war. Es fällt mir schwer, in dem neuen Revier Anschluss zu finden, das gestehe ich mir ein. Doch es liegt nicht an der Kollegschaft oder an dem neuen Aufgabenfeld. Meine einstige Fähigkeit, mich schnell einzubinden, anzukommen und Kontakte zu knüpfen, ist schlicht und einfach gehemmt. In der letzten Zeit fühle ich mich schrecklich fehl am Platz und das hindert mich daran, mich zu öffnen. Dabei sind es schon Monate, in denen ich versuche, Ordnung in das Chaos meines Lebens zu bringen, was vorangegangene Ereignisse hinterlassen haben. Der Stein des Bedrückens in meiner Brust wird plötzlich schwer. Alles in mir schreit danach, nicht weiter darüber nachdenken zu müssen. Vielleicht suche ich deswegen den Kontakt zu Damast, obwohl er keines der Attribute mitbringt, die ich für gewöhnlich an kollegialen Bekanntschaften schätze. Er hat etwas Unnahbares, Abgeschottetes. Dennoch amüsant Leichtes. Ihn kann ich in meine Nähe lassen, ohne mehr zu erwarten oder befürchten zu müssen. Das ist seltsam beruhigend. „Du musst mir danach nie wieder einen Gefallen tun. Einigen wir uns darauf?“, schlage ich vor. „Irrelevant, denn, wenn Barres bei dir unwillig war, ist er es bei mir erst recht“, erklärt er schlicht, „Wir haben da so ein Erzfeinde-bis-auf-den-Tod-Ding, was ich ausgesprochen ernst nehme.“ Er tropft vor Sarkasmus. Natürlich. Jeder braucht einen Erzfeind. Meiner ist die Fastenzeit vor Ostern. „Noch dazu kann ich die Tatsache, dass du schon wieder persönlichen involviert bist, nicht gutheißen.“ Polizisteneinmaleins. Vielleicht auch Selbstschutz. Ich schnaube verächtlich. Den Verweis auf das persönliche Interesse nehme ich durchaus zur Kenntnis und auch mir bereitet es Bauchschmerzen. „Wir könnten jemand anderen bitten.“ „Wen denn?“ „Detective Marks womöglich?“, unterbreite ich ihm. „Wenn der Doktor nicht will, fragen wir den Igor? Wie naiv.“ Ich würde auch Frankensteins Monster fragen, wenn ich könnte und es zum Ergebnis führte. Bislang kenne ich die Protagonisten dieses Spiels zu wenig, um solch eine Einschätzung treffen zu können, daher werfe ich mit Mutmaßungen um mich, wie ein 5-jähriger Konfetti. „Bitte.“ Ein letzter Versuch, der, genauso wie die Vorigen, an der Mauer der nebulösen Ignoranz strandet. „Gute Nacht, Detective“, entgegnet Damast stattdessen unaufgeregt und endgültig, ohne weitere Gesten machen zu müssen. Ich seufze schwermutig, werfe einen letzten Blick durch die eher spärlich eingerichteten Räume und gebe mich geschlagen. Fürs erste. Ich erwidere den Gruß, verlasse die Wohnung und brauche mehr als fünf Minuten, bis ich aus dem Haus heraus und zu meinem Auto zurückfinde. Der Rest der Nacht verläuft ernüchternd und schlafdepressiv. Ich döse zwar ein, bin aber nach wenigen Stunden abermals wach, weil ich in meinem Traum von einer gigantischen, grölenden Sanddüne verschluckt werde, während mich Izan schallend auslacht. Das schrille Gelächter verweilt in meinen Gehirnwindungen, als ich mich im Bett umher wälze, aufstehe und wieder hinlege, nachdem ich einschätze, dass es unter der Decke wärmer ist. Aber auch danach kreiseln meine Gedanken weiter, huschen zwischen Izan, Manuel und meinem neugefundenen Kompagnon hin und her, ohne mich an ein Ziel zu bringen. Mein Kopf fühlt sich an, wie eines dieser alten Dia-Brillen, mit denen mein Großvater aufgewachsen ist. Ich weiß weiterhin nicht, was ich von all dem halten soll. Weder von Vikar Damast noch von den fragwürdigen Wesen, die unerwartet auf der Spielbühne aufgetaucht sind. Doch wenn ich ehrlich bin, würde die Existenz von mystischen Wesen und Fantastischem einiges erklären. Vieles, was ich im Laufe meines Lebens mit Gänsehaut wahrgenommen habe, was trotz aller vorhandenen Variablen unerklärlich schien, ergebe nun einen Sinn. Jetzt mit mehr Abstand normalisiert sich mein Herzschlag, wenn ich an die Nacht mit dem Golem zurückdenke. Auch, wenn es zuvor diesen aufgeregten Hüpfer vollführt. Er verebbt langsam und stetig, mit jedem Hauch von weiterem Verständnis. Ich möchte nicht mehr fliehen, sondern ich will vor allem Antworten. Schon als Kind wollte ich selten wissen, warum etwas passiert, sondern ich wollte verstehen, wie es geschehen konnte. Ein kleiner, aber feiner Unterschied. Er existiert vielleicht nicht semantisch, aber für mich ist er wichtig. Was war der Auslöser? Was steckt dahinter? Wie ist es dazugekommen? Welche Variablen verbergen sich hinter den Ereignissen. Zunächst wollte ich einen wissenschaftlichen Beruf antreten und Ursachen ergründen. Dann wurde während der sechsten Klasse in meiner Nachbarschaft ein Kind, ein Schulfreund, tot aufgefunden. Er starb in einem abgegrenzten Hinterhofgarten durch eine Schussverletzung, mitten in der Brust. Niemand hat einen Schuss gehört. Niemand einen Fremden gesehen oder jemanden, der sich vom Tatort entfernte. Es wurden keine Spuren gefunden, die daraufhin deuteten, dass jemand anderes dort gewesen war, als der zwölfjährige Junge. Es lagen Spielzeuge und ein angebissenes Sandwich im Garten. Die drei Gurkenscheiben wurde rausgepuhlt und in einem benutzten Taschentuch verstaut, welches in seiner Hosentasche gefunden wurde. Ein halbleeres Glas mit Organgensaft stand am Boden, daneben drei Stücken Kreide in den Farben gelb, grün und blau. Keiner hat es verstanden. Alle waren entsetzt und verunsichert. Welches Monster würde einen Zwölfjährigen töten? Die Polizei tappte lange im Dunkeln und die vergehenden Wochen lagen schwer und still über der Siedlung, wie ein Leben erschütterndes Leichentuch. Erst viel später stellte sich heraus, dass nur ein paar Häuser weiter der Besitzer an diesem Tag einen Baum fällte. Eine alte Traubeneiche, in der Jahre zuvor eine intakte Patrone eingewachsen war. Ungesehen und vergessen. Beim Fällen traf die Kettesäge auf die Hülle und sie entzündete sich. Die Kugel flog, erreichte meinen Freund zwei Häuser weiter und tötete ihn. Es gab kein Warum. Es gab nur ein Wie. Sein Tod war eine Verkettung unglücklicher Umstände. Nicht mehr. Nicht weniger tragisch. Dieses Ereignis hat mich damals geprägt und mich lange nicht losgelassen. Jahre später nutzte ich die Chance, mit einem der Polizisten zu sprechen, der an dem Fall gearbeitet hatte. Er erklärte mir die Aufgaben, die dazu gehörten und die der Job als Polizist mit sich bringt. Nicht die grausamen Details, nicht die blutigen Effekte, nach denen die Jugend sonst lechzte. Viel mehr sprach er davon, wie wichtig es war, Antworten zu finden und den Hinterbliebenen einen Abschluss zu ermöglichen. Wie und warum. Beides Hand in Hand und doch manchmal vollkommen voneinander getrennt. Er gab mir zu verstehen, dass es hin und wieder an einer hinreichenden Erklärung oder an dem einen Grund, der alles aufklärte, fehlt. Manchmal wird dieser nie gefunden. Oft bleibt uns nur das Wie. Wahrscheinlich hat er mich damals abschrecken wollen, denn wirklich nichts seiner Erzählungen malte das typische Bild der heroisierten Helferfigur, die einem so oft aufgebunden wird. Diese Geschehnisse brachten mich nach dem Abschluss zur Polizei und es begründetet, wieso ich zunächst auch in der Jugendkriminalität landete. Es ist kurz nach fünf Uhr morgens, als ich die Beine aus dem Bett schwinge und letztendlichen die Chance auf geruhsamen Schlaf aufgebe. Ich gönne mir eine lange, wasserverschwendende Dusche und direkt danach einen tiefschwarzen Kaffee. Noch im Handtuch und mit der Tasse in der Hand ziehe ich den Laptop hervor. Nach einer moderaten Recherche zu eventuellen Meldungen zu Manuels Fall und auch Izans, sichte ich erneut die abfotografierten Einträge der Akte. Beides bringt keine nennenswerten Ergebnisse. So oder so, gut und schlecht im selben Augenblick. In Izans Fall beruhigt es den Strudel meiner gedanklichen Wasserbahn, da kein einziger Artikel über irgendwelche merkwürdigen Vorkommnisse aufgetaucht ist. In Manuels lässt es einen tiefen Unmut zurück. Es gibt lediglich ein paar polizeiliche Stellungnahmen zur Tötung des bekannte Drogendealers und zur bestehenden Festnahme eines mutmaßlichen Täters. Hier werden glücklicherweise keine Namen genannt. Teile der Handybilder sind durch meine schlechten Fotokünste kaum lesbar und damit nicht nutzbar. Meine zusammengestellte Faktenliste erhält keine neuen Erkenntnisse. Ich ziehe mir frustriert etwas über, trinken einen zweiten Kaffee und ich ärgere mich ein weiteres Mal über die offensichtlichen Lücken der Akte, obwohl es weder produktiv noch hilfreich ist. Mein Termin in der Haftanstalt ist erst in ein paar Stunden. Die halbgeleerte Tasse Kaffee bleibt auf dem Küchentresen zurück, während ich die wichtigsten Hilfsmittel zusammenklaube und die Wohnung verlasse. Zunächst fahre ich zu dem Wohnblock, in dem Izan gemeldet ist. Er lebt mit seiner Mutter und einer älteren Schwester in einem verlebten Mietkomplex im Geiger-Distrikt. Es ist der größte Distrikt der Stadt und der, mit der höchsten sozialen Armut. Seine Schwester ist es, die nach mehrmaligem Klopfen und Klingeln die Tür öffnet, das aber nur einen nervösen Spaltbreit. Ihre unruhigen großen Pupillen offenbaren ein furchtvolles Hadern des Misstrauens, als sie mich mustert. Sie ist high und das Unbehagen um den Zustand des jungen Hispano wächst. Ihre zurückhaltende Reaktion auf mich als Fremden kann ich ihr nicht verübeln. Die Polizeimarke spare ich mir bewusst. Ich frage sie nach ihrem Bruder und dessen Befinden. Sie schweigt, schüttelt lediglich den Kopf. Ich strecke ihr meine Visitenkarte entgegen und bitte darum, ihm zu sagen, dass er sich bei mir melden soll, wenn er sich in der Lage fühlt. Sie nickt und sekundenspäter ist die Tür geschlossen. Beklommen mache ich mich auf den Weg ins Bezirksgefängnis. Trotz der Polizeimarke und meines zugegebenermaßen eingerosteten Charmes dauert es lange, bis ich im Gesprächsraum Platz nehmen kann. Es braucht weitere fünfzehn Minuten, bis Manuel endlich vor mir sitzt. Was ich sehe, ist erschreckend. Nur noch ein Hauch erinnert an den bulligen, selbstsicheren Kerl, den ich in Erinnerung habe. Die Augen meines Schulfreunds sind unruhig, bläulich unterlaufen und er ist sichtbar angespannt. Uns trennt eine mittelhohe Scheibe voneinander, in der mehrere Löcher sind. „Luis, es ist schön, dich zu sehen“, beginnt Manuel aufgeregt, tippt mit den Fingerbeeren gegen die verschmierte Scheibe, „Die machen mich hier fertig. Niemand glaubt mir. Bitte, du musst mir helfen.“ Manuels Stimme überschlägt sich im Eifer und Hast. Er erzwingt ein Lächeln, welches den flehenden Unterton nur noch unterstreicht. „Hey, hör zu, es tut mir leid, aber ich kann nicht sehr viel tun. Der Fall liegt nicht in meinem Zuständigkeitsbereich, daher kriege ich schon Ärger, wenn ich mir nur die Akte ansehe. Ich dürfte eigentlich nicht mal mit dir sprechen, ohne, dass dein Anwalt dabei ist.“ „Ich weiß. Fuck, das ist ein Albtraum.“ Manuel reibt sich mit beiden Händen fest das Gesicht und das Metall der Handschellen klappert. Ich wünschte, ich könnte ihm sagen, dass alles gut wird. „Beruhige dich und bitte erzähle mir von Anfang an, was an dem Abend passiert ist. So detailliert, wie möglich“, bitte ich meinen alten Freund. „Ich weiß nicht, wie oft ich es noch erzählen soll. Okay. Okay. Ich bin spät nach Hause gekommen. Erst gegen 19:30 Uhr. Es stehen gerade die Einschätzungen der 10. Klassen an und das hat mich die Tage beschäftigt. Ewa hat ihren wirklich gewöhnungsbedürftigen Hackbraten gemacht, den ich so sehr liebe und… und… wir haben zusammen gegessen. Sie hat danach mit ihrem Vater telefoniert und ich habe im Esszimmer ein paar Arbeiten korrigiert. Wir sind ins Bett gegangen…“ „Wann?“ „Gegen halb 11. Ich habe noch den Wecker geprüft und die Aufstehzeit korrigiert. Aber ich konnte einfach nicht einschlafen. Erst habe ich etwas Warmes getrunken, doch das hat nicht geholfen. Ich fühlte mich rastlos, also habe ich mich angezogen und bin spazieren gegangen.“ Es ist zu merken, dass er diesen Ablauf schon mehr als einmal wiedergeben musste. Seine Stimme ist erstaunlich fest und doch huschen seine Augen angestrengt hin und her. Allerdings ist es kein Zeichen für eine Lüge. Auch sonst sehe ich keine der klassischen Hinweise auf Ausflüchte. Keine nervösen Ticks. Kein fantasievolles Ausschmücken bei den Erzählungen. Allerdings hatte er schon viel Zeit, die Details zu festigen. Ich ändere die Taktik. „Wann genau hast du das Haus verlassen?“ „Kurz nach 12:30 Uhr.“ „Warum gerade in dieses Viertel?“ „Ich bin oft wegen der Schule da unterwegs. Das ist mir vertraut und ganz ehrlich, - es ist total bescheuert-, aber ich wollte nicht auf Nachbarn treffen, weil ich in der letzten Zeit häufiger nicht schlafen konnte. Und du kennst das doch und weißt, wie es ist. Das Getuschel und Gelaber.“ „Ich weiß. Es ist ziemlich weit von eurer Wohnung entfernt“, merke ich an. „Ja, aber ich dachte, je mehr Strecke ich zurücklege, umso mehr würde es mich ermüden. Außerdem, woher hätte ich wissen sollen, dass dieser Kerl dort ist? Luis, ich war es nicht. Ich war gar nicht dort. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist, aber sie sagen, sie haben meine DNA dort gefunden. Aber welchen Grund hätte ich denn, ihn zu töten?“, ertönt es energisch von der anderen Seite. Ich schiele zu dem Sicherheitsposten, der offensichtlich zuckt und die Hand an den Teaser legt. „Bitte, beruhige dich“, mahne ich ihn an, damit er wieder runterkommt. „Beruhigen? Verdammt Luis, die lassen mich hier nie wieder raus. Ich bin doch unschuldig. Wieso glaubt mir niemand?“, wimmert er verzweifelt und presst sein Gesicht in die Handflächen. „Deine DNA wurde zwar am Tatort gefunden, aber der Tatort ist einer der Ballplätze, die du mit einer deiner Gruppen nutzt, oder?“, erfrage ich mit ruhiger Stimme, versuche ihn weiterhin zu besänftigen. „Ja.“ „Wann das letzte Mal? „Zwei Tage vorher.“ „Ist dir in der letzten Zeit irgendwas Ungewöhnliches aufgefallen?“ „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Was willst du hören?“, entgegnet Manuel mit rauer Stimme und schaut mich fragend an. Ich weiß es selbst nicht. Was versuche ich hier zu tun? „Ich meine, sowas wie…hat euch da jemand beobachtet? Gab es sonderbare Vorkommnisse in der Schule? Hast du zu irgendeinem Zeitpunkt Drohungen bekommen oder komische Anrufe?“ „Ich bin Lehrer in einer Mittelschule. Mir wird ständig damit gedroht, dass man mein Auto abfackelt oder meine Katze ertränkt, wenn ich nicht dafür sorge, dass man durch den Kurs kommt oder sich die Note verbessert. Himmel, ich war mit einer Horde überdrehter 13-Jähriger unterwegs. Natürlich wurden wir beobachtet. Da war nichts komisch.“ „Hat es mit deiner Arbeit als Drogenbeauftragter zu tun? Das Opfer war ein bekannter Drogendealer.“ „Opfer“, spottet er und knirscht mit den Zähnen. „Will es dir jemand in die Schuhe schieben? Fällt dir jemand ein?“, fahre ich fort. „Luis, ernsthaft. Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist und wie das alles hierherführen konnte. Schiebt es mir jemand in die Schuhe? Ja, möglich. Aber ich weiß nicht, wer und ich verstehe nicht, warum. Ich weiß nur, dass ich nicht dort gewesen bin.“ Nichts an ihm und seinen Reaktionen spricht für mich dafür, dass er lügt. Das Einzige; die Furcht in seinen Augen ist deutlich zu erkennen. „Aber du hast kein stabiles Alibi“, spreche ich das Problem an. Laut Akte erklärte Manuel, dass er nicht schlafen konnte und einen Spaziergang machte. Seine Frau konnte nur bestätigen, dass sie ihn nicht im Bett vorfand als sie in der Nacht kurz erwachte und er nach Hause kam. Doch das sei nichts Ungewöhnliches gewesen. Allerdings bestätigte sie damit, dass er kein Alibi hatte, aber auch, dass es normal war, dass er nicht schlafen konnte und unterwegs war. Für mich ist das der Grundsatz des berechtigten Zweifelns im Zusammenhang mit der Vorsätzlichkeit der Tat. In dubio pro reo. „Ich weiß das. Aber ich war nicht dort. Ich war in der Bachstraße, Ecke Austin. Dort ist eine Konditorei, in der bereits gearbeitet wurde. Bäckers Beste. Sie verkaufen dort diese herrlichen kleinen, weichen Milchbrötchen, die wir schon damals immer gegessen haben. Erinnerst du dich?“ Ich erinnere mich an den zuckrigen Duft frischen Teiges und wie die fluffige Konsistenz auf der Zunge schmilzt. Zum Frühstück gab es sie mit gesalzener Butter und Erdbeermarmelade. Göttlich. „Kaufen konnte ich zu der Zeit noch keine, also bin ich in eine der Gassen eingebogen, weil ich vor ein paar Wochen dort ein sehr künstlerisches Graffiti entdeckt hatte und prüfen wollte, ob es noch da ist. Ich konnte Tauben hören, obwohl es dunkel war. Was noch? Aus einer der Wohnungen kam laute Musik. Es roch nach fauligen Tomaten“, beschreibt er energisch. Mit jedem Wort wächst seine Verzweiflung. „Gott, Luis, wie kann das sein? Diese ganze verfickte Stadt ist voller Kameras und genau die beiden, die beim Tatort sind, funktionieren nicht? Und auch auf meinem Weg dorthin hat mich keine erfasst? Genau an diesem Abend?“ Sein Kehlkopf flattert angespannt auf und ab, so sehr, dass seine Stimme zittert, als er spricht. Technik ist gut und schön, aber sie ist kein Allheilmittel. „Ich war es nicht! Ich war nicht dort“, wiederholt er, als wäre es das Einzige, was den Wahnsinn fernhält. Ich verstehe seine Verzweiflung. „Beschreib es mir. Das Graffiti. War es noch da?“, frage ich, um die wuchernde Spannung zu negieren. Ich brauche Manuel mit klarem Kopf. „Ja“, antwortet er schwach, „Ein schwarzes Einhorn.“ „Wie hattest du es entdeckt?“ „Bei einem Rundgang mit den Kids. Neue Perspektiven der Kunst. Graffitis als sozialkritischer Ausdruck“, erklärt er und lacht bitter auf, „Himmel, sie waren so begeistert. Sie sollten Bilder machen und dann eines auswählen, beschreiben und interpretieren.“ „Seit wann bist du an Kunst interessiert?“, hake ich nach. Manuel lacht fade auf. „Ich bin tiefsinniger als die meisten denken.“ „Ohne Zweifel.“ Wir lachen beide, trotz zurückhaltender Bitternis. „Ewa hat mich vorletzte Woche in so eine freakige Spiegel-Kunst-Ausstellung geschleppt. Es war beängstigend, sehr intensiv, aber irgendwie auch ganz cool.“ Ewa, seine Frau, war schon immer der Stein des Anstoßes. „Leider ist der Kunstunterricht oft das, worauf am ehesten verzichtet wird, wenn das Budget sinkt und ich dürfte mit den Schülern keinen Ausflug mehr dorthin machen. Ich brauchte eine Alternative und fand einen Artikel in einer der kleinen Bezirkszeitungen. ‚Kunst vs. Vandalismus‘“, fährt er fort. „Ja, die Statistiken sind seit Jahren schlecht und unserer Präventionsbeauftragten kommen auf keinen strategischen Zweig, was den Vandalismus angeht“, schweife ich ab, mit einem anklagenden Ausruf über die vortrefflichen Fehlleistungen dieses partiellen administrativen Apparats. „Luis.“ Ich presse schuldbewusst die Lippen aufeinander. „Entschuldige.“ Sein ernster Blick weicht einem gemischten Ausdruck und ich meine, ein kurzes Grinsen auf seinen Lippen erahnen zu können. Es ist zu schnell verschwunden, um es zu verifizieren. „Ich hätte nie gedacht, dass mir das mal passieren wird“, entgegnet er mit einem Flüstern, was kaum zu mir vordringt. „Das ich selbst getötet werde… ja… aber das? Ich meine… komm schon. Ich bin doch einer der Guten.“ Nichts als Trübsal schwimmt in seinen Worten mit. Es ist erdrückend und wahr. „Ich tue, was ich kann, aber ist verzwickt“, berichte ich lasch. „Ich weiß. Ich danke dir.“ Danach lasse ich ihn alles wiederholen, hake an anderen Stellen nach und stelle weitere Fragen. Am Ende habe ich ein gutes Bild von den Geschehnissen des Abends von Manuels Seite. Als ich aus der Bezirkshaftanstalt zurückkehre, werde ich durch eine uniformierte Kollegin am Empfang zurückgehalten, die mir ein in ein buntes Tuch mit mäandrischen Mustern eingewickeltes, flaches Päckchen überreicht. Officer Nancy MacCord. Sie lächelt aufgeregt und ihr linkes Auge wird dabei etwas schmaler. „Luis, hier, das hat jemand für dich abgegeben“, sagt sie und zwinkert spielerisch. Ich nehme es entgegen. Der Inhalt fühlt sich flexibel an, nicht starr. „Jemand? Wer?“, frage ich verwundert nach. Ich starre irritiert zwischen ihr und dem bunten Stoffpaket hin und her. „Keine Ahnung, ich habe es nicht entgegengenommen. Liegt nichts dabei?“, fragt sie neugierig, „Egal, wenn du mich fragst, ist es allemal einfallsreicher als Blumen.“ Und nicht gerade nach Vorschrift. Ich bedanke mich und weiß nicht, was ich von ihrem Kommentar halten soll. Bevor ich zu meinem Schreibtisch gehe, besorge ich mir eine Tasse Kaffee, lege das Paket zur Seite und schalte den Rechner ein. Die drei Klebezettel, die auf den unteren Teil meine Tastatur geklebt sind, sagen mir, dass ich mindestens vier Leute zurückrufen soll und eine Akte einsehen muss. Ich verteile sie um und schlürfe den schwarzen Lebenssaft bis zur Hälfte auf. Er ist stark und flattert bitter über meine Zungenwurzel. Genau das, was ich brauche, denn ich habe nicht das Gefühl, auch nur einen Millimeter voranzukommen. Izan meldet sich nicht. Ich weiß nicht, ob er nicht will oder nicht kann. Die psychologischen Auswirkungen bei solchen Geschehnissen sind endlos und schwerwiegend. Möglicherweise sollte ich noch einmal bei ihm vorbeischauen oder einen Sozialarbeiter kontaktieren. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass ich dafür keine Zeit habe, da mein Captain ohnehin nicht gut auf mich zu sprechen ist. Es hindert mich nicht daran. Ich durchsuche das Intranet nach den Nummern und Mailadressen des Sozialdienstes. Da ich bisher mit keiner der Kontaktpersonen zu tun hatte, wähle ich nach Bauchgefühl, tippe eine kurze Mail mit der Bitte um Prüfung und hinterlege meine Handynummer. Mehr kann ich gerade nicht tun, also schweift mein Blick automatisch zu dem farbenfroh verschnürten Paket. Bevor ich mich dem bunten Rätselpäckchen widmen kann, dringt ein hastiger, quer durch den Raum geschleuderter Zuruf zu mir durch. Ein Kollege bittet mich darum, ihn zu einem Tatort zu begleiten und ich willige ohne Widerworte ein. Da ich selbst noch keinen Partner zugewiesen bekommen habe, ist mein aktives Aufgabenfeld stark eingeschränkt. Mordfälle dürfen nicht allein bearbeitet werden, also leiste ich im Moment vor allem Zuarbeiten, Recherchen und Laufarbeit. Uns erwartet ein Toter in der Badewanne. Er wurde erst Tage nach seinem Ableben durch seine Cousine aufgefunden. Sie steht weinend und zitternd im Flur und spricht mit einem Officer, als wir eintreffen. Der süßlich faule Geruch, der uns in der Wohnung empfängt, wird beißend, je näher wir dem Badezimmer kommen. Mein Körper reagiert von ganz allein und es ist, als würde der Geruch des Todes auf meiner Haut vibrieren und langsam in mich eindringen. Es heißt, man soll durch den Mund atmen. Ich würde am liebsten gar nicht atmen. Ein Kollege der Spurensicherung dokumentiert jedes Detail im Bad mit der Kamera. Der intensive Blitz, der wieder und wieder den kleinen Raum erhellt, blendet mich und lässt meine Sicht für Augenblicke farbig tanzen. Ich suche einen abgeschiedenen Fleck und fixiere ihn. Erst, nachdem er geht, schaffe ich es, mich auf die Leiche zu konzentrieren. Es ist kein schöner Anblick. Ein Teil des Körpers, darunter Schulter, Hals und weite Stellen des Kopfes ragen aus dem rötlich verfärbten Wasser heraus, sind aufgedunsen und verfärbt. Die eingetauchten Bereiche des Körpers sind bleich und wächsern, jedoch in Form geblieben. Auf der Hüfte erkenne ich eine bläulich und grün verfärbte Stelle. Ein Sturz womöglich. Bei näherer Betrachtung sehe ich eine deutliche Delle im seitlichen Bereich der linken Schädelseite und Blut am Wannenrand. Ein Aufschlagpunkt. Nirgendwo sonst sind Spritzer zu sehen oder Flecken, was dafürspricht, dass es eine einzige ausschlaggebende Verletzung gab und keine weitere Einwirkung durch wiederholten Waffengebrauch. Es sind keine Spuren eines Kampfes zu erkennen. Demnach sprechen die offensichtlichen Faktoren mehr für einen Unfall, aber das kann uns nur der Gerichtsmediziner nach der Autopsie bestätigen. Ich vermute, dass er stürzte und infolgedessen ertrank. Vom Pförtner des Wohnhauses erhalten wir die Überwachungsaufnahmen der letzten zwei Wochen des Foyers und auf dem Rückweg fahre ich im Videolabor vorbei. Der Entschluss bildet sich erst auf der Fahrt dorthin. Ich gebe die Bände des Badewannenvorfalls bei dem Verwahrungskollegen ab. Er notiert sich, dass sie erst relevant werden, falls die Autopsie ein Fremdverschulden feststellt. Ich lasse meinen Charme spielen. Hernandez, der Officer, der uns bereits beim Bakow Video geholfen hat, ist mit der Einladung auf einen Kaffee und einem Snack schnell zufriedengestellt und ich kriege die vorhandenen Aufnahmen von Manuels Fall zur Verfügung gestellt. Ich unterschreibe die Entgegenahme brav und bin mir sicher, dafür später weiteren Ärger zu kassieren. Während er geruhsam den Raum verlässt, starte ich die ersten drei Aufnahmen der benachbarten Geschäfte von Manuels angeblichen Aufenthaltsort. Er ist nicht zu sehen. Als letztes nehme ich mir die Aufnahme des Tatorts vor. Es ist nur ein Teilabschnitt des Ballfeldes zu erkennen. Eine Straße im Hintergrund und ein paar parkende Autos. Am linken Rand bewegt sich eindeutig eine dunkelgekleidete Person durch das Bild. Er raucht und das Glimmen der Glut leuchtet leicht auf, jedes Mal, wenn er an seiner Zigarette zieht. Dann verschwindet er aus dem Bild, taucht wieder auf und greift nach etwas im Gebüsch hinter sich. Die Aufnahmen sind nicht die besten, aber es könnten Zigaretten oder Drogen sein. Der Bildschirm wird plötzlich schwarz. „Was zum…“ „Verrückt, oder?“ Officer Hernandez steht mit einem angebissenen Double Chocolate Cookie und einem Kaffee hinter mir. Ich nicke. Doch er schaut gebannt auf den leichtflimmernden Bildschirm., also bekommt er mein Nicken gar nicht mit. „Wie wahrscheinlich ist das?“, fragt er weiter und ich bin mir sicher, dass er keine statistische Annäherung von mir hören will, „Mein Cousin arbeitet für die Stadtwerke im Bereich der Stromversorgung. Er sagt, dass in einem Radius von 50 Meter alle Kameras ausgegangen sind. Kurzschluss in den optischen Modulen. Im exakt selben Moment.“ „Wirklich?“, erkundige ich mich erstaunt. Hernandez nickt frenetisch und ein paar der Kekskrümel rieseln von seiner Lippe. Einer der größeren bleibt am Saum der Brusttasche seines Hemdes hängen. Ein anderer kullert über die Wölbung seines Bauches zu Boden. „Ja, alle visuellen, angeschalteten Geräte. Auch das Handy des Opfers ist elektronisch gesehen komplett im Eimer, habe ich gehört. Ein Kurzschluss. Wie bei den Kameras.“ Hernandez steckt sich einen Teil des Kekses in den Mund, kaut und schüttelt den Kopf. „Zum Glück haben sie die DNA von dem Typen.“ „DNA ist nicht alles.“, merke ich sofort an. „Sagen Sie das mal den Geschworenen. Seit CSI sind sie ganz wild darauf. Meine Tante arbeitet für die Bezirksstaatsanwaltschaft und sie sagt, dass ein Fall ohne DNA-Beweise von vornherein ein verlorener Fall ist. Ja, das sagt sie…verrückt, oder?“, plaudert er drauflos. Zur Bekräftigung verschwindet das letzte Viertel des Mürbeteiggebäcks in seinem Mund. Er leckt sich über die braunbeschmierte Fingerbeere, sieht sich um und greift nach dem nächsten der Kekse. „Warum…“, setzt er an. „Können Sie mir einen Gefallen tun?“, schreite ich ein, ehe er nachhaken kann, warum ich mir das Video aus diesem Fall anschaue. „Sie sind doch vom Fach, können Sie mir die Hintergrundinfos der Aufnahme auslesen? Es ist leider nicht genau zu erkennen, ab wann das Bild einbricht. Sie kriegen doch bestimmt super fix die genaue Uhrzeit heraus, oder?“ „Die Metadaten", fragt er kauend. „Richtig. Kommen sie daran?" „Sicher, aber wozu brauchen Sie das?“ „Ich benötige die Informationen für eine genaue Rekonstruktion der Abläufe. Geschworene lieben Animationen des Tathergangs, deswegen brauchen wir die exakten Angaben“, sauge ich mir blitzschnell aus den Fingern. Mein Kollege in Uniform scheint überzeugt, denn er nickt verstehend, streicht sich die fettigen Hände an der Unterseite des Hemdes ab und lässt sich auf den Stuhl neben mir fallen. Er zieht die Tastatur zu sich heran und seine Finger beginnen zu fliegen. So schnell, dass ich mich vor Schreck fast an meiner eigenen Spucke verschlucke. Auf dem Bildschirm öffnen sich schnell mehrere Fenster, schließen sich wieder und das Klackern der verwendeten Tasten ertönt im dazu passenden Takt. Ich sehe fasziniert dabei zu, bis es ebenso plötzlich stoppt. „Ich denke, …hier könnte…“, setzt er langsam an, „Hier sind die entsprechenden Informationen gelistet, sehen Sie, Detective? 01:17 Uhr. Zu der Zeit ging das System aus. Danach hören die Aufzeichnungen auf.“ Ich beuge mich vor, als er mit dem Finger gegen ein paar der abgebildeten Zeilen tippt. Die Schüsse wurden 01:28 Uhr gemeldet. Demnach liegen zwischen dem Ausfall und den Schüssen nur elf Minuten. Das ist nicht viel Zeit für eine derartige Eskalationsspirale. Ich bitte den Kollegen um eine Kopie der Daten und verlasse das Hauptgebäude, um in mein Revier zurückzukehren. Am Schreibtisch erliege ich einen Moment lang der Lethargie. Die Gedanken in meinem Schädel überschlagen sich und der entstehende Druck äußert sich in Kopfschmerzen. Ich lasse langsam die Luft aus meiner Lunge entweichen, ziehe mehr Luft wieder hinein und schließe dabei die Augen. So lange, bis ich mehrere Türen höre, die sich energisch öffnen und schließen und ich mich gezwungen aufrichte. Mein Blick fällt sofort auf den bunten Stoff des geheimnisvollen Päckchens. Augenblicklich kehrt die Spannung in meinem Körper zurück und ich greife nach dem flachen Päckchen. Ich löse die Knoten und entblättere den Stoff. Darin befindet sich eine blaugraue Dokumentenmappe. Sie ist alt und leicht vergilbt. Stirnrunzelt schlage ich sie auf und sitze schon bei den ersten Zeilen senkrecht. Es ist Manuels Ermittlungsakte und sie hat meine sofortige Aufmerksamkeit. Ich blättere sie zügig durch, um einen Überblick zu bekommen und weiß schon nach der Hälfte, dass sie diesmal vollständig ist. Sie enthält sogar die toxikologischen Berichte, die ballistische Auswertung der Waffe und die Tatortfotos. Dieser Schwindler, Damast. Er hat es doch geschafft. Jetzt schulde ich ihm wirklich etwas. Doch vorerst gehe ich dem dringenden Bedürfnis nach, die Akte gründlich zu analysieren. Die Spuren. Die Fotos. Die Zeugenaussagen. Ich studiere alles bis ins kleinste Detail und komme zu den gleichen Schlüssen. Vieles deutet auf Manuel hin. Doch nicht alles. Die Fingerabdrücke an der Waffe können nicht Manuel zugeordnet werden. Am Rand der Analyse sehe ich die Worte ‚seltsam‘ und ‚konkav‘, versehen mit einem Fragezeichen. Beides ist kaum zu lesen, da es vermutlich im Original nur mit Bleistift vermerkt ist. Zwei der Abdrücke sind vom Opfer C-Dots selbst, die anderen sind auch nach dem Abgleich mit der Datenbank nicht zuordbar. Einige der Abdrücke sind stark verwischt, sodass kein klarer Linienverlauf, keine Furchen, keine Falten zu erkennen sind. Ich wundere mich sehr über die Seitenanmerkung. Für gewöhnlich sind die Papillarleisten der zentralen Fingerbeeren konvex. Je weiter ich mich mit den Inhalten beschäftige, umso mehr kristallisiert sich heraus, dass sie trotz aller Unstimmigkeiten nie einen anderen Verdächtigen in Betracht gezogen haben. Wie kann das sein? Wie kann ein Drogendealer mit Ganghintergrund keine anderen Feinde haben als einen engagierten Mittelschul-Sportlehrer? Das ergibt keinen Sinn. Normalerweise verliefen solche Geschichten eher den gegenteiligen Weg und man hätte Manuel erschossen in seinem Schlafzimmer aufgefunden oder in der Eingangstür seines Wohnhauses. Es ist nicht wasserdicht. Ganz und gar nicht. Mit einem langgezogenen Seufzer schließe ich die Fallakte AKPR89-040019-23/10. André C. Dotton. Manuel wird Ende der Woche angeklagt. Was dann? Sollte ich meinem Vorgesetzten auf die Ungereimtheiten hinweisen? Ich bin mir nicht sicher, ob es etwas bringt. Er würde mir nicht zuhören. Ich greife frustriert nach dem oberen Formular des Stapels mit den abzuarbeitenden Akten, sichte die Anzeige und beginne, die Daten sorgfältig digital zu hinterlegen. Sie richtet sich gegen Unbekannt. Die Tat wurde durch ein Krankenhaus zur Anzeige gebracht. Ein junger Mann liegt nach einer Attacke mit schwerwiegenden Kopfverletzungen im Koma. Es gibt keine Zeugen, aber es konnte genetisches Spurenmaterial gefunden werden, deren Abgleich mit den Strafdatenbanken jedoch keine Ergebnisse brachte. Der Abschlussbericht steht noch aus. Kein Ende. Keine Bewegung. Das Alles hinterlässt unendliche Ruhelosigkeit in mir. Ich fühle, wie es juckt. Überall. In Manuels Fall kann ich nichts tun. Auch die Fälle von Bakow und de Lucia kann ich zu keinem wirklichen Ende bringen, da mir beim besten Willen nicht einfällt, wie ich es erklären soll. Es bleibt nur einer dieser schwammigen, psychologischen Gründe übrig. Alles andere, wie Izans Anwesenheit, der Totengeist und das Ungetüm, blieben unerwähnt. Kein Warum. Nur ein Wie. Der Sinn dahinter ist kaum zu verstehen, auch wenn ich den Grund begreife. Zwei Tote. Zwei trauernde Familien. Auch Izans Leben wird nie wieder sein, wie früher und ich kann nichts für ihn tun. Vor allem dann nicht, wenn er mich nicht sprechen will. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich in der Lage wäre, alles zu erklären, ihm den Halt zu geben, den er bräuchte. Ich lehne mich im Stuhl zurück und versuche mir vorzustellen, was Izan im Moment durchmacht. Es erfüllt mich mit Schauder. Allein die Vorstellung, Pablo etwas angetan zu haben, hat ihm an dem Abend ungeheure Angst gemacht. Pablo. Der Gedanke an das zutrauliche Viertelmaskottchen versetzt mir einen neuen Schub. Ich strecke meinen Rücken und die Schultern, suche nach einem Stift und ziehe einen Blankblock unter der Tastatur hervor. Wo könnte der Hund sein? Wo war er Izan am wahrscheinlichsten begegnet? Das Blut an ihm war noch frisch gewesen. Es muss daher in der Nähe des Friedhofs gewesen sein. Ich schreibe die wichtigsten Fakten auf das Blatt. Das Erstellen eines Bewegungsprofils ist das Einzige, was mir einfällt. Es bedeutet, dass ich Izans mutmaßliche Schritte zurückverfolge, auch wenn ich keinen Zugriff auf die entsprechenden Handydaten oder Videoaufnahmen habe, um es zu verifizieren oder das Suchgebiet einzugrenzen. Ich weiß, wo er wohnt, wo das Jugendzentrum ist und in etwa, wo wir aufeinandergetroffen sind. Drei Punkte. Mehr als man bei manchen Serienmördern hat. Ganz unten im Rollcontainer meines Schreibtisches finde ich einen Stadtplan. Die Gebrauchsspuren sind unübersehbar, denn er ist nicht mehr nach den ursprünglichen Falzungen zusammengelegt und ein Teil des Harrow-Distriktes fehlt komplett. Zum Glück ist der Bereich, den ich benötige, halbwegs unangetastet. Ich markiere den ungefähren Wohnblock des jungen Hispano, das Jugendzentrum und die Stelle, an der Izan uns vor das Auto gelaufen ist. Es ist eine Strecke von mehreren Kilometern, verschachtelt und durchdrungen von unzähligen Gassen, Durchquerungen und Gebäuden. Je mehr ich mir den Ausschnitt ansehe, umso klarer wird die Auffassung in mir, dass es ein ineffektiver Versuch ist. Pablo könnte überall sein. Wie jedes verwundete Tier wird er sich eine Stelle gesucht haben, in die er sich verkriechen kann, um zu verenden. Obwohl es unmöglich scheint, ihn zu finden, sprudelt in mir dieses dringende Verlangen, es dennoch zu versuchen, irgendwas zu tun. Es ist Hoffnung. Normalität, was auch immer es bedeutet. Es kitzelt mir förmlich in den Zehen. Stillsitzen und Papierkram erledigen waren noch nie meine Stärken, auch wenn ich eine ordentliche Aktenführung durchaus präferiere. Mit dem Handy schieße ich ein Foto der Karte und der Skizze. Ich murmele Pablos Namen, sperre den PC und besorge mir aus der Küche ein paar Handschuhe und einen Müllsack. Ich finde auch eine kleine Schaufel, die aus unerfindlichen Gründen unter der Spüle liegt und fahre los. Es dauert eine Weile, bis ich die exakte Stelle ausmache und ich erkenne sie allein dadurch, weil der Müllcontainer, der an dem Abend mit mir kuscheln wollte, kopfüber auf dem Bordstein liegt. Er hat die Seriennummer, die ich mir aus unerfindlichen Gründen gemerkt habe. Vielleicht weil es nicht täglich passiert, dass einen ein Container beinahe zerquetscht. Mittlerweile ist er mit Tags übersäht und wesentlich ramponierter. Er hat einen Riss in der Front und stark eingedellte Bereiche. Ich parke mein Auto am Straßenrand, nehme die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und hole aus dem Kofferraum die kleine Klappschaufel. Der schwarze Müllsack ist bereits in meiner Jackentasche. Während ich versuche, irgendetwas vom Gelände wiederzuerkennen, knistert er bei jeder meiner Bewegungen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich in der Schwärze der Nacht das scheinbar Vertraute ins Unbekannte verwandelt. So, wie an diesem Abend. Eine ganz andere Welt. Ich atme tief durch, ehe ich das verwüstete Gelände betrete und stelle fest, dass es bei Tageslicht völlig normal wirkt. Nicht mehr als ein baufälliges Gelände voller Schrott. Nichts Furchterregendes. Kein Schreck. Nur Verfall. Trotzdem vibriert meine Haut, kitzelt und kribbelt, so intensiv, dass ich mehrfach hart durch den Mund ausatme und durch die Nase ein. Es soll mich beruhigen und dennoch fühlt es sich an, als würde jeder Atemzug mehr Adrenalin produzieren. Auch meine Eingeweide scheinen zu simmern und sich nach und nach zu verflüssigen. Es ist kein gutes Gefühl und ich befürchte, dass es mich noch eine Weile lang heimsuchen wird. Zugegebenermaßen ist es mir nicht fremd. Als Polizist gerät man in unaussprechliche Situationen. Für Gefahrenlagen sind wir ausgebildet. Es gibt ein Handbuch für alles. Richtlinien und Vorschriften, die alle Eventualitäten betrachten, analysieren und zerlegen. Doch im Grunde kann einen nichts auf die Realität vorbereiten und nichts verläuft nach üblichen Schemata. Das lernt und erlebt man sehr früh in diesem Job. „Also gut, Pablo, wo bist du?“, entsinne ich mich meiner eigentlichen Mission, kremple die Ärmel hoch und schaue mich um, „Wo seid ihr euch über den Weg gelaufen?“ Ich hoffe inständig, dass Pablo noch lebt und ignoriere die Stimme in meinem Kopf, die verhöhnend lacht, weil ich mit einem möglicherweise toten Hund spreche. An und um unseren Schlachtschauplatz herum finde ich ihn nicht. Immer wieder werfe ich einen Blick auf die Karte und wechsele letztendlich doch auf die digitale Darstellung im Handy, da das Gebiet laut meiner Uraltkarte noch vollständig bebaut ist. Jenes Durcheinander an Straßen, Gassen und undefinierten Quadraten wird beim Licht der untergehenden Sonne zu einem Strudel an Unzulänglichkeiten. Nirgendwo gibt es einen nutzbringenden Hinweis. Kein Blut ist zu sehen oder ein Kadaver. Ein eindringliches Poltern entpuppt sich als eine Horde hungriger Raben, die auf einem geöffneten Müllcontainer hinter einem Restaurant sitzen. Die Tiere sind ziemlich furchteinflößend. Ein lautes Rascheln identifiziert sich als Katze, deren Augen beim kurzen Aufleuchten von Scheinwerfen regelrecht glühen und mich zurückschrecken lassen. Überall huschen Ratten. Mäuse. Aber kein Pablo. Als es dämmert, beginne ich, Pablos Namen zu rufen und in den grauen Schatten zu stöbern. Ich suche in jeder Gasse, in jedem Winkel. Von Zeit zu Zeit frage ich bei Passanten nach und ernte Kopfschütteln und Ignoranz. Was mache ich hier? Was erwarte ich von dieser Aktion? Pablo ist ein Straßenhund ohne Besitzer. Aber er wird von den ansässigen Kindern sehr geliebt. Nenne ich es Hoffnung? Ist es das, was ich hier suche? In der Zwischenzeit erreiche ich das Jugendzentrum. Es ist seit Wochen geschlossen und nur ein paar der älteren Teenager lungern neben den Fahrradständern unter einer Bedachung herum. Ich erkenne keinen der Jungs, sehe trotzdem einen Moment lang dabei zu, wie sie die Lautstärke einer Bluetooth-Box justieren, wie sie Limoflaschen klirren lassen. Sicher sind auch Bierflaschen dabei. Sie hören Rap und Hip-Hop. Laut und dröhnend. Nichts, was ich identifizieren kann. Ich bin schon lange nicht mehr up-to-date. Ich bin kurz davor, rüberzugehen und sie nach ihren Ausweisen und Pablo zu fragen, da lässt mich etwas vor einer Gasse innehalten. Es fühlt sich an, wie ein tiefes Zwicken im Nacken, welches langsam die Wirbelsäule entlang krabbelt und sich über meinem Steißbein sammelt, wie ein bunter Haufen Konfetti. Eigenartig. Unangenehm. Ich spüre es nicht zum erste Mal. Sofort richte ich meine Aufmerksamkeit auf die vor mir liegende Gasse. Sie ist kaum einladender, als die letzten drei davor. Dieses Viertel wird mehr und mehr zum Territorium von Zerfall und Unordnung. Aber niemand scheint etwas dagegen zu unternehmen. Alle Maßnahmen sind reaktiv, ohne die Probleme präventiv zu betrachten. Es sind die klassischen Risikofaktoren urbaner Räume, deren Populationen steigen, obwohl wirtschaftliche und ökonomische Faktoren stagnieren. Die Mülltonnen im erkennbaren Bereich der Gasse scheinen unangetastet. Sie sind ordentlich aufgestellt und aneinandergereiht. Lediglich durchweichte Pappe ist auf der rechten Seite zu einem Haufen gestapelt. Langsam spüre ich die Kälte des Abends bis in die Knochen vordringen und eine plötzliche Müdigkeit erfasst mich, wie der Schlag mit einem Paddel. Mit der Ermattung kommt auch ein Teil der Resignation zurück. Das Tier könnte überall sein. Vielleicht wurde er längst gefunden? Vielleicht wird er niemals gefunden. Was habe ich mir nur mit diesem Vorhaben gedacht? Dass ich Pablo lebend finde und sich damit alles zum Besseren wendet, dass es somit niemals passiert ist? Dass meine gewohnte Welt gerade nicht bröckelt? Kein Wunder, dass Damast glaubt, ich wäre nicht so weit, um das alles zu verstehen. Ich höre ein Winseln und bleibe abrupt stehen. Lauschend wende ich meinen Kopf zur Seite. „Pablo?“, versuche ich es optimistisch und das leidende Geräusch wird lauter. Es dauert einen Moment, bis ich das verschmutzte Tier unter einem der Kartons entdecke. Sein dunkles Fell ist verklebt und an den meisten Stellen mit einem grauen Schmutzfilm belegt. Er sieht fürchterlich aus. „Pablo?“, frage ich erneut und höre ein deutliches Wimmern, „Hey, kleiner Freund. Da bist du ja … pssscht… keine Angst. Es ist alles gut.“ Keine Ahnung, warum ich mit ihm spreche, wie mit einem kleinen Kind, aber das verletzte Kerlchen scheint darauf zu reagieren. Ich greife vorsichtig nach dem Mischlingsrüden und hole ihn sachte näher heran. Das Knurren ist nur noch Makulatur. Dennoch hoffe ich, dass er nicht merkt, dass ich im tiefsten Inneren meines Herzens maximal ein Hamstertyp bin. Meine Sorge ist unbegründet. Pablo ist so geschwächt, dass er kaum Widerstand leistet, als ich ihn langsam gegen meine Brust bette. Erst im Licht der Straße sehe ich das gesamte Ausmaß seiner Verletzungen. Sein Fell ist voller Blut und Schmutz. Es deckt sich mit den Spuren, die Izan an seiner Kleidung hatte. Mit dem Hund auf dem Arm suche ich im Internet nach einer Tierklinik und kehre zum Auto zurück. Es dauert mehr als zwei Stunden, bis ich in meine Wohnung zurückkehre. Die Klinik meldet sich, sobald sie genaueres über den Zustand des Tieres sagen können, aber sie gaben mir positive Zeichen. Ich verspüre eine horrende Erleichterung darüber, dass wir Pablo von Izans Liste der schlechten Erinnerungen streichen können. Vorerst jedenfalls. Meine Wohnung begrüßt mich mit Dunkelheit und einer herausgeflogenen Sicherung. Schon wieder. Irgendwas überlastet regelmäßig den Stromkreis zum Wohnzimmer, selbst wenn ich nicht anwesend bin. Der Hausverwalter hüllt sich in Unwissenheit. Ich wandere seufzend zum Schaltkasten, öffne die Abdeckung und suche nach dem Schalter, der nach oben geklappt ist. Diesmal sind es sogar zwei. Ich rücke sie in Position und sofort geht das Licht an. Während ich am Schreibtisch platznehme, stoße ich angestrengt, aber ruhig die Luft aus. Meine Beine pochen. Meine Fußsohlen sind wund und es schmerzen Stellen, von denen ich sicher war, dort keine Muskeln zu haben. Vielleicht sind es auch nur meine Knochen. Ich halte danach für 30 Sekunden den Atem an. Ab der Sekunde Achtundzwanzig hört das Rauschen in meinen Ohren auf. Auch das Zittern meiner Hände nimmt ab. Meine Sinne werden klarer. Der Zweck dahinter ist ganz einfach. Das Fehlen sauerstoffgesättigter Luft in meinen Lungen sorgt dafür, dass sich mein Herzschlag stabilisiert und das krude Drama in meinem Kopf langsamer rotiert. Hin und wieder brauche ich das. Nach einem Mitternachtssnack, der aus einen vor Tagen abgelaufenen Joghurt besteht und Kräcker, die vermutlich älter sind als ich, gehe ich ins Bett. Der Wecker klingelt in vier Stunden und ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich aufwachen will. ~Fortsetzung folgt~ Kapitel 8: Superdupernatural - 4 -------------------------------- Folge 2 ~Teil 4 - Superdupernatural ~ Am nächsten Tag bin ich pünktlich im Büro und kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie ich das bewerkstelligen konnte. Die Nacht war kurz und der Morgen verflüchtigt sich immer weiter im undurchsichtigen Dunst der Erinnerungen. Auch nach der ersten Tasse schwarzem Wachmacher fehlen mir die Teile zwischen Aufstehen und Kaffeetrinken. Ich schließe die Augen und lehne meinen Kopf gegen einen der aufgetürmten Aktenstapel, während mein Rechner hochfährt und ich mir wünsche, dass der Berg von allein verschwindet. Scheinbar bin ich auf Autopiloten hierhergefahren, dann schaffe ich es sicher auch, mit der Kraft des Traumzustandes den Papierkram abzuarbeiten. „Wow, du siehst… bescheiden aus. Aber immerhin lebendiger als der Golem.“ Es ist die tiefe Stimme und der Verweis auf das mystische Wesen, was weniger fabelhaft war als gedacht, was mich - ohne die Augen zu öffnen - wissen lässt, wer vor mir steht. Vikar Damast. Sein Vergleich hinkt in mehr als einer Weise und doch höre ich ihn leise lachen. Ich gebe ein Golem frönendes Grölen von mir, ehe ich den Kopf hebe und den dummquatschenden Ankömmling mustere. Damast grinst verschmitzt. Obwohl auch er in den letzten Tagen wenig Schlaf bekam, sieht er nicht aus, wie der wandelnde Tod oder einer seiner Lakaien. „Das war richtig authentisch“, lobt er mich und ich versuche, die nächste Salve bestmöglich zu überhören. Ich bin zu müde und mäßig gelaunt für diesen Mist. Der Detective lässt sich unbeeindruckt auf den abgewetzten Stuhl neben meinem Schreibtisch fallen, fingert an dem Namensaufsteller herum, der strategisch perfekt auf einem breiter werdenden Riss im Holz steht und schlägt die langen Beine übereinander. Dieses Revier ist eines der ältesten der Stadt und wir haben noch die alte Ausstattung. Keine schicken Stehtische und ergonomisch korrekten Sitzgelegenheiten. Einer meiner Kollegen verbringt den ganzen Tag auf einem Holzstuhl. Ich schiebe mein Namensschild sofort wieder an die korrekte Stelle. „Was willst du? Wartet keine Seance auf dich oder ein Trollnotfall?“, kontere ich, als er nicht von allein mit der Sprache herausrückt und setze mich aufrecht hin. Genau zum richtigen Zeitpunkt, denn kurz darauf kommt der Sergeant und der Captain des 12. Reviers um die Ecke. Ich greife unwillkürlich nach der Mouse und ziehe einen der Berichte dichter heran, während ich ihnen achtsam mit den Augen folge. „Fragt mich derjenige, der Phantomen nachjagt“, erwidert Damast schnippisch, schielt zu meinen Vorgesetzten und wirkt seltsam ungerührt. „Schlecht geschlafen?“ Ich beobachte aufmerksam, wie die Bosse das Büroabteil verlassen und habe erst danach die Muße, das Gespräch mit Damast wieder aufzunehmen. Eine weitere Ermahnung und noch mehr nutzlosen Papierkram kann ich nicht gebrauchen. „Nur zu wenig und es ist KEIN Phantom“, relativiere ich und mustere meinen Störenfried kritisch. Mein Kollege sieht irgendwie anders aus. Es dauert einen Moment, bis mir klar wird, warum. Er trägt diesmal einen ordentlichen schwarzen Kurzmantel. Darunter blitzt ein dunkelblauer Pullover mit unscheinbarem Zopfmuster hervor. Eine schlichte graue Stoffhose sitzt angemessen an ihm und er entspricht damit mehr oder weniger dem Dresscode für Detectives. Aber nur fast. Ich hingegen trage einen ordnungsgemäßen mittelgrauen Anzug mit einem elfenbeinfarbenen Hemd und schwarzer Krawatte. Fast automatisch greife ich mir an den Knoten und ruckele daran rum, weil sie mich schon den ganzen Tag nervt. „Stimmt ja, es ist der böse Zwilling“, erwidert er schnippisch und betrachtet auch mich einmal von oben bis unten. Ich entlasse meine Krawatte mit einem Raunen und für einen Sekundenbruchteil zuckt sein Mundwinkel, als wartete er darauf, dass ich nach seinem ungewöhnlich adretten Outfit frage. „Ich habe Pablo gefunden“, berichte ich stattdessen. „Picasso?“ „Pablo, der Hund.“ Damast drückt das Verstehen mit einem bejahenden Laut aus, fragt aber nicht weiter nach. „Er ist verletzt, aber lebt“, erörtere ich daraufhin. Aber auch das ruft keine anteilnehmende Reaktion bei ihm hervor. Ich mustere ihn absichtlich starr, ohne mit meiner Skepsis hinter dem Berg zu halten. Er erwidert es gelassen und wir liefern uns ein Gefecht mit Blicken, bei dem ich ohne Frage als Sieger hervorgehe. „Hervorragend, da du nichts weiter zu tun hast, außer Veterinäramt zu spielen… Schnapp deine Jacke, du fährst“, eröffnet mir Damast aus dem Nichts heraus und klingt abermals, als würde er einen Hund herumkommandieren. „Komm!“ Ich erwürge ihn. Ich bin kurz davor. Damast steht schwungvoll auf. Dabei schlenkert sein linkes Bein um Haaresbreite an einem instabilen Aktenstapel des Nachbarschreibtisches vorbei. Ein loses Blatt kriegt Aufwind, flattert über den Schreibtisch der Kollegin und bleibt neben der Tastatur liegen. Es ist ein Vermisstenmeldung. Mehr erkenne ich auf die Schnelle nicht. Ich bin erstaunt, dass ich überhaupt etwas bemerkt habe. „Wir fahren? Wohin?“, frage ich wenig begeistert und hörbar unwillig. Ich zwinkere mehrmals langsam, als er von jetzt auf gleich in meiner Peripherie auftaucht, da die anhaltende Schläfrigkeit meine Reaktionsgeschwindigkeit limitiert. „Zum Friedhof“, äußert Damast. Er betont es, als wäre es ein Besuch bei einem Rummelplatz. „Wieso?“, hake ich missmutig nach. „Wir erfüllen dem Dibbuk seinen letzten Wunsch. Hoffentlich“, erklärt er laut und ich sehe mich unwillkürlich nach aufhorchenden Kollegen um. Zum Glück sind die meisten unterwegs und die umgebenden Schreibtische leer. „Und warum tun wir das?“ Ich senke absichtlich meine Stimme, in der Hoffnung, dass sich Damast ein Beispiel daran nimmt. Vergeblich. „Ach, verdammt nochmal, bist du aus der Sesamstraße gefallen? Wie? Wo? Was? Warum?“, äfft er los, „Lass die Fragerei und setz deinen Bewegungsapparat in Gang. Komm, Bewegung tut dir gut.“ Diesmal liegen mir weniger nette Substantive auf der Zunge. Die Welt ist voller guter Homonyme, doch ich bin zu höflich, um sie unverblümt in die Welt zu tragen. Die harsche Art des anderen Mannes könnte allerdings dafür sorgen, dass sich das bald ändert. Ich knirsche mit den Zähnen, ehe ich mich endlich aufrichte. Damast beobachtet mich dabei mit wachsender Ungeduld und einer Schärfe, die mich zugleich matert und nervt. Ohne meinen Blick von ihm zu lösen, greife ich extra langsam nach meiner Jacke, packe erst noch die Akten, auf denen ich geruht habe, sorgfältig zur Seite und bringe geruhsam meine leere Tasse in die Küche. Als ich zurückkehre, hat er es sich auf meinem Schreibtisch sitzend gemütlich gemacht. Damast hält das Vermisstenblatt vom Schreibtisch der Kollegin in der Hand. „Ist der Herr endlich so weit?“, fragt er, ohne aufzusehen. Ich nehme ihm das Papier aus der Hand und lege es zurück auf den Aktenstapel. Ich fühle eine Schwere um mich herum. Sie ist wie wabernder Nebel, der sich erhebt, mich ummantelt und lähmt. Immer dann, wenn ich einen Friedhof betrete, ist es unausweichlich. Es lässt mich in derselben Sekunde angestrengt atmen. Als wäre man dem heißen Dunst einer zu warmen Dusche ausgesetzt. Ich mochte sie nie, die Besuche der verstorbenen Verwandten. Ehren. Danken und Erinnern. Konzepte, die einem als Kind kaum etwas bedeuten. Schon damals war da dieses seltsame Gefühl, welches mich beschlich. Ein unterschwelliges Kitzeln. Es ließ meine Haut vibrieren und die Härchen an meinem Körper zittern. Es fühlt sich kühl an und abweisend. Als ich fünf Jahre alt war, erklärte mir meine Mutter, dass es die Seelen der Verstorbenen sind, deren Energie so groß ist, dass etwas auf der Erde zurückbleibt. Ich solle es nicht fürchten. Ich solle sie als Wegführer verstehen, als Begleiter. Damals war es mir unheimlich. Nicht ungewöhnlich bei einem Kind, denn das Verständnis für die Welt reichte einfach nicht aus. Es war nicht greifbar für mich und das ist es manchmal auch heute nicht. Ich werfe einen Blick zu meinem Kollegen, der mit geöffneter Jacke neben mir her läuft, als wäre das ein Spaziergang im Park. Nur seine Augen wirken unruhig, huschen hin und her, so als suchte er etwas, ohne zu wissen, was es ist. Es ist nicht das erste Mal, dass ich diese Reaktion bei ihm bemerke. Ich beobachte auch, dass sich seine Schultern sachte nach oben ziehen. „Und was machen wir hier genau?“, frage ich, als die Stille auf mich niederzubrechen scheint. Ich schaue mich dabei weiter auf dem Friedhofsgelände um. Die Mehrheit der sorgfältig gereihten Grabsteine sind alt, moosüberzogen und wettergegerbt. Die Gräber sind selbst eher schlicht, ohne Blumendekoration und Schnickschnack. Die jüdischen Traditionen sehen es nicht vor. Ich schaue zu einem älteren Paar, welches vor einem der neuen Grabsteine steht. Beide sind vornehm gekleidet. Sie hält ein gerahmtes Bild in der Hand und ein Stofftaschentuch. „Wir bestatten den Dibbuk bei seiner letzten Verwandten, der Besitzerin der Spieluhr. Ich habe mit dem Rabbi gesprochen und er versicherte mir, dass er sich darum kümmern wird, dass man dokumentiert, dass man bei dem entsprechenden Grab Vorsicht walten lassen muss, sodass die Spieluhr nicht wieder in falsche Hände gerät.“ „Also die Prämisse ist, dass der Geist nur zurück zu seiner Familie wollte?“ Ich schaffe es nicht, das Missfallen zu unterdrücken, das mich bei dieser Annahme kitzelt. Es sind immerhin zwei Menschen gestorben. „Wer weiß. Ich hatte noch nie einen Plausch mit einem Totengeist. Sie sind eher selten gesprächig“, kommentiert er salopp. Ich bleibe abrupt stehen, denn die fade Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. „Ernsthaft? Das ist deine Reaktion darauf? Du sagst das, als wäre es das Normalste der Welt und es gäbe nichts, was das ändern könnte“, ächze ich ihm zu, „Stellen sich dir nicht die Nackenhaare auf? Macht dir das gar nichts mehr aus? Das ist unbegreiflich für mich.“ Ich bin empört. Schlicht und einfach. Damast geht noch ein paar Schritte, ehe er bemerkt, dass ich ihm nicht mehr folge und wendet sich zu mir um. „Was willst du von mir hören? Nimm es hin oder lass es sein. Was soll ich noch sagen? Du hast es doch selbst gesehen, also triff deine Entscheidung.“ Ich habe es gesehen, mit meinen eigenen Augen und das macht es nicht weniger verrückt, unglaubwürdig und absurd. Ich erwidere nichts, sondern sehe ihn einfach nur verloren an. „Pastor, versteh doch. Wir können Bakow und de Lucia nicht wieder lebendig machen …“, setzt er an, „Glauben. Hoffnung. Verstehen. Wut oder Vergessen. Du musst selbst entscheiden, was du brauchst, um deinen Frieden damit zu machen.“ Es ist nicht hilfreich. „Aber…“, setze ich an und werde unterbrochen. „Okay, denkst du wirklich, dass all die Schriften, Legenden und Erzählungen bloße Fantasie sind? Hirngespinste ungebildeter Menschen früherer Jahrhunderte? Ja, sie haben damals nicht alles verstanden und vieles lässt sich heute durch Wissenschaft erklären, aber … weißt du, sie hatten noch die Fähigkeit, durch die Schatten hindurch schauen zu können. Wir sind heute blind und abgestumpft. Durch Medien indoktriniert und desinteressiert. So ist es. In Island gibt es zum Beispiel seit Jahrhunderten den Glauben an Elfen. Die Hügelspitzen, die sich durch die Vulkanlandschaft ziehen, gelten als deren Behausungen und Lebensräume. Heute weiß man, dass die Spitzen wegen Vogelkot entstehen, weil die Vögel aus Mangel an Bäumen die Hügel als höchsten Punkte benutzen. Aber heißt das automatisch, dass keine Elfen existieren?“, endet er den eifrigen Redeschwall und wir schauen uns an. „Elfen?“, wiederhole ich skeptisch. Ich widerstehe dem Drang, zu fragen, ob er bereits welchen begegnet ist und denke sofort an das farbenfrohe Graffiti in der Nähe des Antiquariats. „Die Hügel sind rund und sehen aus, als hätten sie Nippel.“, entgegnet er mit einem gepressten Schmunzeln. Der umtriebige Kerl schafft es tatsächlich, meine aufkeimende Skepsis zu mindern, die jedes Mal in mir aufflammt, wenn ich darüber nachdenke, was alles da draußen und mitten unter uns existieren könnte. Doch abermals gibt er mir keine klaren Antworten. Kein Ja. Kein Nein. Es ist ein simples Womöglich. Vielleicht. Scheinbar. Im Grunde ist es nichts. „Du hast ein echtes Talent, drumherum zu reden, ist dir das klar?“ „Du solltest mal meine Berichte lesen“, witzelt Damast, weitet seine Augen und schüttelt sein Haupt. Ich bin gerade nicht dazu in der Lage, weiter darauf einzugehen. „Um Himmelswillen“, erwidere ich mit einem vielsagenden Laut der Frustration, „Apropos Berichte. Was schreibe ich in die Bakow Akte?“ „Die Wahrheit. Er starb, weil er Polizisten angriff. Schusswaffengebrauch aufgrund akuter Gefahrenlage.“ Simpel. Nicht unwahr. Schnell schließe ich zu ihm auf und gehe, ohne zu zögern, an ihm vorüber. Ich würde es nicht zugeben, aber etwas der Schwere hat sich trotz alledem verflüchtigt. „Du kannst es nach heute einfach vergessen. Das Alles“, sagt Damast leise und es ist der Wind, der diese Worte zu mir trägt. Als ich mich umwende, schaut er mich direkt an, aber irgendwie auch durch mich hindurch. „Wie könnte ich“, entgegne ich und bin mir nicht sicher, ob er es gehört hat. Unsere Gedanken werden einen Augenblick später von Musik hinfort getragen. Damast schaut sich um, deutet beim Losgehen mit dem Kopf in die Richtung des Gesangs und beschleunigt seine Schritte. Bevor wir bei der Gruppe ankommen, stoppt mich Damast, greift in seine Jackentasche und zieht zwei dunkelblaue Stoffstück hervor. Er reicht mir eines davon und ich begreife, dass es sich um eine Kippa handelt. Ich habe noch nie eine getragen, schaue also aufmerksam dabei zu, wie sie sich mein Kollege auf den Kopf setzt, zurecht zuppelt und ich folge seinem Beispiel. Die Gebete setzen sich bei ruhigem Vogelgezwitscher fort und keiner der Anwesenden scheint Notiz von uns zu nehmen oder sich an unserer Präsenz zu stören. Es ist ein sonderbares Gefühl, dieser jüdischen Zeremonie beizuwohnen und noch eigenartiger wird es, als das mit einem weißen Tuch abgedeckte Holzkästchen in ein Loch neben dem Grab eingelassen wird. Niemand berührt es. Keine außer mir schaut es direkt an. Als es aus meinem Blickfeld verschwindet, wird es um uns herum still. Es sind nicht nur die Gebete, die stoppen. Auch das Zwitschern der Vögel verstummt. Der Wind ist fort und kein Kitzeln, kein kühler Hauch ist zu spüren. Obwohl ich sehen kann, wie sich die Spitzen der Baumreihe am Rand der Mauer zur Seite neigen, ist davon hier am Grab nichts zu merken. Die ältere Dame von vorhin betätigt eine Wasserpumpe. Ich sehe, wie die Flüssigkeit schwallartig daneben geht, doch auch das Plätschern ist nicht zu hören. Mein Magen wird flau und dann ist plötzlich alles wieder normal. Der Brunnen gurgelt und die alte Frau beginnt, mit ein paar der Harken zu hadern, die an einer Holzvorrichtung angebracht sind. Ohne abzuwarten setze ich mich in Bewegung, steige die kleine Steintreppe hinab und husche achtsam zwischen den Gräbern hindurch. „Bitte entschuldigen Sie, aber darf ich Ihnen helfen?“, frage ich aus ein paar Metern Entfernung. Ich möchte sie ungern erschrecken. Nur gemächlich wendet sie sich um und mir fallen sofort ihre leicht trüben Augen auf. „Oh, das wäre zu freundlich, junger Mann. Sie sind verknotet, wissen Sie“, erklärt sie mir langsam das Offensichtliche. Ihre Stimme ist schwach und leicht kratzig. Ich lächele ihr zu, tilge die wenigen Schritte zwischen uns und mache mich daran, die Metallstreben der Laubfächer zu entwirren. Sie sind rostig und stark gebogen, daher verhaken sie sich ineinander. Mit reichlich Klappern und schwindender Geduld schaffe ich es, eine der Harken herauszulösen. Ich folge der Dame zu dem Grab, an dem sie bereits vorhin gestanden hat und wundere mich, wo ihr Begleiter hingegangen ist. Dankend greift sie nach der Harke und mein Blick fällt auf die papierdünne Haut ihrer stark runzeligen Hand. Sie ist mit feinen blauen Adern und Venen durchzogen und ich denke an meine eigene Großmutter, der ich als Kind oft bei solchen Arbeiten zur Hand gegangen bin. Sie hatte den grünsten Daumen, der mir je begegnet ist. Jede Pflanze wuchs bei ihr zur schönsten Pracht, mit den saftigsten Früchten und in den wundervollsten Farben. Sie hat ihren Garten stets geliebt. „Mein Mann“, beginnt die alte Dame neben mir ruhig und legt ihre knorrige Hand sachte an den Grabstein, „Ihr Lächeln erinnert mich an meinen Arti. Es ist gütig und warmherzig, so wie er es war, wissen sie.“ Ich habe gar nicht mitbekommen, dass ich lächelte. Ich schaue automatisch auf die Gravur. Arthur Moos. Er starb erst vor einem Jahr. „Er fehlt mir sehr.“ „Darf ich das für Sie übernehmen?“, biete ich an und möchte ihr die Möglichkeit geben, ihrem Mann noch etwas länger Gedenken zu können. Sie nickt und lächelt sanft und dankbar. Ich harke die Pfade um das Grab herum sauber, während ich ihren sanften Gebeten und gemurmelten Gesängen zuhöre. Ich verstehe kein einziges Wort und doch fühle ich einen schlichten Frieden in mir wachsen. Sie bedankt sich erneut und geht. Ich verstaue die Harke an der Holzwand und erst danach sucht mein Blick nach den meines Begleiters. Ich finde ihn etwas abseits beim Rabbi stehend. Seine Arme sind verschränkt, während er aufmerksam den Worten des religiösen Amtsträgers lauscht. Schon im nächsten Moment gehen sie in verschiedene Richtungen davon, ohne erkennbaren Gruß. Es wirkt, als waren sie mitten im Gespräch. Damast lässt seinen Blick schweifen und findet mich. Er nimmt die kleine Steintreppe, die auf die Ebene der Gräber führt, beschwingt und ohne Hast und Eile. Seine Hände vergräbt er tief in den Jackentaschen, als er auf mich zukommt. Bei mir angekommen, wackelt er mit dem Kopf und ich schenke ihm einen fragenden Blick. Er deutet mit der Hand an seinen Hinterkopf und ich verstehe. Er meint die Kippa, die ich noch immer trage. Ich ziehe mir das Stoffkäppchen vom Kopf und reiche es ihm. „Der Dibbuk ist jetzt sicher verwahrt? War´s das jetzt?“ „Erstmal, nehme ich an.“ Wie ermutigend. Damast grinst halbherzig, spart sich aber jede weitere Erklärung und zieht die Schultern zuckend nach oben, als hätte ihn gerade ein kalter Schauer erfasst. Sein Blick wandert zum Grab von Arthur Moos, verweilt und schweift davon. Die Frage verbleibt als Kitzeln auf meiner Zunge, nachdem sich der andere Detective räuspert und schnellen Schrittes den Ausgang ansteuert. Wenn ich es nicht besser wüsste, dann könnte ich glauben, dass er kurz erschauderte. Auch ich blicke nochmals zu dem Grabstein und spüre nichts. Statt dem Gedanken nachzuhängen, folge ich ihm auf die Straße zurück. „Wo ... ist er nur... dieser verdammte… wo“, brabbelt Damast vor sich hin, nachdem ich ihn einhole. Er klopft sich mit beiden Händen gegen die Brusttaschen der Jacke und setzt sich trotz wirren Blicks und suchenden Händen ins Auto. Statt sich draußen abzutasten, beginnt er im Auto seine Kleidung durchzuwühlen. Die Hosentaschen erreicht er nur, indem er seine Hüfte anhebt und quasi zur Frontscheibe drückt. Die Frage nach dem Warum liegt mir auf der Zunge und wird dort verrotten, weil ich sie nicht stelle. Er weiß die Antwort wahrscheinlich selbst nicht. Ich schaue gen Himmel, seufze tonlos und schwinge mich auf den Fahrersitz. „Hey, ich habe mich noch gar nicht für die Hilfe bedankt. Ich weiß, dass es…“, setze ich an und breche ab, als seine Knie wiederholt gegen das Handschuhfach prallen und irgendwas knirscht. „Hilfe? Wovon redest du?“, fragt Damast ahnungslos und blickt auf. Er drückt das linke Knie gegen das Handschuhfach und dreht sich in den Innenraum. „Die Fallakte meines Freundes“, konkretisiere ich und bin durch seine Bewegungen reichlich abgelenkt, „Was zum Geier bezweckst du mit diesem Autoyoga? Und kannst du das lassen, du ruinierst mein Auto.“ „Du hast die Ermittlungsakte gekriegt? Das ist gut, oder? Ah, hab ich dich endlich!“, sagt er und angelt einen Bund mit zwei kleinen Schlüsseln aus einem der hinteren Verstauräume seiner engsitzenden Hose. „Und ich ruiniere gar nichts. Der Riss war vorhin schon da.“ Riss, welcher Riss? Ich beuge mich zu seiner Seite und mein Kollege lässt die Schüssel vor meiner Nase klimpern. Er verstaut sie samt Handy in seiner Jackentasche. Ich bin nicht schlauer als vorher. Kam die Akte von ihm oder nicht? „Die Akte ist nicht von dir?“ „Nein, ich habe doch gesagt, dass ich sie dir nicht besorgen kann.“ „Von wem habe ich sie dann?“, stelle ich die Frage dennoch. Wenn auch mehr für mich selbst. „Tja. Ist sie wenigstens hilfreich?“ „Teils. Sie zeigt jedenfalls deutlich, dass Barres und Marks nur in eine Richtung ermittelt haben.“ Damast gibt ein schnaufendes Geräusch von sich und streicht sich danach die Haare zurück. „Verwundert mich nicht, sie suchen sich den leichten Weg.“ Ich berichte ihm von meinem Besuch im Bezirksgefängnis, den Aussagen, die Manuel machte und dass ich mir die Aufnahmen der Videokameras angesehen habe. Weder am Tatort noch an seinem Aufenthaltsort gab es wirklich spezifische Hinweise auf meinen Freund. Ich bin mir unschlüssig, ob ich ihm von dem seltsamen Ausfall der Geräte berichten soll oder ob ich es lieber lasse, ihn weiter in dieses Schlamassel zu involvieren. Auch wenn ich mir eingestehen muss, dass es guttut, mit ihm darüber zu reden. „Ich bin ratlos und frustriert.“, sage ich und sehe zu ihm, „Und scheinbar interessiert es dich gar nicht, was ich sage.“ Ein in unsere Richtung eilendes Auto scheucht eine Schar Tauben auf, von denen eine auf der Motorhaube des Wagens sitzen bleibt. Sie hat diesen typischen grün und violett schimmernden Hals und ihr Kopf bewegt sich ein paar Mal ruckartig hin und her, ehe sie reißausnimmt. Es dauert einen Moment, bis ich bemerke, dass Damast bisher nichts erwidert und starr auf den Platz blickt, an dem eben noch der vermaledeite Vogel saß. Er ist physisch anwesend, wie es so schön heißt, aber nicht mental. Sein Unterkiefer neigt sich leicht nach rechts und seine Augen wandern langsam, aber rhythmisch zur Seite und wieder zurück. „Langweile ich dich?“, frage ich nochmals. Schärfer als gewollt, aber effektiv genug. Damast löst seinen Blick und sieht mich an. „Darauf kannst du wetten, aber das ist es nicht. Mir ist da was eingefallen und deswegen muss ich jetzt los… man sieht sich“, erklärt er hastig und ist ausgestiegen, bevor ich reagieren kann. Ich eile dessen ungeachtet von meinem Platz, steige aus und schaue in die Richtung, in die mein Kollege eilt. Ich überdenke meinen vormaligen Beschluss, dass mir das Reden mit ihm guttut, noch mal. „Hey, Damast?“, rufe ich ihm über das Autodach hinweg zu und unerwarteterweise bleibt er stehen, „Elfen? Gibt es sie nun?“ „Keine Ahnung! Sind Schlümpfe eher Gnome oder Kobolde?“, erwidert er und verschwindet aus meinem Blickfeld. Gut, dass er darauf keine Antwort will. Noch auf der Fahrt zurück ins Revier erhalte ich einen Anruf von der Tierklinik. Pablo wurde operiert und hat den Eingriff gut überstanden. Er verbleibt noch ein paar Tage zur Überwachung und kann danach abgeholt werden. Ich habe keine Ahnung, wie ich das bewerkstelligen soll. Für einen kranken Hund bin ich nicht ausgestattet, also telefoniere ich kurz darauf eine Liste möglicher Kandidaten durch. Niemand hat die passenden Kapazitäten oder den Willen einen verletzten Streuner aufzunehmen. Doch ich kann Pablo nicht zurück auf die Straße setzen. Nicht so. Am Abend versuche ich es erneut bei Izan. Diesmal öffnet mir niemand die Tür, trotz mehrmaligen Klingeln und Klopfen. Ich versuche es bei einem Nachbarn und stoße auch hier auf Schweigen und Ablehnung. Es ist ein Teufelskreis. Noch an Ort und Stelle informiere ich nochmals die Jugendfürsorge hinsichtlich meines Verdachts. Izan ist bereits bekannt und die Bearbeiterin versichert mir, dass sie in den nächsten Tagen einen Besuch initiiert. Mehr könne sie nicht tun. Ich verstehe, bin aber keineswegs zufriedengestellt und die Sorge wächst. Leider kann ich ihr nicht ausführen, wieso meine Besorgnis begründet ist, denn alles Wahre, was ich sagen könnte, würde mich als verrückt abstempeln und nichts zu der Sache beitragen. Es macht mir zu schaffen, nicht aussprechen zu können, was geschehen ist. Trotz alledem schlafe ich zum ersten Mal seit Tagen für mehr als sechs Stunden am Stück und fühle mich erstaunlich erholt, als ich vor dem Weckerklingeln erwache. Das ändert sich aber schnell. Noch beim Frühstück kriege ich eine Nachricht von meinem Semi-Kollegen und spüre sofort, wie sich mir die Nackenhaare aufrichten. Eine leichte Panikreaktion, allein durch das Auftauchen seines Namens auf dem Display meines Telefons. Wahnsinn. Damast bittet mich darum, im 17. Revier vorbeizukommen. Die unschuldige Bitte lässt auch die Haare auf meinen Armen alarmiert tanzen und ich denke bei den letzten Happen meines Marmeladentoasts darüber nach, ob ich mich besser daran gewöhnen sollte. Jetzt wäre der beste Moment, seine Nummer zu blockieren und einfach umzuziehen, sodass er mich niemals wieder findet. Die meisten meiner Sachen sind schließlich noch immer in Kartons verpackt. Ein Leichtes. Einzig das Wissen darum, dass ich noch nie jemand war, der vor Problemen weggelaufen ist, lässt mich den Gedanken wieder verwerfen und die Tatsache, dass ich das Revier nicht ohne Weiteres wechseln kann. Mit einem faden Seufzen binde ich mir die Krawatte, entscheide mich für die guten Schuhe und setze mich ins Auto. Damast finde ich in der Gemeinschaftsküche. Ich schaue aus der Ferne dabei zu, wie er abwesend seinen Löffel in einen Joghurtbecher dippt, ihn herauszieht und wieder reintunkt. Begeisterung sieht anders aus. Heute trägt er einen dunkelblauen Strickpullover, der schon von weitem wirkt, als wäre er aus dem letzten Jahrhundert. Drei seiner Kollegen holen sich in dieser Zeit einen Kaffee oder öffnen den Kühlschrank. Niemand wechselt ein Wort mit ihm. Kein Gruß. Kein Smalltalk. Nicht mal ein einfacher Blick. Er scheint wohl nicht nur mit Detective Barres auf Kriegsfuß zu stehen. Plötzlich sieht Damast auf und mich direkt an. Ich zucke überrascht, auch ertappt zusammen und setze mich sofort in Bewegung. „Guten Morgen“, begrüße ich ihn mit einem gewissen Enthusiasmus. Ausgeschlafen bin ich durchaus eine Frohnatur und das ist gern Stein des Anstoßes bei weniger positiven Morgenmenschen. In welche Kategorie Damast zählt, weiß ich nicht. Er mustert mich skeptisch, leckt seinen Löffel vom Joghurt frei. „Morgen“, erwidert er, während er den Becher in den Müll verabschiedet. Der schwere Rumms sagt mir, dass der Joghurt nicht aufgegessen war. Als nächstes drückt er mir ein Glas Wasser in die Hand. Statt mir den Grund für das Herbestellen zu nennen, läuft er zielstrebig zum Fahrstuhl. Ich folge und widerstehe dem Drang, die unzähligen Reibefussel von seinem Pullover zu zupfen. Auch während der Fahrt nach unten reiße ich mich unter aller Anstrengung, die ich aufbringen kann, zusammen, um nicht loszufragen. Als sich die Tür öffnet, platzt es aber aus mir heraus. „Warum bin ich hier?“ „Tja, die Wahrheit ist irgendwo dort draußen.“, erwidert Damast und ich vergesse prompt, was ich als nächstes sagen wollte. Hat er mich gerade ge-Akte X-st? Ich hole ihn wieder ein, schließe zu ihm auf und setze mich vor ihn, sodass ich ein paar Schritte rückwärtsgehen muss. „Okay, genug von dieser Hinhalte-Technik.“ „Halt! Nicht bewegen!“, ruft er laut aus. Ich stoppe im Sekundenbruchteil, schiele zu Seite und sehe noch, wie der Haarschopf von Damast nach unten verschwindet. Als ich den gesamten Blick nach unten richte, sehe ich den großen Kerl zusammengekauert am Boden hocken. Er winkt in meine Richtung, ich, jedoch, fixiere das schwarze Etwas mit acht Beinen unterhalb meines gehobenen Fußes. „Oi, Spinne“, entflieht es mir erschrocken und ohne Scham. Mein Fuß sinkt unwillkürlich ein paar Zentimeter, bis mich das laute Zischen Damasts eines Besseren belehrt und ich ihn zurückziehe. Ich stolpere zur Seite und bleibe bewusst mit Abstand stehen. „Beruhig dich, das ist nicht nur eine Spinne.“ „Spinne ist Spinne. Mach sie einfach weg", sage ich rasch, ohne meine Abscheu zu verstecken. Mehr als die Hälfte der Menschheit mögen diese Tiere nicht, damit habe ich kein schlechtes Gewissen, den Ekel zu äußern, der sich durch meine Eingeweide arbeitet. Ich kriege bei dem Anblick Erpelpelle. Selbst auf den Zähnen. Damast schaut mich an und winkt nach dem Glas in meinen Händen. Es dauert etwas, bis ich das begreife. Ich gebe es ihm nur widerwillig. „Das ist eine Latrodectus variolus, eine schwarze Witwe.“ Natürlich weiß er das. „Ein Weibchen sogar. Die sind hier eigentlich nicht heimisch." „Dann floh sie aus dem Zoo?“, erkundige ich mich pikiert. „Oder dem Terrarium. Oder warte, sie kommt aus einem geheimen Forschungslabor und wurde ausgesetzt, um die Welt zu vernichten!“, ruft er animiert auf, „Wir haben auch eine heimische Sorte, das ist nur nicht diese. Na, wo kommst du her, meine Hübsche? Hm?“ Ich bin fast beleidigt, als er ohne weiteres mitten im Gespräch seinen Ansprechpartner wechselt und dabei auch noch einen überaus sanften Tonfall rauskramt, nachdem er mich verarscht hat und für meine Sorge wegen Izan kaum ein My an Verständnis aufbrachte. Mittlerweile hat er die Flüssigkeit aus dem Glas in die traurig aussehende Topfpflanze gekippt, die an der Tür vor sich hin vegetiert und macht sich daran, das achtbeinige Etwas festzusetzen. Er schiebt ein Zettel unter das Glas und hebt beides langsam hoch. Dabei geht er überaus behutsam vor. Das Glas balancierend trabt er in sein Kämmerchen. „Hier...“ Er reicht mir ein zusammengefaltetes Formularblatt, an dem ein Beweismitteltütchen mit einem USB-Stick befestigt ist. „Was ist das?“ „Manuel Evans Alibi.“ „Was?“, entflieht es mir perplex. „Soll ich es dir buchstabieren? A-L-I...“, setzt er rotzfrech an. „Spar´s dir. Ich habe es schon verstanden“, unterbreche ich ihn knurrend, „Wie bist du an etwas herangekommen, was beweiskräftig sein könnte?“ „Kein Zauber. Kein Voodoo. Simple Polizeiarbeit", sagt er und ich nehme es als Seitenhieb gegen die beiden fallführenden Detectives, nicht gegen mich. Ich hake gleichwohl nach. „Aber er war allein unterwegs und die Überwachungskameras vor Ort waren defekt oder simpel nicht vorhanden.“ „Korrekt! Was aber nicht heißt, dass er nicht trotzdem aufgezeichnet wurde oder jemand da war, den er nicht bemerkt hat. Der unebene Weg eben“, erklärt er und klingt dabei, als hätte ich allein darauf kommen müssen. Zufall ist immer ein Faktor. Bei der Ermittlung wurden alle Geschäfte abgeklappert, die sich in der Nähe befanden. Es gab keine Aufnahmen, die verwertet werden konnten und auf denen, die sie fanden, war von Manuel nichts zu sehen. Das habe ich geprüft. Ich fordere Damast gestisch auf, auf den Punkt zu kommen. Ich bin durchaus neugierig, wenn auch zusätzlich verwirrt. „Es gab einen Zeugen, der aber längst weitergezogen war. Ein Obdachloser, der eine bestimmte Route mit spezifischen Orten hat, die er in der Woche abläuft. Raúl. Er hat bestätigt, dass zu der Zeit, als die Milchbrötchen gebacken wurden, eine Gestalt vor einem der Graffiti stand. Raúl war leicht alkoholisiert und ich bin mir sicher, dass er auch unter Drogen stand, denn er sprach immer vom Milchbrötchengespenst“, berichtet Damast, „Ich bin mir fast sicher, dass das nur nicht im Bericht auftaucht, weil ihm niemand glaubt, aber er versicherte mir, dass er mit einer wildgelockten, dunkelhäutigen Kollegin gesprochen hat. Außerdem ist mir eingefallen, dass dort, wo Evans angeblich war, ein innerstädtischer Sammelpunkt für ein Brieftaubenzuchtverein ist. Und sie haben seit langem mit häufiger werdenden Diebstählen zu kämpfen.“ „Diebstahl von Tauben?“ Das ist das wahre Prüfsiegel für seltsam und verrückt. „Scheinbar äußerst gewinnbringend. Deswegen haben sie seit ein paar Wochen ein Überwachungssystem. Ein sehr gutes und unauffälliges noch dazu. Es ist nicht ganz legal, deswegen wusste der Hausbesitzer nichts davon. Aber in dieser Aufnahme ist Evans deutlich mehrere Minuten lang auf der Straße zu erkennen, was ihn zwar keine vollkommene Unschuld bescheinigt, aber es weckt schon mal berechtigte Zweifel an den anderen Zeugenaussagen. Und es bestätigt seine eigenen Angaben, wonach er zu dieser Zeit dort gewesen sein will.“ „Wahnsinn.“ „Du musst nur noch ein paar Details klären. Oh, und die Kollegin heißt übrigens Denise Murray. Sie hat ihre Aufzeichnungen der Zeugenaussage sicher noch. Sie hebt alles auf, glaub mir.“ „Du kennst sie?“ „Ja. „Okay. Moment! Du zauberst einen obdachlosen Zeugen und Brieftauben aus dem Hut? Einfach so?“, hake ich ungläubig nach. Damast bestätigt es und ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich mehr erfahren will. „Man kann nichts herbeizaubern, was nicht an irgendeiner anderen Stelle bereits existiert. Materie und so“, sagt er lapidar und ich beiße kurzerhand die Zähne zusammen, weil es einen Moment dauert, bis ich begreife, dass er diese Aussage ernst meint. Damast hebt dabei seine Hände und fuchtelt seltsam mit ihnen herum, so als könnte das seine Beweiskette bekräftigen. Er klingt jedes Mal vollkommen überzeugt und ich frage mich, wer ihm diese Antworten gab. Ich suche sie nämlich auch. „Was hast du mit Diebstahl von Brieftauben zu schaffen?“, platzt es aus mir heraus und öffnet meiner Verwunderung Tür und Angel. „Gar nichts. Ehrlich gesagt finde ich Vögel jeglicher Art gruselig. Diese schwarzen kleinen Augen. Wie diese halbrunden Blusenknöpfe. Uff. Nichts für mich.“ Als zusätzliche Untermalung seines Unbehagens schüttelt er demonstrativ den Kopf, bevor er sich auf seinem Bürostuhl niederlässt. Mein Blick wandert von dem anderen Detective zu dem umgestülpten Glas mit der dicken schwarzen Spinne, die gleiche mehrere dieser gruseligen schwarzen Augen hat, von denen er eben noch sprach. Es würde mich nicht wundern, wenn sich Damast heimlich vor Teddybären fürchtet, denn der wirklich angsteinflößende und gruselige Scheiß ist es offenkundig nicht. Erst als ich erneut seine Stimme höre, kehrt meine Aufmerksamkeit zu ihm zurück und ich löse meinen Blick von dem achtbeinigen Gruselfaktor. „Zur Auswertung musst du die Aufnahmen allein bringen und erwähne vor Barres bloß nicht meinen Namen! Na komm, meine Hübsche. Vielleicht sollte ich dich zu einem Arachnologen bringen oder zu einem...“ Er bringt es schon wieder. Diesmal bin ich wirklich beleidigt. Der letzte Teil seines spinnenfreundlichen Gebrabbels entgeht mir, da er bereits aus dem Büro verschwunden ist und mich mit dem USB-Stick zurücklässt. Noch aus der Ferne vernehme ich, wie erneut dieses Lied einsetzt, welches aktuell als sein Klingelton eingestellt ist. ` Everybody here is out of sight. They don′t bark and they don't bite. They keep things loose they keep it tight. Everybody's dancin′ in the moonlight‘. Damast ist mir ein Rätsel. Vielleicht kein komplettes Enigma, aber zu mindestens ist er eines dieser tiefen, dunklen Löcher, bei denen man nicht in der Lage ist, den Grund zu sehen. Wenn man jedoch eine Münze hineinwirft, wird man auf kurz oder lang irgendwann den Aufprall vernehmen, aber nur dann, wenn man ganz genau hinhorcht. Und mit jeder vergehenden Sekunde stellt man in jenem Moment jegliches Dasein in Frage, bis einem irgendwann klar wird, dass es kaum mehr ist als das Echo seines eigenen Wunschdenkens. Mir fehlen die Antworten für alle möglichen Fragen, die Erklärungen für all die Dinge, die geschehen sind. Auch wenn sie mittlerweile einen Namen tragen. Auch Damast macht es nicht unbedingt besser. Geheimniskrämereien. Ungesagtes, in jedem seiner Worte und dieses unablässige kryptische Wischiwaschi, wenn er mir nicht antworten will. Es ist, wie eine graue, undurchsichtige Wand, die ihn umgibt und die nur leicht flimmert, wenn hin und wieder ein Fitzelchen Wahrheit hindurchscheint. Oder eher ein Aufblitzen vieler Wahrheiten, wie ich erkennen muss. Das Gefühl, welches ich in seiner Gegenwart verspüre, wäre unter anderen Umständen ein Warnsignal. Doch statt mich abzustoßen, spüre ich einen deutlichen Zug in seine Richtung und das ist mir wahrhaftig ein Rätsel. Er will nicht, dass ich tiefer darin eindringe. Doch ich bin nicht sicher, ob es zu meinem oder seinem Schutz ist. Fest steht jedoch, Vertrauen ist wichtig und das erlangt man nur mit beständiger Kommunikation und Aufrichtigkeit. Allerdings bin ich mir unsicher, ob ich es wirklich will. Ich finde Officer Denise Murray am nächsten Tag auf ihrer Route. Sie erklärt mir freimütig, was sie von dem wohnungslosen Zeugen erfahren hat und das Detectives Marks zwar eine Zusammenfassung wollte, aber ihr Bericht nie anforderte. Sie lässt ihn mir noch am Abend zukommen. Die Analyse der Videoaufnahme dauert zwei Tage und ich werde wie erwartet davon ausgeschlossen. Detectives Barres ist verärgert, beschwerte sich und ich sitze am Folgetag für eine nicht unerhebliche Standpauke im Büro des Chefs. Die Fälle anderer, vor allem revierfremder Kollegen, gingen mich nichts an. Ich habe mich nicht einzumischen. Er fragt mich mehrfach, was ich mir dabei gedacht habe. Vor allem, dass ich den Verdächtigen im Gefängnis besuchte, wird zum Lavastrom und doch lässt er mich nicht darauf antworten, sondern findet neue Punkte, die mein Fehlverhalten unterstreichen. Es kommt mir fast zugute, dass ich die Verbindung zum Beklagten des speziellen Falles nicht offenlegen kann, weil er mich dauernd unterbricht. Die Tirade stoppt erst, als das Telefon klingelt und mein Vorgesetzter mit grummelndem Unmut rangeht. Er brummt seinen Namen, ächzt eine Verneinung, die gefolgt ist von einer niedrig frequenten Zustimmung. Danach gestikuliert er mir, dass ich das Büro verlassen soll und unser Gespräch beendet ist. Er wendet sich ab und lässt mir damit keine Chance, weitere Fragen zu stellen. Ich bin zutiefst verwirrt, als ich zu meinem Schreibtisch zurückkehre und von meiner Kollegin beäugt werde, wie ein geröstetes Opferlamm. Ich fühle mich auch so. „Alles okay?“, fragt sie mich und mein Blick flackert zu ihr. Ich nicke ihr abgelenkt zu und bin nicht gewillt, den Klatsch und Tratsch weiter anzufeuern. Trotzdem kann ich bereits nach diesem Moment feststellen, dass der Aktenstapel auf ihrem Schreibtisch bereits verschwunden ist, während meiner erneut gewachsen zu sein scheint. Es dauert weitere drei Tage, bis Manuel aus der Untersuchungshaft entlassen wird. Es hat noch keine Endgültigkeit. Doch die Staatsanwaltschaft beschloss, dass weitere Beweise gefunden werden müssen, ehe abermals Anklage erhoben werden kann. Manuel hatte eine Erklärung für die Bauchtasche und weshalb seine DNA daran gefunden wurde. Es gab eine Rangelei bei der letzten Auseinandersetzung. Es wurde handgreiflich. Manuel griff mehrfach nach der Bauchtasche. Eine dumme Reaktion, die dank eines herbeieilenden Officers keine Eskalation nach sich zog. Demnach zählt die DNA-Übertragung in diesem Fall zu den indirekten Varianten und ist nicht eindeutig. Es gab einen Polizeibericht, der zunächst keine weitere Beachtung fand und nur der Bestätigung diente, dass es zwischen dem Opfer und Manuel bereits Reibereien gab. Gemeint ist die Verwarnung, die ich bei der Einsicht der Datenbank unter Manuels Namen gefunden habe. Der Vorfall ereignete sich drei Tage vor dem Mord. Manuel meldet sich bei und wir verabreden uns trotz meines besseren Wissens für den Folgetag, denn Manuel lässt nicht locker. Er will mir danken. Vor unserem Treffen besorge ich uns zwei Kaffee und setze mich beim verabredeten Treffpunkt auf eine der freien Bänke. „LUIS!“ Erst mit meinem laut ausgerufen Namen stoppt die Gedankenachterbahn. Ich lasse meinen Blick wandern, bis er bei Manuel stoppt, der energisch auf mich zugeschritten kommt. Sein Lächeln ist breit und offen. Die Erleichterung sprudelt mir quasi entgegen. „Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast. Aber danke, danke, danke.“ Ich richte mich auf, falle fast zurück auf die Bank, als er seine schweren Hände auf meine Schultern schleudert, doch er zieht mich direkt nach vorn und in seine Arme. Als Manuel sich wieder löst, fallen weitere Worte des Dankes und es fällt mir schwer, ihn zu stoppen. Ich überreiche ihm den mitgebrachten Kaffee und bin froh, dass bei der energischen Umarmung nichts verkippt ist. „Du bist mein Retter. Ich weiß wirklich nicht, wie ich es dir danken kann“, sagt er. Ich schweige darüber, dass es eigentlich Damasts Verdienst war. „Manuel, dir ist bewusst, dass es noch nicht zu Ende ist?“ „Ja, ich weiß. Ich kann froh sein, dass mir die Bewährung gewährt wurde. Ich weiß.“ „Sie müssen jetzt klären, wie du an zwei Orten gleichzeitig gewesen sein kannst und sie werden alles bis ins kleinste Detail auseinandernehmen.“ „Aber ich war nicht am Ballplatz. Ich war nicht dort. Zeugenaussagen kann man doch nicht ernstnehmen.“ Er hat nicht unrecht. Zeugenaussagen sind problematisch. Sie können suggestiv beeinflusst sein. Durch die Art und Weise, wie nach der Aussage erfragt wird. Durch subjektive Erfahrungen. Durch kurz zuvor beigewohnte Geschehnisse, wie einem Streit. „Das ist nicht so einfach. Wenn sie etwas finden, dann können Sie dich jederzeit wieder in Untersuchungshaft stecken, okay? Du musst es vermeiden, auffällig zu werden. Nicht die Stadt verlassen. Keine Strafzettel. Keine öffentlichen Diskussionen. Nichts, was jemanden in irgendeiner Weise einen Anlass geben könnte. Das musst du verstehen“, warne ich ihn eindringlich. Ich bin sicher nicht der Erste, der ihm das sagt. Doch es ist mir ein Bedürfnis, es zu wiederholen. „Das weiß ich. Mein Anwalt war sehr bestimmt.“, versichert er mir, „Ewa ist vollkommen fertig. Sie hat wirklich Angst, dass ihr doch etwas findet und mich endgültig einsperrt.“ Wir, die Polizei. Und ich bin ein Teil dieser Strafverfolgung, deren Aufgabe leider nicht immer nur weiß und schwarz ist. Es geschehen Fehler, denn wir sind alle menschlich und damit fehlbar. Gerade deswegen müssen wir sicherstellen, stets unser bestmögliches zu tun, jeder Spur nachzugehen und nichts ungefragt zu lassen. Es ist nicht immer der einfachste Weg und niemals nur schwarz oder weiß. Wir bleiben noch etwas länger im Park sitzen, sprechen über die folgenden Wochen und ich verabschiede mich, da meine Mittagspause endet. Zurück am Platz tätige ich die offenen Telefonate und vervollständige einige Akten, als mir eines der Tatortbilder des de Lucia Falls in die Hände fällt. Noch sind die Fälle offen, weil ich keine Idee habe, wie ich sie schließen soll. Ich drehe das Bild mehrfach hin und her. Es zeigt das Schlafzimmer und mir fällt auf, dass der obere Rand beschädigt ist. Es wurde aus der Akte gerissen. Mit einem Laut der Verwunderung logge ich mich als nächstes in die polizeiliche Datenbank. Ich tippe nacheinander de Lucias und Bakows Namen ein, finde zwar deren Historie an Strafzetteln, aber keinerlei Fallakten deren Tode betreffend. Es lässt mich stutzen. Ich überblicke nochmals den Schreibtisch, hebe ein paar lose Zettel an und lehne mich im Stuhl zurück. Ich bin mir absolut sicher, dass ich die Akte vor ein paar Tagen in der Hand hatte. Die Hälfte der Aktennummer vom Bakow weiß ich auswendig, daher tippe ich sie ins Suchfeld der Datenbank. Den Rest vervollständigt mir die automatische Wiedererkennung, die überhaupt nicht funktionieren sollte. Ich klicke den Aufruf an und es öffnet sich der Bericht eines Diebstahldeliktes gegen Unbekannt. Ein Fahrrad verschwand aus einem Gemeinschaftskeller. Eindeutig nicht der Fall Alexander Bakow. Habe ich mich geirrt? Ein Zahlendreher? Seufzend öffne ich die Schublade, in die ich vor wenigen Tagen einige der Akten verfrachtet habe. Ich hole sie hervor, durchsuche die Mappen, finde sie aber nicht. Ich lehne mich seufzend zurück, lasse meinen Blick wandern. Erst über den Tisch, dann durch den Raum. In der Küche gurgelt die Kaffeemaschine auf und im nächsten Moment holt der Wasserspender Luft und gurgelt. Ich sehe noch die Vibrationen an der Oberfläche und wie ein einzelner Tropfen aus dem Auslauf fließt. In meinem Kopf passiert es in Zeitlupe und das Auftreffen auf dem Plastik des Auffangsiebs gleicht einem Hammerschlag. Meine Gedanken wandern hin und zurück. Ich war in den letzten Tagen nicht wirklich in der Spur. Ich kann mich irren. Trotz besseren Wissens gehe ich alles ein zweites Mal durch, sehe jeden der Hefter einzeln an und forme auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches einen sortierten Stapel. Nichts. Beide Akten sind verschwunden und sie bleiben es. - Ende Folge 2 Kapitel 9: Der beste Freund im Geiste - 1 ----------------------------------------- Folge 3 ~Teil 1 - Der beste Freund im Geiste ~ POV Vikar Damast „Was für eine beschissene Idee… ernsthaft, Damast, was hast du dir dabei gedacht? Verdammt noch mal. WARUM?“, fluche ich aufgebraucht in die Wildnis hinein und japse weitere Schimpfphrasen, als wären diese der letzte Strohhalm zum Überleben, während ich entkräftet durch das Dickicht stolpere. Der Wald schweigt. Natürlich. Ich habe nichts anderes erwartet. Es ist meine eigene Schuld. Ich weiche schwungvoll ein paar Eichenblättern aus, die mir der Wind entgegenträgt, was mich folglich über eine Wurzel stolpern lässt. Ich fange mich im letzten Moment, indem ich nach einem schmalen Ast fasse und prompt in eine verharzte Stelle greife. Damit verliere ich endgültig die Fassung und den letzten Rest Geduld. „Diese verdammte NATUR!!!“, brülle ich und runde es mit einem knurrenden Laut ab, der jeden Grizzly erschaudern ließe. Verstimmt begutachte ich die durchsichtigen, goldbraunen Rückstände in meiner Handfläche, die neben Moos, Flechten und kleinen Rindenteile auch einen traurigen, längst krepierten Käfer beinhalten. Ich beneide ihn für sein Glück, da er seinen Leidenspfad schon beendete. Meiner steht mir noch bevor, in mehr als einer Weise. Ich versuche, mit dem Daumen der anderen Hand und Spucke die klebrigen Überbleibsel zu entfernen und scheitere. Nachdem ich aufgebracht gegen eine andere Wurzel trete, sehe ich mich verstohlen um, um sich sicherzugehen, dass nicht irgendein Naturwesen aus dem Nichts vor mir auftaucht und erbost dreinschaut. Die, die ich bisher kennenlernte, waren von der weniger netten Sorte. Ich hasse die Natur. Nein, genau genommen hasst sie mich, denn anders ist es nicht zu erklären, dass es jedes Mal in einer Katastrophe endet, wenn ich nichturbane Räume betrete. Wurzeln sind immer da, wo ich hintrete. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehe und zurückwende, sind plötzlich Äste mit Blättern oder Spinnenweben vor mir, die vorher nicht da gewesen sind. Ich trage niemals die richtige Kleidung, schwitze, friere oder wünschte, sie wären mir nicht gestohlen worden. Ich trete immer unvermittelt in Pfützen, Löcher und Erdhöhlen. Egal, wie vorsichtig ich mich bewege oder wie achtsam ich mich verhalte. Es lässt sich wohl im Einverständnis festhalten, dass unsere Abneigung gegenseitig ist. Trotzdem stehe hier, mitten im Wald. Natur und ich sind keine gute Idee, sind es nie gewesen und werden es niemals sein. Also, warum bin ich hier? Ich muss todesmutig sein oder vollkommen schwachsinnig. Ich wünschte, ich würde mich daran erinnern, wann ich falsch abgebogen bin, denn mein Plan sah lauschige, asphaltierte Wege und Straßen vor. Nicht das hier. Ich trete noch einmal gegen die gleiche Wurzel. Schuld ist dieser verflixte Fitnesstest, zu dem mich der Sergeant zwingt. ‚Sie können sich nicht auf ihre Waffe verlassen, Damast‘, sagte er. ‚Sie müssen den Standards des Reviers entsprechen, Damast.‘, meinte er, während er sich klammheimlich Puderzucker von seinen Fingerkuppen rieb. Als ich es wagte, Captain Lamark konsultieren zu wollen, hat er mich angeschrien, als wäre ich Kadett an der Akademie. So ein drillender Nervsack. Ich bin müde und angepisst. Mein Körper ist absolut dagegen, weiterzumachen und mein Verstand kurz davor, mich vollends meinem Schicksal zu ergeben und dem Bestatter Arbeit zu ersparen. Allerdings ist meine eher ballaststoffarme Ernährung kein Verwesungsbooster im klassischen Sinne. Aufgrund des lehmig-tonhaltigen Boden würde ich nicht als Humus, sondern als Wachsleiche enden. Das wäre kontraproduktiv und keine sehr attraktive Vorstellung. Ich ächze frustriert in die beschauliche Stille des Waldes hinein. Mir antwortet ein Zirpen. Ich schließe die Augen und streiche mir mit der Hand über den klammen Nacken. Trotz voranschreitenden Herbstes ist es immer noch verhältnismäßig warm und hin und wieder blitzen Sonnenstrahlen durch das dichte, verfärbte Laubdach hervor. Es ist eine wunderbare Jahreszeit, selbst in der Stadt. Die Ruhe dringt zu mir durch und verlangsamt meinen pulsierenden Herzschlag, bis er an Normalität anheimelt. Dann sehe ich mich um. Wo bin ich eigentlich? Ich ziehe das Handy hervor und stecke es weg, als ich erwarteterweise kein Netz-Symbol vorfinde. Und nun? Ich habe keine nutzbringende Antwort parat. Doch eine plötzliche Welle des Unbehagens zwingt mich zur Obacht. Sie rollt über meine Haut und brandet im Haaransatz meines Nackens. Nicht einmal. Zweimal. Ich vernehme ein Knacken, gefolgt von einem nahenden Rascheln. Rechts von mir. Nein, links. So laut, dass es durch meine Kopfhörer dringt. Es schwebt um mich herum wie ein tiefes Echo. Ich halte abrupt inne und sehe mich alarmiert um. Nichts. Nur der Wind, der über die Blätter streicht und dabei scheinbar den Rhythmus meines rasenden Pulses annimmt. Im Wald können einem die Sinne Streiche spielen. Das Flüstern. Das Surren. Tanzende Schatten sind überall. Die Natur ist immer in Bewegung und dadurch kann man sich schnell täuschen lassen. Ich reibe mir über den Nacken, beruhige meine feuernden Gedanken, indem ich mir wiederholt sage, dass nicht in jedem Schatten eine Gefahr lauert und setze mich in Bewegung. Wäre mein Herz nicht längst auf Hochtouren, würde es durch das Prickeln vorangetrieben, das sich im selben Moment über meinen Nacken zieht und in beiden Ellenbogen verweilt. Jetzt bin ich mir sicher. Ich bin nicht mehr allein. Der Wind trägt ein kehliges Knurren an mein Ohr. Ein trockenes Knacken hinter mir. Mein Kiefer kribbelt. Ich mache einen Schritt zur Seite und wende mich um. Ich wünschte alsbald, ich hätte es nicht getan. Er steht direkt vor mir. Groß, zerzaust und wild. Ein gigantisches, hundeähnliches Tier. Seine Zähne sind gefletscht und bräunlich-schwarz verfärbt. In meinem Kopf wird es dämmerig. Alles fährt runter und nur das feine Knistern des Fluchtreflexes zündet stetig Funken. Unbeabsichtigt reduziere ich meine Atmung auf ein Minimum, versuche die aufkeimende Panik zu unterdrücken. Ich darf nicht kopflos reagieren. Jedenfalls nicht mehr als ohnehin schon. Denk nach! Komm schon. Die Angst ist eine Illusion. Was auch immer das ist, es existiert nicht. Es ist ein Trugbild. Nicht mehr als Stoßgebete durchfahren meinen Verstand und ich singe sie vor mir her, wie einen Taylor Swift-Song im Supermarkt. Ich versuche mich daran zu erinnern, was zu tun ist, wenn man auf tollwütige Wildtiere trifft. Doch ich weiß, dass mir das beim besten Willen nicht helfen wird, denn die Augen des Tieres sind tiefschwarz, leer. Unnatürlich. Sie scheinen jeden Funken Licht zu schlucken, ohne, dass sich etwas in ihnen erhellt oder spiegelt. Ich weiß, dass das kein gewöhnliches Tier ist. Kein Hund oder Wolf. Doch als wäre das nicht genug, beginnt es um ihn herum zu flimmern, sodass trotz Windstille lauter dunkelgraue Fäden um ihn herum wabern. Schwarze Hunde sind ein schlechtes Omen. So viel weiß ich. Ich mache langsam und bedacht einen Schritt zurück, spüre den unebenen Waldboden unter den Sohlen meiner Turnschuhe. Der Vierbeiner bleibt regungslos, also wiederhole ich es, atme dabei flach durch den Mund. Schritt für Schritt bringe ich Abstand zwischen uns. Zweige und trockene Blätter knacken leise unter meinen Schuhen und jedes noch so kleine Geräusch stellt meine Nackenhaare auf. Ich versuche, ihn nicht direkt anzusehen. Irgendwas sagt mir, dass ich vermeiden sollte. Plötzlich wetzt er ruckartig mehrere Schritte auf mich zu, bewegt sich dabei schnell und aus welchem Grund auch immer bleibe ich stehen. Das schwelende Wabern um ihn herum bewegt sich verzögert und bettet sich nur träge zurück an seinen angedachten Platz, als er vor mir verharrt. Das Tier bewegt seinen Kopf von links nach rechts und wieder wirkt es, als würden mich meine Sinne täuschen und ein blasses Abbild des Kopfes seitlich zurückbleiben. Nur einen Moment lang, dann verschwimmt es im flirrenden Schein und es ist nur noch ein Kopf zu sehen. „Was willst du?“, frage ich mit gedämpfter Stimme. Er wiederholt die Bewegung, links, rechts und fletscht die Zähne. Kein Laut ist zu hören, während das Flimmern um ihn herum präsenter wird und das dunkle Nichts seiner Augen rot aufleuchtet. „Oh fuck“, murmele ich, ehe er ein ähnliches Manöver startet wie zuvor. Er springt auf mich zu und kommt nur einen halben Meter vor mir zum Stehen. Es ist so ruckartig, dass ich das Gleichgewicht verliere, nach hinten stolpere und zu Boden stürze. Mir entflieht ein Uff und trotz des kurzen stechenden Schmerzes in fast allen Bereichen meines Körpers erstarre ich nicht, sondern rutsche langsam rückwärts. Bis mich ein lautes, aggressives Grölen des Tieres stoppt. Es ist wie ein schriller Warnlaut, der mir in den Ohren nachhallt. Die schwarzen Iriden mit dem leuchtenden roten Ring des Hundes hängen an jedem meiner Atemzüge und allein das lässt jede Faser meines Körpers tingeln und schwingen. Hinter mir geht es wegen einer Böschung leicht abwärts. Ich bemerke es, als meine Hände in den Boden greifen und das lose Material wegrutscht. Hätte ich nicht gestoppt, wäre ich gefallen. Doch, dessen abhängig, ist die größte Gefahr direkt vor mir. Und das furchteinflößende Ding kommt immer näher. Ich ziehe vorsichtshalber die Schultern hoch, um meine Kehle zu schützen, presse die Augen zusammen und versuche den rasenden Muskel in meiner Brust zu kontrollieren. „Es sind nur Schatten. Nur Schatten“, murmele ich vor mir her. Das tue ich schon seit meiner Kindheit. Immer dann, wenn mich die Furcht übermannte und ich nicht mehr wusste, was real ist oder aus dem Dunkel kam. Schwefeliger Dunst breitet sich um mich herum aus und das nächste Knurren klingt, als wäre es direkt an meinem Ohr. Ich neige meinen Kopf automatisch zur anderen Seite und drehe mein Gesicht weg. ‚Wenn ich lange genug nicht hinsehe, verschwindet er von selbst‘, sage ich mir. Wenn ich es mir lange genug einrede, dann wird es vielleicht wahr. Das nächste Knurren ist eine Nuance tiefer und die Bedrohlichkeit wirft Blasen in meinem Blut. Ich beiße die Zähne fest zusammen und höre dennoch das unterdrückte Fiepen, was mir entflieht, als das Ausatmen des Wesens eine Ladung Speichel in meine Richtung schleudert. Ich muss irgendwas tun. Ein Rascheln und schwere Schritte dringen zu mir vor, hallen durch das Dickicht. Ein Räuspern. Menschlich! Das Knirschen von Steinen. Das Rollen eines Kiesels über größeres Gestein. Es ist ganz in der Nähe! Diese winzigen Geräusche sind ein lautes Echo in meinen Ohren und vielleicht meine einzige die Chance. Ich schiele durch das Dickicht hinter mir und erkenne eine Silhouette durch das lose Blattwerk. Der Hund raunt mehrfach auf und sein stinkender Atem kitzelt mir übers Ohr. Er schnuppert an meinem Hals und ich lasse mich, ohne nachzudenken, nach hinten kippen. Ich stürze ungeschmeidig aus dem Gebüsch, kullere ein paar Meter abwärts den Abhang hinab und stolpere, als ich unten ankomme, auf allen Vieren auf den Feldweg zu. Alles, ohne mich umzusehen. Alles, ohne zu zögern. Nur weg. Die Silhouette dreht sich alarmiert um. Fast sofort greift die Hand der Person zur Waffe in seinem Schulterhalfter, während ich aufspringe und ein japsendes Geräusch von mir gebe. Detective Luis Pastor starrt mich mit großen honigbraunen Augen an. „Was um Himmelswillen!“, entflieht es ihm, nachdem die Situation in seiner Vortrefflichkeit stagniert und er herausfiltert, dass keine Gefahr von mir ausgeht, „Damast?“ Ich vernehme meinen Namen, doch er geht im lauten Rauschen in meinem Kopf fast vollständig unter. „Hund! Da… Hund“, stammele ich atemlos, hebe meinen Arm und deute hinter mich, „Hast du den Hund gesehen? Hast du? Nein?" Ich antworte mir quasi direkt selbst, als ich Pastors verständnislosen Blick sehe. Um mich selbst zu versichern, dass er da gewesen ist, sehe ich mich hektisch um. Alles ist ruhig. Kein Lüftchen weht. Kein einziges Blatt raschelt. Auch seltsam. Nur das leise Zirpen einer Zikade, die letztendlich klingt, als würde sie mich auslachen, ist zu hören. Ich richte mich mit weichen Knien auf, trete beim Umdrehen auf einen Ast und schrecke sofort wieder zusammen. Ich bin nicht stolz drauf. „Hund?", wiederholt Pastor zweifelnd und beobachtet mich aufmerksam dabei, wie ich mit zittrigen Fingern Dreck von meiner Kleidung patsche. Meine Brust brennt vor Anstrengung und ich hole beklommen Luft, ehe ich mich weiter verteidigen kann. „Ja, groß. Schwarz. Fletschende Zähne?", beschreibe ich das Tier, welches sich eben noch vor mir im Gebüsch aufbäumte. Ich kann nach wie vor dessen übelriechenden Atem auf meinem Gesicht spüren. Es roch wie faulige Eier und das verursacht mir anhaltende Gänsehaut. Als ich zu dem anderen Detective blicke, sieht auch dieser sich um und mich danach hilflos an. Wieder kräuseln sich seine Augenbrauen wie kleine, gefräßige Raupen. „Ein großer, schwarzer, zähnefletschender Hund?“, zweifelt er meine Worte ein weiteres Mal deutlich an, „Hat er dich durch den Wald gejagt? Stolperst du deshalb wie ein Waldschrat aus dem Dickicht?“ Pastor zeigt auf meinen Kopf und deutet die Frage, ob ich ihn mir bei alldem gestoßen habe. „Ich war joggen. Glaubst du, ich habe mit ihm Räuber und Gendarm gespielt? Ja, natürlich hat er mich gejagt“, erkläre ich säuerlich und puhle mir Stöckchen und Laub aus dem Haar. „Etwa über Nacht?“, hakt er nach und mustert mich von oben bis unten, „Im Ernst, wie lange bist du gelaufen? Du bist sicher nur dehydriert und halluzinierst deswegen." Simpel. Sachlich. Normalerweise ist das mein Ansatz. Er schenkt mir einen weiteren tiefragenden Blick, der weitreichendes Unbehagen in mir auslöst. „Sag mal, wann hast du das letzte Mal der Gebrüder Grimm´s Märchen gelesen?“ „Was soll diese Frage?“, entgegne ich verstimmt. Pastor deutet mit dem Finger auf und ab. Ich sehe an mir runter und auf meinen verschmutzten, aber knallroten Hoodie. Ich schenke ihm einen ungläubigen Blick. „Ich meine ja nur.“ Pastor hebt abwehrend die Hände in die Luft. „Fuck you!“, entgegne ich mit einem trockenen Räuspern. Pastor lacht euphorisch. „Der Wald. Rotes Jäckchen. Böser, zähnefletschender…Wolf“, spinnt er amüsiert weiter. Sein beschriebenes Bild ist klar und deutlich. Nicht, dass ich erwartet habe, dass er mir glaubt, aber das ist die Höhe. Eine Signalfarbe wie Rot oder Orange im Wald kann einem in der Jagdsession das Leben retten. Nicht, dass es hier irgendwas gäbe, was man jagen könnte, aber man weiß ja nie. „Es war ein Hund, kein Wolf“, stelle ich klar. Ich erkenne den Unterschied, auch wenn dieses Wesen genaugenommen kein normaler Hund gewesen sein kann. Dessen Aura war sonderbar. Kühl und dunkel. Mal davon abgesehen, dass er flimmerte, wie eine Erscheinung und es dabei wirkte, als hätte er mehrere Köpfe. „Okay, wenn du das sagst, Rotkäppchen." Der Polizist zieht das Okay etwas zu lang, um es als normale Erwiderung gelten zu lassen. Empört sehe ich ihn an und dann zurück zu dem Busch, aus dem ich gekullert bin. Pastor folgt meinem Blick in den Wald, der keinerlei Regung von sich gibt. Alles ist so, wie es sein sollte. Ruhig. Idyllisch. Perfekt. „Ich finde ja positiv, dass du auf den Hund gekommen bist, aber findest du nicht, dass du übertreibst?", fährt Pastor unaufgeregt, aber stichelnd fort und zieht mir ein größeres Stöckchen aus der Kapuze. Ich sehe ihn nur verständnislos an, als er es wegwirft und ich streife mir die schmutzigen Hände an der Hose ab, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. Pastor grinst einnehmend. „Und wieso bist du hier? Mitten im Nirgendwo", schließe ich die Fopperei ab. Nun mustere ich meinen Kollegen eingehend. Pastor ist eindeutig in Dienstkleidung. Die Bügelfalte seiner schwarzen Hose ist akkurater als alles, was ich in meinem Kleiderschrank habe und trotzdem passt es nicht zu den abgelaufenen Schuhen, die er trägt. „Am Boscop-Pfad wurden menschliche Überreste gefunden und ich war der Einzige mit der entsprechenden Erfahrung, der im Revier verfügbar war, um das zu übernehmen. Ich leite übergangsweise die Bergung und Überwachung des Fundortes, bis die zuständigen Kollegen zurückgekehrt sind", erklärt der Detective unaufgeregt und wendet sich dem Wagen zu, der am Seitenrand abgestellt ist. „Schon wieder?“ Es sind nicht die ersten Überreste, die gefunden wurden. “In welchem Zustand sind sie?“, erfrage ich interessiert. Ich schließe zu ihm auf und stolpere fast über einen harmlos daliegenden Stein, nachdem ich einen letzten Blick zurück in den Wald werfe. Ich habe das Gefühl, dass die Aura des Hundes nicht verschwunden ist. Auch das stetige Knacken und Knistern der Bäume negiert es nicht. Den Stein kicke ich aus Ermangelung anderer beruhigender Alternativen angestachelt zur Seite und er kommt mit einem leisen Platsch in einer Pfütze zum Liegen. „Die Verwesung ist weit fortgeschritten, so wie bei den anderen auch.“ Pastor nimmt Bezug auf den medienträchtigen Fall, der seit ein paar Wochen der gesamten Kriminalbehörde Kopfzerbrechen verursacht. Bisher wurden die Leichen von zwei männlichen Erwachsenen im Wald gefunden, beide in unterschiedlichen Zersetzungsstadien. Der zweite Tote war bereits skelettiert. Sie waren unbekleidet und lagen in einem Umkreis von nur hunderten Metern voneinander entfernt. Möglicherweise sind es nun drei. „Konkrete Angaben habe ich noch nicht. Ich habe Reifenspuren entdeckt und bin ihnen gefolgt, bis ich in dieser Zufahrstraße gelandet bin.“ Es ist mehr ein breiter Trampelpfad mit Betoneinlassungen als eine Zufahrtsstraße. Es zu korrigieren, erspare ich mir. Unsere Blicke richten sich stattdessen auf das unscheinbare Kleinfahrzeug, welches ein paar Meter von uns entfernt abgestellt ist. „Kann vom gleichen Täter ausgegangen werden?“, werfe ich spekulierend in den Raum. „Der Ablageort passt. Zustand der Überreste passt auch. Ansonsten nicht mehr als Vermutungen und Spekulationen“, erklärt Pastor. Ich nicke verstehend. Anfangs sind es immer nur Annahmen, die durch Polizeiarbeit und Recherche bestätigt oder verworfen werden. „Der Täter könnte die Leiche dort abgeladen und dann den Wagen hier abgestellt haben“, mutmaße ich offen. Wobei es umständlich und unlogisch klingt, so zu verfahren. “Aber wie ist er zurück in die Stadt gekommen?“ Pastor nickt kommentarlos, aber ich bin mir sicher, dass seine Lippen kurz das Wort Joggen formen. Der silberfarbene Wagen ist über und über mit Blättern, Kiefernnadeln und feinem Staub bedeckt, sodass der Glanz der metallischen Lackierung fast gänzlich verschwindet. Er steht hier schon länger, was zu einer fortgeschrittenen Verwesung des gefundenen Toten passen könnte. Für fünf Tage hat es stark geregnet. Der sichtbare abgesetzte Schmutz muss demnach in diesem Zeitraum entstanden sein. Es ist ein Kleinwagen, dessen Marke ich nicht ohne Weiteres bestimmen kann. Pastor reicht mir ein paar violette Gummihandschuhe, die er aus der Jackentasche zieht und ich nehme sie dankend entgegen. Wir umkreisen das Auto in entgegengesetzten Ellipsen, suchen auffallende Kratzer, Dellen oder sonstige Spuren, von denen Hinweise abgelesen werden könnten. Nichts Offensichtliches. Ich versuche, durch die beschmierten Scheiben in den Innenraum zu schmulen. Es ist kaum etwas zu erkennen außer Umrisse und Schatten. Ich blicke auf, als ich höre, wie Pastor versucht, die Fahrertür zu öffnen. Es klickt nur, rastet wieder ein. Ansonsten passiert nichts. Der Wagen ist verschlossen. Ich mache das Gleiche auf meiner Seite bei beiden Türen. Keine Regung. Pastor bleibt am Heck stehen und hockt sich hin. „Hey, Pastor hier, kannst du bitte ein Kennzeichen für mich überprüfen“, höre ich ihn sagen. Er gibt ihm das Nummernschild durch. Inzwischen wische ich vorsichtig etwas Dreck vom Beifahrerfenster und linse hinein. „Okay, danke. Also, das Auto ist auf Willem Pannek zugelassen. 32 Jahre alt. Laut gemeldeter Adresse wohnt er in der Gartenstadt. Es existiert keine Verlustmeldung für den Wagen.“ „Vielleicht nur eine schlampig ausgeführte, illegale Schrottentsorgung?“, werfe ich ein und beuge mich zu einem schmalen Kratzer auf der Beifahrerseite nahe dem Türgriff. „Gut möglich. Aber fährt man dafür wirklich so weit raus? Der Lenné-Distrikt hat genug Beseitigungsorte, die genauso unbehelligt wären.“ Der nach dem Stadtplaner und Gartenarchitekten Peter-Joseph Lenné inspirierte Distrikt ist das grüne Aushängestück der Stadt. Dort wurden in den vergangenen Jahrzehnten überwiegend der Natur angelehnte Projekte mit hochökologischem Mehrwert verwirklicht. Alles ist organisch und nachhaltig. Sauteuer. Auch der Botanischen Garten befindet sich dort. „Und wäre man wirklich so dämlich, die Nummernschilder dran zu lassen?“, gibt Pastor zu bedenken. „Es könnte verschiedene Gründe dafür geben, dass sein Wagen hier ist.“ Diebstahl oder er hat ihn selbst abgestellt. Es ist ein bitterer Nachgeschmack, der mit der zweiten Variante einhergeht. Pastors Telefon klingelt und er geht erneut ran. Ich begutachte gerade eine Schramme mit Einkerbung am Heck des Autos, in der Holzpartikel zu erkennen sind. „Verstehe. Danke. Für Willem Pannek gibt es eine Vermisstenmeldung. Sie wurde vor drei Monaten aufgegeben durch seine Schwester.“, fasst er den zweiten Anruf für mich zusammen, „Es könnte derselbe Täter sein.“ „Das Boscop-Areal ist lediglich der Ablageort, nicht aber der Tatort. Wenn Pannek tatsächlich ein weiteres Opfer ist, sind es drei von sechs“, murmele ich vor mir her, „Immerhin hätten wir gleich einen Namen.“ Die vorigen Opfer mussten erst identifiziert werden, was ohne Vergleichs- und Hinweismaterial erschwert wurde. „Wie meinst du das? Drei von sechs, was?“, höre ich Pastor verwirrt fragen, also sehe ich auf. Ich habe nicht damit gerechnet, dass Pastor es gehört hat. „Angenommen, Pannek ist ein weiteres Opfer, dann sind die Tote aus drei von sechs Distrikten.“ „Woran machst du das fest?“ „Ihren Wohnanschriften. Das erste Opfer hatte eine Adresse im Geiger-Distrikt, das zweite im Elias-Distrikt. Pannek im Lenné-Distrikt.“ Pastors Stirn kräuselt sich im Unglauben, doch erkenne ich, wie sich die Möglichkeit ihren Weg durch seine Gehirnwindungen bahnt. Der Täter würde sich seine Opfer nicht im selben Distrikt suchen, in dem er lebt. „Der Täter würde damit aus dem Hobrecht-, Harrow- oder Geiger-Distrikt stammen, da Serienmörder selten in ihrem direktem Wohnumfeld agieren. Was nichts wirklich eingrenzt. Das ist echt weit hergeholt und es erklärt immer noch nicht, warum er sie gerade hier ablegt.“, steuert der andere Detective kritisch bei. „Tja, das kann alle erdenklichen Gründe haben. Vielleicht mag der Täter einfach die Apfelsorte.“ „Oder hasst sie“, gibt Pastor retour. Ich summe zustimmend. Ich mag auch die Sorte Braeburn lieber. Pastors Funkgerät knackt und rauscht. Ich verstehe nicht, was durchgesagt wird, doch Pastor ordnet an, dass zwei uniformierte Kollegen den Wagen absichern und dass ein weiteres Forensikteam angefordert wird. Es dauert etwas, bis die uniformierten Kollegen eintreffen. Pastor macht währenddessen ein paar Fotos und notiert sich die Eindrücke in ein Notizheft. Ich versuche, nichts anzufassen, um weitere Irritationen zu vermeiden und stelle mich abseits. Nach einer kurzen Rücksprache beendet Detective Pastor seine ersten Beobachtungen und schaut mich auffordernd an. „Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit oder wartest du lieber auf einen Servicewauwau, der dich durch den Wald nach Hause begleitet?“ „Urkomisch. Ich belle vor Lachen. Die heißen übrigens Assistenzhunde“, gebe ich trocken von mir, verschränke die Arme vor der Brust und rege sonst keinen sichtbaren Muskel. „Vorbildlich, dafür hast du dir ein offenes Fenster bei der Fahrt verdient.“ „Wie großmütig und um das klarzustellen, ich habe ihn mir nicht eingebildet“, verteidige ich mich, nachdem mein verächtlicher Blick an ihm abperlt wie Wasser an Lotosblättern. Ich kann das Tier quasi noch an mir riechen. Das pfeffrige Brennen schwelender Glut, getüncht in fauligen Eiern. Ich schmecke die kalte Asche auf meiner Zunge und würde für etwas Wasser töten. „Sicher doch.“ „Er hätte mich beinahe gefressen“, spitze ich die Dramatik zu. Vermutlich hätte mich das Tier nur gebissen. So oft gebissen, dass ich elendig verblute. „Du reichst allemal als Kauknochen“, kontert Pastor und checkt mich von oben nach unten ab. Dieser wertende Blick ist offensichtlich und offenkundig beleidigend gemeint. „Musst du gerade sagen, du Ein-Happen, du“, gebe ich bissig zurück und muss gestehen, dass ich mich selten auf so niedrigem Niveau bewege, aber Pastor fordert es geradezu heraus. „Tze! Quietschespielzeug“, patzt er zurück, „Genug davon, komm einfach mit.“ Pastor murmelt ein paar unverständliche Phrasen, als er sich von mir entfernt. Ich ignoriere die Blicke der beiden Uniformierten und ich trotte ihm mit einem gewissen Kitzel der Genugtuung hinterher. Nach wenigen Minuten treffen wir am abgesperrten Fundort ein, der über und über mit uniformierten Beamten in hübschen orangefarbenen Warnweste und wissenschaftlichen Kollegen in den weißen Ganzkörperoveralls übersät ist. Ich höre schon von Weitem das gelbe Absperrband im Rhythmus des Windes knistern. Man sagt, dass man den Geruch des Todes niemals wieder vergisst, wenn man ihn einmal gerochen hat. Ähnlich verhält es sich mit dem Geräusch dieses Plastikbandes. Es hat eine bestimmte Frequenz, die sich mit dem Jaulen des Unheils verbindet und das ich auch im Schlaf erkennen würde. Eine Kollegin der Spurensicherung kommt auf uns zu. Ihre blonden Haare sind zu einem festen Knoten zusammengebunden und doch kringeln sich ein paar ihrer Locken an ihrer Stirn und den Ohren entlang. Sie mustert meine ramponierte Erscheinung, hinterfragt aber meine Anwesenheit nicht. „Könnt ihr schon mehr sagen?“, fragt Pastor und der ernste, konzentrierte Blick kehrt zurück. Er stellt uns einander nicht vor und ich sehe keinen Nutzen darin, es nachzuholen oder mich darüber zu beschweren. „Bisher nur Mutmaßungen. Das Becken sagt eindeutig, dass es sich um einen Mann handelt. Wir haben den Schädel freigelegt und sieben nun…. HATSCHE!... huch, …“ „Gesundheit“, sagen Pastor und ich gleichzeitig. Sie kichert beschämt. „Danke, Entschuldigung. Wir sieben aktuell das umgebende Erdreich nach den fehlenden Zähnen durch, damit wir etwas für die Identifikation haben. Wir haben zwei dritte Molare mit Abnutzungs… hatschieee…“ Sie bläst erneut durch die Nase Luft aus. Diesmal etwas leiser, dann streicht sie sich irritiert über das Gesicht und holt ein verknülltes Taschentuch hervor, ehe sie fortfährt, „Herrje. Wir haben zwei dritte Molare mit Abnutzungsspuren gefunden, diese deuten darauf hin, dass der Tote mindestens Mitte oder Ende zwanzig sein muss oder älter. Genaueres erfahren wir erst, wenn wir ihn komplett freigelegt haben.“ Wieder ein geräuschvolles Schnauben. Diesmal dämpft sie den Geräuschpegel mit dem Papiertuch. „Alles okay bei Ihnen?“, fragt Pastor sichtlich besorgt. Sie lächelt und nickt. „Ja, ist etwas seltsam, sonst passiert mir das nur in der Gegenwart von Hunden“, begründet sie lachend und niest. Ich spüre kurz Pastors Blick auf mir, dann reicht ihm die Spurentechnikerin ein paar Beweismitteltütchen und kehrt zum Grab zurück. „Hund. Ich habe es dir gesagt“, kommentiere ich lapidar, ehe er den Mund aufmacht und hebe verdeutlichend beide Hände in die Luft. „Pablo“, pfeffert er unbeeindruckt zurück und deutet auf seine eigene Hose. Es dauert beschämend lange, bis mir einfällt, dass er mit Pablo den Hund meint, den der besessene Junge verletzt hatte und der seit dieser Zeit bei meinem Kollegen lebt. „Ich dachte, es geht ihm wieder besser?“, bemerke ich und lasse die Hände sinken. Pastor hätte ihn längst wieder auf die Straßen setzen können. „So ist es auch. Letzte Woche konnten wir endlich die Antibiotika absetzen und die Wunde an seiner Pfote scheint ihn nicht mehr zu jucken“, berichtet der Kollege mit zurückhaltender Begeisterung. Pastor ignoriert meinen wunderlichen Blick absichtlich und verschränkt die Arme vor der Brust, während er seinen Blick über den abgesperrten Bereich wandern lässt. „Also behältst du ihn?“ „Nein, natürlich nicht. Was soll ich mit einem Hund? Ich bin ja kaum zu Hause. Es klappt gerade auch nur, weil meine Nachbarin regelmäßig nach ihm schaut. Ich habe nur noch kein geeignetes Zuhause für ihn gefunden.“ „Wieso nimmt sie ihn nicht?“ „Sie ist fast achtzig Jahre alt und hinkt.“ „Hält doch fit, oder?“ „Oder bringt dich um. Sie bleibt lieber auf der Couch.“ „Okay, dann ist sie wohl eher ein Katzenmensch“, mutmaße ich. „Sie hat einen Papagei, also keine Katzen.“ „Dann eben Capybaras. Die verstehen sich mit allen.“ „Das sind keine Haustiere.“ „Keine regulären, aber mit den richtigen Nachweisen und offiziellen Scheinen…“ „Ernsthaft? Erst Tauben, dann schwarze Witwen. Nun Wasserschweine? Hast du keine Hobbies? Und es sind trotzdem keine Tiere, die man als Haustier halten sollte.“ Ich würde die Frage zu den Hobbies gern zurückgeben. „Ich bin eben gut informiert, Mister Detective. Solltest du auch sein, denn das ist Grundlagenwissen.“ „Ich präferiere hilfreiches Wissen, nicht dieses Kuscheltier-Geschwätz“, gibt er bissig zurück. Pastor klingt dabei angefressener, als er es bei diesem lapidaren Thema sollte. „Was ist dein Problem?“, frage ich nun geradeheraus, weil ich die Anspannung nicht mehr ignorieren kann und starre meinen Kollegen furchtlos an. Ein umfangreiches Wissen ist lebensrettend. Ich musst das in der Vergangenheit schon häufiger feststellen. „Was ist mit den Akten von de Lucia und Bakow geschehen?“, prustet er hervor. Ich erwarte die Rechte und kriegen eine Linke. Es braucht länger, bis ich den Themensprung begreife und letztendlich entlockt es mir ein genervtes Murren. Ich trete einen Schritt zurück, um Abstand zu ihm zu gewinnen. „Fängst du schon wieder damit an?“ „Ja, denn obwohl ich dich schon mehrfach darauf angesprochen habe, antwortest du mir nicht.“ Pastors Stimme wird etwas lauter und sein Mund spannt sich an. „Es spricht von Wahnsinn, immer wieder das Gleiche zu tun und ein anderes Ergebnis zu erwarten.“ „Eh, einsteine mich gefälligst nicht!“, gibt Pastor warnend von sich, „Sag mir einfach, was mit den Fällen passiert ist.“ „Kannst du nicht wie jeder andere Kollege Euphorie darüber empfinden, dass du keinen langatmigen Aktenabschluss vornehmen musst?“ Mein kleinerer Kollege gibt ein kehliges Geräusch von sich. Leise und nur wahrnehmbar, weil wir uns dicht gegenüberstehen. Ich wünschte, er würde es einfach vergessen, denn ich werde nicht verhindern können, dass er in diesen Sog gerät, der schon vielen den ein oder anderen Aufenthalt beim Psychiater beschert hat. Manchmal ist es schwer, nicht den Bezug zur Realität zu verlieren. Ich weiß es besser als jeder andere. „Du weichst schon wieder aus.“ Die Worte begleitet ein unterschwelliges Knurren. Er stößt mir die Faust langsam gegen die Brust, sodass ich leicht zurücktaumele, aber nur aus Überraschung, nicht aus Furcht. Mittlerweile weiß ich bereits, dass es ihn, im Gegensatz zu den zuvor gescholtenen Kollegen, wahnsinnig machen muss, nicht zu wissen, was mit den Fällen passiert ist. Allerdings bin ich nicht in der Position, es ihm zusagen. Noch weiß ich, welche Entscheidungen im Hintergrund getroffen werden, um zu verhindern, dass die Umstände solcher speziellen Fälle ans Licht kommen. „Du begreifst nicht, dass es Dinge gibt, die du nicht wissen musst.“ „Und du bist es, der das entscheidet?“, bohrt er weiter. Ein weiterer Stoß. Diesmal spürbar. Es bleibt ein dumpfer Schmerz unter der Haut zurück. Er möchte eine Reaktion aus mir herauskitzeln, die ihm ein Teil der Wahrheit offenbart. Es wäre nicht mehr als das erste Korn in einer Sanduhr. „Ich bin niemand“, gebe ich schlicht zurück, weiche seinem forschen Blick nicht aus und bemerke dadurch, dass er kurz innehält. Jedes Mal, wenn ich solche Dinge sage, sehe ich die Wut in ihm aufsteigen wie ein Papierdrachen im Wind. „Damast.“ Diesmal packt er mich am Kragen und zieht mich automatisch etwas nach unten. Er meint es ernst. Ich erkenne es auch an der Anspannung in seiner Stirn, die seine Augenbrauen dichter zusammenführt. An dem wutgefüllten Funkeln in dem hellen Samtbraun, welches sich abhebt wie ein Komet am Nachthimmel. Ich spüre es. Sehe es, denn die feinen Schemen um ihn herum werden etwas dunkler. Ich löse meinen Widerstand erst, als ich aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung links hinter meinem Kollegen wahrnehme. Pastor festigt seinen Griff als er merkt, dass ich mich nicht mehr auf ihn konzentriere. „Psch!“; harsche ich ihn an, ehe er den Mund auf macht, „Wie weit um den Tatort habt ihr die Absperrungen gesetzt?“ „Auf 150 Meter im Umkreis. 300 Meter auf die Zufahrten. Die Uniformierten patrouillieren. Warum?“ Seine Hand schraubt sich weiterhin in mein Oberteil. Er zieht mich damit minimal dichter und macht keine Anstalten loszulassen. „Ein unautorisiertes Subjekt. Bei sieben Uhr, etwa 50 Meter im Wald. Beige Jacke. Dunkelgrüne Shorts. Mittellanges dunkles Haar.“ „Mein sieben Uhr?“, fragt er spaßig und grinst mich an. Ich spare mir eine Antwort, da ich offensichtlich keine Augen im Hinterkopf habe. „Du links, ich rechts.“ Wir nicken uns zu. Der kleinere Mann löst langsam seine Hand aus meinem Hoodie und stampft mit schweren Schritten an mir vorüber. Ich biege bewusst für einen kurzen Abstecher zum abgestellten Transporter der Gerichtsmedizin ab, ziehe den auffälligen Pullover aus und behalte das schlichte weiße Shirt an, welches ich drunter trage. Unauffällig umrunde ich den Wagen und verschwinde zwischen den Bäumen und dem Dickicht. Die Sonne gräbt sich langsam aus der Wolkendecke hervor, die Schatten der Bäume werden dunkler. Ich versuche, durch das Geäst etwas zu erkennen. Ich lausche. Doch neben den stetigen Geräuschen der Grabungsmannschaft und des forensischen Teams ist es einfach zu laut. Viele Nebengeräusch. Knacken. Rauschen. Es macht es fast unmöglich, irgendwas zu bemerken, was nicht in unmittelbarer Nähe passiert. Dann höre ein Rascheln direkt hinter mir und erneut ergießt sich ein knisternder Schauer über mich. Er sinkt tief ein, lässt die Sehnen und Muskeln meines Leibes singen wie ein verstimmtes Streichinstrument. Diesmal zucke ich instinktiv zurück, husche stolpernd hinter eine Eiche und pralle auf der gegenüberliegenden Seite gegen etwas Instabiles, in grüner Hose und beiger Jacke, was, ebenso wie ich, unschicklich zu Boden geht. Ich hänge wie eine umgekippte Schildkröte über einer Wurzel und wir starren uns an. Ihre grünen Haare verschwimmen mit den Nadeln einer tiefhängenden Zeder und zu meiner Schande ist ihre Reaktionszeit wesentlich besser als meine. Sie hievt sich blitzschnell auf die Beine, macht auf dem Absatz kehrt und rennt los. „Ach komm schon“, ächze ich, als ich mich endlich in Gang setze und gleichzeitig die schwere meiner Muskeln verfluche, die heute schon mehr als genug benutzt wurden. Sie hat einen geringfügigen Vorsprung, allerdings kann ich sie durch das dichte Laub und die vielen Bäume kaum ausmachen. Hektisch sehe ich mich nach Pastor um, doch auch ihn kann ich nicht entdecken. Ich bleibe stehen. „Shit“, fluche ich leise, drehe mich zu jedem einzelnen Knacken und Knistern, während mich derselbe furchterfüllte Wahn beschleicht wie eine Stunde zuvor bei dem plötzlich aufgetauchten Wesen. Ich sollte nicht anhalten, also laufe ich einfach weiter und sehe mich nach Hinweisen am Boden um. Purer Wahnsinn. Selbst bei Tageslicht ist es schwierig, sich zurechtzufinden. Unerfahrene Menschen verirren sich nicht ohne Grund im Wald. Dann streift sie unerwartet meinen Weg erneut und diesmal reagiere ich schneller. „Polizei, bleiben Sie stehen“, brülle ich ihr zu und greife nach einem Gurt, der von einem kleinen Rucksack schwingt. Ich schaffe es, ihn zu packen. Sie strauchelt durch den unerwarteten Ruck und der Backpack rutscht ihr von den Schultern. Er fällt nicht zu Boden, weil ein weiterer Gurt um ihren Bauch gebunden ist. Mein Schwerpunkt schwankt wegen der heftigen gegensätzlichen Bewegung und ich brauche einen Augenblick, um mich zu stabilisieren. „Stillhalten!“, fordere ich mit Nachdruck und klinge wie ein herbes Gummibärchen. Während sie angestrengt quietscht und sich mühsam auf die Knie kämpft, packe ich sie am Fußgelenk und ziehe ihr Bein zurück. Sie fällt mit einem hörbaren Uff zurück in die Waagerechte. Mittlerweile bin ich auf ihrer Höhe, merke Feuchtigkeit, die sich durch meine Hosenbeine drückt und erkenne riesige braune Flecke auf meinen Knien. Die Erde um uns herum ist aufgewühlt und feucht. Ihren Rucksack halte ich eisern weiter fest und drücke eines ihrer Beine runter, indem ich mich über sie lehne. Sie zappelt. „Liegen bleiben! LIEGEN BLEIBEN!“, fordere ich sie auf, bemerke aus dem Augenwinkel heraus, wie Pastor, der nur wenige Meter entfernt ist, auf uns zukommt. Er hält seine Waffe auf Anschlag und ich signalisiere ihm, dass er sie sinken lassen kann. „Langsam umdrehen.“ Wäre sie bewaffnet, hätte sie bereits die Gelegenheit gehabt, mich anzugreifen. „Ich muss erst den Verschluss vom Rucksack lösen“, teilt sie ächzend mit, löst mit einem Klick den Rucksack, sodass dieser zur Seite fällt. Danach dreht sie sich wie befohlen achtsam und bedacht auf den Rücken. Ihre Hände hebt sie mit der Handfläche nach oben vor der Brust, in einer abwehrenden Haltung. Aus der Nähe ist zu erkennen, dass sie kaum älter als Anfang zwanzig ist. Sie blickt uns mit großen blauen Augen entgegen. Erst forschend, dann forsch. „Hi“, entflieht es ihr mit bebendem Atem und einem koketten Lächeln. Es zeigt keinerlei Furcht. „Stillhalten und Hände auf den Rücken“, befiehlt Pastor. „Schönes Wetter heute, oder?“, fährt sie unbeirrt fort. Verwegen schielt sie zu Pastor und danach auf meine eingesauten Hosen. „Perfekt, um einzufahren!“, erwidere ich knapp und sehe zu dem anderen Polizisten, der bereits seine Handschellen hervorholt. Wir ziehen sie an den Armen in eine aufrechte Position und nehmen sie in Gewahrsam. Die Führung überlasse ich Pastor. Ich brauche dringend eine Dusche und ein Nickerchen. Pastor verfrachtet die Verdächtige auf den Rücksitz seines Dienstwagens, ignoriert ihre unfreundlichen Kommentare über die Bequemlichkeit der Ausstattung und drückt mir die Autoschlüssel in die Hand. Ich nicke verstehend und umrunde das Auto, während mein Kollege hinten neben der jungen Frau Platz nimmt. Vorher holt er eine alte Polizeitrainingsjacke aus dem Kofferraum, die ich überziehen kann. Die harmlosen Fragen, die wir unserer Verdächtigen während der Fahrt stellen, bleiben erwartungsgemäß unbeantwortet. Es ist zu ihrem Besten, jeder halbwegs schlaue Verdächtige weiß das. Dennoch ist es immer ein Versuch wert, denn so mancher in Gewahrsam Genommene beginnt zu reden. Aber die taffe Frau mit den grünen Haaren schweigt eisern, während ich Blicke in den Rückspiegel werfe und dabei zusehe, wie sie an den kleinen Hautfetzen ihrer trockenen Lippen nibbelt. Ihr ovales Gesicht ist verdreckt durch den Sturz und trägt tiefe Gedankenwolken vor sich her. Sie hat ein Septum-Nasenpiercing und mehrere schwarze Ringe auf ihren Ohren verteilt, die ihrem Äußeren eine gewisse Härte verleihen. Doch da ist auch noch etwas anderes. Ich erkenne den Dunst eines Schattens um sie herum. Doch erst nicht permanent, er löst sich stetig wieder auf. Sonderbar. „Ich lasse ihre Personalien aufnehme und melde sie an. Danach fahre ich dich nach Hause oder wo auch immer du Klamotten zum Wechseln hast.“, kündigt Pastor an, als wir das 12. Revier über die Zufahrt betreten. Ich nicke zur Bestätigung und deutet ihm an, dass ich bei seinem Schreibtisch warte. Damit führt Pastor die Verdächtige mit sanfter Härte zur Aufnahmestelle und ich spaziere ruhigen Schrittes durch die Tischreihen, bis ich am richtigen Tisch ankomme. Der Stapel unbearbeiteter Fälle ist angewachsen und Pastors Bildschirm ist über und über mit gelben Klebezetteln dekoriert. Telefonnummern von Kollegen anderer Reviere. Ich sehe meine Nummer und die des Staatsgefängnisses für Frauen. Der Rest seines Schreibtisches ist an sich gut strukturiert. Ich greife nach einem hölzernen Sternknoten, der neben dem Bildschirm steht und der prompt auseinanderfällt. Irgendwo ertönt ein dumpfes Kichern, gefolgt von einem blechernen Lachen. Doch ich kann niemanden sehen, von dem es gekommen ist. Ich sammele die Einzelteile ein und drehe die Stücke mehrmals in alle Richtungen. Es sind sechs Teile insgesamt. Jedes Teil ist ein längliches Doppeldreieck, welches eine einheitliche zusammenhängende Seite hat, während die gegenüberliegende Seite auf der gleichen Länge in drei Dreiecke aufgegliedert ist. Der mittlere Teil bildet eine vierseitige Pyramide. Ich nehme zwei Stücke und teste die Möglichkeiten durch, um sie zusammenzusetzen und nehme, nachdem ich einen plausiblen Weg gefunden habe, ein drittes Stück hinzu. Beim fünften wird es knifflig und doch schaffe ich es, das sechste Teil so einzupassen, dass erneut der kugelige Stern entsteht. Einfacher als gedacht. Ein Kollege in Uniform bleibt an Pastors Schreibtisch stehen, unangenehm dicht vor mir und ich stelle das hölzerne Knobelpuzzle unauffällig zurück. Das Gesicht bleibt ausdruckslos, als er von seinen blanken, schwarzen Schuhen aufblicke. Hinter ihm taucht ein mir bekanntes Gesicht auf. Der junge Mann mit den sanften Gesichtszügen ist Vincent de Laar, Techniker im forensischen Labor. Er ist mit seiner attraktiven Erscheinung ein wahrer Augenaufreißer und nun weiß ich, dass ich mir das Kichern nicht eingebildet habe. Überall blitzen Tattoos hinter der Kleidung hervor. Sein Blick wandert von meinem Gesicht zu den verdreckten Schuhen. Ich warte ab, bis seine Augen wieder mein Gesicht treffen und denke währenddessen darüber nach, ob die Socken, die ich trage, die gleiche Farbe haben. Ich denke, sie sind grün oder mintfarben. Oder beides. Ich habe nicht wirklich darauf geachtet, als ich heute Morgen leise schimpfend losgelaufen bin. „Doktor de Laar ist auf der Suche nach Detective Pastor“, erklärt der uniformierte Kollege deren Auftauchen und sieht sich um. „Kollege Pastor ist gerade nicht am Platz. Er kann hier warten, der Detective wird gleich zurück sein“, versichere ich und zeige dem Uniformierten meinen eigenen Ausweis, sodass er erkennt, dass ich kein Außenstehender oder ein freiumherlaufender Verbrecher bin. Er nickt uns beiden zu und Vincent rollt sich den Stuhl des Nachbarschreibtischs heran. „Doktor?“, erkundige ich mich mit hochgezogener Augenbraue. Mein Gegenüber formt einen theatralischen Gesichtsausdruck und rollt dann gekonnt mit den Augen. Ich weiß aus sicherer Quelle von ihm selbst, dass seine Doktorarbeit seit längerem vor sich hinvegetiert. Die Arbeit im Labor ist einnehmend und einige gönnen sich Hobbies. Vincent gehört dazu. „Frag nicht und nein, ich bin noch mittendrin… Die Leute sehen Kriminallabor und ziehen voreilige Schlüsse.“ „Du solltest ihn auch längst haben, oder nicht?“, frage ich mit einem schnippischen Grinsen auf den Lippen, wohl wissend, dass es schwer verdauliches Thema für den jungen Mann ist. „Was führt dich ins 12. Revier?“ „Ich habe Informationen zum Malus-Fall“, erklärt er extra mysteriös und fächert mit einer Akte in seiner Hand Luft in meine Richtung. Malus ist der lateinische Name für Apfel, das ist mir auch ohne größere Botanikkenntnisse bekannt. Latein ist mir nicht unbekannt. „Wurdest du versetzt, das ist doch nicht dein herkömmliches Revier?“ „Nein, nein, ich bin immer noch Herr meines Schuhkartons im 17.. Ich war nur zufällig in der Nähe eines Tatorts der Nachbarn.“ „Zufällig?“ Alles an seiner Haltung schreit Skepsis und Amüsement. „Also haben sie dich als Täter aufgegriffen, überwältigt und festgenommen?“ Erneut mustert er mein ramponiertes Sportoutfit, dessen waldige Spuren im kühlen Bürolicht hervorstechen. „Könnte man vermuten, aber nein…“ Als Beweis hebe ich meine Hände und verdeutliche die Abwesenheit von jedweden Handgelenksmetallen. „Damast!“, ruft es hinter uns, ich wende mich um und sehe, wie Pastor angewetzt kommt. Er schaut verwundert zu dem Neuankömmling und verlangsamt seinen Schritt. Vincent richtet sich vom Stuhl auf und schubst diesen dorthin zurück, wo er ihn hergeholt hat. „Hallo, kann ich Ihnen helfen? Detective Luis Pastor.“ Die beiden scheinen sich noch nicht begegnet zu sein. Ich beobachte, wie Pastor den Forensikkollegen unauffällig mustert. „Ah, Sie sind Pastor. Ich suche Detective Bell und McArthur. Hi, Vincent de Laar, aus dem forensischen Labor. Schön Sie kennenzulernen, Detective.“ Er fischt seinen Ausweis hervor, der an einer ausziehbaren Kordel befestigt ist und von seinem Gürtel baumelt. „Freut mich ebenfalls. Ist das den Boscop-Fall betreffend?“, fragt er, „Die zuständigen Kollegen sind aktuell nicht zugegen.“ „Bei wem kann ich das dann lassen? Das sind Ergebnisse forensischer Untersuchungen vom zweiten Fundort. Bodenproben und anthropologische Gutachten.“ „Bei mir. Ich habe übergangsweise die Aufsicht über die dritte Fundstelle. Ich sorge dafür, dass sie es schnellstmöglich erhalten.“ Pastor langt in seinen Schreibtisch und holt einen Block aus der oberen Schublade. Es ist ein Übergabeprotokoll, in das er den Inhalt der Akte notiert, so wie seinen und Vincents Name. Zum Schluss lässt er ihn unterschreiben und sich selbst. Den Durchschlag reicht er dem Techniker. Ich schaue stillschweigend bei dem überbürokratischen Akt zu und bin mir nicht sicher, ob ich so etwas jemals ausgefüllt habe. Als würde Pastor meine Gedanken lesen, stiert er mich danach eindringlich an. Ich habe Bakows und de Lucias Akte nicht verschwinden lassen, aber das kann ich ihm nicht sagen, also lasse ich mir nichts anmerken. Ich sehe stattdessen zu dem Forensiker und ignoriere das verräterische Knirschen der Unzufriedenheit, welches Pastor entflieht. „So, ihr arbeitet auch an dem Boscop-Fall?“, frage ich unangemessen fröhlich und wohlwissend, dass sie als zentrale kriminalistische Abteilung ohne Frage an dem Fall arbeiten. „Wer nicht? Seit gestern ist das ganze Labor involviert. Prio 1“, erklärt er und wirkt unversehens sichtbar erschöpft, „Wusstet ihr, dass bisher nicht publik gemacht wurde, dass an den geborgenen Knochen Zahnspuren gefunden wurden? Es wird noch geprüft, aber wow…“ „Und?“, fragt Pastor daraufhin, während es mir einen Schauer versetzt, „Die Opfer wurden im Wald gefunden, nicht sehr tief vergraben. Ich sehe daran nichts Ungewöhnliches.“ Solche lichten Gräber sind ein gefundenes Fressen für jegliches Waldgetier. Ich kann Pastor nur zustimmen und doch weckt das bloße Ansprechen der Bissspuren ein Kitzeln in meiner Magengrube. Es pulsiert unter der Haut, als der Kriminaltechniker kopfschüttelnd fortfährt. „Bei den meisten der gefundenen Spuren gebe ich Ihnen recht. Es gab Hinweise auf verschiedene Nagetiere, Felis catus, einem Canis lupus… Wirklich nicht ungewöhnlich. Aber!“, berichtet Vincent weiter, sieht sich während der Ausführung mehrmals um und wird bei dem letzten Teil leiser, bis er nur noch flüstert. „Es waren auch die Gebissspuren eines Omnivoren mit parabolischen Zahnbogen zu finden.“ ~Fortsetzung folgt~ Kapitel 10: Der beste Freund im Geiste - 2 ------------------------------------------ Folge 3 ~Teil 2 - Der beste Freund im Geiste ~ „Bitte was?“, platzt Pastor verwirrt hervor, nachdem sich die aufgebaute Pause über uns ergießt wie ein imaginärer Regenschauer, „Was bedeutet ‚mit parabolischen Zahnbogen‘?“ Auch er flüstert den letzten Teil, nachdem er meinen und Vincents Gesichtsausdruck studiert und darin Anzeichen fand, dass er vorher zu laut war. „Sie sind von einem Menschen“, spreche ich das für mich Offensichtliche aus. Für die Dramatik ebenfalls flüsternd. Der Forensiker nickt. Pastors Mund öffnet sich in Zeitlupe und erstarrt einen eindringlichen Moment lang, ehe er mögliche Worte identifiziert, die seinen Gedankenprozess widerspiegeln. „Wie bitte?“ Glorreich. „Homo sapiens“, lege ich unbeeindruckt nach und klappere mit den Zähnen. „Ihr verarscht mich doch?“ Das Entsetzen steht dem anderen Polizisten ins Gesicht geschrieben und er sieht zwischen mir und Vincent hin und her, als würde das die Wahrheit negieren und seine Vermutung bekräftigen. Der Techniker bestätigt erneut mit einem Nicken und das letzte bisschen Hoffnung in Pastors Gesicht wandelt sich zu blankem Horror. „Kein Scherz? Nein? Okay…“ Er zieht scharf die Luft ein, hält sie länger in den Lungen und stößt sie langsam aus. „Es gibt Wölfe bei uns im Wald?“, frage ich, um die Pause sinnvoll zu nutzen. Doch es funktioniert nicht wie gewünscht, denn Pastor hakt sofort wieder ein. „Schön für die Wölfe! Erkläre mir, wieso du nicht so überrascht wirkst wie ich?“, richtet er an mich. Sein Gesichtsausdruck ist verkrampft, als er in meinem Gesicht nach Hinweisen sucht, die er niemals finden wird. Ich wusste bereits, dass einige der gefundenen Bissspuren von einem Menschen sind und ich weiß auch, warum die Ermittler die Information zurückhalten. „Quatsch, das ist mein schockierende News-Gesicht“, erwidere ich abgebrüht und weitestgehend regungslos. „Das ist dein Ich-weiß-mehr-als-du-Gesicht.“ Pastors Augen kneifen sich zusammen, doch statt verbissen auszusehen, sieht er aus, als hätte er Blähungen. „Und da bist du dir sicher, Herr Meisterdetektive?“, verprelle ich ihn unbeeindruckt. Es klappt, denn Pastor zieht pikiert eine Schnute. „Damit hätten wir das geklärt, ich sehe mir jetzt die Befragung an. Schockierend. Ciao!“ Ich patte dem amüsiert dreinblickenden Techniker zum Abschied dankend die Schulter, ignoriere Pastors wenig glücklichen Gesichtsausdruck und gehe schnurstracks davon. Ich komme nicht weit, dann ruft mich der Nervtöter bereits zurück. „Willst du gar nicht wissen, wer unsere Verdächtige ist?“ So viel zu meinem gelungenen Abgang. Ich mache auf den Absatz kehrt und bleibe mit verschränkten Armen vor Pastor stehen, ohne etwas zu erwidern. Er greift nach der Akte, die er zu Beginn auf dem Schreibtisch abgelegt hat. Doch statt sie mir zu geben, klappt er sie auf und hält sie mir mit unüberbrückbarem Abstand vor die Nase. Es reicht, um den Namen zu lesen, das Alter und die Wohnanschrift zu entziffern. Mit einem schweifenden Blick entgeht mir ebenfalls nicht, dass ein paar Auszüge gelistet sind, die auf weitere Strafen verweisen könnten. Doch ehe ich etwas lesen kann, schlägt Pastor die Akte wieder zu und lässt sie mit einem siegessicheren Grinsen in eine überfüllte Schulblade verschwinden. Als ich mich erneut umdrehe, höre ich Vincent heiter kichern. Er wird von mir hören. Als ich den Zuhörerraum betrete, steht unerwarteterweise Captain Lamark vor dem großen Einwegfenster und abrupt beginnen sich die Schwingungen der Umgebung zu verändern. Die träge Statik der Ungewissheit, die in diesen Räumlichkeiten liegt, wird schwer und tief. Es ist nur ein Seitenlicht eingeschaltet. Es zeichnet viele Schatten in den Raum, auch um meinen Chef herum und in seinem Gesicht. „Sir“, kommentiere ich seine Anwesenheit. „Das ist die Zeugin, die am Boscop-Pfad aufgegriffen wurde.“ Wie zum…? Er formuliert es nicht wirklich als Frage, sondern wie eine Feststellung. Er sieht unerlässlich durch den Einwegspiegel, fokussiert die junge Frau dahinter. Seine Hände sind locker hinter seinem Rücken verschränkt und er lässt keine Emotion durchblicken. Ich versuche, nicht zu hinterfragen, wieso er hier ist, obwohl es nicht sein zuständiges Revier ist und wieso er bereits jetzt von ihr erfahren hat. Ich bekäme keine Antwort darauf. „Ja. Wir bemerkten sie in der Nähe des Fundortes im Wald. Bisher hat sie jegliche Aussage zu ihrer Anwesenheit dort verweigert.“ Nun blicke auch ich zu der jungen Frau, die sich über die dreckigen Knie reibt und danach sofort die Arme verschränkt. Die graue Strumpfhose, die sie unter der dunkelgrünen Shorts trägt, hat an mehreren Stellen Löcher. Sie schwingt die Knie gelangweilt zusammen und wieder auseinander. Ihre Stirn liegt in Falten und sie beißt sichtbar die Zähne zusammen. Noch dazu deuten ihre Füße zur Tür. Eine klassische Fluchtgeste. Dennoch wirkt sie kaum nervös auf mich. Vielleicht täusche ich mich. Sie wirkt auf mich beharrlich und stur. „Ist uns ihr Name bekannt?“, fragt Lamark. „Wir haben ihre Fingerabdrücke mit der Datenbank abgeglichen. Sie heißt Shay Connor. Einen Personalausweis trug sie nicht mit sich.“ Mein Chef summt einen tiefen Ton und betätigt etwas an seiner Armbanduhr, ehe er sein mobiles Telefon herausholt. Ich verschränke die Arme vor der Brust und schiele unauffällig zu dem großen Franko-Amerikaner. „Sie werden die Befragung führen“, entgegnet mein Vorgesetzter plötzlich. Seine Stimme ist fast nur ein Flüstern und beinahe hätte ich es überhört. „Ich bin in den Fall nicht involviert“, stelle ich klar und lasse die Tatsache, dass ich dennoch in diesem Zuhörerraum stehe, außen vor. Genauso verschweige ich, dass ich schon seit längerem darin rumschnüffele. Wahrscheinlich weiß er es längst. Der Captain wirft mir zum ersten Mal, seit ich den Raum betreten habe, einen Blick zu. Er ist lang und intensiv. Er durchschaut mich. Er durchschaut mich immer. Im selben Zug begutachtet er mein unprofessionelles Erscheinungsbild. Ich kann durch die Dunkelheit seine Augen kaum erkennen, noch irgendeine Begründung in seiner Haltung erlesen. Er wird auch nicht mehr sagen. So ist es jedes Mal. Eine Akte, die auf meinem Tisch auftaucht. Ein kurzer Kommentar zu einem laufenden Fall. Ein Nicken. Ein Blick. Manchmal nicht mal das und ich stehe vor den Tatsachen. Doch diesmal sehe ich eine Chance. „Ich möchte Luis Pastor mit dazunehmen.“ Für einen Sekundenbruchteil umhüllt ihn Zögern, bis er schlicht als Zustimmung nickt und den Raum verlässt. Ich sehe ihm nicht nach, denn mein Blick haftet sich an das verbleibende Dunkel an der Stelle, an der er eben noch stand. Es erscheint mir wie ein feiner Nebel, wie blasser Dunst im Morgenrot. Doch es fühlt sich kälter an als Trockeneis. Er löst sich nur langsam auf und verschwimmt mit den scharfen Kanten des Interior. Es ist nicht das erste Mal, dass mich dieses unbestimmte Gefühl heimholt und ich es nicht wage, es in Worte zu fassen. Ich richte meinen Blick durch den Einwegspiegel zurück zu der jungen Frau mit den grünen Haaren und den nun unaufhörlich wippenden Knien. Bevor ich der Verdächtigen gegenübertrete, suche ich nach meinem Zwangskumpan, der mit einer älteren Kollegin über einer Akte lehnt, eifrig nickt und dann Kopf schüttelt. Ohne mein aktives Zutun blickt er plötzlich auf, schaut mich direkt an. Ich strauchele in meinem Schritt durch die Intensität, die er mir entgegenbringt und widerstehe dem Drang, mich unvermittelt abzuwenden, weil ich mich ertappt fühle. „Doch noch da?“, stichelt Pastor, bedankt sich bei der Kollegin und sieht zu, wie sie sich entfernt. „Neue Aufgabe. Wir beide!“, hole ich aus, als wir allein sind und schaue mich suchend auf den Schreibtischen der Kollegen um. „Kannst du ganze Sätze formulieren, die Sinn ergeben?“ Das wäre durchaus möglich, aber ich bin längst damit beschäftigt, über das weitere Vorgehen nachzudenken. Wie könnten wir sie am besten knacken? Konfrontation? Eher nicht. In Sicherheit wiegen? Vielleicht. „Zweiwortsätze sind auch Sätze.“, watsche ich abgelenkt ab. Ich bin eher selten in der Situation, Verdächtige zu befragen und wünschte nun, ich konnte ein Blick ins Handbuch werfen. „Für Zweijährige.“, kontert er und verschränkt die Arme vor der Brust, „Was machst du da?“ „Wir führen das Verhör bei der Waldfee.“, lege ich nach, nachdem sich Pastor nicht vom Fleck bewegt und mich mit rehgroßen Augen beobachtet. „Führen wir? Wieso das? Von wem kommt die Order dafür?“, fragt er verständlicherweise, bei uns liegt immer noch kein Funken der Zuständigkeit. Statt zu antworten, greife ich mir ein paar unauffällige Akten vom Schreibtisch eines Kollegen, die überwiegend ballistische Untersuchungen enthalten und einen kleinen Schreibblock, der neben Pastors Tastatur liegt. „Okay, kein Warum. Scheint dein Ding zu sein. Verdächtig, das weißt du?“, kommentiert Pastor angefressen. Ich unterbreche meine wüste Suche nach Utensilien für einen Moment, um ihn anzustarren und er reicht mir unbeeindruckt einen Kugelschreiber, den ich mir in die Hosentasche stecke. „Wir können sie ohne ausreichenden Verdacht nur bedingt lange festhalten. Grund genug?“, erkläre ich letztendlich doch, lasse das plötzliche Auftauchen vom Captain meines Reviers dabei aus. „Aber um deinem Bestreben nach der Einhaltung von Dienstvorschriften gerecht zu werden, es ist genehmigt.“ Ich mache einen Abstecher zur Küche, wo ich ein Glas mit Wasser fülle, während mir Pastor seltsam gehorchend folgt. Bevor ich die Tür zum Verhörraum öffnen kann, hält er mich zurück. „Von wem genehmigt und wie willst du vorgehen?“ „Captain Francis Lamark und ich habe noch keine Idee“, erkläre ich ehrlich. Verhöre sind keine meiner Stärken, dafür habe ich es zu selten mit normalen Fällen zu tun. Pastor presst unzufrieden die Lippen zusammen und nibbelt mit den Zähnen an einem trockenen Hautfetzen, bevor er hinnehmend nickt. Wenn ihn die Tatsache, dass der Captain des 17. Reviers eingreift, stört, dann lässt er es sich nicht weiter anmerken. „Okay, lass mich vorgehen. Ich nehme die Belehrung vor, lasse es ernst klingen und übernehme den strengen Regelpart. Danach beginnen wir ein lässiges Gespräch. Wir lassen sie glauben, dass sie die Oberhand hat.“ Pastor geht vor und ich warte einige Minuten, ehe ich ihm folge. Von draußen höre ich seine klare, warme Stimme. Die Worte der rechtlichen Belehrung kann ich ebenso auswendig, wie jeder andere Polizist auch. Nach dem Eintreten setze ich mich, während Pastor hinter mir stehen bleibt und ich platziere die mitgebrachten, falschen Akten auf dem Tisch sowie das Glas Wasser. Ich stoße die Akten an, sodass sie sich etwas auffächern und entschuldige mich, als ich sie schnell wieder zusammenstaue. Trotzdem waren kurz etliche Berichte zu erkennen. Ich kaschiere das feine Flattern meiner Nervosität mit der Zurschaustellung von geplantem Chaos und bediene damit die Technik, die Pastor und ich uns zurechtgelegt haben. Wir wiegen sie in Sicherheit. Sie soll ruhig glauben, dass wir keine Ahnung haben. Bevor ich beginne, checke ich das rote Lämpchen an dem Aufnahmegerät und rücke den Stuhl zurecht. „Verzeihen Sie. Wasser? Sie sind sicher durstig. Im Wald verliert man schnell das Zeitgefühl. Einmal falsch abgebogen und hui…“, plaudere ich locker, „Ich bin Detective Vikar Damast, wie Sie mein Kollege bereits aufgeklärt hat. Ich bin der, vor dem Sie weggelaufen sind.“ Ich schiebe ihr das Wasser zu und lege den von Pastors Schreibtisch entwendeten Block vor mich hin. Dann taste ich meine Jacke auffällig nach dem Stift ab und ziehe ihn schlussendlich mit einem Ausdruck der Überraschung aus der Hosentasche. Pastor bleibt hinter mir stehen und Shays wachsame Augen beobachten jede meiner Handlungen mit wachsamem Blick. Auch ich achte auf die kleinste Änderung in ihrer Gestik und Haltung. Aber nicht nur darauf. Ich möchte das Flackern wieder sehen, was ich auf der Fahrt hierher um sie herum ausmachen konnte. „Gut, dann fangen wir an. Nennen Sie uns bitte ihren vollständigen Namen fürs Protokoll“, fordere ich mit ruhiger Stimme, tippe mit der Spitze meines Kugelschreibers im gleichmäßigen Takt auf den leeren Block vor mir und hinterlasse jedes Mal einen kleinen blauen Punkt auf dem Papier. Ihr Blick wandert zwischen meinem Gesicht und dem colorierten Fleck hin und her, ehe sie grinst. „Haben meine Fingerabdrücke etwa nichts ausgespuckt?“, kommentiert sie spottend. „Was denken Sie?“ „Ich denke, Sie vergeuden hier meine Zeit“, gibt sie trotzig kund und das unruhige Flackern um sie herum stabilisiert sich zu einem deutlichen Schatten. Es zeigt sich ein nahezu menschliches Abbild. Doch klare Gesichtszüge erkenne ich nicht. Ich gehe nicht auf ihre Provokation ein, ebenso wenig wie Pastor. „Was wollten Sie dort mitten im Wald, Miss Connor?“ „Spazierengehen.“ Simpel. Schnell. Ihr Gesicht ist mit all der stoischen Ausdrucksstärke kaum lesbar. Doch ihr linkes Knie zuckt. Ich tippe im gleichmäßigen Takt die Spitze des Kulis gegen das geöffnete Blatt des Blocks. Jedes Mal bleibt ein blauer Punkt zurück. Mal dichter beieinander, mal weiter entfernt. Zunächst wirkt es willkürlich, doch mein Fokus liegt auf etwas ganz bestimmten. „Keiner der üblichen Spazierwege, finden Sie nicht? Sehr abgelegen, dunkel, einsam.“, mische ich mich ein, „Und einen Hund hatten Sie auch nicht dabei.“ „Und deshalb gehen Sie davon aus, dass ich dorthin gegangen bin, um was? Gebeine abzuladen, die ich in der Tasche mit mir rumtrug? Das ist doch lächerlich“, entgegnet sie furchtlos und vollkommen überspitzt. Ehe sie geantwortet hat, huschte ihr Blick zu dem Stift in meiner Hand. Ich behalte meinen ruhigen Rhythmus bei, setze Punkte für mich und beobachte sie aufmerksam. „Ist das ein Geständnis?“ „Natürlich nicht!“ „Warum ausgerechnet dort?“ „Einfach so.“ „Dann waren Sie nur neugierig?“, hake ich nach. „Nein… Doch! Hören Sie, ich bin oft im Wald. Ich habe es durch Zufall gesehen. Man hört ja ständig etwas darüber in den Nachrichten.“ Sie schnauft, blickt von mir zu Pastor und danach auf den Block vor mir. „Halten Sie mich wirklich für die Täterin und glauben, ich bin an den Tatort zurückgekehrt?“ Sie malt dieses hinreichende Szenario und schnaubt ungläubig, fast belustigt. Sie weiß nicht, dass die Opfer nicht dort getötet, sondern nur abgelegt wurden. Um sie herum pulsiert es, flackert und simmert. Es ist nicht bedrohlich, sondern beschützend. Ich tippe den Kuli schneller auf das Papier vor mir. „Interessant, denn im öffentlichen Bericht und in der medialen Meldung wurde nicht gesagt, wo genau die Leichen gefunden wurden. Das Gebiet ist groß und das Boscop-Areal umfasst eine Strecke von knapp 30 Kilometern und mehrere Hektar dichten Wald. Warum also genau dort?“, erläutere ich. „Glaubt ihr wirklich, dass eine Entourage von leuchtenden Gelbwesten an einem stadtnahen Areal nicht bemerkt wird? Kommt schon.“ Ich lehne mich etwas zurück und platziere den Block mit den vielen kleinen Punkte weiter in ihrem Blickfeld. „Unumstritten ist nun mal, dass sie dort waren und uns bisher keine plausible Erklärung dafür geliefert haben. Neugier, okay, aber nicht ausreichend, noch dazu wurde über die die dritte Fundstelle bisher nicht berichtet“, setzt Pastor im scharfen Ton an, „Wieso lassen Sie diese Spitzfindigkeiten nicht sein und fangen an zu reden?“ Auch dem anderen Detective schenkt sie diesen leicht genervten Blick, ehe sie zu mir zurücksieht und mit der gesamten Hand ihren Daumen umfasst. Danach beginnt sie, ihre Hände abwechselnd zu kneten. Sie hadert mit irgendwas. Ich kann es sehen. Nicht nur in ihrem Gesicht oder in den Gesten. Das, was auch immer um sie herumschwirrt, erhält plötzlich ein Gesicht. Klar und deutlich. Es ist weiblich. Jung. Es stiert mir mit offenen Argwohn entgegen. „Ich habe nichts weiter zu sagen und wenn Sie glauben, dass sich der Fund von toten Kerlen im Wald verheimlichen lässt, dann sind Sie naiv. Ganz einfach.“ Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie sich Pastors Schultern nach oben ziehen. Ich beuge mich weiter vor, bette das Kinn auf die Fingerknöchel meiner rechten Hand. „Woher wissen Sie, dass es sich bei den Toten um Kerle handelt?“ „Was?“ „Sie sagten gerade ‚tote Kerle‘. Männlich. Nicht Körper oder Opfer“, wiederhole ich ihre Worte. Ihr Knie stoppt in der Aufwärtsbewegung. „Wissen Sie, wir können bei solchen weitreichenden Ermittlungen niemals verhindern, dass darüber berichtet wird, aber wir können beeinflussen, worüber im Konkreten informiert wird. Das Geschlecht der Opfer wurde nie erwähnt.“ Sie neigt es nach innen und ihre Hände betten sich in ihren Schoß. Shay weicht meinem Blick aus. „Es war geraten“, verkündet sie mit einem Hauch mehr Verunsicherung in ihrer Stimme. Sie ist wie der Ruf eines Kuckucks im Gedenken abergläubischer Weissagungen. „Sie erraten also das statistisch eher unwahrscheinliche? Fantastisch, sie sollten damit ins Fernsehen gehen“, kontert Pastor. Die meisten Serientäter fixieren sich auf weibliche Opfer. „Was soll ich sagen, ich wusste es einfach“, pfeffert sie uns entgegen. „Sind Sie Hellseherin, oder was? Sie sind durch Zufall an der Fundstelle von menschlichen Gebeinen. Sie wissen zufällig, dass die Toten männlich sind. So viele Zufälle“, spottet Pastor. Sie zuckt und presst die Lippen aufeinander. Für einen Moment wird der feine, dunkle Schimmer um sie herum wieder stärker und deutlicher. Es ist keiner der Schatten, wie ich sie so häufig sehe. Es ist definitiv eine andere Präsenz. Es kitzelt in meinem linken Ellenbogen und als es aufhört, ist es erneut verschwunden. Es wird jedes Mal stärker, wenn sie sich angegriffen fühlt. Shay weicht Pastors direkten Blick aus, rutscht auf dem Stuhl etwas zur Seite und umfasst mit beiden Händen ihre Ellenbogen. Ein deutliches Zeichen von Zurückweisung und ein Abwenden von Pastor. Er wird bei ihr nichts erreichen, also verhindere ich mit einem Blick und einem Kopfschütteln, dass er erneut ansetzt. „Shay, warum warst du dort?“, frage ich erneut, benutze diesmal bewusst ihren Namen, gehe auf die persönliche Ebene, indem ich sie zusätzlich duze. Ich spüre deutlich, dass sie uns etwas mitteilen will. Dass mehr dahintersteckt als das Vermutete. Sie war aus einem bestimmten Grund dort. Nicht, weil sie etwas mit den Tötungen zu tun hat, dessen bin ich mir sicher. Unauffällig schalte ich die Aufnahme ab, während ich den Blick nicht von ihr löse. „Was ist es?“, fordere ich, aber mit ruhiger Stimme. Sie schüttelt den Kopf und ihr Blick flackert zurück zu Pastor. „Nein, nein, sehe mich an. Nicht ihn“, sage ich und strecke meinen Arm aus, sodass er zwischen Pastor und Shay schwebt. Meine Hand schirmt sein Gesicht von ihr ab. „Sag es mir.“ Ich sehe, wie der Widerstand in ihr bröckelt, wie der Ruf ihrer Augen leuchtet. „Ich bin den Geistern gefolgt.“ Ihre Stimme ist voller Trotz und doch besorgniserregend fragil. Geister also. Es ergibt unglaublicherweise sogar Sinn. Jedenfalls für mich. Sie wird es in dem Moment lächerlich machen, in dem ich es nicht ernst genug nehme. Ich muss behutsam reagieren. „Geister?“, echot Pastor mit hörbarer Skepsis, ehe ich antworten kann. „Ignoriere ihn einfach“, sage ich mit ruhiger Stimme und schirme Pastors Gesicht mit meiner flachen Hand ab, sodass Shay seinen argwöhnischen Gesichtsausdruck nicht sehen muss. Natürlich zum Unmut des anderen Detectives, der direkt meine Hand wegschlägt und sie festhält, als ich gleich darauf einen weiteren Versuch starte, es zu wiederholen. „Was genau bedeutet Geister in dem Kontext? Ist das etwas Spirituelles?“, fragt er aufgeschlossen, aber skeptisch und starrt mich dabei an. Es ist fast schon komisch. Erst, als sich die Hand endgültig in den Schoss senkt, schenkt er seine Aufmerksamkeit wieder vollkommen ihr. Ich allerdings hefte meinen Blick an Pastor. „Du fragst das, als gäbe es verschiedene Möglichkeiten. Ich rede von Geistern“, gibt Shay entrüstet von sich. PADING!, das ist das Geräusch, was Pastors Herz gerade machte, als es in seine Hose rutschte. Ich kann mir nur schwer einen verräterischen Laut verkneifen und beiße mir auf die Lippe. Pastors Augen flackern zu mir und zurück zu der grünhaarigen Frau. Ich kann quasi sehen, wie sich die gleiche Frage aus Ermangelung an Verständnis erneut auf seine Zunge legt. Er unterdrückt es mit Mühe und Not, sie ein weiteres Mal zu stellen. „Ein Geist.“, wiederholt er, seltsam monoton, „Also eine Erscheinung?“ „Geister“, berichtet die Zeugin sogleich. Wohl gemerkt die Mehrzahl. Drei Tote. Drei Geister. Eine eindeutige Rechnung. „Geister.“ Pastor formt das Wort, als hörte er zum aller ersten Mal davon. Als wäre er niemals mit einem derartigen Begriff in Berührung gekommen. Dabei zuzusehen, wie sich in Schneckentempo das Verstehen bei ihm einstellt, ist spektakulär. „Könnt ihr das spezifizieren?“, hakt er zögerlich nach. Er gibt sich Mühe. Wirklich große Mühe, ich kann es an seinem starren Gesichtsausdruck ablesen. Sein Adamsapfel hüpft auf und ab, als er wiederholt schwer schluckt. „Immaterieller und spiritueller Rückstand des menschlichen Seins“, erklärt Shay gefasst. „Also wirklich, wie Schreckgespenster?“ „Ah, genaugenommen gibt es da Unterschiede.“, erläutere ich, „Den Gespenstern hängt zumeist eine eher negative, mit Angstzuständen behaftete Bedeutungsebene an.“ Shay nickt, als wären meine Worte ein selbsterklärender Wikipediaeintrag, den Pastor längst hätte lesen müssen. „Sie sind eine furchteinflößende Manifestation, aber nicht die reguläre Erscheinung.“ „Na klar. Also, sagt ihr mir gerade, dass Geister per se nicht furchteinflößend sind, sondern harmlos?“, jodelt er sarkastisch und versucht es nicht mal zu verstecken, „Gut zu wissen.“ Er sieht in keiner Weise beruhigt oder überzeugt aus. Im Gegenteil, denn die kleine Falte zwischen seinen prominenten Augenbrauen tritt deutlicher hervor, also zuvor. „Nicht unbedingt.“, übernimmt die Grünhaarige das Wort, „Die meisten sind eher verwirrte Seelen, die sich nicht mehr an ihren Tod erinnern oder wegen etwas Unerledigtem nicht hinübergehen können. Sie sehen aus wie du und ich. Etwas transluzenter vielleicht, aber wie du und ich.“ „Vielleicht. Vielleicht?“, wiederholt Pastor ungläubig. „Das heißt, du hast die Geister der getöteten Männer gesehen?“, erkundige ich mich nun bei unserer Zeugin, um das ganze Gespräch wieder zum eigentlichen Punkt zu führen. Mir sind Geister die meiste Zeit über egal, denn sie richten selten Schaden an. Ich bin auch nicht vielen persönlich begegnet. „Ja. Ich gehe in den Wald, weil es dort normalerweise ruhig ist. Nicht wie in der Stadt. Sie ist laut und voll. Aber seit ein paar Wochen spüre ich etwas Bedrückendes, sobald ich auch nur einen Fuß in den Wald hinein setze. Ich habe deswegen andere Routen eingeschlagen, aber ich konnte anfänglich nichts entdecken. Erst vor ein paar Tagen, da stand einer plötzlich auf der Lichtung, wie ein… ein Geist eben.“ Shay zuckt mit den Schultern, während Pastor das passende lautmalerische Geräusch von sich gibt. Aktuell sieht er aus, als wäre ihm ein Geist erschienen. „Das dritte Opfer?“, erkundigt sich Pastor, nachdem er sich erstaunlich schnell fängt. Doch an seinen zuckenden Lidern kann ich erkennen, dass er auch weiterhin mit dieser dargelegten Wahrheit zaudert. Er muss es nicht verstehen, nur als Möglichkeit hinnehmen. Mehr verlange ich nicht. Shay auch nicht. „Nein. Das vierte Opfer.“ „Vier?“, hake ich überrascht nach. Shay nickt auf meine Nachfrage hin. Ich sehe zu Pastor, der, ebenso wie ich, seine Stirn kräuselt. Auch ihm ist sofort klar, was es bedeutet. „Bevor ihr mich einkassiert habt, hatte ich den Geist endlich so weit, mir zu zeigen, wo er liegt. Aber ich habe keine Ahnung, ob ich ihn wieder so weit kriege.“ „Vier?“, wiederholt Pastor und streckt seine Hand nach dem Block aus, der auf dem Tisch vor mir liegt. Sein Blick fällt auf die angeordneten Punkte, die ich während des Verhörs darauf hinterlassen habe und seine Hand zuckt zurück. „Ja, vier menschliche Geister. Vier Männer. Sie waren sehr unruhig.“ Ich lehne mich zurück und klappe bei dieser Gelegenheit den Notizblock zu. „Okay, stopp! Nehmt mich mit. Ich brauche noch etwas mehr Erklärung. Menschlicher Geist? Gibt es noch etwas anderes?“, schnaubt Luis ungläubig. „Ja, es gibt auch nichtmenschliche Geister“, erklärt Shay und schenkt uns erneut diesen Blick. Ich habe fast das Gefühl, ich müsste mich für Pastor entschuldigen. „Das sind Geister, die niemals als Mensch auf der Erde lebten.“ „Dämonen“, sage ich geradeheraus. Shay gibt einen unwilligen Laut von sich. „Klar.“, äußert Pastor. Sein Gesichtsausdruck ist unlesbar. „Sie sind die Ausnahme. Hört zu, die Geister Verstorbener sind meistens eher harmlos. Sie sind verwirrt und wissen oft nicht mehr, was passiert ist. Es dauert länger, bis sie begreifen, dass sie einfach loslassen müssen und hinübergehen müssen. Die, die es nicht schaffen, verblassen meistens irgendwann.“ „Das heißt, ihre Seelen verschwinden?“, frage ich. „Im besten Fall. Manche bleiben als Schatten zurück und haften sich an Objekte, mit denen sie zu Lebzeiten etwas verbanden oder…“ „Oder an Menschen?“, unterbreche ich sie. Meine Stimme hüpft leicht beim Sprechen und ging merklich nach oben. „Das kommt auch vor“, bestätigt Shay, nachdem sie mich intensiv mustert. „Okay, du sagst also, dass du im Wald den Geistern der Opfer begegnet bist?“ Ich bin mir nicht sicher, ob Pastor es wiederholt, weil er es nicht glaubt oder weil er versucht, es zu begreifen. „Ja, irgendwas hat mich dorthin gezogen. Ich weiß es nicht genau, aber etwas hält sie dort, wo ihre Körper verscharrt wurden.“ „Wie meinst du das? Etwas?“ „Ich kann es nicht erklären.“ „Kennst du den Namen des vierten Mannes? Kannst du ihn beschreiben?“, drängt sich Pastor dazwischen. „Nein, den Namen kenne ich nicht, aber ich kann ihn mit Sicherheit beschreiben.“ „Gut, dann brauchen wir einen Polizeizeichner und wir müssen das Boscop-Areal erneut absuchen lassen. Wir sollten…“, plätschert mein Kollege strategisch los. „Und mit welcher Begründung?“, werfe ich ein, ersticke den aufkommenden Enthusiasmus im Keim, „Ach übrigens, ein Geist hat uns geflüstert, dass da noch einer liegt. Lasst uns auf Verdacht weitere 100 Hektar Wald durchkämmen!“ Jeder andere würde meine Worte als Scherz abtun, würde lachen und nicht den traurigen Ernst erkennen. Pastor jedoch durchschaut es sogleich. Die wenigen Zentimeter, die er sich vor Elan vom Stuhl erhob, fällt er zurück. Die Frustration, die sich in seinem Gesicht widerspiegelt, verspürte auch ich einmal. Mittlerweile weiß ich es besser. Ein Klopfen zerreißt das Schweigen. Ein mir unbekannter Kollege steckt seinen Kopf durch die Tür. Sein Blick wandert von mir und meinem Sportkostüm zur Zeugin und zu Pastor. Ich bemerke das Zucken seiner Augenbraue, auch wenn er es gut verbirgt, ehe er sich an den Detective seines Reviers wendet. Pastor verlässt den Raum und ich bleibe mit Shay zurück. „Er weiß es nicht, oder?“, flüstert sie mir zu, beugt sich etwas nach vorn. Ich blicke auf, finde im hellen Blau ihrer Augen den Wunsch, es selbst vergessen zu können. All das hinter sich zu lassen. Die Zwischenwelt. Die Wesen. All das Unbegreifliche. In der gleichen Bewegung, in der sie sich vorbeugte, zieht sie den Block zu sich heran und bevor ich es verhindern kann, klappt sie ihn auf. Ihre Hand stoppt, ehe sie das Deckblatt vollständig umschlägt. Sie erstarrt. Als Nächstes sieht sie auf. „Bin ich das?“, fragt sie, während ihr Blick zurück auf das unfertige Portrait wandert. Es zeigt die Hälfte eines weiblichen Gesichts, welches Shays verdächtig ähnlich sieht. Doch sie ist es nicht. „Ja. Bin aus der Übung“, lüge ich. „Ist das eine gängige Verhörtechnik?“ Der Frage folgt ein amüsiertes Lachen, obwohl sie sich mit zittrigen Fingern eine Strähne zurückstreicht. Es sollte sie nervös machen. „Du solltest dir eine plausible Erklärung für deine Anwesenheit überlegen. Wir brauchen eine Aussage für die Akten.“, erkläre ich und staple die Akten ruhig vor mir auf. Ebenso den Block. „Ihr glaubt mir also wirklich und das ist keine…“ Sie macht mit den Händen eine nichts aussagende Geste und vollendet ihren Satz nicht. „Wir glauben dir“, beschwichtige ich ihr knapp, „Und wir werden herausbekommen, was dahintersteckt.“ „Ich glaube, dass irgendwas die Geister dort festhält.“, wiederholt sie, „Es ist nur ein Gefühl, als gäbe es einen Bann, irgendeinen Anker. Das habe ich noch nie erlebt. Die Geister waren sehr verzweifelt.“ Einen Anker. Was könnte es sein? Was übersehen wir? Ehe ich meine Gedanken fortsetzen kann, kommt Pastor zurück in den Raum. Er flüstert mir zu, dass er die Aufnahmekassette entfernt und eine neue eingelegt hat. Ein anderer Kollege wird ihre Aussage aufnehmen. Ich öffne ein weiteres Mal den Block, reiße ein Papier heraus und schreibe meinen Namen und meine Telefonnummer auf. Den Zettel schiebe ich Shay zu und wir verlassen den Verhörraum. Draußen drückt mir Pastor die kleine Kassette in die Hand und ich stecke sie in die Hosentasche. Zu unserem Glück ist die Digitalisierung nicht in allen Revieren gleichermaßen fortgeschritten. ‚Geister‘. Deswegen wollte Lamark, dass ich sie befrage und deshalb hat er sie während unseres kurzen Zusammentreffens ‚die Zeugin‘ genannt, nicht Verdächtige. Mein Blick wandert zu Pastor. Ich frage mich, was er über das Geisterthema denkt. Glaubt er ihr? Glaubt er mir? Ich sehe dabei zu, wie er geschäftig in seinem Schreibtisch kramt und dann erneut mit der rothaarigen Kollegin spricht. Ich schließe die Trainingsjacke und falte vorher das Papier mit dem Portrait, ehe ich es mir in die Tasche stecke. ‚Geister‘. „Lamark wusste es“, murmele ich vor mir her, reiße das Portrait aus dem Block heraus und schiebe ihn an seinen ursprünglichen Platz zurück. „Lamark wusste was?“, fragt Pastor, der plötzlich neben mir steht. „Unwichtig. Kannst du mich im Siebzehnten absetzen? Ich denke, wir müssen etwas überprüfen.“ „Wir?“, fragt er und ich schaue verblüfft auf. „Ich und die Geister, natürlich“, erwidere ich. Pastor verdreht die Augen. „Wusstest du, dass laut der offiziellen Statistik die meisten Mordopfer Männer sind? 80 Prozent weltweit.“ „Belehrst du mich gerade?“ „Ich wollte es nur erwähnen.“ „Oh, dann erwähne ich jetzt, dass die Wahrscheinlichkeit signifikant wächst, dass du zu deinem Revier läufst.“ „Wieso bist du so empfindlich?“, frage ich und reiche Pastor seine Jacke, die über der Lehne seines Stuhls hängt. „Wieso bist du so besserwisserisch?“, erwidert der Kollege und nimmt mir die Jacke ab. Unsere Diskussion benötigt den gesamten Weg zu seinem Wagen. Wir einigen uns zu Pastors Ungunst darauf, dass ich nicht laufe. Dank meiner Größe bin ich nämlich schwer wegzutragen. „Will ich wissen, woher du sie hast?“, fragt er nach einem langen Blick auf die Aktenkopien, „Der Fall liegt nicht mal in diesem Revier. Weißt du wieder etwas, was kein anderer weiß?“ „Möchtest du lieber über die Existenz von Geistern sprechen?“, frage ich mit unschuldiger Stimme und das Wasser testend. „Nicht wirklich“, gibt er rasch, aber mit zusammengebissenen Zähnen wieder und schnappt sich eine der Akten, die ich ihm hinhalte. Er murmelt irgendwas Unverständliches. „Kommst du wirklich damit klar?“, frage ich neugierig. „Wenn du aufhörst, zu fragen, bestimmt. Außerdem spielt es keine Rolle.“ Es ist wahrlich nicht einfach zu akzeptieren, was immer schon präsent, aber niemals real schien. Jeder hat schon mal über Geister gelesen, einen Film gesehen oder bei einem kühlen Windzug deutlich gesehen, wie sich ein Gegenstand wie aus Zauberhand bewegt. Doch zu wissen, dass sie wirklich da sind, ist eine ganz andere Nummer. Pastor scheint zu hadern, die Vernunft gegen die Beweise abzuwägen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich jemanden dabei beobachte und letztendlich daran zerbrechen sah. Es ist schwerer für diejenigen. Schwerer als für jene, wie Shay und mich, die damit aufgewachsen sind. Die Akzeptanz ist schneller. Ich drehe die Pinnwand um, offenbare meine begonnene Recherche zum Fall und zwei Karten. Einen umfänglichen Stadtplan und eine Katasterkarte, die das Boscop-Areal abbildet. Die Fundstellen der ersten beiden Opfer sind bereits mit einem X markiert. Wir nehmen uns jeder einer der Akten zur Hand. Ich blättere zuerst den gerichtsmedizinischen Bericht und suche nach den Verweisen auf die menschlichen Bissspuren und die Todeszeit. Das Opfer Nummer 2 ist laut Aussage des Gerichtsmediziners bereits neun bis elf Monate im Wald vergraben gewesen. Gegebenenfalls mehr als ein Jahr. Die Insektenfunde und der Grad der Zersetzung, in diesem Fall die vollständige Skelettierung, sind hinreichende Parameter. Ein konkreter Zeitraum lässt sich erst nach langwierigen Analysen im Zusammenhang mit den klimatischen und meteorologischen Faktoren festlegen. Es konnten keine hinreichenden DNA-Spuren gefunden werden. „Wie lange hat laut Bericht das Opfer Nummer 1 dort gelegen?“, frage ich, ohne aufzusehen und wandere mit dem Blick die nächste Seite ab. Ich höre Pastor durchblättern und schaue auf. „Beim gerichtsmedizinischen Bericht bin ich noch nicht. Hier…“ Als er an der richtigen Stelle ankommt, fährt sein Finger die Absätze ab, bis er zwei Mal gegen die gleiche Stelle tippt. „Die Überreste waren kaum zersetzt. Sehnen. Muskeln. Alles noch vorhanden. Das Grab war wohl nicht sonderlich tief. Einige Gliedmaßen fehlten. Wahrscheinlich durch Aasfresser abgetrennt. Der Gerichtsmediziner schätzte, dass der Todeszeitpunkt zwischen 1 bis 3 Monaten lag. Die Temperaturen waren in diesem Zeitraum wesentlich höher.“ „Opfer 3 war schon teilweise skelettiert, oder?“ Pastor nickt und greift zum Telefon, ehe wir den Gedanken fortsetzen können. Es dauert einen Moment, bevor sich sein Gesprächspartner meldet und Pastor seine Bitte formuliert. „Danke“, sagt er und legt auf, „Sechs bis 7 Monate. Die erste inoffizielle Schätzung.“ Ich notiere den Zeitrahmen auf die Tafel. Wir starren die Zahlen an. „Okay, also Opfer Nummer 3 ist länger tot als Opfer Nummer 1, aber Opfer Nummer 2 war scheinbar das erste Opfer?“ „Sieht so aus.“ Pastor seufzt und nimmt einen Stift zu Hand. Er notiert zunächst die Zahlen 1-3 auf eine Zeile mit dem Verweis F für Fundort, zieht darunter einen Strich und notiert danach die Zahlen Zwei, Drei und Eins mit einem O für Opferreihenfolge. F: 1 2 3 O: 2 3 1 „Wieso hat man nach dem Fund von Opfer Nummer 1 das Opfer Nummer 3 nicht gefunden?“, frage ich und sehe, wie Pastor kurz die Augen schließen muss, um dem Wirrwarr in seinem Kopf eine konkrete Ordnung zu geben. „Laut Aufzeichnungen lag der Fundort im Suchradius. Hier, Flurnummer 53. Er tippt mit dem Zeigefinger auf die entsprechenden Flure der aufgehängten Karte der Liegenschaftskataster. „Vermutlich waren keine äußerlichen Spuren mehr erkennbar, da das Opfer schon längere Zeit vergraben war.“ Ich hole eine Packung Pins aus der Schublade und schiebe sie ihm zu. „Wir haben hier den Fundort aller drei Opfer. Innerhalb eines Radius von 2000 Meter.“ Pastor setzt einen roten Pin in das Waldgebiet. Ich nenne ihm die Wohnadressen. Er wählt für diese jeweils einen blauen Stecker und wie erwartet, ergibt sich ein nichtssagendes Bild. „Was spricht nochmal für deine Theorie?“, fragt Pastor eindeutig stichelnd. Irgendwas regt sich in meinem Kopf, aber ich schaffe es nicht, es zu greifen. Ich habe mich zu sehr von den Zahlen ablenken lassen. „Es ist nicht meine Theorie. Mir fiel es nur auf.“ Das würde zudem darauf hindeuten, dass die Opfer gezielt ausgewählt wurden, nicht zufällig. „Außerdem warst du derjenige, der anmerkte, dass Serientäter selten in ihrem eigenen Wohnumfeld agieren. Die Vermutung hat demnach weiterhin eine Daseinsberechtigung. Drei Distrikte kommen in Frage.“ „Dem ist so. Und ist er das?“ „Was? „Ein Serientäter?“ „Laut Definition, mindestens drei oder mehr Tötungen.“ Stimmt es, was Shay sagt, dann sind es bereits vier. Wir starren beide schweigend auf die angepinnten Karten bis Pastors Handy zwei Mal aufpiept. Er zieht es hervor und seinem Gesichtsausdruck nach sind es keine guten Nachrichten. Das nachfolgende Seufzen unterstreicht meine Vermutung eindrucksvoll. „Izan will nicht mit mir sprechen“, sagt er, „Er antwortet nicht auf meine Nachrichten und die Sozialarbeiterin sagt, er macht dicht, sobald ich zur Sprache komme.“ Als er das sagt, zieht sich nur die Hälfte seines Mund nach oben, sodass ein schiefes Grinsen entsteht. Seine Augen fixieren einen unbekannten Punkt. „Gib ihm etwas Zeit.“ Es sind bisher nur drei, knapp vier Wochen vergangen, seit dem der Dibbuk bei Izan ausgetrieben wurde. Es war nicht einfach, das hat mir der Rabbi geschildert. Auch die Bücher, in denen ich nachträglich über Dibbuks und Besessenheit gelesen habe, schilderten es als alles veränderndes Ereignis. Es bleibt immer etwas zurück, sagen sie. Womöglich eine unterschwellige Präsenz, die ihn daran erinnert oder einfach das Wissen, wie es sich anfühlt, seinen Körper nicht für sich selbst zu haben. Ich kann nur erahnen, welch Trauma das in den Jungen ausgelöst hast. „Ich möchte verhindern, dass er sich vollständig verschließt. Irgendwie jedenfalls.“ Ich habe es Pastor bisher verschwiegen, aber auch ich habe ihn vor zwei Wochen im Geiger-Distrikt aufgesucht und ihm meine Karte dagelassen. Er öffnete mir die Tür und als er mich ansah, erblickte ich zunächst Leere, die sich nur langsam wieder füllt. Vielleicht hat der Dibbuk ebenso ein Stück von Izan mitgenommen. Da ich nicht antworte, fährt Pastor nicht fort, sondern greift nach seiner Tasse Kaffee. Es herrscht wieder Stille. „Warum dort? Wieso wählt er gerade das als Ablageort?“, fragt Pastor laut. Es dauert etwas, bis ich aus meiner Gedankenwolke herausfinde. Ich bin mir noch nicht sicher, ob es direkte Fragen an mich sind oder ob er einfach nur laut denkt. Er sieht mich jedenfalls nicht an, sondern starrt mit kräuselnder Stirn auf das Board vor uns. „Das Naheliegendste wäre Abgeschiedenheit, wenige Menschen. Kaum bis keinen Durchgangsverkehr“, erläutere ich, „Die anderen Möglichkeiten wären Gewohnheit, rituelle Aspekte, Zufall. Es kann vieles sein.“ `Rituelle Aspekte` echot einmal mehr durch meinen Kopf. Ich blättere in der Akte zu der Bestandsliste der am Fundort eingesammelten Stücke und fahre sie mit dem Finger ab. ‚Irgendwas hat sie dort festgehalten‘, das sagte Shay über die Geister. Vogelknochen; varia. An dem Punkt stoppt mein Finger. Ungewöhnlich, aber im Wald nicht unwahrscheinlich. Ich fahre die Liste weiter ab. Drei Zeilen darunter ist Baumwollstoff gelistet, der nicht der Kleidung des Opfers geordnet werden konnte. Das Grab war wahrscheinlich durch Wildschweine aufgewühlt gewesen und der Leichnam freigelegt, weshalb ein Hund Witterung aufgenommen hat. So fand man das erste, aber wohl letzte Opfer. Der Körper war nicht mehr vollständig und vieles in einem weiten Radius verteilt. Ich setze das Absuchen der Liste fort und finde an letzter Stelle noch den Verweis auf Pflanzensamen und Haare des Opfers, die abgeschnitten wurden. Sie lagen in der Nähe des Baumwollstoffes. Die Samen stellten sich als Aconitum napellus L. heraus. Eisenhut. Überaus giftig. „Alles zu wage“, murmelt Pastor unzufrieden und mir wird jetzt erst wieder klar, dass ich nicht allein bin. „Gib mir mal die Akte der ersten Fundstelle.“ „Opfer Nummer 2?“. Ich nicke bestätigend. Auch hier suche ich nach der Liste der gefundenen Gegenstände und Materialien. Knochen eines Nagetiers. Baumwollstoff. Haare. Samen der Atropa belladonna L.. Tollkirsche. Die Pflanze selbst ist ebenfalls giftig. „Die Anordnung der Gräber spricht nicht für einen Zufall“, spricht Pastor seine Gedanken weiter laut aus und ich sehe auf, „Sie wirken wie angeordnet. Er muss irgendwas damit verbinden. Er nimmt weite Wege auf sich, um die Opfer dort abzulegen. Das tut er doch nicht grundlos?“ Vermutlich hat er damit recht, doch bei dem jetzigen Wissensstand sind es alles nur Vermutungen und Annahmen. „Apropos weiter Weg. Ich brauche eine Dusche“, gebe ich kund und laufe auf der gegenüberliegenden Seite um den Schreibtisch herum. Ich streife mir die geborgte Jacke von den Schultern und schnüffele an dem darunterliegenden T-Shirt. Ich rieche wie nasser Hund im Sommer. Ich lasse Pastor mit den Akten in meinem Büro zurück und verschwinde für eine Viertelstunde in die Gemeinschaftsdusche. Ehe ich unter die Dusche steige, schreibe ich einem meiner Quellen eine Nachricht. Ich kenne einen Hexenmeister, den ich bei solchen Themen zu Rate ziehen kann. -Nagetierknochen. Baumwollstoff. Menschliche Haare. Getrocknete Pflanzensamen. Hinweis auf Hexenbeutel?- Als ich ins Büro zurückkehre, hat sich Pastor keinen Millimeter bewegt. Er lehnt an der gleichen Stelle am Schreibtisch wie zuvor und durchblättert eine der Akten. In der anderen Hand hält er sein Handy. „Und?“, frage ich und setze mich zu Pastor auf die Schreibtischkante. Er hat eine Satellitenkarten-App geöffnet und an die Fundstelle herangezoomt. „Nichts, was ein hinreichendes Muster offenbart.“ Pastor reicht mir sein Telefon. „Abgesehen davon, dass die Fundstellen quasi um eine Lichtung angeordnet sind.“ Ich blicke zwischen Katasterkarte und dem Satellitenbild hin und her. Pastor hat recht. Sie verteilen sich relativ gleichmäßig um eine deutliche Lichtung. Aber sie folgen keinem direkten Kreis, sondern mehr einem Dreieck. Das menschliche Gehirn beginnt automatisch Muster zu suchen, auch wenn da gar keine sind. Ich schaue zurück auf die Stadtkarte und suchen die Wohnungs-Pins der Opfer. Irgendwas zieht mich zu dem Pin, der Willem Panneks Wohnung darstellt. Es fühlt sich an, als würde Pannek nicht ins Schema passen, auch wenn mir nicht klar ist, was das Schema eigentlich ist. Ein langatmiges Schnauben durchbricht unseren Gedankenmoment und wir drehen uns synchron zur Tür. Detective James Marks steht in der Tür und für einen kurzen Moment trägt mich die unangenehme Annahme, dass sich auch sein Partner hier runter verirrt haben könnte. „Damast?“ Marks presst die flache Hand gegen seinen deutlichen Bauch und es wirkt, als käme er nicht so schnell wieder zu Atem. Ehe ich mich nach seinem Wohlbefinden erkundigen kann, winkt er ab. „Was kann ich für dich tun?“ Mit dem alternden Detective komme ich gut klar. Er war in seinen jungen Jahren einer der herausragendsten Polizisten des Reviers. Doch mittlerweile ist der Lack ab, wie man gerne sagt. Ich mag den alten Kerl. Er ist erstaunlich witzig und seine Gesellschaft ist ungezwungen. Eigenschaften, die man bei nur wenigen Polizeikollegen findet. Mit seinem Partner ist es schon anderes. Colton Barres und ich trafen im letzten Jahr der Akademie aufeinander und nicht nur damals hat es geknallt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wir haben beim Sprengstofftraining die Übungshütte zerlegt. Unbeabsichtigt und aufgrund einer Auseinandersetzung. Er hat mir die Schuld gegeben und unsere Ausbilder haben es ihm geglaubt. Trotzdem ist er es, der einen tiefen Groll gegen mich hegt und ein internes Fass aufmachte, als sich abzeichnete, dass wir im selben Revier landen. Ich begegne ihm mit Ignoranz und er mir mit Hohn und Spott. Es funktioniert, wenn auch dürftig. „Pastor, nicht wahr?“, grüßt Marks nun auch den revierfremden Kollegen und muss erneut tief Luft holen. Mit jedem Atemzug werden es mehr Worte, die er mit einmal schafft. „Ich suche die Akte Duffort, Patrick Duffort. Hast du sie gesehen?“ Die Frage ist deutlich herausgepresst. Ich habe die Akte gesehen. Zuletzt auf Captain Lamarks Schreibtisch. Mein Handy meldet sich mit einer eingehenden Nachricht. „Duffort? Noch nie gehört“, verkündige ich, ohne zu schwanken oder auch nur den Ansatz einer Lüge erkennen zu lassen. Die Akte ist geschlossen, denn der arme Mann fiel dem Golem zum Opfer. Von dem ich Marks nichts erzählen kann. „Noch was?“ Der alte Detective sieht mich einen Moment lang unschlüssig an und kurz flackert sein Blick zu der angepinnten Karte. Ich habe das Gefühl, dass er weiß, um welchen Fall es geht. Doch als nächstes seufzt er schwermütig, stemmt sich die Hände in die Seite und schüttelt den Kopf. „Spurlos verschwunden. Sehr eigenartig.“ Murmelnd und wundernd kehrt er zurück zum Fahrstuhl. Gleichzeitig liegt auch Pastors Blick auf mir und dieser singt eine ganz andere Melodie. „Spars dir. Ich bin nicht an jeder verschwundenen Akte schuld“, kommentiere ich präventiv und die Wahrheit erneut biegend. Sein Blick flackert deutlich auf und ab, mit einer richtenden Note des Argwohns. „Das wird sich noch zeigen“, sagt er geradeheraus und funkelt mich verschwörerisch an. „Ich muss zurück ins Revier. Kann ich mir Kopien machen?“ „Tu, was du nicht lassen kannst“, seufze ich, umrunde den Schreibtisch und lasse mich in den alten Schreibtischstuhl fallen, der jedes Mal etwas mehr quietscht, wenn ich es tue. Ich widme mich dem Hochfahren meines PCs und beobachte nur aus dem Augenwinkel heraus, wie Pastor ein paar Bilder von der Pinnwand schießt und das Büro verlässt. Ich hole mein Telefon aus der Hosentasche und lese die erhaltene Nachricht. -Welche Pflanzen?“- -Atropa belladonna und Aconitum napellus -, tippe ich. Während ich auf eine weitere Nachricht warte, suche ich die Pflanze im Internet. Sie ist als Gift bekannt und als Bestandteil von Medizin in der Ophthalmologie. -Atropa belladonna wird auch Teufelsauge genannt. Hochpotent im Hexenbeutel. Ist nicht gut.- Das dachte ich mir längst. Schnell kommt eine weitere Nachricht rein. - Aconitum napellus ist auch hochgiftig. Sehr beliebt bei Mixturen. Eher ungewöhnlich im Hexenbeutel-, lese ich, während mir die drei Punkte anzeigen, dass meine Quelle weiter tippt. Meine Geduld hängt am seidenen Faden, also drücke ich den grünen Hörer und atme erst aus, als Aran wirklich rangeht. Die Wahrscheinlichkeit, dass er mich wegdrückt, war höher als alles andere. „Ernsthaft Damast, du lässt mich nicht mal zu Ende tippen…schäm dich.“, brummt er durchs Telefon. „Ich wollte dir den Aufwand ersparen, du tippst wie ein Opa.“ „Ich bin fast 200 Jahre alt, du kannst mich mal. Ich leg wieder auf…“ „Nein, bitte. Es tut mir leid.“, schreite ich hektisch ein. Ich brauche Antworten., „Du bist jung und frisch wie der Frühling.“ „Ich hasse dich.“ „Ich weiß, und ohne dich bin ich nur ein unwissender Wurm.“, entgegne ich dem Antiquar und Hexenmeister dreizehnter Generation ehrfürchtig. Ich versuche es zu mindestens. „Absolut wahr, du Wirbelloser“ Ich bin später beleidigt. „Deine Ingredienzien weisen auf Hexenbeutel hin, das willst du doch wissen, oder?“ „Ja und erfüllen sie einen bestimmten Zweck?“ „Kommt auf das Ritual an. Beide Pflanzen sind hochgiftig. Sie wirken sich auf das Herz-Kreislauf-System aus und schwächen. Die Anleitung für sowas findest du im Internet.“ Erbauend. „Wirken sie sich auf Geister aus?“ „Geister? Gut möglich, wenn in dem Beutel irgendwas Personifiziertes enthalten ist, können sie durchaus bindend wirken.“ Die Haare. Dann sind es die Hexenbeutel, die die Geister dort festhalten. Aber warum? „Wars das?“ „Weißt du, ob hier irgendwelche historischen Hexenhotspots existieren?“ Ich kann hören, wie sich bei dem Wort Hotspots seine Augen verdrehen. „Muss ich recherchieren“, entgegnet er knapp. „Du hast was gut bei mir.“ „Ja. Ja.“ Damit legt er auf und ich lehne mich zurück. Auf dem Weg nach Hause mache ich an der Tankstelle halt, besorge mir dort eine aktuelle Umgebungskarte mit den Fahrrad- und Wanderwegen und eine Dose Chili con Carne, die ich in der Mikrowelle erwärmen kann. Noch in Straßenschuhen öffne ich die Dose, kippe den Inhalt in eine Schüssel und stelle alles in die Erwärmungsmaschinerie. Es klopft an der Tür, während ich mir die Jacke abstreife und mir einhändig das Shirt über den Kopf zerren will. Die Jacke lasse ich auf den einzigen Stuhl, der in meiner Küche steht und kehre zur Tür zurück, erwarte fast Luis Pastor davor zu sehen. Der euphorische Detective wird noch mal mein Verderben. Seine lästigen Fragen gehen mir auf die Nerven. Mit einem stillen Seufzer lasse ich das Shirt wieder fallen. Aus Ermangelung eines Türspions öffne ich die Tür direkt und werde überrascht. Es ist nicht Pastor. „Hi, ich bin Gwen. Ich bin vor einer Weile hierhergekommen…ähm…Nein, hergezogen genauer gesagt“, berichtigt sich die junge Frau selbst, streicht sich dabei eine Strähne ihres leicht gewellten, braunen Haares zurück. Mein Blick fällt automatisch auf ihre freigelegten Ohren, deren Ohrläppchen mit daumendicken Tunneln durchstochen sind. In ihren Haaren hängen ein paar Spinnenweben. Sie trägt eine verschmutzte schwarze Latzhose und darunter nur ein rotes Crop-Top, welches ihre äußerst schmale Taille präsentiert. „Hi. Wie kann ich helfen?“, entgegne ich, schiebe mein eignes hochgerutschtes Shirt nach unten, welches ich gerade noch ausziehen wollte. Es ist selten, dass sich jemand zu meiner Tür verirrt, denn ich habe keine direkten Nachbarn. Meine Wohnung befindet sich in der abgelegenen obersten Etage, die ursprünglich als Hauptbüro und Übersichtsplattform der ehemaligen Brauerei genutzt wurde. Sie beugt sich nach vorn und stützt sich mit der Hand am Türrahmen ab. „Ich wollte fragen, ob du mir einen Hammer leihen kannst.“ Einen Hammer? Interessant. Sie lehnt sich zurück und lässt ihren Fingern nun über das Holz des Rahmens streichen. „Ich habe ein paar Reparaturen zu machen und bin leider nicht gut ausgerüstet.“ Es ist mittlerweile später Abend und sie sollte nicht mehr hämmern um diese Uhrzeit. „Ähm, ich bin mir nicht sicher, ob ich einen besitze“, gestehe ich ein, stelle mich weiter in die Tür und lehne mich zur Seite. „Wieso hast du keinen Nachbarn oder den Hausmeister gefragt?“ „Du bist doch auch ein Nachbar, ein guter bestimmt, oder etwa nicht?“, flirtet sie unverhohlen mit einem Tonfall, der selbst aromantische Steine zum Schwingen brächte. Ich bin nicht gerade der Werkzeugtyp, aber irgendwas lässt mich denken, dass ich es gern wäre. Mein Schädel fühlt sich seltsam schwammig an, sodass ich kurz den Kopf schütteln muss. Es ist das Ping der Microwelle, das mich vollends ins Hier und Jetzt zurückholt. Ich beuge mich kurz zurück, linse zur Küche und halte mich am Holzrahmen fest. „Und?“, fragt sie und streicht sich erneut eine Strähne zurück. „Und ich denke, ich kann Ihnen heute Abend nicht mehr helfen. Zudem sind laut Hausverordnung lärmverursachende Arbeiten ab 20 Uhr zu vermeiden.“ „Verstanden. Zu schade“, sagt sie und klingt kein bisschen enttäuscht, eher amüsiert. „Gute Nacht.“ Ich sehe ihr nach und schließe mit einem seltsamen Gefühl in den Händen die Tür. Sie fühlen sich taub an, als ich mit den Daumen über die kribbelnden Fingerbeeren fahre. Ich brauche Schlaf. Sofort. ~Fortsetzung folgt~ Kapitel 11: Der beste Freund im Geiste - 3 ------------------------------------------ Folge 3 ~Teil 3 - Der beste Freund im Geiste ~ Der Morgen kommt wie immer schneller, als mir lieb ist und obwohl ich erst am späten Nachmittag offiziell den Dienst antreten muss, treibt mich die Unruhe in die Senkrechte. Die Nacht war bescheiden. Meine Träume schwankten zwischen harmlosen Blödsinn und brutalen Märchenadaptionen hin und her. Es gibt in erstaunlich vielen Märchen große böse Vierbeiner. Es endete mit dem allzu realen Gefühl des Atems des schwarzen Tiers in meinem Nacken, dem Schmerz zur Ache zu werden, zu zerfallen und ich schreckte auf. Dieser verdammte Köter. Augen so schwarz und leer, wenn sie ihre Beute beobachten, dass man einzig sich selbst darin sieht, wenn er einen erfasst. Nur sich selbst, mit all den Fehlern und mit jedem Frevel, den man in seinem Leben je begangen hat. Wurden sie rot, als er einen Entschluss fasste? Rot wie der Faden des Schicksals? Weisen sie auf das Ende? Er ist mit Sicherheit nicht ohne Grund dort. Ehe ich mich anziehe, mache ich einen Abstecher zum Schreibtisch, starte den Laptop und tippe ‚schwarzer Hund‘ in den Suchverlauf ein, bevor ich mit Zahnbürste im Mund wiederkomme. Neben etlichen Links zu Hunderassen und Unmengen an Adoptionsportalen gibt es Seiten, die mir das liefern, was ich vermute. In den Mythologien und der Traumdeutung stehen der schwarze Hund für Unheil und bösen Vorahnungen. Nichts anderes schreit mein Gefühl und ich werde damit bestätigt. Allein die Präsenz des Wesens war bedrohlich und schwer gewesen. Ich klicke weiter und lande auf einer Seite, die verweise zu mythologischen Themen zeigt. Der schwarze Hund ist ein erstaunlich hefig auftretendes Bild, auf allen Kontinenten und in vielen Ländern. Er wird auch Dämonen- oder Geisterhund genannt. Eine Seite zieht eine Parallele zu Werwölfen. Ich spüre das unangenehme Ziehen in den Knochen anschwellen und schüttele die Gedanken fort. Trotzdem. Das Unbehagen ging tiefer als das furchterfüllte Urempfinden gegenüber wilden Tieren. Normalerweise tauchen solche Kreaturen nicht aus dem Nichts auf. Böse Omen finden sich häufig in den Verweisen auf katastrophale Ereignisse und Unglücke der Geschichte. Ich bin mir daher nicht sicher, warum er sich gerade mir gezeigt hat und ob er mit den Boscop-Morden zu tun hat. Ferner noch, stehen die Tollkirsche und der Eisenhut wirklich damit im Zusammenhang? Wenn es wirklich Hexenbeutel sind, dann könnten diese der Grund sein, der die Geister an Ort und Stelle hält. Doch warum sollte man sie an ihre irdischen Körper binden wollen? Was ist die Bedeutung? Kündigt der schwarze Hund lediglich wie vermutet weitere Opfer an? Gehört es zu einem Ritual? Ich brauche mehr Informationen. Mit diesem bestimmten Gedanken im Kopf sondiere ich die offensichtlichen Oberflächen des Wohnzimmers nach meinem Handy, kann es aber nicht finden. Erst unter einem Berg schmutziger Wäsche mache ich es aus und ziehe einen weißen Fussel aus der Lautsprecheröffnung. Als nächstes verschwinde ich ins Bad, putze mir die Zähne und suche mir eine löchrige Arbeitshose, streife mir Socken und ein langarmiges, schwarzes Shirt über, während ich darauf warte, dass mein Kontakt ans Telefon geht. Ohne Erfolg. Auch ein zweiter Versuch schlägt fehl. Ich tippe die Anfrage stattdessen als Nachricht zusammen und versichere, dass ich die Bücher zum Dibbuk bei nächster Gelegenheit zurück in ihre Hände gebe. Eines der historischen Werke liegt aufgeschlagen auf der weniger benutzten Seite meines Bettes. Ich kann die Schimpftirade der Bibliothekarin quasi vor mir her sprechen, während ich über das Bett robbe und nach dem Wälzer angle. Ich inspiziere es kurz. Keine Knicke und keine Eselsohren. Ich tätschele den groben Einband, als wäre das Buch ein Haus und bringe es zur Sicherheit in die Küche, wo ich es auf dem Kühlschrank ablege. Mein Kühlschrank singt Leere und mein Magen duettiert prompt im Gleichklang. Ich sollte mir dringend einen gemäßigten Lebensrhythmus anschaffen und Regelmäßigkeiten etablieren, wie einzukaufen oder einfach meines Alters entsprechend agieren. Eigentlich sage ich mir das jede Woche. Mein Körper würde es mir danken, aber es ist nicht gerade einfach für mich. Nichts von dem, was ich tue, ist dafür eine gute Voraussetzung. Polizeiarbeit ist selten ein Achtstundendienst mit regulären Endzeiten. Überstunden und Nachtschichten sind die Regel, vor allem bei meinem Spezialfeld. Ausgehungert schließe ich die Kühlschranktür, greife mir die Schlüssel, eine Jacke und mache mich auf den Weg zu dem Ort, an dem man laut gemeinen Volksglaubens frische Lebensmittel erhält. Zur Sicherheit stecke ich mir auch meinen Dienstausweis in die Tasche. Man kann nie wissen. Das Licht im Treppenhaus ist defekt und in einem Flur wurden alle Glühbirnen aus den Lampen entfernt. Sie liegen feinsäuberlich am Boden unter den Leuchten. Ich mache einen Abstecher zum Hauswart, der in einer der unteren Wohnungen lebt und hinterlasse ihm eine Nachricht, die ich zwischen Tür und Rahmen klemme, nachdem er auf wiederholtes Klopfen nicht reagiert. Es ist kälter als gestern und der zügige Wind lässt mich den Reißverschluss der Jacke vollständig schließen, ehe ich meinen Weg fortsetze. Trotz des fortgeschrittenen Vormittags ist es eigenartig dämmerig, als wäre der Tag noch nicht aus dem Bett gekommen und würde mit der Decke über dem Kopf vor sich hindösen. Für die Schatten ist es perfekt. Die graue Jahreszeit machte es mir schon immer schwerer, alles klarer zu sehen. Es gibt mehr Nischen zum Verstecken, mehr Raum, um zu verschwimmen und im weichen Dämmern zu verbleiben. Es ist wie schwelende Stille und verharrendes Abwarten. Ruhe vor dem Sturm, dabei sind wir bereits mittendrin. Der Gedanke lässt mich unwillkürlich innehalten und ich bleibe direkt vor einem neuen Geisterfahrrad mit blütenreiner, weißer Lackierung stehen. Es lehnt am Baumschutz eines frisch gepflanzten Straßenbaumes. Er selbst ist kahl und vermittelt den Ausdruck purer Trostlosigkeit und Trauer. Blumen umringen das Damenrad wie eine blütengehäkelte Decke. Sie sind frisch. Sie müssen in den letzten Tagen angebracht worden sein. Diese Fahrräder dienen der Mahnung und Obacht. Sie werden zur Erinnerung an die Opfer von Verkehrsunfällen aufgestellt. An der Mahnstelle angekommen verlangsame ich meinen Schritt und bleibe letztendlich vollkommen stehen. Die Temperatur ist mit nur einem Schritt um mehrere Grade kälter geworden, so, als wäre ich in einen plötzlichen Übergang geraten, in die Zwischenwelt. Der Unterschied ist so prägnant, dass ich sofort merke, wie sich die Haut an meinem Hals hervorperlt, wie es um meinen Brustkorb herum kribbelt. Suchend richte ich meinen Blick gen Himmel und mir fallen ein paar helle Flocken entgegen. Doch als ich danach greife, fasse ich ins Leere. Es ist kein Schnee. Es ist Staub und doch sehe ich meinen Atem kondensieren. Ein weiteres Omen? Ich zerreibe den grauen Staub zwischen den Fingern. Irgendwas geschieht hier. Ich schaue mich um. In geringer Entfernung auf der anderen Straßenseite steht ein weiteres Geisterfahrrad. Ich komme öfter daran vorbei und jedes Mal erfasst mich ein kalter Hauch. Weniger intensiv als der heutige, aber spürbar. Wie ein Echo des Todes, welches sie umgibt. Doch diesmal ist es nicht nur das. Um das Fahrrad herum verweilen Schatten. Sie simmern im fahlen Licht des wolkenverhangenen Himmels. Flattern und fliehen, wie unruhige Gedanken. Ich sehe zurück zu dem neusten Rad, doch nichts ist zu erkennen. Die Schatten verweilen an Ort und Stelle direkt neben den weißen Rädern, während die Passanten an ihnen vorbeieilen und keines der Gesichter der entgegenkommenden Personen wahrnehmen. Wir bewegen uns in einer Welt, in der niemand mehr genau hinsieht, in der kaum jemand das Flackern im Dunst ausmacht oder die geringste Veränderung im Schatten vernimmt. Und am wenigsten stellen wir Dinge in Frage. Im Grunde sind wir alle blind. Erst, als ein junger Mann im Kapuzenpulli und darunter befindlichen Käppi die Stelle passiert, bemerke ich, wie sich einer der Schatten löst und ihm folgt. Der Junge strauchelt inmitten des Schritts. Der erhobene Fuß schwebt unbewegt über dem Asphalt und es scheint in Zeitlupe zu geschehen. Im Sekundenbruchteil. Seine Augen wandern umher, als fürchtete er das Wispern im Wind und die Stimmen im Dunkel. Gleich darauf starrt er zu dem kleinen Kiosk, nur drei Ladenfronten weiter. Bei mir beginnen sämtliche Alarmglocken zu schrillen. Ich mache mit fokussiertem Blick einen Schritt nach vorn. Es hupt wild im selben Augenblick, Reifen quietschen und ich weiche abrupt zurück. Dabei verliere ich den jungen Mann kurz aus den Augen und sehe nur, wie ein schwarzer Wagen direkt vor meinen Füßen an mir vorbeifährt. „Shit!“, fluche ich mit hämmernder Brust. Als ich den Jungen wieder finde, sieht er mich erschrocken an. Scheinbar reichte das laute Geräusch der Hupe aus, um den Schattenbann bei ihm zu lösen. Zum Glück. Doch es wird nicht das letzte Mal sein. Die Schatten wissen, wen sie wählen müssen, wen sie beeinflussen können und wer empfänglich ist. Doch es ist selten, dass ich direkter Zeuge werde. Erst, als Mister Hoodie stolpernd weitergeht und keinen Abstecher in den Laden macht, schaue ich zurück zu dem Geisterfahrrad. Die Schatten sind fort und auch der eisige Hauch auf meiner Haut ist verschwunden. Neben mir kommt ein Auto zum Stehen. Ich erkenne den Wagen sofort als den meines neugierigen Kollegen, ohne ein zweites Mal hinzusehen. Pastor winkt mir vom Fahrersitz aus zu, als wäre ich eine nachschwärmerische Bordsteinschwalbe. Es fehlt nur das heruntergekurbelte Fenster und ein Schnauzer in seinem jugendlichen Gesicht. Wie hat er mich hier gefunden? Mit einem abfälligen Schnaufen, welches Pastor nicht hört, öffne ich die Beifahrertür und steige ein. „Wolltest du dich überfahren lassen?“, fragt mein Kollege ohne vorangestellte Begrüßungsformel und sein Blick huscht über das weißbemalte Fahrrad hinter uns. „Dir auch einen guten Morgen“, watsche ich zurück, „Hast du mich verwanzt?“ Pastor grinst verlegen, beantwortet die Frage aber nicht. Er hält mir stattdessen einen Einwegpappbecher mit weißem Deckel vor die Nase, den er aus der mittleren Halterung zerrt. „Schon im Dienst?“ „Eigentlich…“, setze ich an, komme aber nicht weit, denn mein Kollege plaudert gleich weiter. „Gut. Das dritte Opfer ist tatsächlich Willem Pannek. Anhand der Zahndaten konnte eine Übereinstimmung festgestellt werden“, offenbart er euphorisch, während ich mich einhändig versuche anzuschnallen und mir überlege, wie ich den Kaffee unauffällig loswerde. „Begleite mich zur Wohnungsdurchsuchung.“ „Wieso sollte ich? Es ist nicht mein Fall.“ Nicht mal Pastors. Nicht offiziell zu mindestens. Es ist damit mehr ein Hinweis zur Güte, der mit wedelnden Händen boykottiert wird. Das zu den klaren Zuständigkeiten. „Kollegialität. So oder so haben die Kollegen genug um die Ohren. Wir tun ihnen damit einen Gefallen“, kommentiert Pastor heiter, wirft einen Blick in den Rückspiegel und löst die Handbremse. Seine gute Laune ist befremdlich. Ich lasse es mir nicht nehmen, den anderen Polizisten kritisch zu mustern. Pastor ist ein typischer Paragraphenreiter der Dienstvorschriften. Warum ist es ihm hier egal? Misstrauisch nehme ich den Deckel vom Pappbecher und linse hinein. „Das ist nur heißes Wasser“, merke ich an und sehe den anderen Polizisten irritiert an. „Oh, ja! Vergessen…hier…“, sagt er, greift in seine Jackentasche und hält mir eine Auswahl zerknüllter Teebeutel vor die Nase. „Ich wusste nicht, was du morgens lieber trinkst.“ Ich nehme ihm das Knäuel ab und Pastor reiht sich in den Verkehr ein. Die Schnüre der Teebeutel haben sich verknoten und bevor ich verzweifele, lasse ich einfach zwei Sorten ins lauwarme Wasser fallen und setze den Deckel wieder drauf. Erst danach bemerke ich Pastors kritischen Blick, der zwischen mir und der Straße hin und her wechselt. Noch immer haftet etwas weißer Staub an meinen Fingerspitzen. Ich streiche sie davon. „Was? Ich habe eigentlich keine Teepräferenz“, erkläre ich und ernte eine skeptisch hochgezogene Augenbraue. Die einzige Sorte, die ich nicht mag, ist Rooibusch-Tee. „Sicher. Sag mal, hast du schon mal etwas von der Verwaltungsvorschrift zur Dienstbekleidung…“ „Verschone mich. Ich kenne die Vorschriften“, unterbreche ich ihn prompt, „Schlipse gehen mir auf die Nerven.“ Und Menschen, die sie tragen, auch. Das sage ich nicht, lasse ihn das aber durch meinen Blick wissen. „Dir ist klar, dass es Gründe gibt, wieso auch wir im ermittelnden Feld konservative Businesskleidung tragen sollen?“, belehrt mich der Möchtegernpinguin neben mir, der einen aschgrauen Anzug und ein hellblaues Hemd trägt. Ich verdrehe die Augen. Pastors gestärkte Hemden verursachen mir schon beim Hinschauen Juckreiz. „Ich bin undercover…“ Und eigentlich nicht im Dienst. Wieder lässt er mich nicht ausreden. „Als was? Als Straßenraudi? Deine Hose ist ungewaschen und hat Löcher.“ Wenn er könnte, würde er vermutlich auf den Gras-Ketchupfleck am linken Oberschenkel deuten. Ja, ich weiß, dass er da ist und er ist mir egal. Pastors unmissverständlicher Blick wandert dennoch richtend über mein heutiges Outfit und zurück auf die Straße. Ich schaue entrüstet an mir hinab und zurück zu meinem Kollegen. „Vortreffliche Beobachtungsgabe, Detective. Du hättest zur Pradapolizei wechseln sollen, nicht zur Mordkommission“, spotte ich und klinge abfälliger als beabsichtigt, das zeigt sich auch in Pastors Gesicht. „Hey, ich habe Freunde in der Zollfahndung und die leisten herausragende Arbeit.“ „Weiß ich selbst. Schau auf die Straße!“, mucke ich zurück und ziehe dennoch bei einem Bein den unteren Teil der Hose höher, so dass das Loch am Knie kaschiert wird und der Fleck in einer Falte verschwindet. „Kauf mir das nächste Mal Frühstück, wenn du mich schon auf offener Straße kidnappst.“ „Du bist freiwillig eingestiegen.“ „Du hast eine Waffe!“ „Ich bin Polizist… Du auch…okay, lassen wir das.“ Nun grinse ich und sehe mit Genugtuung dabei zu, wie Pastor mit den Zähnen knirscht. Wenn er mich nervt, nerve ich zurück. Da bin ich rigoros. Ich nehme einen Schluck des aromatisierten Wassers und wünschte, ich hätte es nicht getan. Schwarzer Tee mit Pfefferminz ist eine schlechte Idee. Trotz der Ablenkung durch meinen grummelnden Magen bemerke ich, dass Pastor auf der Stadtautobahn nicht die richtige Ausfahrt nimmt. „Um in den Lennè-Distrikt zu kommen, hätten wir abfahren müssen“, merke ich an. „Ich weiß. Wir fahren vorher noch woanders hin.“ Jetzt fühle ich mich doch entführt. Als hätte ich es nicht geahnt. Die vielen parkenden Autos und die aufgestellte Staffelei mit dem Bildnis eines freundlich lächelnden Mannes und einem weißen Blumenkranz am Eingang des Einfamilienhauses sind ein klarer Hinweis darauf, dass wir in eine Gedenkfeier platzen. Mein Kollege trägt einen gemischten Gesichtsausdruck vor sich her, als er die Wagentür schließt, sich die Krawatte zurechtrückt und mit wachsamem Blick unser Ziel beäugt. „Bevor du etwas sagst, ich habe gestern mit der Schwester telefoniert und sie hat mich ausdrücklich darum gebeten, herzukommen“, erklärt Pastor, während er seinen Blick über die wettergegerbte Fassade schweifen lässt. An der zum Nachbarhaus zugewandten Seite ist erkennbar, dass das Haus in besseren Zeiten einen Vanilleton trug und die Holzvertäfelung weiß gewesen ist. Es muss wie ein Puppenhaus gewirkt haben. Nun ist es eher gräulich und trüb. „Was genau willst du hier in Erfahrung bringen?“, frage ich, ohne ungeduldig zu klingen und betrachte einen zerfaserten Buchsbaum, der einst eine Kugel war und jetzt einem lodernden Feuer gleicht. Formschnitt. Ich dachte immer, sowas existiert nur in Vorstädten und Klöstern. „Es gibt etliche zeitliche Diskrepanzen…“ Mehr sagt er nicht und es reicht mir. Ehrlich gesagt interessiert mich auch, wie es sein kann, das Pannek erst seit drei Monaten vermisst gemeldet, aber wesentlich länger tot gewesen ist. Wieso fiel sein Fehlen nicht früher auf? „Ich gehe Panneks Schwester suchen“, erklärt er. Ich folge Pastor mit einem Abstand von wenigen Schritten und halte mich im Hintergrund. Mein Kollege verschwindet direkt ins Wohnzimmer. Ich biege in die Küche ab und sehe dabei zu, wie einige der Gäste, zwei ältere Damen, verschiedene mitgebrachte Speisen auf den Anrichten arrangieren. Kuchen. Aufläufe. Häppchen. Sie flüstern unter vorgehaltener Hand und schütteln ungläubig ihre Köpfe. „Ich wusste, dass er tot sein muss“, höre ich sie sagen. „Es ist schrecklich.“. „Aber ich habe gehört, dass es Streit gab.“. „Es ging ums Erbe.“. Sie sehen auf, als sie mich bemerken und ich grüße sie höflich. Beide mustern mich ungeniert, dann tuscheln sie unbeirrt weiter. Nur etwas leiser. Nach einem kurzen Blick über das Angebot, entscheide ich mich für den angemessenen Weg. Ich gieße mir etwas vom Tee ein. Es riecht nach einem klassischen Earl Grey. Er ist bitter und es hat sich bereits die schimmernde Schicht gebildet, die daraufhin deutet, dass der Tee mit stark kalkhaltigem Wasser gekocht wurde. Die Tannine, also die Gerbstoffe des Tees, verbinden sich mit den Magnesium- und Kalzium-Molekülen des Wassers und bilden diesen wasserlöslichen Film. Er ist unbedenklich, aber unschön. Ich suche mich nach Milch um, um den herben Geschmack zu reduzieren, kann aber keine finden. Also öffne ich einige Schränke und danach den Kühlschrank. In der Tür stehen Flaschen mit regulärer Kuhmilch und ein Karton mit Sojamilch. „Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?“, ertönt eine resolute Stimme hinter mir. Ich drehe mich behutsam mit der Flasche Milch in der Hand um und lächele der zur strengen Stimme passenden Erscheinung unschuldig entgegen. Die betagte Dame trägt ein schwarzes, maßgeschneidertes Kostüm und hält ein dazu passendes, dunkles Taschentuch in den aderreichen Händen. Es ist mit kleinen Stickereien und Spitze verziert und ich bin mir fast sicher, dass ich vor der Besitzerin des Hauses stehe. Willem Panneks Mutter. Die beiden älteren Damen, die zuvor noch munter tratschten, sind verstummt und beobachten uns aufmerksam, versteckt hinter ihren gefüllten Kuchentellern. „Der Earl Gray ist etwas intensiv“, bekenne ich und gieße einen großzügigen Schluck Milch in die abgestellte Tasse. Sie mustert mich kritisch, kräuselt ihre Stirn und sieht dann abrupt zu der Kanne, in der sich der Tee befindet. Mit festem Schritt geht sie darauf zu, öffnet den Verschluss und stiert hinein. Als nächstes kippt sie den gesamten Inhalt in den Ausguss. Neben der tiefbraunen Flüssigkeit fallen auch die Teebeutel ins Becken, die in der Kanne verblieben sind. Flugs greift sie meine Tasse und auch deren Inhalt landet in der Spüle. Mein Blick flackert zu den beiden anderen Frauen im Raum, die nun ihre Köpfe zusammenstecken. Sie flüstern erneut. Ich greife in meine Hosentasche, um meinen Ausweis herauszuholen, da ich damit rechne, dass sie mich jeden Moment aus dem Haus wirft. Doch zu meiner Überraschung setzt sie neuen Tee auf. „Ich habe es meiner Tochter schon hunderte Male erklärt. Ein guter schwarzer Tee bedarf nur dreier Dinge“, beginnt sie ruhig zu erklären. Ihre Stimme verliert dabei jedoch nichts der Härte. „Erstens; gefiltertes Wasser. Zweitens; das Wasser darf nicht mehr kochen.“ Sie setzt ihre Erklärung direkt um, greift zum gefüllten Wasserfilter und gießt den Inhalt in den Wasserkocher. Sie nimmt eine neue Tasse aus dem Schrank und eine Dose mit losem Tee. Eineinhalb Teelöffel gibt sie in ein Sieb hinein. Mittlerweile kocht das Wasser und kurz darauf steht es still. Es hat etwas Beruhigendes, ihr dabei zuzusehen. Ihre sanften, aber trotzdem bestimmte Bewegungen zeigen, dass sie diese Tätigkeit jahrelang ausgeführt hat. Wiederholung für Wiederholung. Für manche Menschen ist es Meditation. Ein Weg, zur Ruhe zu kommen. Es ist sorgfältig und fast liebevoll, wie sie die Tasse beim Einguss des Wassers rotieren lässt. Ich beobachte die feinen Schwaden des Wassersdampfes, empfange mit Wohlbefinden, wie sich ein fruchtig blumiger Duft ausbreitet. „Drittens; lassen Sie ihn niemals länger als drei Minuten ziehen.“ Ihre Erklärung endet und sie reicht mir die Tasse mit dem frischgebrühten Tee. „Dies ist ein Darjeeling.“ Ich nehme sie dankend entgegen und atme zunächst das herrliche Bukett ein. „Ein First Flush?“, erkundige ich mich. Dabei handelt es sich um den Erntezeitpunkt der Teeblätter, der bei diesem spezifischen Charakter zwischen Ende Februar bis Ende April liegt. Die alte Dame lächelt und die Falten um ihre Augen werden tiefer. Sie muss in der Vergangenheit vielen fröhlichen Momenten beigewohnt haben. Ich nehme einen Schluck. Das Aroma umschmeichelt meine Geschmacksknospen. Er ist perfekt. „Der Anlass ist bitter genug, um auch noch herben Tee trinken zu müssen. Mein Sohn hätte darauf Wert gelegt. Bitte verzeihen Sie, ich habe mich noch nicht vorgestellt, Melodia Pannek“, sagt sie als nächstes. „Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen.“ Ich stelle die Tasse Tee zur Seite. „Ich bin von der Polizei, Detective Vikar Damast. Leider muss ich Ihnen ein paar Fragen zu ihrem Sohn stellen.“ Während ich mich vorstelle, zeige ich ihr den Ausweis. Sie lächelt erneut, doch diesmal erreicht es nicht ihre Augen. Sie deutet mir an, ihr zu folgen, jedoch nicht, ohne mir vorher einen Teller mit einem Küchlein in die Hand zu drücken. Zusammen gehen wir ins Wohnzimmer hinüber, welches ebenfalls mit etlichen Gästen gefüllt ist. Ich sehe über die Köpfe hinweg den braunen Haarschopf meines Kollegen. „Pastor!“, rufe ich ihm zu, der aufblickt und gleich darauf einen Weg durch die anderen Trauerenden bahnt. „Sie sind Geistlicher, junger Mann?“, fragt die Mutter hoffnungsvoll, als der andere Detective zu uns durchdringt. Sein Gesicht macht etwas Seltsames, als er die Frage vernimmt. „Oh, nein, nein. Bitte verzeihen Sie, ich diene dem Herrn, aber nicht… so. Das ist lediglich mein Familienname.“ Die ältere Dame nickt, wirkt sonderbar enttäuscht und tupft sich ein weiteres Mal die tränenfeuchte Spur von der Wange. Ich bemerke das Zögern und das kurze Flackern seines Blickes in meine Richtung, als er es erklärt. „Das ist Melodia Pannek, Andrews Mutter“, stelle ich sie vor. „Mein herzliches Beileid zu Ihrem Verlust“, versichert Pastor augenblicklich. Es ist subtil, aber seine Stimme ist bei diesen Worten weicher geworden. Müsste ich sie beschreiben, dann wäre sie wie das beruhigende Flüstern am Nachmittag eines sturmerprobten Mittsommertags. Wenn sich die tiefstehende Sonne wie ein Mantel über das Land bettet und jeder Windhauch Frieden schenkt. „Wir sind von der Polizei, Detective Vikar Damast und Luis Pastor. Wir hätten ein paar Fragen an Sie wegen des Verschwindens ihres Sohnes.“, wiederholt mein Kollege. Wir vernehmen die stillen Klagen der alten Frau und für wenige Sekunden verflüchtigen sich die Schatten der Trauer um sie herum und machen Resignation Platz. Sie schließt die Augen, während sich ihre rechte Hand gegen ihren Brustkorb bettet. Direkt über ihrem Herzen. Ob es den Namen ihres Sohnes schlägt? Verlust ist laut und dröhnend, auch wenn es sich anfühlt, als würde man in der Stille versinken. Wir erkundigen uns zunächst nach den grundlegenden Basisinformationen. Hatte das Opfer Feinde? Nein. Er war ihrer Meinung nach ein beliebter Dozent an der Universität. Es gab ab und an Reibereien mit einigen Studenten, die mit ihrer Note unzufrieden waren, aber nie etwas Ernstes. Er verstand sich gut mit den Kollegen. Keine auffälligen Ex-Partner. „Warum haben Sie ihren Sohn erst vor drei Monaten vermisst gemeldet?“, fragt Pastor. Der Mandelkuchen ist trocken und obwohl ich ihm den Teller mehrere Male hinhalte, ignoriert er ihn. „Er war viel unterwegs, wissen Sie. Er arbeitet an der Fakultät für Botanik und plante ein Sabbatical im zentralen Amazonas-Regenwald, um dort seine nächste Forschungsarbeit vorzubereiten. Es war nicht ungewöhnlich, dass er längere Zeit wie vom Erdboden verschluckt war“, erklärt sie mit schweren Lidern, „Bei unserem letzten Zusammentreffen hat er von seinen Plänen berichtet. Er hatte bereits Flugtickets… Dort gibt es kaum Empfang … und er musste sich doch erst wieder neu einrichten, deswegen gingen alle Briefe zur Universität. Ich ging davon aus, dass er… Oh, hätten wir doch nur...“ Sie schluchzt leidend auf und presst sich erneut das Taschentuch gegen Nase und Lippen. „Was genau meinen Sie damit, dass er sich neu einrichten musste?“, hakt Pastor irritiert nach. „Oh, er war erst vor kurzem in die neue Eigentumswohnung gezogen.“ „Umgezogen? Wo hat er denn vorher gelebt?“, frage ich. „Unten im Harrow-Distrikt. Er hatte eine längere Beziehung beendet. Er wollte mehr Zeit in der Natur verbringen und neu anfangen, verstehen Sie.“ Diesmal sind es Tränen, die sich einen Weg über ihre trockenen Wangen bahnt. Ich sehe zu Pastor, der die Lippen aufeinanderpresst und ich ahne, dass ihm das Gleiche durch den Kopf geht wie mir. „Erinnern Sie sich noch an die konkrete Adresse?“ „Geben Sie mir einen Moment, ich habe sie mir aufgeschrieben“, informiert sie uns und nickt. Beim Davongehen drückt sie sich das Taschentuch gegen die Brust. „Also wohnte er zum Zeitpunkt seines Todes gar nicht im Lennè-Distrikt“, sprudelt es aus Pastor heraus, als sich die alte Frau entfernt und im benachbartem Zimmer nach ihrem Adressbuch sucht. Es ist wie ein Funke, der in seinen Iriden aufleuchtet und das warme Braun darin wie die Sonne strahlen lässt. Zu euphorisch für meinen Geschmack und ebenso dem der anderen Anwesenden. Ich halte ihm ein letztes Mal den Teller mit dem Rest des trockenen Kuchens hin, diesmal nimmt er den Happen. Als Melodia Pannek wiederkommt, nennt sie uns eine Adresse, die sich im Harrow-Distrikt befindet. Wir sprechen ihr erneut unser Beileid aus und verabschieden uns. Die Türen schlagen gleichzeitig zu, als wir zum Wagen zurückkehren. Anschließend sitzen wir einfach nur da. Atmen. Grübeln. Oxidieren. Resümieren inwendig. In den Lennè-Distrikt müssen wir wohl nicht mehr. Mein Magen knurrt leise vor sich hin. „Harrow, nicht Lenné-Distrikt“, spricht Pastor irgendwann aus. „Ja.“ „Ändert das etwas?“ Wahrscheinlich versucht er, genauso wie ich, sich die Karte vorzustellen. Den imaginären Punkt zu fixieren und damit das Muster herauslesen zu können. „Immer noch drei von sechs.“ Der andere Detective holt sein Telefon hervor, mit dem er die Adresse aus dem Büchlein abfotografiert hat. Wir müssten ins Revier fahren, um eine konkrete Verortung vornehmen zu können, doch Pastor macht keine Anstalten, das Auto in Gang zu setzen. „Was hatte dich heute Morgen eigentlich so eingenommen?“ „Eingenommen?“ Der plötzliche Wechsel irritiert mich. „Bevor ich dich eingesammelt habe. Du wärst beinahe in ein Auto gerannt“, präzisiert er. Ich begreife, worauf er hinauswill und ich denke zurück an die Schatten, die den jungen Kerl manipulieren wollten. Mein Daumen reibt unwillkürlich über die Fingerbeere meines Zeigefingers, wo sich vor kurzem noch die Reste der Staubflocke befunden haben. „Gekidnappt hast du mich“, werfe ich ein, „Und nichts weiter. Ich war nur in Gedanken.“ „Du hattest diesen Blick“, hebt er unerwartet hervor, ohne auf meinen Widerstand einzugehen. „Blick? Was für einen Blick meinst du? Unsinn, denn es gibt keinen Blick“, erwidere ich, ohne seine Erklärung abzuwarten, lache auf, um das mulmige Gefühl zu negieren, welches sich in mir aufbaut, jedes Mal, wenn Pastor entscheidet, tiefer zu graben. Ich vergesse gern, dass er eine guter Detective ist, dass er hinsieht und deutet, dass er ahnt und begreift, ob ich es will oder nicht. Auch diesmal lässt er sich nicht beirren. „Als würdest du in eine andere Welt schauen, Dinge erkennen, die ich nicht sehen kann…“, fährt er schlicht mit seiner eigenen Agenda fort. Mein willkürliches Lachen verdorrt und hinterlässt nichts als das Gefühl von Asche in meinem Mund. Meine Zunge fühlt sich träge und fahl an. Da ich nichts erwidere, ist es Pastor, der sich fängt, aufschnauft und den Kopf schüttelt, als wäre das, was er eben sagte, nicht mehr als die Rezitation der Zeile eines Fantasyromans. „Erkläre es mir. Hilf mir, es zu verstehen.“ Er verlangt zu viel. „Es ist nicht so einfach zu erklären… Es ist... Du kannst es dir nicht vorstellen.“ Der Gedanke, an den Klippen des Unglaublichen zu zerschellen, ist nicht nur Angst, sondern Wissen. Zu oft habe ich diesen Schritt gewagt und stieß auf Leere, gar Verlassen. Diese Welt und das Bekennen, darin zu existieren, ist ein Risiko. Ein Wagnis. Es ist Schicksal und keine Freiheit. „Vielleicht überrasche ich dich“, bretzelt Pastor mir entgegen, als wäre mein Schicksal das Unterhaltungsprogramm einer Kirmes. Ehe ich reagieren kann, fährt er fort. „Wage es ja nicht, zu entscheiden, was ich will und was nicht.“ „Du bist nerviger als Bettwanzen. Hat man dir das schon mal gesagt?“ Pastor antwortet nicht, sondern starrt mich mit diesen erweichenden braunen Augen an wie der unschuldigste aller Teddybären. „Okay, wie du willst. Ich kann… Ich sehe Schatten.“ Es ist raus. Im Auto bleibt es längere Zeit still und ich wage es nicht, zu dem anderen Mann hinüberzusehen. „Schatten? Also…“ Er gestikuliert zu seiner Hand, auf der sich ein deutlicher Schatten durch das hineinscheinende Licht abbildet. „Nicht die Abwesenheit von Licht, die hinter einem undurchsichtigen Objekt entsteht. Die Schatten, die ich sehe, sind nicht explizit an ein Objekt gebunden, sie existieren außerhalb dieses Konzeptes und können sich frei bewegen. Aber es sind überwiegend Menschen, die diese Art Schatten um sich herum tragen. Für gewöhnlich deutet er auf eine gewisse Negativität in der Person hin.“ „Wie muss ich es mir das vorstellen?“ „Wie ein Schatten, der dem Körper folgt. Sie sind unterschiedlich präsent. Mal leicht grau. Mal fast schwarz. Mal figural. Mal nur…“ „Wie ein Nebel? Eine Aura?“, beendet er den Gedanken. „Nenn es, wie du willst“, watsche ich ab. Ich bin nicht sehr gut darin, es in Worte zu fassen, da es nicht mal für mich einen Sinn ergibt. Ich weiß nicht, warum sie existieren. Ich weiß nicht, woher sie kommen oder wie sie es tun. Trotz all der Zeit bin ich noch nicht vollständig schlau aus ihnen geworden. „Und diese Schatten tun was genau? Wie lange siehst du sie schon?“ „Ich sehe sie seit meiner Kindheit. Sie deuten meistens auf etwas Schlechtes hin, manchmal auch...“ Der letzte Teil verliert sich im Flüstern. „Etwas Böses?“, übertölpelt er mich nochmals. „Es ist nicht so einfach. Böse ist eigentlich das falsche Wort. Es ist mehr wie…“ Ich breche kurz ab. „Diese Schatten suchen scheinbar negative Energien oder auch Empfindungen und Gedanken. Menschen, die bereits Unmoralisches getan haben oder darüber nachdenken. Zorn, Wut und auch Neid sind Nährböden. Dieses Negative ist scheinbar wie ein Magnet für sie. Und diejenigen, die von den Schatten heimgesucht werden, werden durch sie beeinflusst. Sie senken die Hemmschwelle, was dann zu einer Spirale führt“, erkläre ich. Manchmal ist die betroffene Emotion auch Trauer, Verzweiflung oder simpler Schmerz, ausgelöst durch Verlust. Das ist nichts Böses. Es ist menschlich. „Vorhin hast du demnach einen solchen Schatten gesehen?“ „Mehrere, sie hingen im Raum und warteten.“ „Worauf?“, fragt er berechtigterweise und ich zucke lediglich mit den Schultern. Manchmal sind sie einfach da, ohne dass ich einen eindeutigen Grund dafür ersehen kann. Diesmal bin ich mir jedoch sicher, dass es an dem Geisterfahrrad lag. Es war die Trauer. Der Schmerz. Es hat sie dort gebündelt, durch die Gedanken der Passanten und der niedergelegten Blumengaben. „Keine Ahnung, aber da war dieser junge Mann. Einer der Schatten sprang an ihn heran und ich hatte das Gefühl, dass er gleich etwas Dummes macht.“ Pastor gibt ein unbestimmtes Geräusch von sich. Ich weiß nicht, ob er mir glaubt. „Vielleicht sind es wirklich Geister. Hast du Shay deshalb danach gefragt? Sie meinte doch, dass Geister, die nicht hinübergehen, irgendwann zu Schatten werden.“ „Sie sagte auch, dass die meisten Geister nichts Schlechtes im Sinn haben.“ Die Schatten jedoch schon. „Aber wenn sie keine erfüllte Ruhe finden? Ich wäre frustriert.“ Das hieße folglich, die Welt wäre voller Geister und wir sind die Sklaven ihrer Schatten. Eine beunruhigende Vorstellung. „Siehst du sie immer und überall?“, fragt Pastor mich nach einem Moment der Stille. „Nicht immer.“ „Klingt anstrengend?“ Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich eine Antwort darauf möchte oder ob es rhetorisch gemeint ist. Als Kompromiss nicke ich lediglich, höre, wie sich sein Kopf bewegt und er dabei über den rauen Bezug der Kopfstütze reibt. Pastor sucht nach etwas in seiner Hosentasche und lässt dann ein leises Seufzen erklingen. „Gut und jetzt?“, frage ich, als ich die Last der unausgesprochenen Worte nicht mehr ertrage, „Wir fahren zurück zum Boscop- Areal und suchen nach dem vierten Toten.“ Irgendwas sagt mir, dass der Täter dorthin zurückkehrt. Sei es aus rituellen Gründen oder aus psychischen. Er hat aus einem Grund genau diesen Ort gewählt, warum sonst sollte er sich die Mühe machen, die Toten dorthin zu transportieren und die Geister mit den Hexenbeuteln dort festzuhalten. „Weil unsere Zeugin angeblich seinen Geist gesehen haben will?“ Der dringende Wunsch danach, die Geistererscheinung als Humbug abzutun, erleuchtet sein Gesicht wie ein Neonschild. Er soll es ruhig versuchen, weiter zu leugnen. Von mir aus kann er alledem schnellstmöglich den Rücken kehren, dann habe ich eine Sorge weniger. „Hast du eine bessere Idee?“, frage ich schlicht, ohne auf all die Dinge einzugehen, die sich in meinem Kopf abspielen. Falls es ein viertes Opfer gibt, sollten wir nicht darauf warten, dass er durch Zufall gefunden wird, so wie die anderen. „Hast du kein hilfreicheres Abrakadabra zur Hand?“, gibt er den Ball mit dieser feinen Spitze an mich zurück. Ich wünschte, ich könnte ihn direkt zerplatzen lassen und ihn ebenso dumm aussehen lassen wie er mich. „Was glaubst du, dass ich eine Leichen-Wünschelrute aus der Hose ziehe?“, gebe ich meinen Senf zu dieser Lächerlichkeit dazu. Pastors Blick wandert in meinen Schoss und seine rechte Augenbraue Richtung Haaransatz. „Selbst wenn du was in der Hose hast, lass es lieber drin, wir kommen nur in Erklärungsnöte. Schon wieder!“, kommentiert er trocken und startet das Auto. Ich verdrehe schlicht die Augen und schnalle mich an. „Ich denke, so lange wir keine ausreichenden Beweise oder zu mindestens Anhaltspunkte haben, wo das nächste Grab sein könnte, brauche wir nicht unsere Zeit verschwenden.“ Ich befürchte, dass meine bisherigen Kenntnisse seine Meinung nicht ändern, also erwidere ich nichts darauf. Ich hinterfrage auch nicht, dass Pastor kurz darauf im Geiger-Distrikt bei einer kleinen Einkaufsstraße hält und, ohne mir den Grund mitzuteilen, aussteigt. Nach einem kurzen Check der Uhrzeit folge ich ihm. Das trockene Mandelküchlein von der Gedenkfeier ist auf dem Weg zu meinem Magen verpufft und langsam merke ich, wie sich der Hunger Löcher durch meinen Körper frisst. Pastor pfeift und ich verdrehe die Augen. Vor einem Café bleiben wir stehen und nun wage ich es doch, ihm einen Ausdruck der Verwunderung entgegenzubringen. „Bitte sag mir, dass wir hier etwas essen.“ „Wir befragen eine Zeugin“, erläutert Pastor schlicht und meine Hoffnung segelt davon. Er öffnet die Tür und hält sie mir auf. Schon beim Eintreten wandert mein Blick automatisch zu der jungen Frau mit den grünen Haaren, die hinter dem Verkaufstresen steht. Sie diskutiert angeregt mit einem aufmüpfigen, plumpen Jungen, der bei seinen schlechten Zähnen lieber keine weiteren Süßigkeiten essen sollte. Der Junge erwidert keck, dass sie sich lieber öfter die Haare waschen sollte, denn sie würde schon schimmeln. Pattsituation würde ich sagen. Sie funkeln sich an. Ohne ein weiteres Wort reicht sie ihm das Baiser und scheucht ihn davon, dabei sieht sie zum ersten Mal auf. „Euch wird man nicht mehr los, oder?“, spricht Shay aus, was uns ihr Blick längst sagt, als sie Pastor und mich erkennt. Trotz eines fulminanten Augenrollens verrät sie das amüsierte Lächeln auf den Lippen. „Du musst uns noch mal helfen.“ Da keine weiteren Kunden zu sehen sind, schließen wir zum Tresen auf. Shay verschränkt die Arme vor der Brust. Damit verdeckt sie die Worte ‚Zucker-Shay‘ auf ihrer Schürze. „Nein. Wegen euch habe ich ein Verfahren wegen einer Ordnungswidrigkeit am Arsch.“ „Du bist unerlaubt an einem Tatort rumgeschlichen“, stellt Pastor klar und sieht ebenso wenig entschuldigend aus wie ich. Trotzdem maßregele ich ihn mit meinem Blick und versuche als nächstes, die Wogen zu glätten. „Ich werde ein gutes Wort für dich einlegen und dann werden es höchstens ein paar gemeinnützige Stunden.“ Die kleine Frau packt mich geschwind und fest am Kragen und zieht mich über den Tresen zu sich runter. Überrascht lasse ich es geschehen und blicke gebannt in funkelndes Eisblau. „Wehe, ich muss ein Krankenhaus betreten, dann werden es als nächstes eure Seelen sein, die ich ins Licht führe. Verstanden?“ Eine lockige grüne Strähne fällt ihr während des Drohens ins Gesicht und kitzelt ihre wutgerötete Wange. Krankenhäuser sind ein Sammelbecken für verwirrte Geister, habe ich gehört. Ich nicke beschwichtigend und sie entlässt das Shirt aus ihrem Griff. „Seid ihr fertig mit Flirten?“, will Pastor wissen, fragt es lauter als nötig und schiebt mich offensiv zur Seite. Er holt zusammengefaltete Papiere aus der Jackeninnentasche hervor und legt sie auf dem Tresen ab. Als Nächstes sucht er schnell etwas in seinem Telefon und legt dieses daneben. Shay schaut genauso wie ich dabei zu, wie er sie vor ihr arrangiert und lehnt sich vor. Sein schlanker Finger tippt energisch auf das Papier, auf dem vier Fotografien gedruckt sind. Erst jetzt fällt mir auf, dass auf seinem Handy das Bild von Willem Pannek von der Gedenkfeier zu sehen ist. Er muss den Aufsteller fotografiert haben. „Sieht einer dieser Männer aus, wie das vierte… Opfer, das du gesehen hast?“ Er stockt leicht, während er spricht, als wäre er nicht sicher, wie es er am besten ausdrücken soll. Vermutlich stellt er die ganze Geistergeschichte weiterhin in Frage. Ich kann es ihm nicht verübeln. Shay stützt sich auf beide Ellenbogen und bettet ihr Kinn in die Handflächen, während sie jedes der Bilder kritisch betrachtet. Sie lässt sich Zeit, was grundsätzlich ein gutes Zeichen ist. Zeugen, die überstürzt handeln, liegen oft falsch. Was bei dem ohnehin fragwürdigen Wert von Zeugenaussagen eine beträchtliche Rolle spielt. Ich kann nicht verhindern, dass meine Hand ungeduldig gegen eines der mit Süßkram gefüllten Gläser tippt. Shay greift danach, schiebt es zur Seite und stiert mich an. Ich grinse. Pastor rollt mit den Augen. „Nein, der Mann, den ich gesehen habe, ist nicht dabei“, sagt sie daraufhin, „Aber den hier, den habe ich vor zwei Wochen gesehen.“ Sie deutet auf das Bild in Pastors Handy. Das Bild von der Gedenkfeier. „Von den anderen hier kommt dir keiner bekannt vor?“, fragt Pastor ruhig. Er prüft. Auch das Opfer Nummer 1 ist unter den Ausdrucken, doch diesen scheint sie nicht zu erkennen. Shay lässt ihren Blick erneut über die Bilder wandern und bestätigt mit einem Kopfschütteln. „Nein, ich denke nicht, aber…Geister sind auch nicht immer so klar und deutlich zu sehen, wie du und ich gerade. Ich bin schon auf welche getroffen, die keine richtige Form mehr hatten, weil sie sich kaum noch an sich selbst erinnern konnten“, teilt sie uns mit. Diesen armen Geschöpfen kann sie auch nicht mehr helfen, da sie nicht mehr in der Lage sind, zu kommunizieren. Shay beobachtet mich mit ihren klaren, hellen Augen. Doch ich schaue leicht an ihr vorbei, denn erneut regt sich die Präsenz, die an ihr haftet, formt das Gesicht, welches ich in den Block gezeichnet habe. Es sieht ihr so unglaublich ähnlich. Und doch unterscheidet es sich. Ich kann es nicht richtig fassen und ich glaube, dass sie es bewusst nicht zulässt. Ich löse meinen Blick mit einem Räuspern, als mich Pastor anstößt. Für ihn muss es wirken, als würde ich jedes Mal Shay anstarren. „Wenn wir dir eine Karte zeigen, könntest du ungefähr einschätzen, wo dich das vierte Opfer hinführen wollte?“, versucht er es weiter. Erstaunlich diplomatisch, in Angesicht der Tatsache, dass er sich eben noch weigerte, über das übernatürliche Phänomen nachzudenken. „Ich könnte es versuchen, aber meine Orientierung ist nicht besonders gut.“ Ich schnaube bei diesem Kommentar und erinnere mich gut daran, dass sie bei unserer Verfolgungsjagd im Kreis gelaufen sein muss, da sie plötzlich wieder hinter mir auftauchte, statt weiter vor mir wegzurennen. „Offenkundig“, bemerke ich salopp, starre auf die Kuchenauslade neben mir. „Hey“, erwidert sie laut, sodass sich ein paar der verbliebenen Gäste zu uns umdrehen. „Ich kenne da noch jemanden“, kontert Pastor und mustert mich auffällig von oben nach unten. „Hey“, kommt nun von mir, weniger laut, aber genauso beleidigt. Shay lacht gehässig auf und klingt dabei wie ein morsches Sägewerk. „Ihr wollt wirklich zurück in den Wald?“, fragt sie. Ich höre Sorge in ihrer Stimme schwimmen. „Wir müssen“, erwidere ich. Shay nickt. „Ich würde vermuten, dass er ganz dort in der Nähe liegt, wo ihr mich aufgegriffen habt. Da war das Gefühl am stärksten“, erklärt sie und die Eingangstür kündigt mit hellem Gebimmel neue Kundschaft an. Es ertönen die Stimmen von eingetreten Kunden und Shay schaut auf. Pastor und ich machen Platz. „Okay, wir kommen wieder“, sagt mein Kollege, signalisiert ihr ein Goodbye und wendet sich ab. „Lässt sich wohl nicht vermeiden“, ruft sie uns ungeniert hinterher und winkt übertrieben. Mit einem Grinsen im Gesicht verlasse ich hinter Pastor das Café. Sein Blick lässt meinen Optimismus jedoch gleich wieder schwinden. „Was?“, erkundige ich mich bei dem Sauertopf. „Sie hat das erste Opfer nicht erkennt.“ „Dafür aber Pannek ohne Zweifel.“ Eins von drei. Pastor ist nicht überzeugt, das zeigen mir seine zusammengezogenen Augenbrauen und das stetige Mahlen seines Mundes. Ich wäre es bei dem Stand seines Wissens auch nicht. „Und zu deiner Information, das da drin war kein Flirten“, stelle ich richtig, weil ich das dringende Bedürfnis verspüre. Ich bin unkonventionell, aber nicht unprofessionell. Für wen hält er mich? „Wenn du das sagst“, erwidert er reserviert. „Vikar, warte, bitte!“ Shay ruft mich zurück, ehe wir zum Wagen gehen können, “Mir ist noch etwas eingefallen, etwas, was ich dir unbedingt sagen muss. Unter vier Augen.“ Pastor wirft uns einen fragenden Blick zu. Ich nicke beschwichtigend und sende ihn damit fort. Es war der Ton ihrer Stimme, der mich innehalten ließ, der mich die Dringlichkeit vernehmen ließ und ihr meine volle Aufmerksamkeit einbrachte. Sie hält sich nicht mit weiterem Small-Talk auf, sondern kommt gleich zur Sache. „Ihr müsst da draußen vorsichtig sein… irgendwas Eigenartiges geschieht im Wald. Ich konnte es… spüren“, führt die Geistseherin an. „Spüren oder sehen?“ Ihr Blick huscht suchend über mein Gesicht, bettet sich nachfolgend auf meine Hände. Doch sie fährt nicht fort, also hake ich nach. „Was hast du gesehen?“ „Ich bin mir nicht ganz sicher, was es war, aber es… es könnte ein großes Tier gewesen sein. Schwarz. Übelriechend. Nicht von hier.“ Nicht von hier. Ich weiß, was sie meint, ohne dass sie es erklären muss. „Es war dessen Aura… nein, es waren sogar drei verschiedene Auren. Verstehst du? Drei! Als wäre, was auch immer es war, zu gleicher Zeit dreigeteilt. Ich habe es… ihn...“ Sie bricht ihre Erklärung ab, hadert und ich sehe, wie sich Gänsehaut über ihren Hals zieht. Der gleiche Schauder, der auch mich erfasst, wenn ich an den schwarzen Hund zurückdenke. „Er ist kein Geist?“, frage ich, wohlwissend, dass ich die Antwort bereits weiß. Es ist ein Höllenwesen. Ein Dämonenhund. Ein Wächter der Unterwelt, wie es laut griechischer Mythologie auch Cerberus war. Dieser wird in den Schriften als Hund mit drei oder mehr Köpfen beschrieben. „Nein, kein Geist“, bestätigt sie überrascht, als hätte sie nicht damit gerechnet, dass ich es ebenfalls gesehen habe, „Es ist durch und durch physisch und ich denke, er verfolgt dich.“ Die Luft um uns herum füllt sich mit dieser ganz besonderen Schwere einer Vorahnung. Wenn ich es wollte, könnte ich sie in Scheiben schneiden. Dick und undurchsichtig. Simmernde Obacht. „Wenn es das ist, was ich denke, dann ist er ein böses Omen. Ein sehr böses. Du könntest sterben.“ ~Fortsetzung folgt~ Kapitel 12: Der beste Freund im Geiste - 4 ------------------------------------------ Folge 3 ~Teil 4 - Der beste Freund im Geiste ~ Geister. Hexenbeutel. Teufelspflanzen. Dämonenhund. Es wird immer schwieriger, alles zusammenzubringen. Wieso fielen die Anzeichen niemanden auf? Es kribbelt mir in den Fingern, erneut bei Aran anzurufen. Doch ich kann froh sein, dass er gestern nicht gleich wieder auflegte. Der Hexenmeister hat eine schnell schmollende Natur, jedenfalls bei mir. Nachdem Shay ins Café zurückkehrt, folge ich Pastor zum Auto und bin überrascht, als mir dieser ein abgepacktes Sandwich in den Schoss wirft, nachdem ich mich auf den Beifahrersitz schwinge. Er selbst hat sich bloß einen weiteren Kaffee besorgt und mustert mich argwöhnisch. „Was wollte sie noch?“, fragt er und nippt zum Schein am Kaffee, doch er schluckt nicht. „Uns warnen“, bekenne ich, ohne auf den eigenartigen Unterton einzugehen, der in der Frage schwamm. Ich streiche abwesend mit dem Daumen über eine der Plastikkanten des Sandwich, lasse den Nagel an der Kante klicken und das entstehende Geräusch echot durch den Raum. „Wovor?“, fragt Pastor und nun blicke ich auf. „Den Omen“, flüstere ich, während mein Blick an Pastor vorbei aus dem Fenster führt. “Der schwarze Hund. Die Geister. Böse Omen überall. Noch immer neugierig?“, spotte ich und zische gleich darauf schmerzerfüllt, da die achtlose Bewegung eine der spitzen Plastikkanten der Verpackung in meinen Daumen treibt. Ein Schnitt, direkt unter dem Nagel. Ich sehe, wie er sich an der Stelle weiß verfärbt und es sich darunter schnell verdunkelt. Es blutet. Aus Gewohnheit nehme ich die Spitze zwischen die Lippen und sauge das Blut davon. Auf dem Bürgersteig neben uns bellt mit einem Mal ein Hund. Ein Collie. Wir zucken beide zusammen. „Genug jetzt…“, schimpft mein Nebenmann und presst die weiße Abdeckung seines Kaffees zurück auf den Becher. Ein brauner Fleck bildet sich auf seiner Hose, als sich ein Tropfen löst. „Schluss mit den Omen… Zeichen und Geistern! Da tötet jemand Menschen, alles andere ist nebensächlich.“ Seine Worte sind abschließend, ziehen eine genaue Linie. Pastor startet den Wagen und es entsteht eine Stille, deren Schwere wie giftiger Nebel um uns herum schwappt. Ich wünschte, es wäre nur ein Verrückter, den wir fangen und einsperren können. Ich begehre den Gedanken, nicht weiterdenken zu müssen, nicht zu hadern und ständig zu suchen. Doch das muss ich. Die Linie verschwimmt schon im nächsten Moment wie ein in Sand gezogener Umriss bei Wellengang. Mit geschlossenen Augen lehne ich mich zurück und spiele den Moment mit Shay erneut ab. ‚Wie kommst du darauf, dass er mich verfolgt?‘ Shay atmete tiefer als nötig ein, als ich sie das fragte. Sie wich meinem Blick aus und schüttelte kaum merklich ihren Kopf, bevor sie sprach. ‚Ich sah ihn zum ersten Mal wahrhaftig bei dir im Wald.‘ Sie stoppte und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. ‚Er stand bei dir. Vorher war er nur ein Gedanke, ein Gefühl.‘ Statt ins Revier, fährt mich Pastor nach Hause. ‚Geh nicht in den Wald zurück.‘, mahnte Shay zum Schluss. Mit einem fahlen Seufzen öffne ich die Beifahrertür und steige aus. Ich lehne mich nochmals in den Innenraum, wackele mit dem abgepackten Sandwich. „Danke dafür“, sage ich schlicht und setze an, die Tür zu schließen, als mich Pastors ernste Stimme zurückhält. „Damast, lass uns morgen die nächsten Schritte eruieren. Wir sprechen mit den Kollegen, planen ein gemeinsames Vorgehen. Keine Alleingänge.“ Eine Warnung. Eine leere. Er klingt fast wie Lamark und das lässt mich grinsen. Ich salutiere mit dem Sandwich, verkneife mir ein ‚Aye Sir‘ und schlage die Tür zu. Pastor wartet, bis ich wirklich im Haus verschwunden bin, bis er davonfährt, als würde ich, sobald er nicht hinsieht, davonlaufen. Wie unnötig. Ich kann gut allein auf mich aufpassen. Es ist nicht mal mein erstes Rodeo mit Ausgeburten der Hölle! Jawohl! Doch es ist auch eine Geschichte, an die ich mich ungern zurückerinnere. Ich muss Pastor nicht unnötig in Gefahr bringen, so viel ist sicher. Es ist besser so, sage ich mir mehrmals. Mit Schwung knallt die Tür meines Briefkastens zu und das metallische Geräusch echot durch den Treppenaufgang. Unter den Postkästen befinden sich seit geraumer Zeit auffällig viel Staub und Spinnenweben. Ein erneuter Versuch, den Hauswart aus der Wohnung zu locken, bleibt erfolglos. Ich klopfe ein paar Mal. Es rührt sich nichts. Auch der Zettel, den ich ihm am Morgen in die Tür klemmte, steckt an Ort und Stelle. Ein letzter Versuch, dann gebe ich auf. Oben angekommen gehe ich duschen, esse das Sandwich und das aufgewärmte Chili, das ich gestern Abend in der Mikrowelle vergessen habe. Während ich das belegte Weißbrot in die rote Masse dippe, arbeite ich mich durch E-Mails und durchforste erneut die Akten des Falls und die Karten. Ich mache mir Notizen und weitere Markierungen. Je länge ich alles betrachte, umso intensiver wird das Gefühl, dass mehr dahintersteckt. Dass ich etwas nicht erkenne, was ich aber sehen sollte. Die Hinweise verweisen vermehrt auf Okkultismus, falls ich mit den Hexenbeuteln recht behalte. Aber wieso? Es gibt nur einen Coven in der Stadt und der wird seit Jahren durch Wicca-gläubige Hexen geführt. Sie sind friedlich. Keine dunkele Magie. Mein Laptop pingt und zeigt mir einen neuen E-Mail-Eingang an. Es ist eine Nachricht von Aran. Als hätte er meine Gedanken gehört. Zum Glück weiß ich, dass er das nicht kann. Die Mail enthält mehrere Dateien mit Scans von alten Zeitungsausschnitten und Büchern. Darunter ein Auszug aus einer Sammlung regionaler Volksmärchen, die scheinbar auch das Gebiet um das Boscop-Areal umfassen. Ich lese die mitgesendete Erzählung aufmerksam. Einst sollen Hexen in dem Waldstück gehaust haben, die junge Männer mit vergifteten Äpfeln irreführten, welche jene Männer statt von den echten Obstbäumen unbewusst von Süntelbuchen pflückten. Daraufhin fielen die jungen Männer nach jedem dritten Biss einfach tot um. Einige der Opfer wurden nie gefunden, andere wurden nur stückchenweise entdeckt. Geschändet. Gemartert. Es wurde nie geklärt, warum es geschah. In der dazugehörigen Abbildung eines undatierten Holzschnitts sieht man einen dieser knorrigen, opulenten Bäume, unter dem ein lebloser Körper ruht. Der Apfel mit Bissmalen fiel ihm aus der Hand. Das Bild wirkt düster und der ruchlosen Erzählung angemessen. Als ich heranzoome, glaube ich, Bisse an den Gliedmaßen des Körpers zu erkennen. In vielen der historischen Aufzeichnungen wurden Hexen ein gewisser Kannibalismus nachgesagt, der jedoch selten Erwachsene betraf. Dies hier ist damit eher ungewöhnlich. Trotzdem verursacht mir der Gedanken an die Bissspuren, die die aktuellen Opfer aufweisen, Gänsehaut. Ist es Zufall? Eine konkrete Datierung für die Überlieferung gibt es nicht. Nicht einmal konkrete Quellen. Wiederholt hier jemand die Schauermärchen vergangener Zeiten? Ein weiterer Ausschnitt aus Arans Sammelsurium bezeugt, dass in dem Waldabschnitt an dieser Stelle einst Unmengen an Süntelbuchen wuchsen. Sie werden geheimhin auch als Hexenholz-Baum oder Teufelsholz bezeichnet. Es existieren Aufzeichnungen und entsprechende Holzproben, die die einstige Anwesenheit dieser Gattung nachwiesen. Sie sind zudem vielfach in Gemälden und Kunstwerken präsent, die in dieser Epoche entstanden sind. Die Buchen wurden im 17. Jahrhundert im Zuge der allgegenwärtigen Hexenverfolgung fast vollständig gefällt und somit ausgerottet. Es ist meiner Meinung nach ein Hinweis darauf, wann sich der Volksglaube etablierte. Solche Geschichten gibt es in fast allen älteren Ortschaften und Städten und sie beinhalten stets einen Funken Wahrheit. Nimmt sie vielleicht wirklich jemand zu ernst? Manchmal sind es gerade die skurrilen Begebenheiten, die eine besondere Anziehungskraft auf uns ausüben. Ist hier ein Möchtegern-Hexer am Werk? Ein Nachahmer? Doch was imitiert er und warum? Ich öffne auch die letzte mitgesendete Datei. In dieser listet mir Aran ein paar der mit Hexenzirkel assoziierten Pflanzen auf, die negative Energie anziehen, statt sie abzustoßen. Darunter sind auch die beiden Pflanzen, deren Samen bei den ersten beiden Fundstellen eingesammelt wurden. Er nennt zudem Adonis annua. Allium ursinum. Carpobrotus edulis. Die meisten sagen mir nichts und spielen vermutlich keine Rolle. Trotzdem tippe ich ein paar davon ins Suchfeld und beschaue die zumeist hübschen Pflänzchen mit Argwohn und Unkenntnis. Das bringt alles nichts. Es ergibt alles keinen Sinn. Was bezweckt der Täter mit diesem rituellen Wahnsinn und was um alles in der Welt hat der Dämonenhund damit zu tun? Mit dem dringlichen Gefühl verrückt zu werden, greife ich nach meinen Habseligkeiten, rechts Handy, links Ausweis und Schlüssel. Ich ziehe mir feste Kleidung über und packe als letztes die Karten zusammen. ‚Geh nicht in den Wald zurück.‘, hallt durch meinen Kopf, als ich das Wohnzimmer durchquere und ich halte erneut inne. Ich muss. Ich habe keine andere Wahl. Dort muss irgendwo der Sinn begraben liegen. Im wahrhaftigsten Sinne. Zunächst fahre ich ins Revier zurück und bringe in Erfahrung, ob, ebenso wie bei den anderen Gräbern, an der dritten Fundstelle Ungewöhnlichkeiten gefunden wurden. Da Willem Pannek laut der Ersteinschätzung die längste Liegezeit vorwies, sind viele der Materialien womöglich verrottet. Die Untersuchungen sind zudem noch nicht abgeschlossen, also schaue ich mir zunächst die Aufnahmen an, die beim Eintreffen der Kollegen gemacht wurden. Die Erde ist an zwei Stellen aufgebrochen und die Knochen, die hervorlugen, sind kaum von dem dunklen Erdreich zu unterscheiden. Ich blättere weiter. Sie fallen mir sofort auf, die kleinen roten Flecken in der Nähe der freigelegten Beinknochen mitten im Gras. Sie leuchten rot wie die Augen des schwarzen Hundes. Mit zittrigen Händen gehe ich die Bilder durch und finde eines mit einer Nahaufnahme, darauf sind deutlich die kleinen, roten Blumen zu erkennen. Adonis annua. Wahrscheinlich sind die Samen des Adonisröschens über die Zeit ausgetrieben. Der Hexenbeutel lag damit zu Füßen des Opfers. ‚Geh nicht in den Wald zurück.‘, wiederholt mein Verstand die Warnung der Geistseherin. Ich habe noch etwa drei Stunden ausreichendes Tageslicht. Ein Blick auf das Telefon bestätigt mir meine Vermutung, zeigt mir aber auch etwas anderes. Unwillkürlich habe ich bereits meine Kontakte aktiviert und mein Daumen schwebt über dem Eintrag von Luis Pastor. Wenn Shay Recht hat und wenn mein Gefühl stimmt, dann wird er, wenn er in meiner Nähe ist, in Gefahr sein. Das kann und werde ich nicht riskieren. Ich sehe dabei zu, wie sich das Display von selbst abschaltet und schiebe es in die Tasche zurück. Nach ein paar letzten Blicken in die Akten fahre ich weiter zum Boscop-Pfad. Ich nutze die kleine Seitenzufahrt, auf der Panneks Auto abgestellt wurde. Mittlerweile ist es abgeschleppt worden und lediglich die Reste einer Markierung verweisen auf den vormaligen Standort. Noch mit geöffneter Fahrertür und halb im Verlassen des Wagens offenbart sich eine bekannte Gestalt, die wie aus dem Nichts auf der Straße auftaucht wie ein Geist. „Willst du mich verarschen?“, tönt es und die sonst honigwonnige Stimme gleicht Sambal olek. Geister wären mir jetzt eine wesentlich bessere Gesellschaft als er. Ich ziehe unbeeindruckt die Karte aus meiner Tasche, ziehe mich aus dem Wagen in die Senkrechte und ignoriere Pastor, der mit lauten Schritten auf mich zu stürmt. Die Steine unter seinen Schuhen scheinen förmlich zu bersten, knistern und knirschen laut in die Ruhe des Waldstückes hinein. Derartig heftig ist sein Schritt, derartig wild sein Blick. Vermaledeit. Vielleicht hat er mich doch verwanzt? „Was an ‚keine Alleingänge‘ hast du nicht begriffen?“, pfeffert er mir entgegen, als er bei mir ankommt und ich die Autotür zuschlage. Er hat sich ebenso wie ich umgezogen und trägt nun funktionellere Kleidung. „Was an ‚Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß‘ begreifst du nicht?“, kontere ich säuerlich. Doch es ist viel mehr Sorge, die meine Wut nährt. Er sollte nicht hier sein. „Du verhältst dich unverantwortlich.“ „Du bist nicht mein Vorgesetzter“, erwidere ich abschmetternd. „Mag sein, aber im Gegensatz zu dir habe ich hier gewisse Zuständigkeiten. Ich könnte dich melden.“ „Tu´s doch. Melde mich. Na los!“, gifte ich trotzig zurück. Das ist doch lächerlich. „Tu, was du nicht lassen kannst, aber geh mir nicht auf den Geist.“ Das lässt ihn merklich zusammenfahren. Ich wusste es. Er kann es nicht. Wenn ihn die kleinste Äußerung bereits aus der Bahn wirft, hat er hier nichts verloren. „Bitte, melde mich in Grund und Boden, aber mach das aus dem Revier heraus. Lass mich einfach in Ruhe.“ „Warum willst du mich loswerden? Was verschweigst du mir?“ „Gar nichts.“ „Wieso um Himmelswillen denkst du, dass du da unbedingt allein durchmusst? “ „Weil du nichts ausrichten kannst“, schmettere ich ihm die bittere Wahrheit entgegen. „Aber du kannst, ja?“, erwidert er widerspenstig. Seine braunen Augen funkeln wie flüssiges Gold. Leider hat er recht. Ich kann kaum mehr tun. „Ich weiß wenigstens, womit ich es zu tun habe!“, belle ich verteidigend zurück. „Gut, dann setze mich gefälligst in Kenntnis und hör auf damit, mir ständig etwas zu verheimlichen. Ich stecke nämlich auch mit drin, ob du willst oder nicht“, schleudert er mir unerbittlich entgegen. „Tust du nicht. Du piekst in Begebenheiten herum, in denen du nichts zu suchen hast, die du nicht verstehen kannst. Pastor, das ist verdammt gefährlich.“ Ich meine es bitterernst. „Das ist mir bewusst!“ Natürlich. „Wieso denkst du, ich könnte mich einfach umdrehen und alles vergessen?“, fragt er plötzlich ruhig, fast besonnen. „Ist es wegen dem, was Shay dir gesagt hat? Die Warnung?“ Ich verrate mich durch ein Schlucken. „Wovor hat sie dich gewarnt?“ „Es…“, setze ich an und werde durch ein durchdringendes Knacken unterbrochen. Es ist laut und hallt durch die Abenddämmerung. Wir wenden uns beide in die Richtung, in der wir es lokalisieren und starren ins verschwimmende Dickicht. Einzig unser Atem ist zu hören. In den Winkeln und Schatten erahnt man Bewegungen, obwohl dort keine sind. Der Wind flüstert, obwohl er keine Sprachen kennt. Die Stille um uns herum ist ohrenbetäubend. „Egal, was es ist, ich werde nicht gehen“, informiert mich Pastor ruhig. „Wir werden das vierte Grab gemeinsam finden und dann… dann bringen wir den Mörder zur Strecke.“ Er klingt wie eine Prophezeiung. Ich löse mich nur schwer von dem Gefühl, beobachtet zu werden und lege schweigend die Karte mit den Wanderpfaden auf der Motorhaube ab. Es ist Pastor, der sie ausbreitet und sie an drei Ecken mit etwas aus seinen Taschen beschwert. Darunter befindet sich ein abgeschaltetes Funkgerät. Ich kann mich nicht konzentrieren und suche unruhig das Unterholz nach Bewegungen ab. Er ist hier, ich spüre es ganz deutlich. Meine rechten Rippen kribbeln. „Hier ist in etwa die Lichtung“, legt Pastor unbeirrt los. Er nennt meinen Namen, als ich nicht sofort reagiere und tippt zwischen die Markierungen. „Sieht es für dich nicht auch aus, als wären die Gräber ringförmig angeordnet? Vielleicht sollten wir erstmal davon ausgehen.“ Zur Verdeutlichung zieht er seinen Finger vom ersten zum dritten Opfer. Doch statt die Fundreihenfolge einzuhalten, nimmt er die Abfolge, die sich durch die Liegezeit herauskristallisiert hat. Es ist fast ein Dreiviertelkreis, den er damit schließt. Überhaupt wirken die Abstände seltsam gleichmäßig, wenn ich die einzelnen Punkte auf dem Kreis betrachte. „Wenn du recht hast, dann liegt das vierte Opfer in diesem Bereich oder in diesem.“ Westlich oder südöstlich der Lichtung. Aus einem Gefühl heraus tippe ich auf den westlichen Bereich der Möglichkeiten. „Wir sollten hier anfangen.“ Und wir dürfen keine Zeit verlieren. Die Dunkelheit ist heute nicht unser Freund. „Warte!“ Pastor packt mein Handgelenk, als ich mich abwende. „Was verschweigst du noch? Spuck es aus.“ Auch damit hat er recht. Ich habe ihm nichts von den Hexenbeuteln erzählt und die damit einhergehende Verbindung zum Okkultismus. Da mir jedoch die Gründe und Zusammenhänge im Ganzen genauso unklar sind wie der Standort des Grabes, sehe ich keinen Nutzen darin, Pastor weiter zu verwirren. Er mag zwar glauben, Herr der Lage zu sein, doch dem ist nicht so. Bevor ich mich herausreden kann, beginnt mein Telefon zu singen. ‚You've got no place to hide. And I'm feeling like a villain, got a hunger inside. One look in my eyes. And you're running 'cause I'm coming. Gonna eat you alive.‘ Es ist Captain Lamark. ‚Your heart hits like a drum. Oh, oh, oh, oh.The chase has just begun.‘ Ich weiche Pastors Blick aus, ehe ich rangehe. ‚Monsters stuck in your head.‘ „Sir?“ Ich nehme den Anruf entgegen, entferne mich dabei ein paar Schritte vom Auto, ohne den Blick vom Wald zu lösen. Auch Pastors Telefon klingelt plötzlich. Ich ahne, was es bedeutet. „Ich habe Sie für die Überwachung des Boscop-Areals abgestellt“, erklärt Lamark ohne Umschweife. Ich sehe aus dem Augenwinkel heraus, wie sich auch Pastor sein Telefon ans Ohr hält und eifrig nickt. „Ich bin bereits vor Ort“, gebe ich Preis. „Gut.“ Damit legt er auf. Auch Pastor beendet sein Gespräch. „Ich wurde zur Überwachung an die Grabungsstelle geordert“, erklärt er das, was ich längst vermute. „Es werden zwei weitere Kollegen zur Verstärkung geschickt, da die Vermutung besteht, dass er an den Tatort zurückkehrt. Es wurden wohl nachträglich Gliedmaßen von den Körpern entfernt.“ Wir wissen beide, dass er nicht an die dritte Fundstelle zum ersten Opfer zurückkehren wird. Pastor greift das Funkgerät und schaltet es ein. Er gibt den gültigen Code durch und kündigt unser Eintreffen an. Ich folge ihm missmutig zur Ausgrabung, während sich der Himmel immer weiter verdunkelt. Bald ist es Nacht und unsere Chancen sinken, das vierte Opfer noch vorher zu finden. „Würdest du bitte aufhören!“ „Womit?“ „Ich spüre deine Unzufriedenheit wie einen Hustenreiz.“ Ich fixiere meinen Blick noch etwas mehr auf sein Kreuz. Meine Frustration ist reizend! Pastor dreht sich ruckartig um und ich laufe fast auf ihn auf. Sein erhobener Finger landet nur um Haaresbreite nicht in meiner Nase, aber er zuckt nicht mal. „Wir werden jetzt die beiden Kollegen einweisen und wenn du dich auch nur einen Meter von mir entfernst, dann schieße ich dir in den Fuß. Verstanden?“ Irgendwas sagt mir, dass ich ihm lieber nicht widersprechen sollte und doch kitzelt es in mir mit Dringlichkeit. Ich halte mich zurück, lächele und gehe an ihm vorbei. Ich gehe voran, bis wir beim Basisbereich ankommen. Eine Autotür schließt sich. Gleich darauf eine zweite. Ich richte meinen Blick zum Parkplatz und bin wenig erfreut von dem, was ich sehe. Detective Colton Barres streicht seinen überteuerten Anzug glatt, während sein behäbiger Partner Detective James Marks Probleme hat, sich aufzurichten. Ich brauche das Geräusch des Knackens seiner Knochen nicht hören, um zu wissen, dass es da ist. „Na, wunderbar, Gucci und Primark“, murmele ich mehr zu mir selbst und wende mich ab. Allerdings hört es Pastor. Freundlich, wie er ist, lässt er sich nichts anmerken, auch wenn er selbst schon seine Erfahrungen mit diesem Duo gemacht hat. „Ihr seid wohl die Verstärkung“, sage ich laut, als ich vermute, dass sie in Hörweite sind. Mein Unterton spricht Bände. Ich kann das neue Leder von Barres Schuhen riechen, als er näherkommt. „Probleme damit?“, stachelt Barres schnorrend zurück, „Sei froh, dass wir unsere Arbeit gut machen und unser eigener Fall längst abgeschlossen ist.“ Ich beiße mir auf die Unterlippe, gleichzeitig packt Pastor meinen Oberarm. Barres unterschwellige Herablassungen triggern mich. „Großartig, fähige Kollegen sind das A und O einer guten Ermittlung.“ Die schleimende Schiedsrichter-Tour hat er wirklich drauf. Pastors diplomatische Art sollte mich eigentlich nicht überraschen. Ich verkneife mir nur schwer ein Geräusch der Abneigung, schenke Pastor aber einen eindeutigen Blick. Auch Detective Marks erreicht uns, grüßt und sieht sich um. In seinen Händen hält er eine dieser gelborangen Warnwesten, die er noch im Laufen versuchte über seine Schultern zu ziehen. Es misslingt, als sich sein Arm verhakt und der Stoff nicht weiterrutscht. „Klärt ihr uns noch auf, wieso ihr zwei beim Beaufsichtigen der Fundstelle Unterstützung braucht? Der Captain war leider etwas kurz angebunden.“ Der Captain pfiff und Barres sprang. Typisch. Barres sieht sich um und zieht eine Packung Kaugummis aus der Jackentasche. Dabei legt er kurz das Pistolenholster frei. Die Waffe presst sich präsent in seine Seite. Er schiebt sich den Kaugummistreifen zwischen die weißen Zähne und kaut direkt los. Sein Blick sichtet die Begebenheiten, während es Marks endlich schafft, sich die Warnweste überzustreifen. „Liegt der Boscop-Fall nicht in den Händen von Bell und McArthur? Wie seid ihr zwei da reingerutscht?“, fragt Marks und hantiert mit seinem Funkgerät. Barres nimmt es ihm aus der Hand und stellt den regulären Kanal ein. „Als Wachhunde sind sie nicht wirklich beteiligt“, kommentiert er abfällig, während sein Partner neben ihm bisher nicht vollständig zu Atem gekommen ist. Marks sieht bleich und geschafft aus, als er versucht, den Kragen seines Hemdes zu dehnen und letztendlich den oberen Knopf öffnet. „Ich habe die Verantwortlichkeit für die dritte Fundstelle und beaufsichtige die Ausgrabungen“, berichtigt Pastor ruhig und mit einer Geduld, die ich bei Barres längst verloren habe. Es ist unnötig, dass Pastor sich rechtfertigt, wieso er involviert ist. Die Leitung liegt im 12. Revier, das muss ausreichen. „Es gibt Hinweise auf ein viertes Opfer und es besteht die Vermutung, dass der Täter mindestens einmal an die Ablageorte zurückgekehrt ist.“ Der Detective setzt die Erklärung fort, ohne darauf einzugehen, dass es sich dabei um unsere eigene Vermutung handelt. „Ein viertes Opfer? Das wäre ja hochinteressant“, merkt Marks erstaunt an. „Wir machen hier also eine Überwachung für Eventualitäten?“, prescht Barres dazwischen, „Warum wurden euch nicht zwei Uniformierte geschickt? Scheiß Nachtschicht!“ „Dabei wäre jede Sekunde Schönheitsschlaf notwendig bei dir…“, murmele ich abgewandt und wieder ist es Pastor, der mich am Arm packt, weil er es natürlich gehört hat. „Ich schlage vor, dass Detective Marks und Sie sich in der Nähe der Fundstelle des letzten Opfers positionieren.“ Marks nickt eifrig und verstehend. „Opfer Nummer 1 wies die kürzeste Liegezeit auf“, sagt er dann. Pastor nickt zustimmend. „Richtig. Die Möglichkeit ist groß, dass er dort auftaucht. Die Spurensicherung hat die Fundstellen so hergerichtet, dass sie unberührt wirken.“ „Er wird nicht zu den Fundstellen zurückkehren, nicht nach der Berichterstattung. Dort wäre er auf dem Präsentierteller“, röhrt Barres besserwisserisch. Er hat gar nicht unrecht. Doch nach alldem, was ich mittlerweile weiß, bin ich mir sicher, dass es keine bewusste Entscheidung ist, zurückzukehren. Es ist zeremoniell. Er muss es tun. Er folgt einem bestimmten Ablauf. „Colton könnte Recht haben“, japst der alternde Detective zustimmend. „Hat er nicht. Die Tatorte und Opferdarbietung weisen rituelle Charakterzüge auf und er muss das beenden, was auch immer er hier angefangen hat.“ „Sicher doch. Es ist klar, dass sowas von dir kommt, Damast. Das ist einfach nur ein verrückter Spinner.“ „Das ist doch jetzt vollkommen egal. Falls er zurückkehren sollte, müssen wir darauf vorbereitet sein. Damast und ich machen die Rundgänge und checken die Zufahrten. Sie bewachen unauffällig die Fundstelle. Und eins noch, fahren Sie ihr Auto dort weg.“ Ohne deren Erwiderung abzuwarten, packt mich Pastor am Arm und zieht mich in die besprochene Richtung. Es dauert eine Weile, bis wir uns einen Weg durch das Unterholz bahnen. Das Licht ist fast verschwunden und das Dämmern taucht alles in ein Meer von Schatten. „Hier könnte es ungefähr sein“, berichtet Pastor und schaut auf sein GPS-Gerät, „Die Koordinaten stimmen.“ „Koordinaten?“, spotte ich. Aus welchem Hut hat er die gezaubert? „Ich habe meine Hausaufgaben gemacht.“ „Hast du fein gemacht“, gebe ich amüsiert zurück und sehe mich um. Er schnorrt, kontert aber nichts. „30 Schritte in eine Richtung, dann trennen wir uns für 10 Schritte in entgegengesetzte Richtung und kehren um“, bestimmt er. Ich nicke es nur ab. Wir schaffen fast 240 Grad. Der Regen wird stärker und die Luft um uns herum quillt vor Frustration. Ich höre ein Knacken, welches nicht aus Pastors Richtung kommt und halte unbewusst den Atem an. Als ich mich wieder entspanne, nehme ich den Geruch von Schwefel wahr. Obwohl sich alles in mir widerstrebt, folge ich der olfaktorischen Spur, bis sie irgendwann in einen anderen vertrauten Geruch übergeht. Süßlich. Faulig. „Pastor“, murmele ich zunächst, dann noch mal lauter. „Riechst du das?“ „Ja. Verwesung“, bestätigt er und taucht neben mir auf. Wachsam schauen wir uns beide um, suchen nach Unebenheiten und Spuren, die zeigen könnten, dass hier vor kurzem jemand gewesen ist. Es dauert nicht lange. Die Taschenlampe flackert und Pastor schlägt sie ein paar Mal in seine Handfläche, ehe er sie zurück auf die flache Stelle in einigen Metern Entfernung richtet. Ich sehe etwas Metallisches aufblitzen. „Mach das noch mal!“, fordere ich ihn auf, „Ich habe da hinten etwas gesehen.“ Ohne nachzuhaken, wiederholt er die Bewegung. Diesmal sieht auch er es. Wir gehen darauf zu und ich hocke mich zu einer aufgewühlten Unebenheit am Boden, die sich durch auffällig feuchte, dunkle Erde hervorhebt. Ich erkenne, was aufgeleuchtet hat, als Pastor fast methodisch den Kegel der Taschenlampe über den Boden führt. „Stopp!“ Vor uns lugt eine Münze aus dem Erdreich hervor. „Das sieht frisch aus. Hier wurde gegraben.“ Nachdem ich das sporadisch verteilte Laub davon fege, wird es noch etwas deutlicher. An dieser Stelle liegt etwas begraben. Ich sehe zu Pastor, der sich hinhockt. „Was ist das?“, fragt Pastor verwirrt und deutet auf die Münze, die ein kleines Loch an einer Stelle aufweist, an der eine Schnur befestigt ist. Vorsichtig zieht er an der Münze und als nächstes kommt uns eine Hand entgegen, die einen Stoffbeutel umklammert hält. Die Hand eines Mannes. „Fuck!“ Unison. Pastor schreckt zurück und sitzt am Boden. Er spricht ein Gebet, was ich bestmöglich ignoriere und widme mich stattdessen dem gespenstischen Fund. Die Schnur der Münze ist mehrfach um den kleinen Finger gewickelt. Doch mich interessiert vor allem der Inhalt des Beutels. Er ist mit einer groben Bastschnur zugebunden und durch die feuchte Erde fleckig. Es dem Toten aus der Hand zu nehmen, ist nicht gerade angenehm. Pastor ist mittlerweile wieder zu mir aufgerückt. „Shay hat recht.“ Seine Stimme zittert. „Was ist das?“ „Ein Hexenbeutel“, erkläre ich, achte nicht auf Pastors Reaktion darauf. Ich löse vorsichtig die Schnur und breite den Stofffetzen aus. Darin enthalten sind Knochen. Sie sind klein und fragil. Vielleicht ein Vogel. Ein Bündel Haare. Zwei weitere Münzen und Pflanzensamen. Ähnlich wie bei den anderen. Ein Jaulen in der Ferne lässt mich abrupt verharren. ‚Er verfolgt dich.‘ Shays Stimme ist ein stetiges Flüstern in meinem Kopf. Ein Knall. Das Echo hallt durch den Wald. Das Funkgerät in Pastors Händen knackt, doch die folgenden Worte kann ich nicht gut verstehen. „Verstanden. Wir sind unterwegs.“ Pastors Schritte entfernen sich schnell, während ich um uns herum nach Anzeichen für den schwarzen Hund suche. „Damast“, ruft Pastor nach mir. Mir ist bewusst, dass wir uns nicht zu weit voneinander entfernen sollten. Ich spüre seine Nähe wie ein Gewitter auf der Haut. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe leuchtet mir ins Gesicht und ich murmele eine hastige Entschuldigung. „Hast du etwas gesehen?“, fragt er mich. „Nein, ich habe nur ein Gefühl.“ Es ist schwer und brechend zu gleich. Ich kann es nicht richtig greifen und das macht mich unruhig. „Ich nehme an, kein Gutes?“, hakt Pastor nach. Weniger beunruhigt als erwartet. Er löscht das Licht der Taschenlampe, sodass ich nur noch die Konturen seines Gesichts erkennen kann. „Sag´s mir einfach.“ Eine klare Forderung. „Der schwarze Hund.“ „Schwarzer Hund, wie bei deiner Rotkäppchenbegegnung?“ Obwohl es absurd klingt, ist Pastors Stimme ernst und zeigt kein Zeichen von Skepsis, als er das letzte meiner Zusammentreffen mit dem unheimlichen Tier erwähnt. „Ja. Das Bild des schwarzen Hundes steht gemeinhin für schlechte Omen und verweist auf Unheil. Sie werden je nach Kultur auch Geisterhunde oder Dämonenhunde genannt. Er steht für den nahenden Tod. Er ist ein Bewohner der Hölle“, informiere ich ihn. „Hölle? Was auch sonst.“ Im Dunkeln sehe ich nur schemenhaft, wie er sich bekreuzigt. „Ich spüre ihn näherkommen“, fahre ich fort, ohne auf die Skepsis einzugehen. Trotz der Dunkelheit sehe ich, wie er zum Widerspruch ansetzt. Doch er belehrt sich selbst eines Besseren und schluckt seine hastig gedachten Zweifel runter. „Okay, das heißt? Könnte er mit dem Täter in Zusammenhang stehen? Ist er wegen ihm hier?“ „Ich habe keine Ahnung“, murmele ich. Es wäre gut möglich. Ein durchdringender Schrei lässt uns aufhorchen. „Shit!“ Ein lautes Rascheln und ein Rufen folgen, was eindeutig von Barres kommt. Wir wechseln abrupt die Richtung und treffen in der Nähe des dritten Fundortes auf die unübersehbare Gestalt des großen Detectives. Er ruft nach Marks und erhält keine Antwort. „Was ist passiert?“, fragt Pastor mit vor Aufregung zitternder Stimme. Er schwitzt, genauso wie ich, trotz der herbstlichen Kälte. Der feine Regen, der vor einer Weile einsetzte, dringt bisher nur teilweise durch das dichte Blattwerk der Bäume, kühlt aber die Umgebung merklich ab. „Marks und ich haben den Mistkerl verfolgt. Wir wollten ihn umzingeln, aber…“ „Wo ist Marks?“ „Verdammt, ich weiß es nicht“, bellt uns Barres zu. Er wirkt für einen Sekundenbruchteil hilflos und besorgt. Etwas, was ich an ihm noch nie beobachtet habe. Pastor zückt das Funkgerät, doch ich halte ihn zurück, ehe er einen Funkspruch absetzen kann. „Nicht, wenn er sich verstecken muss und nicht an die Abschaltung gedacht hat, dann würdest du seine Position verraten“, erkläre ich. Pastor beißt sich auf die Unterlippe. „Was nun? Er könnte verletzt sein und Hilfe benötigen. Wir müssen ihn finden.“ „Ich gehe zurück zur Basis und rufe Verstärkung. Danach suche ich Richtung Norden“, teilt Barres uns mit und wartet keine Bestätigung ab. „Dort drüben“, ruft Pastor und ich sehe im selben Moment, wie ein huschender Schatten durch das Dickicht dringt. Ein Licht, welches aufblitzt und sofort wieder verschwindet. Das Gebüsch knackt und ich laufe auf die Stelle zu, die gegensätzlich zum Standort meiner Kollegen liegt. Nach ein paar bedachten Schritte entdecke ich etwas zu meinen Füßen, was meinen Puls beschleunigt. Vor mir liegt eine orangefarbene Warnweste, eine, wie sie Detective Marks getragen hat. Von ihm jedoch ist keine Spur zu sehen. Als ich mich danach bücke, huscht ein Schatten vor mir davon. Zu schnell für Marks. Zu aufrecht für den Hund. Ich bemerke die Umrisse einer gebeugten Gestalt und versuche, mich nicht zu rühren. Doch die Person bemerkt mich und ändert erneut die Richtung. Ich sprinte los und verfolge sie, bis es auf einem Mal beunruhigend still ist. Es ist so verdammt dunkel, doch ehe ich die Taschenlampe anschalten kann, packt mich etwas von hinten und zerrt mich zu Boden. Meine Beine knicken einfach ein. Ich spüre, wie sich etwas Scharfes an meinen Hals drückt und ich nach hinten gezogen werde. „Kein Wort. Nicht bewegen“, knurrt es dicht an meinem Ohr. Wie gefordert rühre ich mich nicht. Ich spüre jedoch, wie ein deutlicher Schmerz einsetzt, weil sich in dieser Position mein Rücken unnatürlich übertrieben biegt. Auf den Knien hockend kann ich mich nicht bewegen. „Ihr zerstört es.“, wimmert die Stimme, „Ihr dürftet nicht hier sein…das ist nicht richtig… so nicht korrekt. Nicht jetzt. Nicht jetzt.“ Seine Stimme wird zu einem tiefen, unruhigen Nuscheln und seine Worte wirken, als wäre er nicht im Hier und Jetzt. Er riecht nach feuchtem Morast und alten Schweiß. Während er mit einer Hand meinen Körper nach Waffen abtastet, drückt er das Messer dichter gegen meinen Hals und murmelt etwas auf Latein, was ich jedoch auf Grund seines Akzents nicht verstehen kann. „Wir sind von der Polizei. Sie sollten jetzt keine Dummheiten…“, versuche ich es erneut. „Ruhe!“, harscht er mich an. Lauter als beabsichtigt, aber nicht laut genug. Außer Atem und meinem rasenden Herzschlag ist nichts um uns herum zu hören. Stille. Eine Stille infernaler Art. Sie wird zerrissen durch ein Knurren. Erst wispernd wie ein hohles Simmern im Wind. Es reicht aus, um die Haare auf meinen Armen aufzurichten. Bitte nicht. Mein Flehen bleibt ungehört. Ich spanne unwillkürlich meinen gesamten Körper an und merke, wie die scharfe Schneide des Messers dabei die Haut meines Halses einritzt. Das nächste Grölen ist wie Donner, der durch meine Adern schmettert. Es ist laut und nah. Ich werde abrupt nach hinten gezogen. Rieche Feuer. Schwefel. Blut. Ein Schrei. Er ertönt dicht an meinem Ohr, dringt jedoch nicht aus meiner Kehle. Die panischen Hände des Mörders packen mich am Hals und wir werden beide ruckartig zurückgezogen, als das Tier seine Zähne in die Schulter meines Angreifers schmettert. Mit massiver Kraft zerrt er uns durch den Wald wie hilfelose Beute. Das Grölen des Hundes ist tief und dröhnend. Ich versuche, Halt zu finden, greife nach Ästen, Wurzeln, doch treffe ich nur feuchten Morast und Steine. Erde füllt meine Schuhe, als wir erbarmungslos Meter um Meter über den Boden gezogen werden. Der Arm um meinen Hals lässt mich kaum atmen. Verkrampft rührt er sich keinen Millimeter, so sehr ich auch an ihm ruckle und drücke. Der Mann hinter mir ist apathisch vor Angst, wimmert vor Schmerz und Panik. Er stöhnt gequält auf. Mit einem Ruck und einem Ächzen komme ich schlagartig zum Stehen und falle rücklings zu Boden. Er hat mich losgelassen. Mein Hinterkopf landet im Wurzelraum eines Baumes und es dauert einen unendlichen Augenblick, bis ich es schaffe, zu atmen. Ich bin froh, aus dem Klammergriff entkommen zu sein. Ehe ich mir meiner aktuellen Lage vollends bewusstwerde, rappele ich mich auf alle Viere auf. Mein Fluchtreflex singt Arien, puscht mich voran und ich gebe mich dem Schmerz erst hin, als ich mich einige Meter entfernt habe. Hinter einem Baum finde ich Schutz. Ich lausche gegen das Rauschen und Dröhnen in meinem Schädel an, höre jedoch weder den Hund noch den anderen Mann, weil mein hektischer Atem alles übertönt. Meine Hände zittern, während ich behutsam die Wunden an meinem Hals abtaste. Der Schmerz ist bislang nicht präsent, da Unmengen an Adrenalin durch meinen Körper rasen. „Damast.“ Ein Echo. Erst höre ich den Ausruf meines Namens zunächst nicht. „Damast, hier lang!“, wiederholt es sich. Ich durchsuche die Dunkelheit um mich herum und sehe die behäbige Gestalt von Detective Marks in einigen Metern Entfernung stehen. Ich möchte ihm zurufen, dass er sich in Deckung bringen soll. Dass er sich in Acht nehmen muss. Doch meine Stimme versagt. Mein Hals brennt wie Feuer. Innen und außen. Trotzdem setze ich mich in Bewegung, folge Marks oder stolpere eher in einiger Entfernung hinter ihm her. Meine Knie sind wabbelig wie Pudding und es fällt mir schwer, mich aufrechtzuhalten. „Marks, warte!“, versuche ich zu rufen, doch meine Stimme ist kaum mehr als ein heiseres, kratzendes Echo. Unversehens kann ich den alternden Detective im Dickicht nicht mehr ausmachen und bleibe stehen. Ich murmele seinen Namen. Nichts. Meine Beine geben nach und ich sacke auf die Knie. „Vikar?“ Stattdessen höre ich Pastors Stimme, die an mein Ohr dringt. Sie ist nah. Es knistert und knackt und als nächstes steht mein Kollege aus dem 12. Revier vor mir. „Shit, was ist passiert?“, fragt er besorgt und packt mich kräftigend an den Schultern. Er versucht, mich aufzurichten und ich spüre, wie die Wirbel in meinem Rücken bersten, also setze ich mich wieder hin. Pastor scheint zu verstehen, denn sein Blick spiegelt den dumpfen Schmerzen in meinen Eingeweiden. „Du hast Detectives Marks gesehen?“, erkundigt sich Pastor. Ich nicke und deute in die Richtung, in die der andere Detective verschwunden ist und wo ich ihn zuletzt gesehen habe. Mit Pastor Hilfe rappele ich mich langsam auf. Diesmal knackt nichts, aber wenn ich jetzt sprechen würde, würde ich es vermutlich rückwärts tun. „Geht´s? Was ist passiert?“ Ich atme noch ein paar Mal durch, ehe ich mich ausreichend stabilisiert habe. „Bin auf den Mörder getroffen und… ich weiß, dass du es mir nicht glauben wirst… auch auf das Höllenvieh“, röchle ich. Zum Glück kann ich Pastors Gesichtsausdruck nicht richtig sehen, ich höre nur seine schnelle Atmung. „Der schwarze Hund? Und der ist dir an die Kehle gegangen?“, erkundigt er sich, als er das Blut an meinem Hals bemerkt. Pastor kramt in seiner Jackentasche und drückt mir ein sorgsam gefaltetes Taschentuch an den Hals. Ich hisse zurück. Die Berührung schmerzt und der Reiz wird stärker. „Autsch… Nein, das war der Kerl mit dem Messer.“ „Wo ist deine Dienstwaffe?“ „Die hätte mir nicht geholfen“, entgegne ich, ohne seine Frage wirklich zu beantworten. Ich hätte nicht die Chance gehabt, sie einzusetzen. Der Scheißkerl hat mich überrascht. Aber auch das gebe ich nicht leichtfertig Preis. Zum Glück reitet Pastor nicht weiter darauf rum, sondern schaut sich um. „Ich glaube übrigens, er hat den Hund aus Versehen gerufen.“ „Wie meinst du das?“ Pastor nimmt das Tuch von meinem Hals und es ist voller Blut. Er sucht nach einer anderen Möglichkeit, die Blutung zu stillen. Für mich könnte es gerade nicht unwesentlicher sein. „Die Hexenbeutel, sie sind mit verschiedenen Dingen gefüllt. Knochen. Pflanzensamen. Irgendwas muss den Hund gerufen habe, ich weiß nur nicht was. Ich habe Aran nach deren okkulte Bedeutung gefragt, aber er…“ „Aran?“, hakt er nach. Er zerrt sich das Schlauchtuch über den Kopf und zieht es mir rabiat über den Schädel. Ich wehre mich halbherzig, weil all das meine Gedankengänge stört. „Der Antiquitätenhändler.“, nuschele ich in den Stoff, „Luis, in den Hexenbeuteln waren Adonisröschen. Tollkirsche. Eisenhut… “ „Worauf willst du hinaus? Halt still!“, harscht er mich an, „Moment mal, Eisenhut?“ „Ja, blauer Eisenhut“, bestätige ich. Pastor lacht auf und sucht weiterhin nach irgendwas für meine Wunden. „Was?“; frage ich irritiert, packe seine Jacke und zwinge ihn dazu, mich anzusehen. „Hast du gewusst, dass laut griechischer Mythologie der blaue Eisenhut aus dem Speichel des Cerberus entstand, den er auf die Erde tropfte, nach dem Herkules ihn aus der Hölle zerrte? Eine Pflanze so giftig, dass sie schon in kleinen Mengen tötet“, erzählt er, „Cerberus, der Wächter der Unterwelt.“ Aus ihm spricht der Unglauben, während in meinem Kopf mehrere Puzzleteile zusammenfallen. „Deswegen ist er hier“, entflieht es mir mit einem fast euphorischen Lachen, als ein paar Bruchstücke in meinem Kopf zusammenfinden und plötzlich Sinn vorheucheln. Der Schmerz und das Adrenalin machen mich etwas hysterisch. „Ja, großartig. Wir sollten zurück zur Grabungsstelle und uns neu formieren. Barres sucht sicher weiter nach Marks...“, berichtet Pastor und sein Gesichtsausdruck ist ernst. „Er war eben noch vor mir. Marks, er… er hat mich in deine Richtung geführt. Du musst ihn gesehen haben“, versichere ich ihm. Pastor schaut sich suchend um und schüttelt den Kopf. „Okay, wieso meldet er sich nicht. Er reagiert nicht aufs Funkgerät“, berichtet Pastor. Nach kurzem Sortieren drückt er mir dieses in die Hand. „Wahrscheinlich hat er es irgendwo verloren.“ Wie aufs Kommando beginnt das Gerät zu knacken. Doch es folgt nur rauschen. Nichts wird durchgesagt, stattdessen durchbricht erneut ein Schrei die Nacht. Wir setzen uns prompt in Bewegung, streifen durchs Dickicht, bis wir erneut an der Stelle ankommen, wo wir das vierte Opfer ausmachen konnten. Ich erkenne die Stelle sofort. Die Erde um das Grab ist stärker aufgewühlt. Die Hand und die Beine sind zu erkennen. Jemand war hier. Mit den Taschenlampen leuchten wir die Umgebung ab und wieder sind es zuerst die Härchen in meinem Nacken, die reagieren. Er ist hier, der Höllenhund. Ich spüre sein unterschwelliges Knurren auf meiner Haut wie Stromschläge. Ruckartig ziehe ich die Taschenlampe in die Richtung, in der ich ihn vermute und erstarre. Fletschende Zähne leuchten im Lichtkegel der Taschenlampe. Ich lasse die Hand sofort sinken. Nun sehe ich nur noch seine roten Augen aufleuchten, während sich der Dämonenhund langsam, fast geräuschlos ins Gestrüpp zurückzieht. Dann vernehme ich rechts neben mir ein Keuchen. Ich schalte das Licht wieder an und entdecke neben einem knorrigen Baum den unruhig atmenden Leib eines unbekannten jungen Mannes. Sein Kopf lehnt gegen den breiten Stamm. Blut färbt seine Lippen. Das Gesicht des Angreifers hatte ich nicht gesehen und doch weiß ich, dass ich vor dem Gesuchten stehe. „Pastor!“, rufe ich und gehe auf den verletzten Mann zu. Er erkennt mich, denn in dem Augenblick perlt sich ein blutersticktes Lachen aus seiner Kehle hervor. Schon aus der Entfernung sehe ich zwei blutige Bissspuren an seinem Hals und der Schulter. Der linke Arm ist unnatürlich weit vom Rest seines Körpers entfernt. Das Ausmaß der Wunden wird deutlicher, als auch Pastors Taschenlampe den Körper beleuchtet. „Er…hat.. mich…“, röchelt er mehrmals unwirsch, bringt den Satz aber nicht zu Ende. Ein weiterer Schwall Blut fließt schäumend über seine Lippen. Wir tasten ihn vorsichtig ab, doch das Messer, welches er gegen meinen Hals gedrückt hat, ist nirgendwo auszumachen. Stattdessen finde ich einen weiteren Hexenbeutel. Wieder lacht er auf und weitere Salven Blut drücken sich aus den offenen Wunden an seinem Hals. Pastor ruft Hilfe, während ich den Blick nicht von dem Täter abwende. Nur das viele Blut taucht sein Gesicht in den Wahnsinn. Der Rest ist so normal wie Butterkekse. Er packt mein Handgelenk, als ich den Stoffbeutel in die Tasche verschwinden lasse. „Es ist vollbracht“, röchelt er mit blutigen Lippen, ehe ich meinen Arm aus seinem schwachen Griff entferne. Uniformierte bahnen sich ihren Weg durchs Unterholz. Irgendwann beginnt Pastor, unseren Standort kundzugeben, dass ein Verdächtiger in Gewahrsam ist und wir einen Sanitäter benötigen. Der Druck in meiner Brust schwillt weiter an, als die Rufe und hektischen Anweisungen um uns herum lauter werden. Der Täter sagt kein Wort mehr, sondern starrt uns aus leeren Augen an. Das Funkgerät knackt. Wieder und wieder. Ich zucke merklich zusammen. Jedes Mal. Jeder Muskel in meinem Körper ist angespannt. Die Unruhe an größeren Tatorten machte mich schon immer wahnsinnig, also entferne ich mich langsam Richtung Basis. Ich höre, dass Pastor mir folgt, aber reagiere nicht auf seinen Ruf, sondern gehe unbeirrt auf das flackernde Blaulicht zu, welches sich seinen Weg zwischen die Bäume hindurcharbeitet. Ich stoppe erst, als wir bei den laufenden Einsatzwagen ankommen und sehe Colton Barres in einem Krankenwagen sitzen. Auch hier herrscht Hektik. Der Regen plattert auf die blechernen Dächer, begleitet die dumpfen Schritte der Kollegen und das blaue Licht taucht alles in eine surreale Atmosphäre. „Officers, könnte ich einen aktuellen Statusbericht bekommen?“, höre ich Pastor fragen und einer der uniformierten Beamten kommt mit abgezogener Mütze auf uns zu. Er schwitzt. Er zögert. „Sir, wir haben in der Nähe der Böschung einen Toten gefunden…“, presst er hervor und pausiert einen tiefen Atemzug lang, „Es ist Detective Marks.“ Zwei Stunden vergehen. In der Zwischenzeit beginnt es, zu schütten. Die Sanitäter kümmerten sich um die Wunden an meinem Hals und trotz deren Widerstandes verweigere ich eine Fahrt ins Krankenhaus. Es sind lediglich ein paar Kratzer. Nichts Schlimmes. Pastor sah ich vor einer Stunde das letzte Mal. Das Rascheln feuchter Kleidung ist überall zu hören, aufgeregte Ausrufe und Anweisungen hallen durch die Nacht. Es dauert, bis Marks Leichnam aus dem Abhang geborgen werden konnte. Ein uniformierter Beamter positioniert sich vor mich und es braucht zwei Anläufe, bis ich begreife, dass er mir mitteilt, dass ich den Tatort verlassen soll. Meine Anwesenheit wird nicht mehr gebraucht. Ich soll ins Revier zurückkehren und meine Aussage protokolieren. Es sei eine Anweisung. Er deutet auf die geparkten Einsatzwagen. Als ich meinen Kopf in die entsprechende Richtung wende, erkenne ich, wie Captain Lamarks massive Gestalt zu den weißen Überdachungen wandert, die aufgebaut wurde, um das vierte Opfer zu beherbergen. Auch wenn ich in der Dunkelheit sein Gesicht nicht sehe, spüre ich seinen Blick auf mir. Selbst die unausgesprochenen Fragen treffen mich mit all dem Gram, der beweist, dass ich keine Erklärungen für die Geschehnisse habe, dass ich sie weder jetzt noch morgen haben werde. Niemand von uns. Nicht ich. Nicht Pastor. Auch nicht Barres. Ohne der Anweisung des Officers Folge zu leisten, entferne ich mich vom Areal. Es dauert eine Weile, bis ich bei meinem eigenen Wagen ankomme, die Tür öffne und in den Fahrersitz sinke. Meine Klamotten sind vollkommen durchtränkt und obwohl ich fortan im Trockenen sitze, fühlt es sich an, als würde ich ertrinken. Benommen fahre ich statt ins Siebzehnte zu meiner Wohnung zurück. Meine Aussage kann warten. Die Straßen sind zum Glück leer und niemand kommt mir entgegen, als ich im Dunkeln die Treppen nach oben steige. In meiner Wohnung riecht es nach Staub, der sich mit den dezenten Resten des Blutes an meinen Händen mischt und der Tatsache, dass ich den Müll rausbringen müsste. Doch das ist das letzte, woran ich gerade denke. Ein Omen des Todes. Detective James Marks ist tot. Die letzten Stunden spielen sich vor meinem inneren Auge ab. Es ist wie ein Gewitter. Szenen. Worte. Gebrüll. Wann ist es geschehen? Wann gab es den letzten Kontakt zu Marks? Als wir uns aufteilten. Nein, falsch. Ich könnte schwören, dass ich Marks Stimme im Dunkel des Waldes gehört habe. Ich habe ihn gesehen. Habe ich ihn wirklich gesehen? Er hat meinen Namen gerufen. Seine Warnweste. War es da schon zu spät gewesen? Ich greife nach dem Telefon und erkundige mich nach der Identität des vierten Opfers. Es dauert etwas, bis ich jemand am Ohr habe, der mir die Info zuschiebt. Ein 27-jähriger Immobilienmakler. Er wurde vor acht Tagen von seiner Frau als vermisst gemeldet, da er nicht zur verabredeten Zeit von einer Geschäftsreise zurückkehrte. „Okay, vielen Dank. Kannst du mir zufällig noch raussuchen, wo er wohnte?“ Die Kollegin nennt mir eine Adresse ihm Humboldt-Distrikt. 4 von 5. Ich vervollständige direkt die Karte mit der Wohnadresse. Damit wäre ein weiterer Bezirk bestätigt. Ich starre abwechselnd auf die markierten Punkte und irgendwas regt sich. Vielleicht ist es… Ich bin erschöpft und müde. Mein linkes Auge beginnt vor Anspannung zu zucken und ich reibe mir ermattet über das Gesicht. Es ist absurd, wieso sollte er einen derartigen Wert auf eine simple Symbolik verwenden? ‚Es ist vollbracht.‘, raunt es in meiner Erinnerung. Der Täter hat erleichtert geklungen. Gewiss. Das Handeln des Mörders war überaus rituell. Ich schlage mit der flachen Hand auf die Tischplatte, flitze zum Schreibtisch. Bewaffnet mit dem Klebebandspender kehre ich zur Tafel zurück, pfriemele die Rolle raus. Schnur wäre ästhetischer, doch ich habe keine, also beginne ich meine Arbeit damit. Ich klebe das Ende auf Opfer Nummer 1. Elias-Distrikt. Ich ziehe das Band zum Punkt 2, zum Harrow-Distrikt zu der alten Wohnadresse von Willem Pannek. Als nächstes Punkt 3, Geiger-Distrikt. Mit dem Klebeband entsteht ein gleichschenkliges, spitzwinkliges Dreieck. Das Kribbeln hinter meinen Augäpfeln wird stärker, während ich die vierte Strecke zum letzten bekannten Punkt setze. Doch es reicht mir, um zu erkennen, was ich keineswegs sehen wollte. Mein Gehirn vervollständigt das Pentagramm von allein. Das kann nicht wahr sein. Ist es derartig simpel? Die Abstände sind beinahe perfekt und die Fundstelle im Boscop-Pfad befindet sich genau in der Mitte. Das war Präzisionsarbeit. Zwischen den Opfern selbst wurden keine Verbindungen festgestellt, außer der Tatsache, dass sie männlich waren und zwischen 22 und 32 Jahre alt. Sie sind damit eher willkürlich. Trotzdem muss es geplant und die Gegenden ausgekundschaftet sein. Ein Gebäude und dann einen passenden Bewohner. Er hat sich an seine Opfer herangehängt und den richtigen Moment abgewartet. ‚Es ist vollbracht‘. Warum vollbracht? Er konnte das Ritual nicht beenden. Es gab kein fünftes Opfer. Ich stocke in meinen Gedanken, als ich begreife, dass es sehr wohl ein weiteres Opfer gab. Detective James Marks. Die Scheuklappen öffnen sich und das Verstehen lässt mich erschaudern. Marks lebte ebenso wie ich im Hobrecht-Distrikt. 5 von 5. Das Pentagramm ist nur okkulte Makulatur eines verdunkelten Verstandes. Die Faktoren sind andere. Doch wie konnte der Mörder es wissen, dass sein Ritual, sein Wahnsinn, geglückt ist? Ich falle zurück in den Stuhl, reibe mir fahrig über das Gesicht, spüre, wie die Schnitte an meinem Hals durch die Spannung zwicken, bis es schmerzt. Ich lasse es geschehen. Als Pastor und ich ihn fanden, war der Dämonenhund bei ihm. Irgendwas entgeht mir. Er hat ihn angegriffen. Nicht mich. Das Klingeln der Haustür überhöre ich im ersten Moment nicht absichtlich, da es im Dröhnen meines eigenen Herzschlags untergeht. Erst der zweite Versuch holt mich aus dem durchdringenden Schatten meiner Gedanken zurück. Ich werfe einen Blick auf die Uhr, ehe ich nach der Klinke greifen und die Tür öffne. Es ist keine Überraschung, ihn hier zu sehen und trotzdem verkrampft sich meine Magengegend. Ich schlucke schwermütig, ehe ich Pastor Platz mache, sodass er eintreten kann. „Erkläre es mir. Alles.“, fordert mich der andere Detective ernst und unnachgiebig auf. „Jedes Detail.“ Er trägt einen Sechser Bier in der Hand und ich bin mir nicht sicher, ob er ihn mit mir teilen wird, wenn ich mit allem anfange. „Woher wusstest du das mit Cerberus“, frage ich und stoppe seinen Weg ins Innere meiner Wohnung, indem ich ihm die Hand flach gegen die Brust lege. Pastor schaut verwirrt auf. „Ein Artikel in einer Wissenszeitschrift, die ich beim Tierarzt gelesen habe.“ Beim Arzt, wo er mit seinem Hund war. Was auch sonst. - Ende Folge 3 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)